»Foreigners by Birth – Croatian by Blood« - Julia Ludwig - E-Book

»Foreigners by Birth – Croatian by Blood« E-Book

Julia Ludwig

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Beschreibung

Was bewegt Menschen dazu, freiwillig in einem Krieg zu kämpfen, obwohl ihr Heimatland nicht involviert ist? Warum riskieren sie in Konflikten weltweit ihr Leben für eine fremde Sache? Bedeutet das Fehlen institutioneller Strukturen, die den Akteuren klare Regeln und Verhaltensweisen vorgeben würden, immer eine Eskalation von Gewalt? Diese Studie hilft, das Phänomen freiwilliger Kombattanten zu verstehen. Am Fallbeispiel internationaler Kriegsfreiwilliger, die in den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre auf Seiten Kroatiens kämpften, macht Julia Ludwig zudem den Mehrwert einer Analyse kultureller Faktoren in der Gewaltforschung deutlich.

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Julia Ludwig

»Foreigners by Birth – Croatian by Blood«

Die militärische Gewaltkultur internationaler Kriegsfreiwilliger in den Jugoslawienkriegen

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Was bewegt Menschen dazu, freiwillig in einem Krieg zu kämpfen, obwohl ihr Heimatland nicht involviert ist? Warum riskieren sie in Konflikten weltweit ihr Leben für eine fremde Sache? Bedeutet das Fehlen institutioneller Strukturen, die den Akteuren klare Regeln und Verhaltensweisen vorgeben würden, immer eine Eskalation von Gewalt? Diese Studie hilft, das Phänomen freiwilliger Kombattanten zu verstehen. Am Fallbeispiel internationaler Kriegsfreiwilliger, die in den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre auf Seiten Kroatiens kämpften, macht Julia Ludwig zudem den Mehrwert einer Analyse kultureller Faktoren in der Gewaltforschung deutlich.

Vita

Julia Ludwig promovierte am Lehrstuhl für Militärgeschichte / Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam; sie ist als Strategieberaterin für das Bundesverteidigungsministerium tätig.

Für Oma Else

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

1.

»Stell dir vor es ist Krieg und sie gehen freiwillig hin« – Eine Einleitung

Der Krieg als Chamäleon

Alles neu an den Neuen Kriege(r)n?

Zielsetzungen

2.

Das Projekt

2.1

Forschungsdesign und Fragestellung

2.1.1

Die Offenheit des ethnografischen Forschungszugangs

2.1.2

Forscherin und Feld

Einstieg ins Feld

Positionierungen und Rollen als Forscherin im Feld

2.1.3

Zum Anspruch auf Faktizität, Zuverlässigkeit und Generalisierung der Daten

2.2

Ethnografische Datenerhebung

2.2.1

Interviews

2.2.2

Teilnehmende Beobachtung

2.2.3

Egodokumente

Tagebücher

Veteranenvereinszeitschrift

2.2.4

Archivarbeit

2.2.5

Internetquellen

3.

Konzeptualisierungen moderner kriegerischer Gewalt

3.1

Neue Kriege als Ausgangspunkt der Überlegung

3.2

Das Konzept der Transformativen Gewaltmärkte

3.3

Die Jugoslawienkriege als Transformative Gewaltmärkte

4.

Von Kriegstouristen, Überzeugungstätern und Adrenalinjunkies – Ein intensiver Blick auf die Gewaltakteure

4.1

Die Herausforderung einer terminologischen Kategorisierung

4.2

Internationale Kriegsfreiwillige in den Jugoslawienkriegen – Versuch einer Typologie

4.2.1

Militärkarrieren

4.2.2

Sozialprofil

4.2.3

Weltanschauungen

4.2.4

Stellenwert der Medien

4.3

Zusammenfassung und Einordnung

5.

Militärische Gewaltkultur

5.1

Identitätskonstruktion

5.1.1

Greedy Culture – Kann eine Kultur gierig sein?

Vereinnahmend/ besitzergreifend

Einschränkend/ restriktiv

Zieht Persönlichkeit in ihren Bann

Maximale Anziehungskraft

Maximale Abstoßungskraft

5.1.2

Individuelle Auswirkungen der militärischen Gewaltkultur

Vom Kulturschock und dem Erschaffen einer neuen Realität

Strategien des Coping – die Reaktion der Akteure

5.1.3

Von der Realitätsveränderung der Individuen – die Wirkungen des Kulturschocks

5.1.4

Wenn man in der Heimat plötzlich fremdelt – der Reverse Culture Shock

Die kulturelle Entfremdung von der alten Heimat

Back to the roots? Strategien der erneuten Verwurzelung

5.1.5

Fazit

5.2

Soziale Strukturen

5.2.1

Struktur ins Chaos bringen – vom Wunsch nach Einhegung des Krieges

Nachbau organisationsähnlicher Strukturen

5.2.2

Von der inneren Ordnung des Kollektivs – der gruppendynamische Raum

Mitgliedschaft

Befehlsstrukturen

Kameradschaft

Einsatzmotivation

Kampfmoral

Kommunikation

Gruppeninterne Divergenzen

5.2.3

Fazit

1.

Formal command structure

2.

Informal structure

3.

Loyalty/ identity structure

4.

Functional structure

5.3

Gewalttätigkeiten

5.3.1

Kulturelle Prozesse als »verräumlichende Akte«

Die Kulturalität von Gewalt – Eine bislang vernachlässigte Perspektive der Gewalt(er)forschung

5.3.2

Die Konstruktion legitimatorischer Gewaltkategorien – Kollektive moralische Gewalteinordnungen

Zonen des Verbotenen

Zonen des Erlaubten

Zonen des Gebotenen

5.3.3

Zur kollektiven Vorstellung von ›gerechter Gewalt‹

5.3.4

Fazit

5.4

Wertesystem

5.4.1

Von der Aushandlung ›ehrhafter‹ Verhaltenskonzepte

5.4.2

Moralische Werte

5.4.3

Bejahen des Kampfes

5.4.4

Kriegerethos

Selbstwahrnehmung und narrative Vorbilder

Kriegermentalität

Körperbilder

5.4.5

Fazit

5.5

Erinnerungskultur

5.5.1

Kriegserinnerungen lebendig halten – Das kollektive Gedächtnis

5.5.2

Formen des Gedenkens

Mediale Erinnerungen

Tagebücher und schriftliche Korrespondenzen

Fotografien und Videoaufnahmen

Interneterinnerungen

Mündliche Erinnerungen

Erinnerungsfiguren

Materielle Erinnerungen

Uniform

Abzeichen

Kopfbedeckung

Zeremonielle Erinnerungen

Institutionalisierte Erinnerungen

5.5.3

Inhalt des Gedenkens

5.5.4

Fazit

5.6

Fazit der Analyse

6.

Schlussbetrachtung

Dank

Literatur

Akte

Filmdokument

Internetquellen

Interviewmaterial

Literatur

Manuskript

Persönliche Mitteilung

Teilnehmende Beobachtungen

Vortrag

Zeitungsartikel

1.»Stell dir vor es ist Krieg und sie gehen freiwillig hin« – Eine Einleitung

Die kriegerischen Auseinandersetzungen im zerfallenden Jugoslawien zu Beginn der 1990er galten nicht nur als die ersten ›heißen‹ europäischen Kriege seit dem Zweiten Weltkrieg, sie stellten auch in anderer Hinsicht eine weitere Besonderheit dar: sie boten für internationale Kriegsfreiwillige aus vielen westlichen Ländern die Gelegenheit, sich als Ausländer bequem und mit vergleichsweise wenig Aufwand paramilitärischen Gruppierungen des Westbalkans anzuschließen.1 Gewissermaßen per PKW oder Bus konnten Interessierte das damalige Kriegsgebiet erreichen und den kroatischen Truppen ihre Dienste meist auf recht unkomplizierte Art und Weise anbieten – insbesondere als die anfängliche Lage der Kroaten zu Kriegsbeginn besonders chaotisch und unübersichtlich gewesen war. Im ehemaligen Jugoslawien als einem schwachen, implodierenden Staat mit unklaren Machtverhältnissen füllten jene freiwilligen Kombattanten das bestehende Machtvakuum, welches Jahre zuvor durch das Ende des Kalten Krieges mit der hieraus folgenden Lücke im internationalen Sicherheitsgefüge entstanden war.2

Ausländische Kriegsfreiwillige kamen dabei aus den unterschiedlichsten Nationen und unterstützten alle drei involvierten Konfliktparteien gleichermaßen. Dabei standen Kämpfer aus vornehmlich muslimisch geprägten Ländern insbesondere der bosnischen Armee zur Seite,3 während hingegen unter anderem Russen, Ukrainer, Rumänen und Griechen mehrheitlich die serbischen Streitkräfte verstärkten.4 Im Fokus dieser Untersuchung stehen nun allerdings diejenigen internationalen Kriegsfreiwilligen, die sich innerhalb des Konflikts der kroatischen Seite anschlossen und bislang lediglich geringe Aufmerksamkeit im akademischen Diskurs erhielten.5 Denn die Tatsache, dass sich während der Jugoslawienkriege eine ebenso erstaunlich große Anzahl an Männern aus westlichen Ländern – auch aus Deutschland – freiwillig meldeten, um dort zu kämpfen, ist als Phänomen zwar aus der zeitgenössischen Medienberichterstattung bekannt, stellt im wissenschaftlichen Kontext jedoch nach wie vor ein Forschungsdesiderat dar.

In der Freiwilligkeit der Kampfbeteiligung besteht im Wesentlichen auch das spezifische Paradox, welches das Fallbeispiel entsprechend kennzeichnet: Zahlreiche Männer aus vorwiegend friedlichen westlichen Gesellschaften entschieden sich zu einem bestimmten Zeitpunkt und aus unterschiedlichen Gründen dafür, ihrer Heimat den Rücken zu kehren und sich in einer Region im Krieg zu engagieren, zu der sie vorab keinerlei persönlichen Bezug hatten.6 Diese besonders heterogene Gruppe voller selbsterklärter Idealisten wies lediglich die Gemeinsamkeit auf, dass sie vorab in Gesellschaften sozialisiert worden waren, die – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung – im Wesentlichen eher anti-militaristische bis hin zu pazifistischen Normen für Gewalttoleranz aufstellten: Selbst militärische Gewaltanwendung begrenzten diese Herkunftsländer dabei ausschließlich auf den Ausnahmefall des Krieges und auch dann nur unter strenger Einhegung des Staates durch eine militärische Organisation.7

Was die (moralischen) Erwartungen an moderne Kriegführung anbelangt, stellt sich in diesen modernen Zivilgesellschaften fortan die Frage nach der Quadratur des (Kriegs-)Kreises: Einerseits steht die Vermeidung hoher Opferzahlen bei Zivilbevölkerung sowie eigener Truppen klar im Zentrum ihres Interesses, ihnen ist somit meist eine besonders geringe Opferbereitschaft zu attestieren.8 Andererseits setzen sie jedoch gleichzeitig auch eine besonders hohe Effizienz und Nachhaltigkeit der Maßnahmen voraus. Insbesondere, wenn es darum geht einen Gegner zu bekämpfen, Kriege für sich zu entscheiden sowie Frieden langfristig zu sichern, wird dies überdeutlich.9 Die militärische Effektivität soll im Zuge dessen also weiterhin gewährleistet sein, während sich die subjektive Gefahr, der sich die Beteiligten zum Erreichen des Ziels aussetzen müssen, erheblich mindern muss.

Entsprechend diesem gesellschaftlichen Entwicklungsprozess stehen auch die völkerrechtlichen Konventionen vor allem in westlichen Gesellschaftssystemen immer wieder auf dem Prüfstand: Terminologische Grenzen und binäre Codierungen10 verschwimmen zunehmend, an ihre Stelle tritt meist etwas Drittes. Dies führt in der Folge auch dazu, dass die Terminologie den Entwicklungen üblicherweise hinterherhinkt.11 Diverse wissenschaftliche Konzepte und Theorien haben es sich daher zur Aufgabe gemacht, diese Dynamiken einzufangen. Neue Kriege,12Hybride Kriegsführung13 oder Asymmetrische Kriege14 befassen sich konzeptuell allesamt mit demselben Phänomen und unternehmen dabei den Versuch, den Wandel moderner Kriegsführungen begrifflich einzufangen. Doch die Zunahme nicht-staatlicher Gewaltakteure, die Militarisierung des Cyberspace oder die fortschreitende Technologisierung der Waffensysteme als Kennzeichen moderner Kriegführung werden in vielen Konzepten weiterhin nicht adäquat erfasst.15 Oftmals scheitern sie mit ihrem homogenisierenden Ansatz an der allgemeinen Dynamisierung und zunehmenden Komplexität solcher Konflikte.16

Der Krieg als Chamäleon17

Mit dem Ende des Kalten Krieges postulierten diverse Expert_innen unterschiedlicher Fachdisziplinen zunächst nicht nur eine Abschaffung des Krieges, sondern hielten ebenso die Herstellung einer globalen Friedensordnung für politisch erreichbar.18 Auch außerhalb der Friedensforschung war von einem Ende der traditionellen Kriegsgeschichte die Rede.19 Doch der Zerfall der für den Ost-West-Konflikt typischen Bipolarität bereitete der anfänglichen Friedenseuphorie bald ein jähes Ende: bedeutete er im Rückblick vor allen Dingen den Verlust von Stabilität und Berechenbarkeit, den die identischen Entscheidungsparameter aus Risikoabwägungen und Entscheidungsrationalitäten der beiden beteiligten Akteure einst garantierten. Die daraus entstandene Lücke im internationalen Sicherheitsgefüge schaffte Räume, die anderen Kriegstypen wiederum die Gelegenheit boten, diese zu schließen. So verschwand der Krieg20 nicht von der weltpolitischen Bildfläche, er vollzog lediglich einen äußeren und inneren Gestaltwandel.

Einer der deutlichsten Strukturwandel betraf dabei die Art der Beteiligten im Krieg: Weniger reguläre Armeen und ihre Soldaten traten dort als Angehörige einer Konfliktpartei auf, sondern neue Gewaltakteure unterschiedlichster Couleur.21 Die Grammatik des Krieges, wie sie einst für die klassischen Staatenkriege typisch war, änderte sich somit allein deshalb grundlegend, weil verstärkt andere Arten von Kombattanten involviert waren. Statt gänzlich von der Bildfläche zu verschwinden, generierte das kriegerische Konfliktgeschehen neuerdings also lediglich andere Regeln durch neue Handelnde. In der Folge kam es oft zu einer Verselbständigung der Privatisierungsprozesse von Gewalt, Kriegen und Militär. Staatliche Gewaltmonopole rückten im Zuge dessen zunehmend in den Hintergrund und es öffneten sich neue (Handlungsspiel-)Räume für vielfältigere Akteure auf den globalen Gewaltmärkten.22 Da sich die klassischen Konfliktparteien im Zuge dieser Prozesse immer weiter transnationalisieren und fragmentieren, wurde das Akteursspektrum in vielen kriegerischen Auseinandersetzungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erheblich ausgeweitet. Die Jugoslawienkriege bildeten hierfür keine Ausnahme.23

Wie später herausgearbeitet wird, waren diese nicht nur von einer enormen Asymmetrie der beteiligten Konfliktparteien geprägt, sondern entwickelten sich zudem zu einem attraktiven Anlaufpunkt für private Gewaltakteure unterschiedlichster Ausprägung. Obwohl solche Kombattanten militärgeschichtlich betrachtet keinesfalls eine Neuerscheinung auf den Kriegsschauplätzen darstellten, verzeichneten ausländische Kämpfer insbesondere in den 1990er Jahren einen sprunghaften Anstieg – sowohl in absoluten Zahlen als auch anteilig an der steigenden Zahl ziviler Konflikte.24

Alles neu an den Neuen Kriege(r)n?

Bereits seit vielen Jahrhunderten bewegten sich internationale Kriegsfreiwillige und sonstige private Gewaltakteure entlang globaler Frontlinien und bildeten vor allem seit dem Zeitalter des Nationalismus den ideologischen Kontrast zu Soldaten regulärer Streitkräfte.25 Einst waren die nicht-staatlichen Gewaltakteure über lange Zeit die kriegerische Norm gewesen, wurden nun aber sukzessiv vom Soldaten abgelöst. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts traten die privaten Kombattanten schließlich vermehrt als Teil eines »vollkommen neuen militärischen Phänomens«26 erneut in Erscheinung und symbolisierten so gewissermaßen eine Rückkehr zu alten Strukturen auf den Schlachtfeldern. Indem sie eine »neue Kriegerklasse etablierten, die die Fähigkeit besitzt, Gewalt transnational zu organisieren«,27 verhalfen sie nicht-staatlichen Kämpfern zu einem erneuten, quantitativ signifikanten, Anstieg.

Die vorliegende Studie liefert mit den Transformativen Gewaltmärkten zum einen also einen Forschungsbeitrag für ein neues Konzept moderner kriegerischer Gewalt, das die Voraussetzungen dafür schafft, vor allem auch die neuen (privaten) Gewaltakteure innerhalb dieses Wandlungsprozesses ausreichend zu berücksichtigen.28 Es ist anzunehmen, dass diese anders agieren, anders denken, anders fühlen und sich anders motivieren lassen als reguläre Soldaten. Alles in allem umfassen sie deshalb ein insgesamt heterogeneres Spektrum Beteiligter. Daher wird ein konzeptueller Rahmen benötigt, der diese Gesichtspunkte entsprechend einbezieht und seinen Fokus dabei stärker auf die Individuen ausrichtet als bislang geschehen. Denn, wer die aktuellen, ebenso wie künftige Entwicklungen der Kriege besser verstehen will, muss erst deren (neue) Akteure verstehen.

Aus diesem Grund beschäftigt sich das Dissertationsprojekt deswegen mit der subjektiven Seite von Gewalthandlungen solcher Personen, denen eigentlich nicht durch einen Staat die Erlaubnis zur begrenzten Gewaltanwendung erteilt worden war. Darüber hinaus wird die Etablierung einer spezifischen Kultur untersucht, die unter den internationalen Gewaltakteuren in den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre gelebt und aktiv mitgestaltet worden war. Denn, es war zwar der Akteur, der Gewalt ausübte, doch die gemeinschaftlich geschaffene Kultur gab ihm letztlich einen Bedeutungshorizont und damit einen mentalen Orientierungsrahmen vor, der seine kulturelle Identität formte und sich auf dessen Verhaltensweisen übertrug.29 Anhand dieses kulturellen Referenzrahmens konnten sich die Individuen selbst verorten und ihrem Handeln Sinn verleihen; so geschah dies natürlich ebenso im Kontext von Gewalt. Um also vertiefte Erkenntnisse zu den Gewaltakteuren selbst zu erlangen, ist es erforderlich die Gewalt in ihrer jeweiligen Kulturalität30 zu erfassen. Sie ist es, die durch kulturelle Codes letzten Endes die sozialen Praktiken des Gewalthandelns der Gewaltakteure dahingehend strukturiert und klassifiziert, was ihr kollektives Bedeutungssystem diesbezüglich toleriert oder untersagt.31 Mit anderen Worten: Wer also die Akteure verstehen will, muss deren Kultur verstehen.

Als analytische Kategorie wird Gewalt32 erst seit jüngerer Zeit verstanden und wissenschaftlich erforscht.33 Weiterhin mangelt es allerdings an Untersuchungen, die davon ausgehen, dass Gewalt im Zentrum einer Kultur stehen kann, das militärische Gruppen wie internationale Kriegsfreiwillige also spezifische Kulturen der Gewalt etablieren und diese kulturellen Bestandteile für ihre Gewaltpraktiken dabei maßgeblich entscheidend sind: sie begründen unter anderem deren Gewaltlogik. Zwar wurden durchaus konzeptuell vergleichbare Forschungen zu Gewaltkulturen betrieben,34 doch berücksichtigen diese genauso unzureichend, dass es in erster Linie kulturelle Faktoren sind, die die Gewaltgemeinschaften ausbilden und zusammenhalten.

Allgemeiner formuliert plädiert die vorliegende Arbeit nun also für die Erweiterung der Gewaltforschung um ein weiteres analytisches Konzept, welches einen starken Fokus auf Kultur legt: neben den Akteuren,35 den Kollektiven36 oder den Situationen37 muss auch die Gewaltkultur38 als komplexes kulturelles Orientierungssystem für das Handeln der Akteure berücksichtigt werden. Da die Fokussierung auf die Gewalttäter in der Regel deren Kultur ausklammert, bei Gewaltgemeinschaften vorwiegend Akteure aus regulären Armeen untersucht werden39 oder die Erforschung von Militärkulturen zwar durchaus kulturelle Merkmale betrachtet, diese aber stets eingebettet in institutionalisierte Organisationsformen sind,40 decken diese Ansätze allesamt nicht die spezifischen Eigenheiten ab, die sich im Zuge von Gewaltkulturen entwickeln.

Die innerhalb dieser Untersuchung eigenständig entwickelte Theorie der militärischen Gewaltkultur bezieht sich hingegen explizit auf Personen, die zwar als Kollektiv agierten aber eben nicht in solche festen Organisationsstrukturen einer Militärinstitution eingebunden waren. Stattdessen organisierten sie sich als kleine Gruppe ausländischer Freiwilliger im Krieg relativ selbstständig. Entsprechend ist davon auszugehen, dass sich in diesem Kontext entweder gänzlich andere Formen der Kultur ausprägten als in Militärkulturen regulärer Streitkräfte sonst üblich oder konstitutive Elemente sich hinsichtlich ihrer Priorisierungen oder Ausformungen stark von eben diesen unterschieden.

Wie die Analyse ergab, waren die größten inhaltlichen Überschneidungen noch mit den Subkulturen bestimmter Einheiten innerhalb von Militärkulturen festzustellen.41 Im Hinblick auf die Erforschung von Gewaltsituationen erwiesen sich die Gewalthandlungen der internationalen Kriegsfreiwilligen, vor allem auch im Vergleich mit dem kriegerischen Gegenüber, ebenfalls als heterogener und komplexer, als es dieser Forschungsansatz üblicherweise suggeriert.42

Zielsetzungen

Nach diesem kurzen Abriss zum Forschungsstand innerhalb der Gewaltforschung besteht der Forschungsbeitrag dieser Studie nun zum einen in der konzeptionellen Verknüpfung von Gewaltforschung mit der Kulturalität von Gewalt. Zum anderen werden in dieser Untersuchung viele Faktoren aus der Emotionsforschung mit einbezogen, die in Kombination mit der Gewalt zu einem wesentlichen Bestandteil der Kultur wurden. Üblicherweise basieren in der klassischen Gewaltforschung sowohl Theorien als auch Konzepte auf dem Dualismus aus Macht- und Gewaltaspekten, während die Rolle der Emotionen dabei häufig ausgeblendet wird.43 Im Rahmen dieser Forschung wird die komplexe Macht-Gewalt-Kohärenz deswegen um wichtige emotionale Komponenten unter Anwendung einer kulturanthropologischen Empirie ergänzt und weiter argumentiert, weshalb die militärische Gewaltkultur nur so in ihrer Komplexität und Gesamtheit erfasst wird. Insbesondere im Referenzrahmen des Militärs, als einer Kultur der (legitimen) Waffengewalt, dienen militärische Tugenden wie Tapferkeit, Gehorsam, Kameradschaft oder das Konzept der Ehre nämlich als Instrumentarien der Emotionsregulation. Meist wird ihnen dort die Aufgabe der sozialen (Gewalt-)Kontrolle zuteil.44 Demnach »ist offenbar kein Machtverhältnis vorstellbar, das nicht auf Gewalt gegründet ist«,45 genauso wie keine soziale Interaktion bzw. Ordnung denkbar ist, welche nicht von Emotionen konnotiert und maßgeblich gesteuert wird.

In ihrer Praxis vermag es die Gewaltkultur letztlich also, das Kulturelle mit dem Sozialen zu verbinden und dabei Faktoren wie Gewalt, Macht und Emotion ausreichend zu betrachten. Diese Kombination macht im Wesentlichen den Kern der Arbeit aus und bildet dabei den theoretischen Analyserahmen aus dem sich schließlich auch die Forschungsfragen ergeben. Damit liefert die Studie nicht nur einen entscheidenden Beitrag zur kulturanthropologischen Untersuchung von Gewalt, sondern trägt durch ihre interdisziplinäre Herangehensweise maßgeblich zur Annäherung zwischen Forschungsansätzen aus den Kulturwissenschaften, der Militärgeschichte sowie der Emotions- und Gewaltforschung bei.

Dass Gewalt unter Berücksichtigung von Emotionen auch auf ihre Kulturalität hin untersucht werden muss, um das Handeln der Gewaltakteure nachvollziehbar zu machen, wurde nun ausreichend hergeleitet und begründet. Konkret geht die Analyse nun der Frage nach, ob unter den internationalen Kriegsfreiwilligen in den Jugoslawienkriegen eine spezifische Kultur existierte und welche Kulturmerkmale diese im Detail vorwies. Im Zuge dessen ergab die Analyse, dass Gewalt innerhalb des Kollektivs der befragten Zeitzeugen das kulturkonstituierende Element darstellte und sich demnach auf alle kulturellen Bestandteile, beispielsweise die Gewaltpraxis oder die Gewaltlogik der ausländischen Kombattanten, niederschlug. Im späteren Verlauf wird daraus der Theorieansatz einer militärischen Gewaltkultur entwickelt, der die kulturellen Merkmale der internationalen Kriegsfreiwilligen zusammenfasst und verortet. Es handelt sich hier also um eine erfahrungsgeschichtliche Analyse von Gewalt unter Einbezug ihrer spezifischen (militärischen) Kulturalität. Zwar werden vor allem durch das Konzept des Transformativen Gewaltmarktes die situativen, zeitlichen, räumlichen und strukturellen Rahmenbedingungen der Lage auf dem Gebiet des zerfallenden jugoslawischen Staates berücksichtigt, dennoch rücken diese Parameter gegenüber der Kultur stärker in den Hintergrund.

Somit verschiebt sich der Schwerpunkt der Analyse deutlicher auf die subjektive Realität der Zeitzeugen, also deren Wahrnehmungen, Selbstbilder sowie ihre auf Gewalt bezogenen Deutungsmuster aus der Zeit vor, während und nach dem Krieg. Statt einer faktenbasierten Historiographie handelt es sich somit vielmehr um eine Art kulturelle Subjektgeschichte des Krieges: ihr Anspruch besteht also nicht in der Überprüfung des Wahrheitsgehalts der Aussagen oder im chronologischen Nachzeichnen kriegerischer Verläufe.

Unter Rückgriff auf ein ethnographisch-kulturanalytisches Forschungsdesign wird das heterogene Quellensample, vorwiegend bestehend aus biographisch-narrativen Interviews mit ehemaligen Frontsoldaten, schließlich nach der Grounded Theory methodisch ausgewertet. Komplettiert wurden diese Daten zusätzlich mit weiteren Selbstzeugnissen von transnationalen Gewaltakteuren, die im Zeitraum von 1991 bis 1995 allesamt auf Seiten der Kroaten kämpften. Ihre individuellen, mündlichen wie schriftlichen Repräsentationen von Gewalt bilden die Basis dessen, was im Konzept der militärischen Gewaltkultur schlussendlich theoretisch ausgearbeitet wurde.

Im Anschluss an die Einleitung erläutert Kapitel 2 das Forschungsdesign der vorliegenden Untersuchung und begründet, weshalb gerade die Offenheit des ethnografischen Forschungszugangs das geeignete Instrument war, um das komplexe Untersuchungsfeld zu erschließen. Daneben wird dort die Rolle als Forscherin im Feld reflektiert und der allgemeine Aussagegehalt dieser mikroperspektivischen Betrachtung eines einzelnen Fallbeispiels diskutiert. Die in der Studie verwendeten Quellengattungen werden im Zuge der ethnografischen Datenerhebung daraufhin vorgestellt, ehe schließlich zum methodischen Vorgehen nach der Grounded Theory Methode übergeleitet wird.

Kapitel 3 setzt sodann den theoretischen Rahmen der Arbeit und stützt sich dabei auf die Konfliktdynamik innerhalb der Jugoslawienkriege für den Zeitraum 1991-1995. Der Schwerpunkt des Kapitels liegt jedoch nicht auf der historischen Beschreibung der Kriegsverläufe,46 sondern auf der Entwicklung des Konzepts der Transformativen Gewaltmärkte. Wenngleich sich vor allem der Aspekt der asymmetrischen Kräfteverhältnisse zwischen Kroaten, Bosniaken und Serben in den Narrativen der befragten Personen als ein entscheidender Impulsgeber für ihren Kriegsentschluss und die Wahl der kroatischen Seite erwies, so stehen die Jugoslawienkriege hier vielmehr als Paradebeispiel Transformativer Gewaltmärkte im Zentrum. Dadurch lässt sich erörtern, weshalb diese Kriege die modernen Entwicklungen des globalen Konfliktgeschehens exemplarisch illustrieren.

Konzeptionell erfolgt in Kapitel 4 anschließend zunächst die terminologische Eingrenzung der internationalen Kriegsfreiwilligen als transnationale Gewaltakteure. Die Verwendung dieses neutralen Begriffs evoziert letztlich gleich zwei Effekte: er vermeidet bewusst vorhandene Stigmatisierungen gegenüber Personen, die sich aus unterschiedlichen Gründen freiwillig in einem Krieg engagieren, darüber hinaus deckt er auch unterschiedliche Beteiligungsszenarien solcher privater Akteure gleichermaßen ab.47 Begrifflich auf diesem Konzept basierend folgt daraufhin eine Typologie derjenigen internationalen Kriegsfreiwilligen, die im Mittelpunkt des untersuchten Fallbeispiels standen. Hierin finden sich aktuelle demographische Kennzahlen, objektive Fakten sowie aussagekräftige Details zu den Beteiligten, für die es bislang keinerlei wissenschaftliche Statistiken gibt. Die Analyse gewinnt somit nicht nur auf qualitativer Ebene neue Erkenntnisse zu den freiwilligen Unterstützern der kroatischen Kombattanten und ihrer Kultur, darüber hinaus arbeitet sie auch transnational übergreifende Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Hinblick auf die jeweiligen Sozialprofile der Individuen heraus.

Das Kapitel 5 definiert zunächst die militärische Gewaltkultur, die letztlich die kulturelle Grundlage für das Orientierungssystem der internationalen Kriegsfreiwilligen schuf und erläutert gleichzeitig, weshalb sich die Theorie bezüglich des Kulturbegriffs an dem Konzept der Doing Culture48 orientierte. Nach dieser theoretischen Verortung in der Kulturforschung schlüsselt dieses Analysekapitel die einzelnen Bestandteile der militärischen Gewaltkultur nacheinander auf und betrachtet diese vor dem Kontext des analytischen Forschungsrahmens aus Macht, Gewalt und Emotion ausgiebig.

So beschäftigt sich das erste Analysekapitel 5.1 mit den Auswirkungen der Kultur auf die Individuen und zeigt auf, dass diese im Zuge ihrer Beteiligung in den Jugoslawienkriegen und ihrer anschließenden Rückkehr in die Zivilgesellschaft mit doppelten Kulturschocks konfrontiert waren. Unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Bewältigungsstrategien, die ebenfalls ausführlich untersucht werden, galt es diese nun zu überwinden.

Im zweiten Analysekapitel 5.2 richtet sich der Fokus weg von den Individuen und hin zu ihrem Kollektiv und beleuchtet dabei deren interne Gruppendynamik. Aspekte von Teilhabe, Machtstrukturen und die Frage nach Kohäsion innerhalb der Gemeinschaft der transnationalen Gewaltakteure werden im Zuge dessen detailliert untersucht.

Auch hinsichtlich der vorhandenen Gewaltpraxis ergab die Auswertung des Datenmaterials spannende Erkenntnisse zur militärischen Gewaltkultur der internationalen Kriegsfreiwilligen, die schließlich im dritten Untersuchungskapitel 5.3 behandelt werden. Dort wirkte die Gemeinschaft zum einen den Dynamiken des gewaltoffenen Raumes diametral entgegen und distanzierte sich zum anderen von typischen Verhaltensweisen einer massiven Gewaltentfesselung, die nicht-staatlichen Gewaltakteuren im Krieg in der Regel nachgesagt werden.

Die Einteilung dieser letztlich legitimatorischen Gewaltkategorien basierte dabei im Wesentlichen auf als ›ehrhaft‹ definierten Verhaltenskonzepten, die die internationalen Kriegsfreiwilligen als Wertesystem miteinander aushandelten. Das vierte Analysekapitel 5.4 setzt sich daher mit dem stark moralischen Ethos der transnationalen Gewaltakteure auseinander, welches sich in seiner Ausprägung tendenziell an Leitideen archaischen Kriegertums anlehnte. Es erwies sich daher als eng gekoppelt an einen moralischen Kodex mit eigener Gewalttätigkeit.

Wie Analysekapitel 5.5 im Anschluss aufzeigt, reichten diese kollektiven Deutungsmuster bis hinein in die gegenwärtige Erinnerungskultur der internationalen Kriegsfreiwilligen, die starke Tendenzen zur Heroisierung erkennen ließ. Neben Einblicken zur Selbstwahrnehmung der Befragten zeigten sich dort auch Legitimationsstrategien, wodurch die transnationalen Gewaltakteure nicht nur ihr freiwilliges Kriegsengagement an sich, sondern auch die bereitwillige Gewaltanwendung rechtfertigten. So verliehen sie beidem zusammen retrospektiv weiter Sinn.

Um die kulturelle Eigenheit der militärischen Gewaltkultur abschließend noch einmal deutlich herauszustellen, vergleicht das Fazit des gesamten Analyseteils ihre einzelnen Kulturmerkmale daraufhin mit Elementen aus Militärkulturen. So betont dieser Kontrast das Gewöhnliche und Außergewöhnliche der spezifischen Kultur der transnationalen Gewaltakteure und zeigt auf, woran deren wesentliche Charakteristika letztlich auszumachen sind. Dadurch wird zudem deutlich, weshalb Militärkulturen nicht automatisch auch von freiwilligen ausländischen Kombattanten etabliert werden, obwohl sie durchaus ebenfalls in militärischen Kontexten agieren oder in ihrem Kollektiv organisationsähnliche Strukturen entwickeln. Denn, nicht nur im Hinblick auf ihre institutionelle Organisationsform, sondern auch in den jeweiligen Kulturinhalten finden sich diesbezüglich entscheidende Divergenzen, wie die Analyse eindeutig ergab.

Insgesamt zeigt das vorliegende Forschungsprojekt, dass sich in kleinen militärischen Gruppen nichtstaatlicher Kriegsakteure spezifische Kulturen der Gewalt, militärische Gewaltkulturen, etablieren, die letztlich alle Lebensbereiche ihrer Kulturträger miteinbeziehen. Die dortigen Gewaltgemeinschaften entwickeln, gänzlich unabhängig von vorhandener militärischer Expertise der Beteiligten, im Zuge dessen Gewaltpraktiken, Werte und Gewohnheiten, die sie in Teilen zwar aus der sozio-kulturellen Vorprägung ihrer Heimatländer übernahmen, die stärker aber noch ihren konkreten Vorstellungen eines moralisch höherwertigen, besonders maskulinen, höchst ehrenvollen Kriegertums entsprachen. Transnational übergreifend herrschte hier offenbar eine gegenseitige Übereinkunft darüber, was das spätere Zentrum der Kultur bilden würde: das Kriegshandwerk inklusive seiner ausgeprägten Anwendung von Gewalt als sein Handwerkszeug.

Weshalb also einige Personen aus friedlichen Gesellschaften freiwillig an Kampfhandlungen teilnahmen, obwohl sie bei den Jugoslawienkriegen in keiner Weise biographisch involviert gewesen waren, beantwortet die Untersuchung daher aus einer mikroperspektivischen Sicht. Welche Rolle im Zuge der eigenen Selbst- und Fremdwahrnehmung militärische Identitäten spielten und auf welchem Wege die internationalen Kriegsfreiwilligen Feindbilder konstruierten, besaß hierbei ebenso enorme Relevanz, wie die Faktoren ihrer kollektiven Männlichkeitsvorstellungen oder Körperbilder, die sich auf ihr Verhalten übertrugen. Kompensierte der Krieg als »letztes Refugium echter Männlichkeit«49 tatsächlich sämtliche moralischen Bedenken und stimulierte mit seinen unbegrenzten Handlungsspielräumen die Gewaltpraxis der transnationalen Gewaltakteure bis hin zu vollkommen entfesselter Gewalt? Aus welchem Grund manifestierten die Kämpfer dann aber ein archaisches Kriegerethos, das als kollektive Disposition vorlag und ihre Gewaltausübungen strikt eingrenzte? Die vorliegende Studie macht es sich zur Aufgabe, all diesen Fragen zur kulturellen Dimension des sozialen Miteinanders dieser Gemeinschaft nachzugehen. Dabei liegt der Fokus auf dem übergeordneten Orientierungssystem, das die Kultur in Form einer neuen Lebens(um)welt letztlich bildete.

Nicht nur die militärische Gewaltkultur der internationalen Kriegsfreiwilligen allein gilt es im Rahmen der Analyse zu erfassen, des Weiteren eröffnet vor allem der Kulturvergleich weitere Perspektiven auf die spezifischen Eigenheiten der vorhandenen Kultur. So erlaubt der Kontrast zur Militärkultur regulärer Streitkräfte beispielsweise Rückschlüsse auf die mentale Disposition in Kampf- und Spezialeinheiten der westlichen regulären Armeen. Daneben ermöglicht die Erforschung dieses untersuchten Phänomens schließlich Vergleiche zwischen den transnationalen Gewaltakteuren einerseits sowie lokalen Soldaten innerhalb derselben Konflikte auf dem westlichen Balkan andererseits. Durch diese Vergleichsperspektive lassen sich wissenschaftliche Befunde zu situativen Zusammenhängen überprüfen, wonach Kriegsgegner unter denselben zeitlichen wie räumlichen Bedingungen ähnliche Gewaltkulturen entwickeln würden.50

Zusammenfassend verdeutlicht die Untersuchung, dass die Rekonstruktion subjektiver Akteursperspektiven für das Verstehen moderner Konflikte und – noch viel stärker – ihrer zunehmend transnational agierenden privaten Gewaltakteure zwar einen sinnvollen Ausgangspunkt markiert, aber noch viel stärker durch den Gesichtspunkt der Kultur ergänzt werden muss als bislang geschehen. Um zu verstehen, welche Gewaltdynamiken sich warum entwickeln, reichen weder die Täterforschung, noch die Analyse von Gewaltgemeinschaften oder Gewaltsituationen allein aus, denn sie alle übersehen eine entscheidende Tatsache: Die Akteure waren und sind stets in ein Netz kultureller Orientierungsmuster eingewoben, die ihr Selbstbild, ihr Kollektiv, ihr Handeln, ihr Fühlen, ihr Denken und ihre Weltanschauungen prägen. Entsprechend wirken sich diese Faktoren auch auf die Formen von Gewalt aus.51 All diese Kulturmerkmale gilt es für die militärische Gewaltkultur aber zu berücksichtigen, wenn der Sinn hinter den individuellen Motivationen, den kollektiven Gewaltpraktiken oder den entwickelten Sinndeutungssystemen erfasst werden soll. Mit anderen Worten: Wer die neuen Gewaltakteure verstehen will, muss ihre etablierte Gewaltkultur untersuchen.

Durch den Einbezug kultureller Komponenten lassen sich Gewaltphänomene somit nicht nur retrospektiv erforschen, sondern auch künftige Entwicklungen prognostizieren. Diese können besonders für die Krisenfrüherkennung globaler Dynamiken inklusive ihrer Akteure von besonderem Mehrwert sein. Die vorliegende Studie leistet dafür einen initialen Beitrag, um dieses neue Forschungsfeld zu erschließen.

2.Das Projekt

Zur Erforschung der Kultur internationaler Kriegsfreiwilliger, ihrer Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, ihrer Handlungsmaximen sowie ihrer Binnenrationalität im Kontext von Gewalt lohnt sich eine detaillierte Betrachtung ihrer kulturell erzeugten Elemente. Indem sie als Kollektiv gemeinsame Sichtweisen auf die Lebensumwelt des Krieges teilten, manifestierten sich dort ähnliche Werte und Normen, Ideen und Überzeugungen, Verhaltensweisen und Gewalthandeln, kurz: es entwickelte sich Kultur.52

Angesiedelt zwischen den Forschungsdisziplinen kulturanthropologischer Gewalt-, Täter- und Emotionsforschung fokussiert die vorliegende Untersuchung daher die Akteursperspektive von Gewalttätern, die zu einem gewissen Zeitpunkt Anfang der 1990er Jahre allesamt ungezwungen und aus freien Stücken entschieden, sich den Kroaten im Kampf gegen die Jugoslawische Volksarmee (JNA)53 anzuschließen. Durch diesen Betrachtungswinkel wird sich der Pragmatik von Kultur angenähert, also den Sinnstrukturen und Praxiszusammenhängen, die die internationalen Kriegsfreiwilligen in ihrer Gemeinschaft schufen.54

Dabei zielt die Fallstudie explizit nicht auf die historische Rekonstruktion oder Verifikation stattgefundener Ereignisse, im Zentrum stehen also nicht die militärischen Fakten rund um die Jugoslawienkriege. Vielmehr eröffnet die Auseinandersetzung mit der spezifischen Kultur dieser transnational agierenden Gewaltakteure ihre individuellen Situationsdarstellungen, ihre Selbstbilder und die Argumentationslogik hinterer ihrer eigenen Gewaltanwendung. Sie selbst sollen gemäß dem Verständnis der Oral History also zu Wort kommen, um Einblicke in ihre damalige Lebenswelt und den Kriegsalltag zu geben und ihre Lebensgeschichten aus eigener Sicht zu erzählen. Nicht die historische ›Wahrheit‹ bildet folglich das Zentrum der Analyse, sondern die erlebte Wirklichkeit der befragten Personen. Gerade weil es sich bei den Zeitzeugen um freiwillige Kombattanten gehandelt hatte, bei denen auf den ersten Blick keinerlei äußere Veranlassung vorlag, den Frieden ihres Heimatlandes zurückzulassen und in den Krieg auf dem Westbalkan zu ziehen, verspricht die Untersuchung aussagekräftige Erkenntnisse zu nicht-staatlichen Kriegsakteuren allgemein: ihre Kultur, ihre Handlungspraxis sowie dort vorhandene Gewaltdynamiken kommen zum Vorschein.

2.1Forschungsdesign und Fragestellung

2.1.1Die Offenheit des ethnografischen Forschungszugangs

Die Studie war über den Zeitraum von Januar 2017 bis Dezember 2021 angelegt, wobei der Großteil der empirischen Datenerhebung primär in 2018 und 2019 erfolgte. Gekennzeichnet war diese Untersuchung dabei von einer enormen Heterogenität sowohl in der Art der Daten55 als auch der Orte für die Datenerhebung56 sowie der ›Dateninformationsträger‹.57 Durch diese Kombination gelang es jedoch, drei unterschiedliche Zeitebenen der Kultur zu erfassen,58 um so jeweils andere kulturelle Aspekte herauszuarbeiten. Die Wahl fiel dabei auf eine qualitative Forschung,59 da diese Methode eine detailgenaue Analyse des kulturellen Orientierungssystems der internationalen Kriegsfreiwilligen innen heraus ermöglichte. Auf diesem Weg ließ sich deren damalige Lebenswelt schließlich nachzeichnen. Zur Rekonstruktion dieser militärischen Gewaltkultur, ihrer gängigen Deutungsmuster, rationaler Handlungsorientierungen und gültiger Wissensbestände wurden empirische Daten herangezogen, auf Grundlage welcher letztlich weitere Theorieaussagen getroffen werden konnten.60 Hierauf basiert letztlich das Erkenntnisziel qualitativer Forschung: ihr Wissensanspruch besteht darin, mittels Empirie neue Theorien zu entwickeln.61

Der empirische Teil dieser Studie untersuchte entsprechend, weshalb sich vorwiegend Personen aus westlichen Ländern freiwillig in einem Konflikt engagierten, zu dem sie vorab keinerlei persönliche Verbindung vorwiesen. Das Erkenntnisinteresse richtete sich auf die kulturellen Elemente, die ihr Kollektiv und ihr Handeln dabei prägten. Vom Kulturbegriff der Doing Culture ausgehend war eine mikroperspektivische Betrachtung der Akteure erforderlich, da die Kultur erst im Handeln ihrer Kulturträger entstand. Die Forschungsperspektive dieser, als Einzelfallstudie62 angelegten, Arbeit musste sich also auf die internationalen Kriegsfreiwilligen selbst richten.

Bewusst wurde daher die Ethnografie als Forschungszugang gewählt, da hier verschiedene qualitative Forschungs- sowie Datenerhebungsmethoden miteinander verbunden werden können, um Alltagskulturen nahe zu kommen. Ebenso offen, wie der Forschungszugang, war somit das gesamte Forschungsdesign gestaltet: Da zu Beginn der Analyse nicht klar war, ob es sich bei der Kultur der internationalen Kriegsfreiwilligen tatsächlich um eine spezifische Kultur handelte, die sich erkennbar von Militärkulturen unterschied, musste das Forschungskonzept auf die Erkenntnisse im Feld anpassbar sein und größere Handlungsspielräume ermöglichen. Dabei entsprach das ethnografische Vorgehen bewusst keinem standardisierten Forschungsdesign, sondern ergab sich aus der ständigen Reflexion im Sinne des Theoretical Sampling.63

Da die Datensammlung also einem konstanten Entwicklungs- und Anpassungsprozess an Dynamiken im Feld unterlag, orientierte sie sich in ihrer Begrenzung allgemein an der theoretischen Sättigung, die durch ständige komparative Analyse schließlich erreicht wurde.64 Die Anfangsphase der Datengenerierung war daher zunächst geprägt davon, viele verschiedene Daten (Interviews, Dokumente, Materielles und Feldaufenthalte) zu sammeln oder zu erzeugen, um dadurch eingangs ein möglichst breites Spektrum des zu untersuchenden Forschungsfeldes abzudecken. Hieraus zeichneten sich daraufhin erste Themenfelder ab, die durch spätere Daten dann so ergänzt wurden, dass die Theorie dadurch entweder bestätigt oder aber weiter differenziert werden konnte.65 Somit erfolgte vor der Feldforschung keine definitive Festlegung auf die Art der Datentypen oder die Größe des Datenbestands, da sowohl der Zugang zum Feld als auch die Möglichkeiten der Datenerhebung vorab unbekannt waren. Die Durchführung von Zeitzeugeninterviews mit internationalen Kriegsfreiwilligen wurde vorher als erklärtes Ziel der Forschung formuliert, ob und mit wem diese allerdings geführt werden konnten, war aber erst zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich absehbar.

Entsprechend verhielt es sich mit den zu erwartenden Ergebnissen aus den erhobenen Daten zu Beginn der Untersuchung, die sich ebenfalls auf die Fragestellung auswirkten. Dies erforderte eine gewisse Flexibilität im Forschungsdesign sowie auch im Vorgehen an sich. Daneben ergaben sich manche Quellen, wie zum Beispiel die Veteranenvereinszeitschrift, erst durch den persönlichen Kontakt zu den Befragten. Für den Fall, dass keine oder zu wenige Interviewpartner gefunden würden, sollten sogenannte Söldnermemoiren internationaler Beteiligter aus demselben Konflikt den Quellenkorpus komplettieren. Letztlich setzte sich dieser dann zusammen aus Zeitzeugeninterviews, teilnehmender Beobachtung bei Gedenkveranstaltungen auf dem Westbalkan, Selbstzeugnissen, Archivalien sowie Internetquellen, die mittels der Grounded Theory Method (GTM) nach Strauss und Corbin ausgewertet wurden. Unter Anwendung dieser Auswertungsmethode gelang es nicht nur die Existenz einer militärischen Gewaltkultur eindeutig zu beweisen, sondern auch deren spezifische Ausprägungen im Detail nachzuzeichnen.

Hinsichtlich der Fragstellung weist die Ethnografie dabei eine systematische Besonderheit auf: zwar muss eine kurze, grobe Fragestellung zu Beginn des Forschungsprozess notwendigerweise skizziert werden, diese gilt es im weiteren Verlauf jedoch entweder umzuformulieren oder weiter zu präzisieren.66 So lautete die grobe Fragestellung der Analyse zu anfangs: Entwickelte sich unter den internationalen Kriegsfreiwilligen in den Jugoslawienkriegen eine Kultur und wenn ja, welche ›anderen‹ kulturellen Ausformungen nahm sie, insbesondere im Vergleich mit der Militärkultur, an? Als in sich geschlossene Gruppe mit wenig Informationen oder Kontakt nach außen war deren militärische Gewaltkultur bislang weder erforscht, noch deren bloße Existenz deutlich erkennbar gewesen. Entsprechend gewährte eine weite Fragestellung die methodische Führung im Feld. Mit welchem Ziel sollte die Frage nun untersucht werden?

Die Betrachtung kultureller Orientierungssysteme vermittelte ein besseres Verständnis für die Handlungsdynamiken freiwilliger Kämpfer in Kriegen allgemein, da so alle Aspekte ihrer Identität, ihres Kollektivs, ihres Werteverständnisses, ihrer Gewalthandlungen, ihrer materiellen Kultur sowie ihrer Erinnerungsgemeinschaft analysiert werden. Durch diese kulturelle Gesamtdarstellung näherte sich die kulturanthropologische Forschung deren spezifischer Binnenrationalität innerhalb ihrer neuen Lebens(um)welt. So gewährte sie insgesamt vertiefte Einsichten in die jeweiligen Gewaltlogiken internationaler Kriegsfreiwilliger, die letztendlich oftmals als der wesentliche Impulsgeber für begangene Gewalttaten fungieren. Indem also deren Gewaltkultur ausführlich analysiert wird, lassen sich wichtige theoretische Erkenntnisse über ihre Mentalität und die vorhandene Handlungspraxis transnationaler Gewaltakteure gewinnen.

2.1.2Forscherin und Feld

Da in der Feldforschung gewissermaßen kein natürliches Umfeld existiert, muss ein Forschungsfeld durch die forschende Person zunächst selbst so konstruiert werden, dass es sich nach außen hin analytisch abgrenzt und den Raum gleichzeitig erforschbar macht.67 Je nach Forschungsinteresse eignen sich jeweils unterschiedliche Bereiche, um innerhalb der Untersuchung schließlich zu aussagekräftigen Erkenntnissen zu gelangen. Verstanden als »eingegrenzte Sozialräume«,68 auf denen die ethnografische Vorgehensweise stets basiert, schneidet ein Feld den Analyserahmen für die Untersuchungsräume also passend zu.

Beim untersuchten Feld handelte es sich in der vorliegenden Studie um einen Sozialraum, der durch Personen konstituiert worden war, die allesamt im Zeitraum von 1991-1995 freiwillig in den Jugoslawienkriegen gekämpft hatten. Darüber hinaus mussten sie sich auf Seiten der Kroaten beteiligt haben, egal in welcher Einheit und ob in paramilitärischen Kontexten oder nicht. Als weiteres Selektionskriterium zur Qualifikation als Studienteilnehmer durften diese internationalen Kriegsfreiwilligen zudem keine biographische Verbindung zur Region aufweisen. Personen aus der jugoslawischen Diaspora, die in einer enormen Vielzahl zurückkehrten, um ihr Heimatland zu verteidigen, waren somit explizit nicht Teil des Untersuchungsbereichs.69

Einstieg ins Feld

Hinsichtlich der Felderschließung musste besonders zu Beginn des Forschungsprozesses mit erheblichen Zugangsschwierigkeiten gerechnet werden. Dieser Umstand war darin begründet, dass es sich bei den potentiellen Zeitzeugen um eine sehr informelle Gruppe handelte, die aufgrund ihrer spezifischen Charakteristika (freiwillig für eine andere Armee als ihr Herkunftsland kämpfend) gerne unter sich blieb: Zum einen, weil sie in der Öffentlichkeit oft als Söldner stigmatisiert worden war, zum anderen, da ihr Kriegseinsatz für viele unter ihnen auch rechtliche Konsequenzen nach sich zog oder auch weiterhin mit sich bringen könnte. Gerade Fremden gegenüber war demnach von einer ausgeprägten Aversion auszugehen.

Überraschenderweise gelang der Zugang zum Feld jedoch besser als vorab angenommen. Erleichtert wurde dieser Einstieg dabei durch einen persönlichen Kontakt, wodurch eine Annäherung mit dem ersten Zeitzeugen stattfand. Dieser erklärte sich auch nach kurzer Zeit bereit dazu, das Forschungsvorhaben zu unterstützen und vermittelte darüber hinaus wichtige Informationen zur Szene der internationalen Kriegsfreiwilligen, deren Treffpunkte sowie Hinweise zu ihren kommunikativen Austauschkanälen. Parallel dazu konnte ein zweiter Zugang zum Feld generiert werden: Ein britischer Kollege veröffentlichte wenige Jahre zuvor eine kleine Studie über dieselben Akteure und unterhielt weiterhin Kontakt zu diesen. Dankbarerweise stellte er mir diese Verbindungen ebenfalls zur Verfügung und ermöglichte mir so die Annäherung an weitere Zeitzeugen, vorwiegend aus Großbritannien. Rückblickend muss jedoch konstatiert werden, dass eine direkte Kontaktaufnahme zu diesen internationalen Kriegsfreiwilligen gänzlich ohne Vermittler unmöglich gewesen wäre, schon allein aus dem Grund, dass diese Personen als Kriegsteilnehmende schlecht ausfindig zu machen waren.70 Nachdem somit die ersten Hürden, der Zugang zum Feld, genommen waren, konnten weitere Interviewpartner nach dem Schneeballprinzip gewonnen werden.71

Neben den persönlichen Befürwortern aus den eigenen Reihen erwiesen sich zwei weitere Aspekte als Schlüsselfaktoren, um das Feld zu erschließen: zum einen die schriftliche Zusicherung von Anonymität72 zum anderen das Thema der offiziellen Anerkennung73.

Beides war in diesem Kontext besonders entscheidend, da die Mehrheit der Akteure von vorneherein äußerst skeptisch auftrat und sich aufgrund schlechter persönlicher Erfahrungen grundsätzlich sehr misstrauisch gegenüber allen unbekannten Außenstehenden verhielt. Mehrheitlich ging es ihnen beim Kennenlernen allerdings weniger um die wissenschaftlichen Forschungsdetails, essentiell war hingegen das Vertrauen, dass sie dort im »richtigen Licht« (also nicht als rein monetär motivierte Söldner) dargestellt würden. Dennoch zeigten sich einige wenige Zeitzeugen überaus interessiert an Einzelheiten des allgemeinen Forschungsinteresses und stellten beispielsweise ausführliche Fragen zum analytischen Vorgehen in der Arbeit. Gerade bei der ersten Kontaktaufnahme forderten einige unter ihnen einen Einblick in das Forschungsvorhaben, weshalb daraufhin eine Liste von groben Fragenskizzen zusammengestellt wurde, die bei Bedarf vorgelegt werden konnte.74 Vorab thematisiert wurden zudem oftmals persönliche Vorstellungen und allgemeine Kenntnisse rund um Krieg, um so den vorhandenen Wissensstand der Forscherin zu überprüfen.

Alles in allem lag der Fokus der Position als Forscherin damit stark auf der Entstehung einer engen Vertrauensebene mit möglichen Gesprächspartnern, die überwiegend auf Basis folgender Aspekte geschaffen werden konnte: durch Hartnäckigkeit, langfristige und wiederkehrende Präsenz vor Ort, emotionale Anteilnahme und starke Empathie für das jeweilige Gegenüber sowie das Entgegenbringen echten Interesses für die Biographien dieser Akteure. Dadurch gelang es nach circa 1,5 Jahren Vorarbeit schließlich, derartige vertrauensvolle Verhältnisse zu schaffen, in denen die Zeitzeugen ausgiebig von ihren Kriegserlebnissen berichteten. Gerade durch die lange Präsenz innerhalb des Milieus wurde auch der »Zugang zu den Hinterbühnen des Feldes«75 ermöglicht, so dass die Forscherin unter dem Großteil der Veteranen oft als vollständiges Mitglied der Gruppe und nicht als außenstehende Beobachterin wahrgenommen wurde. Dies wirkte sich äußerst positiv auf die Forschung aus, da auf diesem Wege über die reine Sachebene hinaus auch verborgene soziodynamische und psychodynamische Ebenen innerhalb des Kollektivs der internationalen Kriegsfreiwilligen aufgedeckt werden konnten.

Daneben enthielt die Feldforschung jedoch durchaus auch negative Momente: so kam es mehrfach zu Drohungen, Diskreditierungen und Anfeindungen – vor allem im Internet. Auch offensichtlich ablehnendem Verhalten gegenüber der Forscherin war bei den Feldforschungen vor Ort bei mancher Person deutlich erkennbar, ohne dass es dabei aber zu Auseinandersetzungen gekommen war.76

Positionierungen und Rollen als Forscherin im Feld

Zu reflektieren galt es während der intensiven Forschungsphasen darüber hinaus auch die eigenen sozialen Rollen, welche sich unmittelbar auf die Untersuchung und deren Ergebnisse auswirkten. In meiner Rolle als deutsche weiße Frau ohne biographische Bezüge zum damaligen Krieg in Jugoslawien stand meine Nationalität unter den Zeitzeugen selten im Fokus des Interesses. Manch potenzieller Gesprächspartner verwies jedoch explizit darauf, dass er ein persönliches Problem mit Deutschen allgemein hätte und begründete damit die Verweigerung einer gemeinsamen Zusammenarbeit.77 Dass ich mich als Frau für ihre kriegerische Lebensgeschichte interessierte, schätzte ich dabei ausschließlich als einen Vorteil ein, der in zweifacher Hinsicht Wirkung zeigte: meiner Einschätzung nach nahmen mich die Akteure einerseits weniger als potenzielle Bedrohung wahr,78 anderseits traten sie auch seltener in eine Art Männlichkeits-Wettbewerb mit mir.79 Darüber hinaus wurde der Eindruck erweckt, dass es einigen den befragten Personen leichter fiel, vor mir als Forscherin über schwierige oder traumatische Erlebnisse zu sprechen, sich verletzlich zu zeigen oder Emotionen während des Gesprächs zuzulassen.

Da bei mir als Forscherin ebenso keinerlei persönliche Verbindung zum westlichen Balkan bestand, entsprach ich in dieser Hinsicht nicht nur denselben Parametern wie die Interviewpartner. Darüber hinaus berichteten sie laut eigenen Angaben deshalb auch freier vom Kriegsalltag, ohne dabei Gefahr zu laufen, dass ich mich mit einer der Konfliktseiten eventuell stärker identifizieren würde. Eine ähnliche sozio-kulturelle Prägung meinerseits führte daneben zu einer besseren Verständnisebene zwischen den interviewten Personen und mir, da ich ebenfalls in einem westlichen Land im Frieden aufwuchs und demgemäß vergleichbare Werte und Normen verinnerlichte. Vielleicht war es auch auf diese Gemeinsamkeit zurückzuführen, dass mein deutlich jüngeres Alter keine entscheidende Rolle gespielt hatte: trotz der hohen Altersdifferenz begegneten sich alle Seiten auf Augenhöhe.

Anhand der eigenen Positionierungen im Feld verdeutlichte sich noch einmal das Spannungsfeld aus Nähe und Distanz, welchem sich Forschende während der teilnehmenden Beobachtung stets ausgesetzt sehen.80 Für die eigene Position im Forschungsumfeld war nämlich ein dynamischer Entwicklungsprozess feststellbar, wonach sich meine Rolle zusehends von einer passiven, rein Beobachtenden von außen hin änderte zu einer aktiven, stärker ins soziale Feld Eingebundenen.81 Analog zu diesem Wandel bewirkte dieser Vorgang ebenso einen anderen perspektivischen Zugang zum Untersuchungsfeld, der wiederum weitere konzeptionelle Vor- und Nachteile mit sich brachte. Während durch die anfängliche Distanzierung also weniger perspektivische Verzerrungen stattfanden, als durch das stückweise Sicheinlassen auf die Kultur,82 garantierte diese später dann eine engere Teilhabe mit gutem Einblick in die Akteursperspektive sowie verborgene Diskurse.83 Da hierbei jedoch stets die Gefahr bestand, dass die emotionale Involvierung zu stark werden könnte und Schilderungen daraufhin unkritisch übernommen werden, bedurfte es geeigneter Distanzierungsmaßnahmen zur Garantie der wissenschaftlichen Objektivität des Projekts.84

Weitere Herausforderungen des Projekts standen im Zusammenhang mit persönlichen Sicherheitsaspekten, potentiellen juristischen Nachwirkungen oder Folgen, die sich aus der eigenen strategischen Position innerhalb der Gruppe ergaben. Wie bereits erwähnt, ging mit der Auseinandersetzung mit diesem Themenfeld und ihrer spezifischen Akteure manchmal eine größere Bedrohungslage einher, als in anderen Forschungen üblich. Beide Faktoren resultierten schließlich darin, dass ich als Forscherin häufiger als gewöhnlich Klassifizierungen und Beurteilungen ausgesetzt war und mit extremen Reaktionen einzelner internationaler Kriegsfreiwilliger, Einschüchterungsversuchen und Ablehnung also stets zu rechnen und umzugehen hatte.85 Im Schutz eigener Sicherheit unter gleichzeitiger Schaffung einer vertrauensvollen Atmosphäre bestand somit das individuelle Spannungsfeld, welches es über die gesamte Laufzeit hinweg stets auszuhandeln und je nach Gesprächspartner neu anzupassen galt.

Aufgrund der thematischen Charakteristika war es darüber hinaus erforderlich, sich über die rechtliche Lage sowie mögliche (juristische) Folgen für das Forschungsprojekt zu informieren, die durch eine Beschäftigung mit diesen speziellen Akteuren einherging.86 Dazu waren sich unter den internationalen Kriegsfreiwilligen auch nicht alle Gruppen untereinander gewogen. Manche diskreditierten andere und wiesen mich darauf hin, dass mit bestimmten Personen etwa überhaupt nicht zu reden sei oder ich deren Ausführungen grundsätzlich keinen Glauben schenken dürfe.87 So war ich konstant dazu gezwungen, durch den Kontakt zu gewissen Zeitzeugen nicht zwischen interne Fronten zu geraten und meine neutrale Beobachterposition beizubehalten, ohne dabei das Ansehen in den jeweiligen Untergruppen zu verlieren.88 Häufig waren hier sowohl diplomatisches Geschick als auch Fingerspitzengefühl erforderlich.

Im Zuge solcher Zwischenfälle kam die verborgene Machttextur des Feldes überdeutlich zum Vorschein. Wer grundsätzlich das Sagen hatte, bestimmte dabei entscheidend, welche Interessen sich letztlich durchsetzten oder welche Diskurse in welchen Ausprägungen geführt werden durften und welche wiederum nicht.89 Wegen der allgemeinen Heterogenität der Gruppe handelte es sich bei den internationalen Kriegsfreiwilligen dabei nicht um eine Einzelperson, vielmehr waren mehrere verschiedene Zeitzeugen in ihren kleineren Untergruppen90 die Anführer oder die Antreiber bestimmter Themen.91 Erst durch die längere Anwesenheit im Feld zeichneten sich diese Dynamiken jedoch ab und wurden beim weiteren Vorgehen berücksichtigt. Unter die Präsenz verborgener Machtkonstellationen fielen beispielsweise auch vereinzelte Vereinnahmungsversuche durch Zeitzeugen, bei denen die Selbstständigkeit der Kontakterschließung durch Warnungen gebremst, Zurückhaltung empfohlen oder eine Wahl/ Auslassung bestimmter anderer Personen nahegelegt worden waren.92 Das Verständnis vorhandener Machtverflechtungen innerhalb des Kollektivs eröffnete deshalb zusätzliche Dimensionen von Einseitigkeit, versteckten Interessen und machtstrategischen Hintergedanken einzelner Gesprächspartner, die nicht nur meines konstanten (Selbst-)Reflexionsprozesses bedurften, sondern für die stets flexible Verhaltensstrategien gefunden werden mussten.93

2.1.3Zum Anspruch auf Faktizität, Zuverlässigkeit und Generalisierung der Daten

Wie einleitend bereits angedeutet, war die vorliegende Studie zwar im Bereich der Gewalt- und Täterforschung anzusiedeln, beansprucht für sich dabei jedoch keinen Anspruch auf historische Faktizität. Nicht der Wahrheitsgehalt und damit die tatsächliche Überprüfbarkeit der Aussagen standen also im Fokus des Interesses dieser kulturanthropologisch ausgerichteten Forschung. So wurden in der Analyse keine archivalischen Quellen hinzugezogen, da die in den Interviews geschilderten Ereignisse nicht als Fakten belegt und Abläufe im Krieg dadurch detailgenau rekonstruiert werden sollten. Stattdessen lag der Fokus auf der emischen Bedeutungsstruktur der transnationalen Gewaltakteure, die durch ihre mündlichen wie schriftlichen Reflexionen über den Krieg selbst erfasst wurde. Da diese aus dem Archivmaterial jedoch nicht hervorging, spielten Archivalien in der vorliegenden Arbeit letztlich auch keine nennenswerte Rolle.

Das Projekt konzentrierte sich hingegen auf die Selbstbeschreibungen der internationalen Kriegsfreiwilligen, deren persönliche Wahrnehmungen, Deutungsmuster und Vorstellungsordnungen der Geschehnisse in den Jugoslawienkriegen, um deren semantischen Kontext ihrer damaligen Lebenswelt zu erschließen.94 In dieser war die militärische Gewaltkultur schließlich anzusiedeln. Ob das Erzählte oder Niedergeschriebene nun tatsächlich wirklichem Geschehen entsprach oder von den Zeitzeugen (un)bewusst durch Verklärungsprozesse ausgedacht oder ergänzt wurde, war für die vorliegende Untersuchung aus mehreren Gründen unerheblich: Erstens offenbarten die Aussagen der Befragten die Konstruktion ihrer eigenen, spezifischen ›Wirklichkeit‹ mit samt ihrer Identitäten, kollektiver Dynamiken, vorhandener Wertesysteme, ausgeschöpfter Handlungsmöglichkeiten, Denkweisen oder Weltbilder – kurz: diverser Aspekte von Kultur. So eignete sich das teil-biographische Oral History Material dazu, kulturelle Prozesse darzustellen und deren jeweilige Ausprägungen im Detail zu beleuchten, ohne dabei auf deren Wahrheitsgehalt überprüft zu werden. Zweitens fügte die Ergänzung des Interview-Datensamples mit Tagebüchern aus der Kriegszeit nicht nur eine zweite (authentischere) Zeitebene hinzu, sondern gewährleistete außerdem, dass vorherige Aussagen unter Umständen auch durch entsprechende Beschreibungen aus den schriftlichen Einträgen abgeglichen werden konnten. Des Weiteren bestand der Mehrwert darin, dass nunmehr unmittelbare Erfahrungen aus dem damaligen Kriegsalltag ebenfalls in die Forschung miteinflossen.95 So lieferte die Analyse durch ihren Quellenfokus nicht nur Erkenntnisse darüber, welche Elemente aus der individuellen Erinnerung ex post weiterhin sinngebend für die damalige Beteiligung verblieben, sondern zusätzlich auch die subjektiven Erfahrungen der internationalen Kriegsfreiwilligen ex ante.

Dabei ist allerdings zu bedenken, dass mit lebensgeschichtlichem Erzählen bzw. biographischen Interviews stets auch Komplikationen einhergehen, denen es quellenkritisch zu begegnen gilt.96 Grundsätzlich bieten Interviewsituationen oder Selbstzeugnisse nämlich immer die Gelegenheit, gewisse Aspekte bewusst zu verschweigen: Im Falle biographisch-narrativer Schilderungen der persönlichen Lebensgeschichte war also allzeit mit gewissen Formen des Eingreifens, der Umstrukturierung, Reduktion oder Ausschmückung situativer Gegebenheiten zu rechnen und diese bei der Auswertung gegebenenfalls miteinzubeziehen.97 Um trotzdem einen analytischen Zugang zur Wirklichkeitssicht der Zeitzeugen zu erhalten, ohne den Zeitzeugen dabei stets gezielte Formen der bewussten Einflussnahme zu unterstellen, half die Datentriangulation. Durch sie gelang es, die performativen Kommunikationsbestandteile zu entschlüsseln, indem schlussendlich unterschiedliche Methoden und verschiedene Narrative kombiniert wurden.98 Hieraus ergaben sich schließlich vielfältige Perspektiven auf das untersuchte Phänomen der militärischen Gewaltkultur.

Des Weiteren stellt sich, insbesondere bei mikrosperspektivisch angelegten Forschungen, stets die Frage nach der Repräsentativität und damit letztlich der Generalisierbarkeit gewonnener Erkenntnisse.99 Natürlich beansprucht die vorliegende Untersuchung keine Repräsentanz im statistischen Sinn. Vielmehr stellt sie eine Analyse dar, bei der bestimmte theoretische Ergebnisse verallgemeinerbar sein können und auf bestehende Muster über den eigenen Wirkungskontext hinaus verweisen.100 Daher ist der Charakter der ethnografischen Studie insgesamt explorativ für ein spezifisches Phänomen, nämlich militärischer Gewaltkulturen: Erkenntnisse lassen sich hierbei entsprechend systematisieren und vom Einzelfall ausgehend verallgemeinern zu komplexen Strukturen im Kulturkontext nicht-staatlicher Gewaltakteure.101 So auch im untersuchten Fallbeispiel. Obwohl sich das Erkenntnisinteresse lediglich auf die Kennzeichen der in Jugoslawien unter den Zeitzeugen vorhandenen Gewaltkultur richtete, verweisen diese parallel auf eine Vielzahl vergleichbarer Phänomene, auch im historischen Verlauf betrachtet.102 Losgelöst von den konkreten Aussagen der interviewten Personen, ihrem ursprünglichen Entstehungskontext also, erfasst die Ethnografie gewissermaßen die phänomenologische Essenz und ermöglicht so die weitere Abstraktion bis hin zur Entwicklung einer eigenen Theorie.103

2.2Ethnografische Datenerhebung

2.2.1Interviews

Zur systematischen Erfassung von Sinn- und Identitätskonstruktionen der Zeitzeugen war es daher unabdingbar, die Akteure selbst zu Wort kommen zu lassen.104 Um ihrem inneren Erleben des Kriegsalltags näher zu kommen und detaillierte Informationen über die Sinnzusammenhänge zu erhalten, mit denen die Befragten ihre Beteiligung schilderten, richtet sich der Fokus auf ihre Lebensverläufe, beginnend mit der Zeit in den Jugoslawienkriegen. Wie konstruierten sie (retrospektiv) die Wirklichkeit des Krieges anhand ihrer subjektiven Sicht und welche verborgenen Sinnmuster für die freiwillige Beteiligung kamen hierbei zum Vorschein?

Um diesen Fragen nachzugehen erfolgte die Erhebung in erster Linie nach dem Verfahren biographisch-narrativer Interviews, wie es von Fritz Schütze105 entwickelt wurde und in der qualitativen Forschung oder Oral History Anwendung findet. Als Forschungsansatz richtet sich das Erkenntnisinteresse dieser biographischen Methode auf Lebensgeschichten, die vorwiegend durch entsprechende Interviews als Erhebungsinstrument rekonstruiert werden.106 Da keine Differenzierung zwischen tatsächlich Erlebtem und Erzähltem möglich ist, besteht der Anspruch der Biographieforschung auch nicht darin, den Lebenslauf des Gesprächspartners wahrheitsgemäß und exakt zu rekonstruieren.107 Stattdessen bildet die Art der individuellen Biographie, die vom Zeitzeugen wahrgenommen bzw. erinnert wurde, den zentralen Mittelpunkt des Erkenntnisinteresse biographisch-narrativer Interviews. Beim Subjekt des lebensgeschichtlichen Erzählens handelt es sich zeitgleich immer auch um das Objekt seiner Erzählung108 – dies gilt es bei der Auswertung im Hinterkopf zu behalten. So stoßen individuelle Schilderungen von Zeitzeugen im Hinblick auf das Schweigen oder, im Falle von Kriegserzählungen auch häufiger, des Ver-Schweigens,109 durchaus auch an ihre Grenzen.

Im Hinblick auf die Herausarbeitung möglicher Ursachen für das Gewaltverhalten der internationalen Kriegsfreiwilligen sowie stärker noch für das Verständnis ihrer Gewaltlogik, eignete sich dieses biographische Erhebungsinstrument besonders gut. Den zentralen Inhalt aller Interviews bildeten die individuellen Kriegserfahrungen, was sich entsprechend auf das gesamte Setting, das Vorgehen und die Abläufe der biographisch-narrativen Interviews auswirkte. Trotz der durchaus vorhandenen Kritik gegenüber diesem Forschungsinstrument, die sich in erster Linie mit der Problematik von persönlichen Verklärungs- und Verdrängungsprozessen auseinandersetzt,110 bietet sie dennoch einen enormen Mehrwert an Erkenntnis: Es gelingt diesen Interviews auf gewisse Identitäts- sowie Handlungsprozesse aufmerksam zu machen, die als Brücke das Vergangenheits-Ich mit dem Gegenwarts-Ich einer Person verbinden.111

Gekennzeichnet war das allgemeine Vorgehen zunächst vom biographischen Erzählen aller Beteiligter, das vor allem dann beim zweiten oder dritten Termin mit demselben Gesprächspartner stärker an einen gering strukturierten Leitfaden angepasst wurde. Insbesondere zur Garantie der größeren Vergleichbarkeit bewährte sich beim Interviewtypus für die Zweit- oder Drittgespräche eine Modifikation der narrativen Interviews mit einer stärken Nachfrageorientierung.112 Um mit diesen exmanenten Fragen schließlich Themen abzuhandeln, die bis dato unerwähnt blieben, folgten hier häufiger Erzählstimuli, als sonst üblich. Im Wesentlichen entsprachen diese aber der Nachfragephase beim Vorgehen ›klassischer‹ narrativer Interviews:113 statt aber einzeln im Anschluss an das jeweilige Interview wurden diese hingegen gesammelt nachgeholt. Da knapp ein Drittel der abgefragten Personen nur schriftlich Auskunft erteilen wollten, wurde daraufhin parallel ein schriftlicher Fragebogen erstellt.114

Angefragt wurden über den Zeitraum von Anfang 2017 bis Mitte 2020 circa 80 Personen, wobei über dieselbe Zeit letztlich (schriftlich und/ oder mündlich) Interviews mit 14 Zeitzeugen geführt wurden.115 Grundsätzlich basierten alle Interviews dabei auf Freiwilligkeit und unter der Garantie anonymisierter Bedingungen, so dass daraufhin persönliche Daten wie Namen, Einheiten vorheriger Militärstationen, Wohnorte oder Namen von Kameraden in der Transkription verfremdet wurden.116

Das Interviewsetting bestand stets aus einem Zweiergespräch zwischen Interviewerin und befragter Person, das üblicherweise zwei bis drei Mal117 zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Form von Gesprächen mit derselben Person stattfand. Vorwiegend wurden diese in deutscher und englischer Sprache durchgeführt und es wurde sich dabei geduzt.118 Neben dieser Gemeinsamkeiten waren die weiteren Interviewbedingungen verhältnismäßig heterogen und angepasst an das jeweilige Individuum gegenüber.119

Bei den unterschiedlichen Interviewphasen orientierte ich mich im Wesentlichen an der gängigen Vorgangsweise bei narrativen Interviews.120 Die allgemeine Gesprächsdauer der Interviews lag dabei zwischen einer bis eineinhalb Stunden Sprechzeit. Beim Umgang mit dem Tonband zeigten sich keine Besonderheiten. Egal, ob die Gespräche mit einem Aufnahmegerät auf dem Tisch liegend, oder bei den virtuellen Interviews mit dem Kommunikationsmedium selbst aufgenommen wurden, in allen Fällen ›vergaßen‹ die Gesprächspartner im Laufe des Gesprächs wenigstens zeitweise, dass dieses durch ein Tonband aufgezeichnet wurde. Nur selten forderten die internationalen Kriegsfreiwilligen eine Unterbrechung der Aufnahmen. Falls dies doch geschah, dann stets, um etwas Vertrauliches oder Inoffizielles zu teilen, das bewusst nicht auf Band festgehalten sein sollte.121 In einigen wenigen Fällen bot die Forscherin hingegen eine Pause an, als die teils traumatischen Erinnerungen den Zeitzeugen sichtlich stark aufwühlten.122

Darüber hinaus stellt sich bei Lebensgeschichten, die geprägt waren von Krieg und eigener Gewalthandlungen, noch stärker die Frage als sonst, ob und wenn ja, welche Auslassungen hier vorgenommen werden, um weder das eigene Selbstbild noch die Vorstellung eines prinzipiell moralisch ehrenhaften Verhaltens im Krieg zu gefährden. Dies gilt insbesondere für Befragungen zu Geschehnissen, die mit starken gesellschaftlichen Tabus belegt sind, wie die Ausübung von Gewalt.123 So betrifft dies unter Umständen zum einen die Erzählungen zum Krieg allgemein, kann sich zum anderen aber auch auf bestimmte Gewalthandlungen im Krieg selbst beziehen: Exekutionen Unschuldiger, Vergewaltigungen oder Kriegsverbrechen allgemein wären hier als Beispiele zu nennen, die unter Soldatenerzählungen typischerweise als Nicht-Erzählbares gelten.124 So ergaben sich bei den Themen der internationalen Kriegsfreiwilligen erwartungsgemäß massive Überschneidungen zu den von Natalija Bašić geführten Interviews mit regulären Soldaten aus demselben Krieg.125

Alles in allem lässt sich festhalten, dass der offene Rahmen, den biographisch-narrative Interviews den beiden Gesprächspartnern bieten, besonders gut dafür geeignet war, überwiegend schwierige Themen aus der Kriegszeit zu behandeln. Gleichzeitig schuf diese Methode auch den Raum für die Zeitzeugen, um auf eine möglichst wertneutrale und vergleichsweise unkommentierte Art und Weise selbst begangene aber auch erfahrene Gewalt zu schildern. Sie garantierte letztlich überhaupt den Zugang zu kritischen Inhalten aus der Beteiligung in den Jugoslawienkriegen, ebenso wie sie positive Erinnerungsprozesse an den Frontalltag reaktivierte. Somit generierte dieser Forschungsansatz wichtige Daten für die Untersuchung kultureller Dynamiken und Elemente, die das Kollektiv der Zeitzeugen letztlich massiv beeinflussten. Trotz dieser gelungenen Vorgehensweise war es dennoch erforderlich, diesen quantitativen Schwerpunkt des Quellensamples um weitere Erhebungsmethoden zu ergänzen.

2.2.2Teilnehmende Beobachtung

Als ein Forschungsverfahren, bei dem die soziale Beziehung zwischen der forschenden Person und den zu untersuchenden Menschen im Vordergrund steht, gilt die Teilnehmende Beobachtung als die wichtigste Methode der kulturanthropologischen Feldforschung.126 Geprägt ist diese zwischenmenschliche Interaktion dabei durch ein Spannungsfeld aus Nähe und Distanz, in welchem sich der/die Wissenschaftler_in durch unterschiedliche Formen des »Engagiert-Seins«127 im sozialen Feld bewegt. Entsprechend lassen sich die zwei unterschiedlichen Rollen eines Forschenden beschreiben: sowohl teilnehmend, da die forschende Person durch die aktive Teilnahme an den sozialen Prozessen des Feldes hier eine exklusive Innenansicht erhält; an anderer Stelle aber auch beobachtend, da sie bei solchen Prozessen zwar anwesend ist und das Beobachtete und Erlebte dokumentiert, jedoch nicht unmittelbar daran teilnimmt.128 Folglich wechseln sich nach diesem Verständnis die Innen- und die Außenperspektive idealerweise ab und beide Rollen werden im Feld (zeitweise) eingenommen.

Trotz der grundsätzlichen Kritik hinsichtlich der Überprüfbarkeit der Erlebnisse oder allgemein mangelnder Repräsentativität129 solcher Einzelfalluntersuchungen ermöglicht dieses Vorgehen das (authentische) Erleben der Subjekte, wie sie in ihrem sozialen Feld agieren. Für das untersuchte Fallbeispiel handelte es sich dabei um das Erfassen kultureller Praktiken der militärischen Gewaltkultur, präziser: die teilnehmende Beobachtung der Zeitzeugen in ihrer Erinnerungskultur. Übergreifend ließen sich so habitualisierte Handlungen beobachten, die diskursiv voraussichtlich nicht in dieser Weise verfügbar gewesen wären, da sie von den Zeitzeugen unter Umständen als nicht-erzählwürdig genug wahrgenommen würden, um explizit mitgeteilt zu werden.130 Allgemeiner gesagt: die militärische Gewaltkultur konnte in ihrer Gesamtheit nur durch die Ergänzung sprachlicher Darstellungen mit der teilnehmenden Beobachtung erfasst werden. Durch das Beobachten der internationalen Kriegsfreiwilligen in ihrem alten Wirkungskontext auf dem ehemaligen Kriegsgebiet des westlichen Balkans ließen sich Schilderungen aus den Interviews zudem kontrastieren. So konnten potenzielle Diskrepanzen zwischen ihren eigenen Narrativen und der vorhandenen sozialen Praxis, beispielsweise zur Gruppendynamik innerhalb des Kollektivs, aufgedeckt und die Aussagen auf ihre Authentizität hin untersucht werden. Dieser Vergleich lieferte folglich nicht nur weitere aussagekräftige Erkenntnisse zu den spezifischen Akteuren, sondern ebenso über ihre kulturellen Gepflogenheiten im Hinblick auf das Gedenken.

Wegen der Teilnahme an der jährlichen Gedenkveranstaltung in Vukovar konnte daher der Frage nachgegangen werden, wie sich die Zeitzeugen dort nach außen hin präsentierten und welche Gedenkinhalte sich so offenbaren. Insgesamt drei Feldforschungsaufenthalte fanden in den Jahren 2017 bis 2019 in die Region um Vukovar Kroatien statt, um an dieser Veranstaltung teilzunehmen und auch bei weiteren Freizeitaktivitäten wie privaten Zusammenkünften oder Veteranentreffen dabei zu sein. Hieraus ergab sich einerseits eine inhaltliche Verdichtung des Materials durch die Möglichkeit der mehrfachen teilnehmenden Beobachtung des jeweils selben Events, andererseits eröffnete dieser Umstand auch eine bessere Vergleichbarkeit der jeweiligen Handlungspraxis. Ob es sich bei Zeremonien beispielsweise um feste Rituale oder allgemein habitualisiertes Verhalten handelte, diese Frage ließ sich durch die komparative Betrachtung über einen längeren Zeitraum eindeutig beantworten. All diese Aspekte resultierten schließlich in der Präzisierung der Ergebnisse dieser Feldforschungen.

Neben der spezifischen Gruppendynamik erregte dabei auch die individuelle Gestaltung der speziellen Uniformen, die die internationalen Kriegsfreiwilligen in der Öffentlichkeit anlässlich der Gedenkveranstaltung in Kroatien trugen, wissenschaftliches Interesse. Über mehrere Jahre hinweg ließen sich so unterschiedliche Daten über diese Kleidungsstücke sammeln, was der vorliegenden Untersuchung letztlich vertiefte Einblicke in die materielle Kultur dieser Zeitzeugen verschaffte. Dem Zugang der Feldforschung war somit überhaupt Kenntnis über die Existenz dieser speziellen Garderobe zu verdanken.

Anhand unterschiedlicher Feldnotizen, darunter fielen sowohl die Anfertigung ausführlicher Beobachtungsprotokolle als auch das Festhalten einprägsamer persönlicher Eindrücke im Forschungstagebuch, wurde die teilnehmende Beobachtung schließlich gestützt.131 Zusätzlich zu diesen beiden Dokumentationsmedien ergänzte die visuelle Ethnographie in Form von selbstgemachten Fotografien während der Gedenkveranstaltung das Datensample. Insbesondere die Uniformen, die die internationalen Kriegsfreiwilligen zum Gedenkmarsch in Vukovar trugen, konnten durch diese dokumentarische Methode bestmöglich für eine spätere Analyse festgehalten werden.132 So wurden diese Fotografien während der Feldforschungen gewissermaßen als Aufzeichnungsmedien benutzt, um die visuellen Charakteristika der Uniformen darauf festzuhalten. Gewissermaßen als Dichte Beschreibung im Sinne Geertz’133 stellten diese Fotografien eine sinnvolle Ergänzung zu den Aussagen in den Interviews dar, um die Hegemonie schriftlicher ethnografischer Methoden aufzubrechen und Zugang zu weiteren Erkenntnisbereichen zu erhalten.

Allgemein war die Besonderheit der teilnehmenden Beobachtung darin begründet, dass die Daten zeitgleich mit dem sozialen Geschehen im Feld entstanden und damit ›aus erster Hand‹ direkt in der Situation gewonnen wurden.134 Um die internationalen Kriegsfreiwilligen als Akteure in ihrem alten Wirkungskontext zu beobachten, erwies sich die Methode als wichtiger Schlüssel zum besseren Verständnis ihres Kollektivs. Daneben eröffneten sich im Zuge dessen aussagekräftige Ergebnisse zu Formen und Inhalten ihrer Erinnerungskultur, die ebenfalls einen wichtigen Bestandteil der militärischen Gewaltkultur bildete.

2.2.3Egodokumente

Tagebücher

Um einen Einblick in Einstellungen, Gedanken, Gefühlen und Vorstellungsordnungen von Individuen zu erhalten, wird in der Forschung vermehrt auf Tagebücher als Formen offener Erlebnisbeschreibungen privater Personen zurückgegriffen.135 So geschah dies auch im Falle der vorliegenden Untersuchung: Das Datensample der Tagebücher ergänzte die retrospektiven Erzählungen der Zeitzeugen in den Interviews um eine weitere Zeitebene sowie wichtige Themen des Kriegsalltags. Hierdurch ließen sich andere Bestandteile der militärischen Gewaltkultur nachweisen, die in den Gesprächen ansonsten vermutlich nicht zur Sprache gekommen wären.136 Die Fragen der Authentizität und des Wirklichkeitsgehalts dieser subjektiven Schilderungen galt es im Zuge dessen dennoch besonders quellenkritisch zu hinterfragen und die Motive für eine schriftliche Dokumentation des Kriegsalltags gegebenenfalls zu berücksichtigen.

Hinsichtlich der allgemeinen Beschaffenheit wurden zunächst formale und sprachliche Aspekte der untersuchten Kriegstagebücher internationaler Kriegsfreiwilliger untersucht. Insgesamt vier Tagebücher stellten die Zeitzeugen auf Nachfrage zur Verfügung, wobei sich darunter lediglich eines befand, das im Selbstverlag publiziert worden war.137 Laut eigenen Angaben handelte es sich dabei um alle Tagebücher, die die Akteure während des Krieges schrieben, die restlichen 10 Befragten gaben an, keinerlei schriftliche Aufzeichnungen angefertigt zu haben. Somit schrieb lediglich knapp mehr als ein Viertel der Zeitzeugen ihre damaligen Erlebnisse überhaupt in einem Tagebuch auf. Aus methodischen Gründen wurden ausschließlich Tagebücher verwendet, die mit weiteren Interviews der Tagebuschreiber flankiert werden konnten. So war es einerseits möglich, retrospektiv Erinnertes mit dem Erzählten abzugleichen sowie andererseits einen aussagekräftigeren Gesamteindruck von der Person zu erhalten, um deren Aussagen besser einordnen zu können.138

Obwohl dieses Quellenmaterial größtenteils nur in Auszügen und digital als Scans vorlag,139 deckte es dabei dennoch jeweils mehrere Monate des Jahres 1992 an unterschiedlichen Fronten und in unterschiedlichen Einheiten ab. Im Umfang begrenzten die Tagebücher sich in einem Fall auf knapp 20 Seiten bis hin zu 200 Seiten innerhalb eines anderen Dokuments. Wie bereits erwähnt, wurde nur eines der untersuchten Tagebücher publiziert, alle anderen wurden laut eigenen Angaben nie zu diesem Zweck geschrieben,140 befinden sich bis heute in Privatbesitz ihrer Verfasser und waren für Außenstehende bis dato noch nie zugänglich.141 Gekennzeichnet waren diese allesamt von einer meist recht konstanten Schreibintensität, mit nur wenigen, kleinen Schreibunterbrechungen. In manchen Fällen erfassten diese Intervalle die Geschehnisse eines gesamten Tages, an anderer Stelle umfassten die Kriegsaufzeichnungen wesentlich kürzere zeitliche oder inhaltliche Distanzen.142 Auch im Hinblick auf die verwendeten Schreibmaterialien konnte eine enorme Heterogenität und damit letztlich auch Individualität der Diaristen festgestellt werden. So wechselten sie meist nicht nur die verwendeten Stifte, auch die äußere Form, wie die Art des Papieres, unterschied sich durchaus.143 Gerade das Tagebuch von P12 wies deutliche Alltags- und Gebrauchsspuren auf. So waren darin Ecken geknickt, Seiten seitlich abgerissen oder auch stark befleckt.144