Found Foto-Film - Charlotte Praetorius - E-Book

Found Foto-Film E-Book

Charlotte Praetorius

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Beschreibung

Analoge Fotografien begegnen uns im digitalen Zeitalter oft als Dinge, die – nachdem sie verwahrt, verloren oder sogar weggeworfen worden waren – (wieder-)gefunden werden. Die Faszination für solche gefundenen Fotos spiegelt sich auf markante Weise im zeitgenössischen Essay- und Dokumentarfilm wider. Found Foto-Filme sind eine seit der Jahrtausendwende neu entstandene essayistisch-dokumentarische Form: Filme, die mit hinterlassenen, geretteten oder gefundenen Konvoluten fotografischer Bilder arbeiten, diese sammeln, auswählen und in einen neuen Kontext stellen. Sie stehen in einem Spannungsfeld zwischen populärer Ästhetisierung und Re-Auratisierung analoger Medien im Zuge der Digitalisierung sowie einer langen Tradition, die Materialität und Medialität von Film durch die Arbeit mit Fotografie und Found Footage filmisch zu reflektieren. Charlotte Praetorius erkundet solche Aneignungen analoger Fotos anhand eines Korpus internationaler Filme: Wie setzen sich die Filmemacher_innen zu den fotografischen Funden ins Verhältnis? Wie greifen die Erzählungen und die Erzählbarkeit von Fotografie und Geschichte ineinander? Wie wird das fotografische Material angeordnet und inszeniert? Und wie lassen sich die Verhältnisse zwischen verschiedenen Medien und Materialien fassen? Dabei geht es Praetorius auch darum, die Formen des dokumentarischen und essayistischen Films als ein Reflexionsmedium von (Medien-)Geschichte ernst zu nehmen und zugleich auch kritisch infrage zu stellen.

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Charlotte Praetorius ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur der Stiftung Universität Hildesheim. Nach ihrem Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Romanistik in Frankfurt am Main und Lissabon war sie für verschiedene Filmfestivals tätig. Ihre Dissertation, die sich mit der Aneignung, Verwendung und Inszenierung gefundener fotografischer Materialien im zeitgenössischen Essay- und Dokumentarfilm befasst, wurde zunächst im Rahmen des Freiburger Graduiertenkollegs »Faktuales und fiktionales Erzählen« (2015–2017) und im Anschluss mit einem Stipendium der Universität Hildesheim gefördert. Praetorius ist Trägerin des von einer Fachjury ausgelobten Nachwuchspreises des Büchner-Verlags 2021.

Charlotte Praetorius

Found Foto-Film

Aneignungen analoger Fotografie im zeitgenössischen Essay- und Dokumentarfilm

Charlotte Praetorius

Found Foto-Film

Aneignungen analoger Fotografie im zeitgenössischen

Essay- und Dokumentarfilm

ISBN (Print) 978-3-96317-306-6

ISBN (ePDF) 978-3-96317-855-9

ISBN (ePUB) 978-3-96317-885-6

DOI 10.14631/978-3-96317-855-9

Erschienen 2022 bei: Büchner-Verlag eG, Marburg

Zugl.: Univ. Diss., Stiftung Universität Hildesheim 2021 (Disputation: 11.6.2021;

Gutachter_innen: Prof. Dr. Stefanie Diekmann und Prof. Dr. Stephan Packard)

Korrektorat: Judith Göbel

Satz und Umschlaggestaltung: DeinSatz Marburg | mg

Bildnachweis Umschlag: Filmstill (Ausschnitt) aus A Story for the Modlins

Dieses Werk erscheint unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC 4.0: https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/. Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z. B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Printausgabe:

Druck und Bindung: Totem.com.pl, Inowrocław, Polen

Die verwendeten Druckmaterialien sind zertifiziert als FSC-Mix.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

www.buechner-verlag.de

Einleitung

Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.1

Annie Ernaux

Als ich vor einigen Jahren die Oberhausener Kurzfilmtage besuchte, stellte ich mich darauf ein, tagelang Filme zu sehen. Irgendwann musste ich feststellen, dass ich nicht nur Filme, sondern massenhaft Fotos gesehen hatte: Fotos, die von Wänden oder aus Alben abgefilmt wurden, Fotos, die aus dem Off kommentiert, die mit Händen auf-, über- und nebeneinander gelegt wurden, mal auf schwarzem oder weißem, mal auf buntem Hintergrund. Manchmal waren sie bildfüllend, manchmal nur aus großer Distanz zu sehen; oder sie waren in einzelne Bildausschnitte zerlegt. In einigen Filmen wurden sie wie im Zeitraffer schnell hintereinander geschnitten, in anderen blieben sie auch minutenlang stehen und wurden nicht kommentiert. Erst war ich fasziniert, dann genervt. Ich wollte schließlich Filme sehen, Bewegungen von Menschen, an Orten, von Ereignissen. Aber die Frage, was der Film eigentlich von der Fotografie und die Fotografie vom Film wollte, ließ mich nicht mehr los.

»Man weiß, daß ein Film aus Fotografien zusammengesetzt ist, aber man sieht keine von ihnen«23, schreibt Christian Metz. Was passiert aber, wenn Sichtbarkeit absichtsvoll hergestellt und die Kontinuität der filmischen Bewegung durch den Rekurs auf die Fotografie und die Betrachtung fotografischer Bilder gestört wird?

Nach einigen Recherchen und der Sichtung weiterer Filme, die mit der Betrachtung und Untersuchung von Fotos befasst waren, konnte ich als Tendenz festhalten, dass seit Beginn der Nuller Jahre in vielen zeitgenössischen dokumentarischen, essayistischen und experimentellen Filmen mit Fotos gearbeitet wird. Diesen zeitgenössischen Tendenzen geht die vorliegende Arbeit nach und konzentriert sich auf einen ausgewählten Korpus zeitgenössischer Essay- und Dokumentarfilme, in denen Fotos nicht nur als stillstehende Bilder, sondern auch als materiale Hinterlassenschaft analoger Technik inszeniert werden. Als solche werden sie in den meisten Fällen nicht von den Filmemacher*innen selbst produziert, sondern erscheinen als Bilddokumente, die gesammelt, recherchiert oder gefunden werden. Bei diesen Dokumenten handelt es sich um die in Alben, Kisten und Archiven verstreuten Überreste einer obsolet gewordenen Technik, die durch die filmische Untersuchung nicht nur in einen neuen Kontext, das Bewegtbild, übertragen, sondern zum Teil auch überhaupt erst sichtbar wurden – so wie beispielsweise die auf der Straße gefundenen Fotos der Familie Modlin (A Story for the Modlins, Sergio Oksman, Spanien 2012), die ohne genaue Kenntnis des Materials ersteigerten Fotos aus dem Nachlass von Vivian Maier (Finding Vivian Maier, John Maloof/Charlie Siskel, USA 2013) oder das Privatarchiv des eigenen Vaters (Printed Matter, 2011, Journal, Eitan Efrat/Sirah Foighel Brutmann, Belgien 2013). Je fragiler, rarer und älter die fotografischen Aufnahmen sind, die von den verschiedenen Filmen präsentiert werden, umso mehr Faszinationskraft geht von ihnen aus. Bereits in den Siebziger Jahren schreibt Susan Sontag über den »wehmütigen«4 Blick auf alte Fotos: »Es scheint, daß ästhetische Distanz ein Bestandteil der Erfahrung ist, die man beim Betrachten von Fotos macht, wenn nicht von Anfang an, so doch im Laufe der Zeit.«5

Diese ästhetische Distanz scheint sich im Zuge der Digitalisierung noch gesteigert zu haben. Spätestens seit der Jahrtausendwende sind viele Filmemacher- und Künstler*innen auf ganz unterschiedliche Art und Weise der Faszination nachgegangen, die analoge Abzüge auf sie ausgeübt haben. Ob in Spiel-, Dokumentar- oder Experimentalfilmen wie One Hour Photo (Mark Romanek, USA 2002), Stories We Tell (Sarah Polley, Kanada 2012), oder Public Lighting, (Mike Hoolboom, Kanada 2004), ob in Serien wie Stranger Things (USA, seit 2016) und The Man in the High Castle (USA 2015–2019), oder in Installationen von Künstler*innen wie Akram Zaatari (On Photography People and Modern Times, Libanon 2010) oder Filipa César (Transmission from the Liberated Zones, Deutschland/Guinea-Bissau 2016) – die Wiederverwendung analogen Bildmaterials ebenso wie die Imitation einer analogen Ästhetik, ist in Filmen, Medienkunst und populärer Kultur allgegenwärtig: »Die Einverleibung von vorgefundenem Material erscheint heute mehr denn je als symptomatisches Signum des zeitgenössischen Kinos wie auch der Medienkunst«6, so Christa Blümlinger.

Mit den zeitgenössischen Aneignungen und Inszenierungen analoger Foto- und Filmmaterialien haben sich damit zum Teil Verfahren und Formen verbreitet und popularisiert, die in der Geschichte des dokumentarischen, experimentellen und essayistischen Films entwickelt wurden. So hat Blümlinger selbst in ihrer Habilitationsschrift vor allem Filme aus den Sechziger bis Neunziger Jahren untersucht, die sie als »Archivkunstfilme« bezeichnet.7 Eine andere Bezeichnung findet François Niney, der Filme, die mit wiederverwendeten Materialien arbeiten, als »Re-Visionen«8 beschreibt und damit eine dokumentarische Praxis meint, die »als Zeitmaschine die Bilder von gestern in Erinnerung ruft und ihnen durch die Montage, den Ton, die Stimme von heute mit sowohl analytischen als auch poetischen Intentionen eine neue Wendung verleiht.«9 Marianne Hirsch wiederum erkennt in Anlehnung an Hal Forster in künstlerischen Arbeiten, die sich im Rekurs auf Archivmaterial mit der Erinnerung an historische Katastrophen und Verbrechen beschäftigen, allgemein einen »archivalen Impuls«10.

Zudem stehen die zeitgenössischen Aneignungen vorgefundener Materialien auch in der Tradition des avantgardistisch-experimentellen Found Footage-Films, bei dem »vorgefundenes Filmmaterial in neue Produktionen integriert wird.«11 Dabei unterscheidet sich ›Found Footage‹ deutlich von klassischem Archivmaterial:

Während das Archiv als offizielle Einrichtung historische Aufzeichnungen von unbrauchbaren Aufzeichnungen, den Outtakes, trennt, ist ein großer Teil des in experimentellen Found Footage-Filmen verwendeten Materials nicht archiviert, sondern in privaten Sammlungen, kommerziellen Bildagenturen, Trödelläden und Abfalleimern untergekommen […].12

In diesen Kontext gehört auch der Fotofilm, unter dessen Begriff Filme gefasst werden, die ausschließlich auf der Basis von Fotos entstanden sind, wobei vor allem kanonische Werke der Filmgeschichte insbesondere seit den Sechziger Jahren – unter anderem von Filmemacher*innen wie Chris Marker, Agnés Varda oder Hollis Frampton – diskutiert werden.13 Diesen historischen Werken sind die zeitgenössischen Filme, die ich in dieser Arbeit anhand einer Reihe in vielerlei Hinsicht unterschiedlichen Beispielen diskutiere, dadurch verbunden, dass sie ebenfalls Fotos ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken und sich, ganz ähnlich wie der so genannte »Found Footage-Film«, wiedergefundenes, entdecktes Material aneignen. Deshalb bezeichne ich die von mir untersuchten Filme als Found Foto-Filme, einerseits aufgrund der Nähe zur Form und Ästhetik der genannten Genres, andererseits als Abgrenzung, weil sie selbst ein eigenes Genre definieren, das der Fotografie nicht nur eine protagonistische Rolle zuschreibt, sondern diese auch immer mit ihrer Fund- und Herkunftserzählung zusammenbringt.

Die aktuelle filmische Form der Aneignung fotografischer Funde steht nicht nur im Kontext einer allgemeinen Mediennostalgie, sondern weist in ihrer die Faszination für das Einzelbild und dessen technischem, ästhetischem und inhaltlichem Vergangenheitsbezug auch eine auffällige Affinität zu zentralen Motiven der klassischen Fototheorie auf. Die Positionen dieser Theorie, die beispielsweise in den Texten von Roland Barthes, Walter Benjamin, Susan Sontag oder auch Siegfried Kracauer artikuliert werden, spielen in dieser Arbeit eine wichtige Rolle, da sich die entsprechenden Theoretiker*innen immer wieder auf den melancholischen oder auratischen Charakter der Fotografie beziehen.

Methodisch orientiert sich die vorliegende Arbeit eng an ihrem filmischen Korpus, was bedeutet, dass die thematischen Schwerpunkte der folgenden Kapitel mit Blick auf die Operationen und Verfahren der ausgewählten Found Foto-Filme entwickelt werden. Im Fokus stehen vor allem folgende Parameter: das Ereignis der Entdeckung des fotografischen Materials, die Einbettung der Fotos in einen narrativen und historischen Kontext, die Anordnung, Positionierung und Inszenierung des fotografischen Materials und die Medien- und Materialverhältnisse und deren Effekte, nach denen die Arbeit in vier Kapitel gegliedert ist. Neben der Analyse der zeitgenössischen Filmbeispiele und der Auseinandersetzung mit deren filmhistorischen Vorläufern werden vor allem zeitgenössische film- und medienwissenschaftliche Publikationen sowie klassische film- und fototheoretische Positionen in die Diskussion des Materials einbezogen.

Im ersten Kapitel werden die zentralen Filme des Korpus anhand ihrer Mise en Scène der jeweiligen fotografischen Funde vorgestellt: Als zufällige Entdeckung auf der Straße oder im Müll, in einem privaten oder einem öffentlichen Archiv oder im assoziativen Prozess der Materialmontage. Nach einer genaueren Bestimmung dieser Formen des Findens wird die filmische Aneignung des Materials und vor allem die Gestaltung der begleitenden Erzählung erörtert. Besondere Aufmerksamkeit richtet sich auf die Frage, wie die Filmemacher*innen sich selbst als ›rettende‹ Instanz sowie ihre filmische Praxis als bewahrende, konservatorische Arbeit inszenieren. Diese Haltung äußert sich auch in der immer wieder zu beobachtenden Tendenz, das analoge Material im Film zu auratisieren und mitunter auch zu idealisieren. Am Ende des Kapitels steht schließlich die Frage, inwieweit die Verfahren zur Aneignung und Bewahrung von analogen Fotos im digitalen Film mit der Institution des Archivs parallelisiert werden können und inwiefern sich die Praxis der Filmemacher*innen auch als archivarische Praxis verstehen lässt, insoweit als sie das Material sammeln, sortieren und konservieren.

Das zweite Kapitel widmet sich dann nicht mehr, wie noch das erste Kapitel, der zentralen Frage danach, was gefunden und wie der Fund inszeniert wird, sondern dem Thema, welche Vor-, Nach- und Binnengeschichten mit diesem Finden verknüpft werden. In den meisten Filmen werden nicht nur die Fotos mit weiteren Fund- und Archivmaterialien verknüpft, sondern auch der Recherche- und Suchprozess selbst thematisiert, um die Auseinandersetzung mit dem Material einerseits zu mystifizieren, andererseits aber auch zu legitimieren. Häufig wird ein investigativer Erzählmodus verwendet, um sowohl das Material ›zum Sprechen‹ zu bringen als auch eine intendierte Spannung hinsichtlich weiterer möglicher Entdeckungen aufrecht zu erhalten. Ein zweiter Schwerpunkt liegt in diesem Kapitel auf den Verknüpfungen von Mikro- und Makrogeschichte, die in den meisten der untersuchten Filme hergestellt werden, weil diese von privaten Fotos ausgehen oder sie jedenfalls einbeziehen. Hierbei greife ich auf Siegfried Kracauers Analogie zwischen Geschichte und Film zurück, um zu diskutieren, inwiefern sich die Recherche- und Präsentationsverfahren der zeitgenössischen Found Foto-Filme auch als eine historiographische Praxis beschreiben lassen. Fast alle Filme müssen mit der Tatsache umgehen, dass sie in ihren Narrativierungsversuchen auf Lücken und Leerstellen stoßen, die mit dem vorgefundenen Material alleine nicht gefüllt werden können. In Reaktion darauf entwickeln sie unterschiedliche Strategien der Reflexion, Inszenierung oder auch Überbrückung. Weil solche Lücken von den Filmemacher*innen zum Teil auch mit fiktionalen Erzählungen gefüllt und angereichert werden, diskutiert der letzte Abschnitt des Kapitels das Verhältnis von Fakt und Fiktion.

Das dritte Kapitel widmet sich der Mise en Scène und damit der Frage, wie das fotografische Material filmisch angeordnet, akzentuiert und kontemplativ in Szene gesetzt wird. Im Fokus stehen zunächst die in vielen Fällen zu sehenden Hände, die das Bildmaterial vor der Kamera platzieren und mit anderen Fotos collagieren: im Folgenden werden aber auch Montage, Einstellungsdauer und Formen der Vergrößerung einzelner Bildausschnitte und Details als Verfahren diskutiert, die eine spezifische Betrachtung der Fotos nahe legen und zu der tendenziell nostalgischen, teils auratisierenden Wahrnehmung beitragen. Außerdem wird das Verhältnis zwischen Bild und Ton in den jeweiligen Filmen analysiert und die Frage gestellt, wie die verschiedenen auditiven Ebenen, zu denen Voiceover, Geräusche und Musik gehören, in Beziehung zu den fotografischen Materialien gesetzt werden. Zum Abschluss des Kapitels werden die filmischen Praktiken der Inszenierung mit den ästhetischen Aspekten des (Foto-)Albums verglichen, um die Tragfähigkeit einer partiellen Analogisierung von Fotofilm und Fotoalbum zu prüfen.

Nach der stark am Material argumentierenden Analyse der Filme, sollen die im Laufe der Arbeit verschiedentlich herausgestellten medientheoretischen und filmhistorischen Bezüge im letzten Kapitel zusammengeführt werden. Auch wenn es in einer Arbeit über Fotos im Film zunächst ungewöhnlich erscheinen mag, das Medienverhältnis erst zum Schluss theoretisch zu bestimmen, erscheint es gerade in dieser Arbeit sinnvoll: Da die hier untersuchten Filme eine mitunter frappierende Nähe zu den theoretischen Überlegungen klassischer foto- und filmtheoretischer Texte von Walter Benjamin über Roland Barthes bis Susan Sontag aufweisen, liegt die Versuchung nahe, sie einfach als Bestätigung dieser Theorien zu interpretieren. Um die Perspektive auf das Material offen zu halten und die je spezifischen Arbeitsweisen der Filmemacher*innen angemessen zu berücksichtigen, habe ich mich stattdessen entschieden, den Vergleich zwischen theoretischen und künstlerischen Positionen ans Ende zu setzen und entsprechende Beobachtungen erst im letzten Kapitel zusammenzuführen. In diesem Zusammenhang werden außerdem Fragen nach dem Verhältnis zwischen Film und Fotografie, aber auch weiteren Medien und Formaten diskutiert, um herauszuarbeiten, welche Effekte und Wirkungen suggeriert und auch aus Zuschauer*innenperspektive wahrgenommen werden können.

1 Ernaux, Annie: Die Jahre. Suhrkamp, Berlin 2020, S. 256

2 Metz, Christian: »Foto, Fetisch«. In: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Band 2. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003, S. 215–225, hier S. 217

3 Da in der folgenden Arbeit unter anderem auch viele ältere Texte zitiert werden, wird die Rechtschreibung so belassen wie im Original. Aus diesem Grund verzichte ich durchgehend auf die Einfügung des Hinweises »sic«.

4 Sontag, Susan: Über Fotografie, Fischer, Frankfurt 2008, S. 27

5 Ebd.

6 Blümlinger, Christa: Kino aus zweiter Hand. Zur Ästhetik materieller Aneignung im Film und in der Medienkunst. Vorwerk 8, Berlin 2009, S. 19

7 Vgl. Ebd.

8 Niney, François: Die Wirklichkeit des Dokumentarfilms. 50 Fragen zur Theorie und Praxis des Dokumentarischen. Schüren, Marburg 2012, S. 185

9 Ebd.

10 Vgl. Hirsch, Marianne: »Der archivale Impuls der Nacherinnerung«. In: Anke Kramer/Annegret Pelz (Hg.): Album. Organisationsform narrativer Kohärenz. Wallstein, Göttingen 2013, S. 125–142, hier S. 125

11 Zryd, Michael: »Found-Footage-Film als diskursive Metageschichte. Craig Baldwins TRIBULATION 99«. In: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, Jg. 11, Nr. 1, Marburg 2002, S. 113–134, hier S. 113

12 Ebd.

13 Vgl. u. a. Hámos, Gusztav/Pratschke, Katja/Tode, Thomas (Hg.): Viva Fotofilm: bewegt/unbewegt. Schüren, Marburg 2010. Nsiah, Lydia: Hybrid-Fotofilm. Dem Sehen Zeit und Raum geben. Turia + Kant, Berlin/Wien 2011

Kapitel 1

Materialität und Re-Auratisierung. Über das Finden, Aneignen und Konservieren

1 Fund-Erzählungen

Natürlich sind Fotografien Kunstprodukte. Aber in einer von fotografischen Relikten übersäten Welt haben sie offenbar auch als Fundobjekte ihren Reiz, als zufällige Ausschnitte aus der Welt. Sie profitieren also gleichzeitig vom Prestige der Kunst und von der Magie der Wirklichkeit. Sie sind wolkige Gebilde der Phantasie und winzige Informationssplitter.14

Susan Sontag

Aus filmhistorischer Perspektive sind die Wiederverwendung und Aneignung gefundener fotografischer Materialien im Film zunächst nichts Neues. Bereits seit den Zwanziger Jahren wird in verschiedenen Filmgenres sowohl fotografisches als auch filmisches Material wiederverwendet und sekundär eingesetzt. Gerade die Pioniere der europäischen Avantgarde der Sechziger bis Siebziger Jahre, unter ihnen so einflussreiche Filmemacher*innen wie Chris Marker, Alexander Kluge oder Agnès Varda, experimentierten mit dem filmischen Zugriff auf fotografisches Material und orientierten sich an sowjetischen Filmemacher*innen der Zwanziger Jahre wie Dziga Vertov und Esfir Schub. Sie fungierten so auch als Vorbilder für spätere Essayfilme der Achtziger bis Neunziger Jahre, wie sie beispielsweise im Werk von Harun Farocki oder Hartmut Bitomsky zu finden sind. Ob in diesen Filmen nun Material aus öffentlichen Archiven oder Zufallsfunde verwendet wurden, ob es sich um Fotos, Filmstills oder Filmausschnitte handelte: Meist ging es bei diesen Experimenten um die Erkundung neuer Deutungsmöglichkeiten oder um das Entdecken, Aufdecken und Sichtbarmachen von bisher Ungesehenem im fotografischem Material.

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts und im Zusammenhang mit den technologischen Umbrüchen der Digitalisierung findet im zeitgenössischen Essay- und Dokumentarfilm wieder verstärkt eine Auseinandersetzung mit fotografischen Beständen und Nachlässen statt, die in diesem Kapitel im Fokus stehen wird. Dabei werden – ganz gleich, ob das Material zufällig gefunden, gezielt aufgespürt oder geerbt wurde – die Momente der Entdeckung und des Habhaftwerdens häufig als ein besonderes Ereignis inszeniert. Oft geht ihnen ein Prozess voraus, der als detektivische Ermittlung oder als abenteuerliche Schatzsuche erzählt wird, manchmal auch als vorsichtiges Tasten nach ergänzenden Puzzlestücken zu einem einzelnen Foto, das nach Vervollständigung zu verlangen scheint. Ob auf der Straße, auf dem Flohmarkt oder im Müll verortet, ob durch private Beziehungen motiviert, in Familienalben oder auf Dachböden lokalisiert oder nach planvoller Recherche in öffentlichen Archiven vollzogen: Der Fund dient meist dazu, der filmischen Erzählung einen Rahmen zu geben und der Notwendigkeit, das fotografische Material in einem Film zu konservieren, Nachdruck zu verleihen. In den folgenden Abschnitten werde ich am Beispiel einiger ausgewählter Found Foto-Filme die diversen Gestaltungs- und Inszenierungsformen der filmischen Aneignung von fotografischen Funden analysieren.

1.1 Der Zufalls-Fund

»Aus unserem Trödel ist Kunst geworden; aus unserem Abfall Geschichte«15, schreibt Susan Sontag in ihrem Buch Über Fotografie bereits in den Siebziger Jahren. Und auch Bernd Stiegler fasst viele Jahre später in der Zeitschrift für Fotogeschichte den zeitgenössischen Trend der künstlerischen Aneignung von Fund-Materialien zusammen:

Nun gibt es (fast) keinen Rest mehr, nahezu alles kann recycelt und in ein Kulturgut verwandelt werden. »Found Footage« ist das […] Label, das aus Abfall Kunst zu machen verspricht. Das Spektrum reicht dabei von großangelegten künstlerischen Projekten […] über diverse Künstlerbücher, die sich auf Flohmärkten oder bei den familieneigenen Alben bedienen, bis hin zu Onlineplattformen wie Instagram, Pinterest oder Flickr und sogar Blogs und Zeitschriften […].16

Dass sich in Foto-Sammlungen, die der Entsorgung bevorstehen, außergewöhnliche Geschichten finden lassen, versuchen auch die beiden Filmemacher Sergio Oksman und John Maloof deutlich zu machen, die, glaubt man ihren Darstellungen, überraschend auf ein Korpus von fotografischem Material gestoßen sind, ohne sich konkret auf die Suche begeben zu haben.

Der Kurzfilm A Story for the Modlins (2012) von Sergio Oksman basiert, so beginnt die Erzählung im Voice-over des Films, auf einer Ansammlung weggeworfener und auf der Straße gefundener Dokumente der Familie Modlin. Der Filmemacher präsentiert sich als ein Erzähler, der versucht, anhand der gefundenen Materialien das Leben der Familie Modlin aus dem Off heraus zu rekonstruieren. Die zentrale Figur seiner Rekonstruktion ist Elmer Modlin, der, wie sich herausstellt, einmal ein Statist in Roman Polanskis Film Rosemary’s Baby (1968) war und später mit seiner Frau und seinem Sohn nach Spanien umzog und dort bis zu seinem Lebensende blieb. Die Stimme aus dem Off leitet das Rätsel um den mysteriösen Statisten mit folgenden Worten ein:

One day, forty years later, hundreds of photographs, letters, and other objects that belong to Elmer Modlin and his family, turned up next to a garbage container, outside number 3, Calle Pez in downtown Madrid. That same evening, walking down that same street, I found the story of the Modlins, lying on the sidewalk like a jigsaw puzzle. This is how, just by chance, it fell into my hands, the hands of a stranger who would piece it together just as he pleased.17

Das Material wird hier als Rätsel dargestellt. Genauer: als Teile eines Puzzles, das zusammengesetzt und ergänzt werden muss. Wer waren diese Menschen, deren Fotos, Briefe und Gemälde am Ende ihres Lebens auf dem Müll landeten? Der Finder, dem der ganze Nachlass einer ihm unbekannten Familie in die Hände fällt, wird nun zum Entdecker, der sich das Material aneignet, es vor dem Verfall und dem Verschwinden bewahrt und der verkannten Künstlerfamilie Modlin posthum erstmals zu Ruhm verhilft, ihre Hinterlassenschaft aber auch »just as he pleased« zusammensetzt.18

Auch dem Historiker John Maloof fällt, so erzählt er, allein durch Zufall der Nachlass einer bisher unentdeckten Künstlerin in die Hände, als er, eigentlich auf der Suche nach historischen Fotos von Chicago, eine Kiste mit Negativen ersteigert. Die Motive und Szenen, die Maloof darauf entdeckt, erinnern an den Stil klassischer Street Photography und stehen in ihrer Qualität den Aufnahmen von berühmten Fotograf*innen wie Diane Arbus oder Robert Frank in nichts nach.19

Wie konnte es sein, dass diese Bilder nie an die Öffentlichkeit gelangten, und wer war die Frau hinter der Kamera? Der Dokumentarfilm Finding Vivian Maier von 2014 erzählt eine Recherche nach dem Muster einer Detektivgeschichte, in der sich der Filmemacher auf die Suche nach der unbekannten Fotografin macht. Um mehr über sie zu erfahren, macht Maloof zunächst die anderen Käufer*innen ausfindig, die auch bei der Auktion dabei waren und die womöglich die restlichen Kisten von Maier ersteigert haben. Diese kauft er ihnen ab, um einen Überblick über den gesamten Nachlass von Maier zu bekommen. Hierbei stellt er fest, dass sie eine obsessive Sammlerin war und nicht nur Unmengen von entwickelten und unentwickelten Fotos und Filmen aufbewahrte, sondern auch Kleidung, Schmuck, Zeitungen, Kassetten sowie zahlreiche Notizen, Bustickets und Quittungen. Nach einigen erfolglosen Internetrecherchen durchforstet er ihre Sammlung und entdeckt einen Zettel mit einer Adresse, die ihn zu Maiers ehemaligen Arbeitgeber*innen führt, durch die er herausfindet, dass Maier überraschenderweise nicht als Fotografin, sondern als Nanny tätig war.

Die Frage »Why is a Nanny taking all these photos?«20, die Maloof ungläubig stellt, während er die Kamera auf sich selbst gerichtet hat, fungiert im weiteren Verlauf als Leitfaden des Films. Somit steht, sowohl bei Maloof als auch bei Oksman, nicht nur die Entdeckung außergewöhnlicher Fotos im Fokus des Films, sondern auch die Recherche nach den ehemaligen Produzent*innen und Eigentümer*innen. Wer waren die Menschen, die auf den Bildern abgebildet sind, wer waren diejenigen, die sie fotografierten, und wie konnte das ganze Material einfach vergessen werden oder auf dem Müll landen?

Oksmans Rekonstruktion der Geschichte der Modlins ist keine, die auf den Kontakt mit Orten, Bekannten oder Angehörigen setzt. Er sucht fast nur innerhalb des Materials, indem er es, wie bei einem Puzzle, hin und her schiebt und letztendlich so zusammenfügt, dass die Anordnung ein Narrativ ergibt. Maloof hingegen begibt sich auf die Suche nach Personen, die Vivian Maier kannten, und macht Interviews mit den Mitgliedern von Familien, für die die unbekannte Fotografin als Kindermädchen arbeitete. Er geht so weit, dass er nach langen Recherchen den letzten lebenden Verwandten Maiers in einem kleinen französischen Dorf ausfindig macht. Die Reise nach Frankreich führt ihn zu einem Fotolabor, in dem sie damals ihre Fotos entwickeln ließ, und an dessen Besitzer sie sogar einen Brief geschrieben hatte. Darin bat sie ihn darum, ihre Fotos zu vergrößern und mit ihr zusammenzuarbeiten. Dieser Brief liefert Maloof, der auf der vom Film inszenierten Suche immer wieder mit der Frage hadert, ob er das nachgelassene Material überhaupt veröffentlichen dürfe, eine Legitimation dafür, dass die Fotografin selbst damit einverstanden gewesen wäre. Daraufhin beginnt er, (ohne dass klar würde, mit welchen Ressourcen er diese Arbeit finanziert) in einem Labor und mit einem Stab an Mitarbeiter*innen, die fotografischen Aufnahmen professionell entwickeln, scannen und archivieren zu lassen.

Es bedarf, wie Valentin Groebner über die Wiederaufbereitung analoger Bestände behauptet, immer einer Legitimation für die Auseinandersetzung mit Fotos, die zunächst einmal für andere Zwecke gemacht wurden:

Alle diese Fotos haben gemeinsam, dass sie nicht für die Betrachterinnen und Betrachter aus dem 21. Jahrhundert gemacht worden sind, sondern zu komplett anderen Zwecken. Erst ihre Umwidmung in heute wirksamen Treibstoff für Aufmerksamkeit – durch nachträgliche Ästhetisierung, durch Integration in aktuelle Identitätspolitik und in Strategien institutioneller Selbstdarstellung, durch Erzeugung von Kostbarkeit oder durch profitable kommerzielle Nutzung – macht es plausibel, Zeit in das Erhalten und Betrachten dieser unendlich vielen Bilder zu investieren.21

Auffällig ist, dass die Erzählung über den Fund und die Umstände der Entdeckung, aber auch die Erzählung darüber, was entdeckt wurde, eine mindestens ebenso große Rolle spielt, wie die Auseinandersetzung mit der Frage, was auf dem fotografischen Material eigentlich abgebildet ist. Es wird zwar einerseits stetig auf das ›Außergewöhnliche‹ und ›Besondere‹ des Materials verwiesen, das von Expert*innen in der Tradition klassischer Street Photography verortet wird: »Vivians Work instantly had those qualities of human understanding and warmth and playfulness, that I thought this is a genuine shooter«22, sagt einer von ihnen; eine andere meint: »She had a great eye, a great sense of framing […] Beautiful sense of light, environment. I mean, she had it all!«23 Andererseits wird im gleichen Atemzug auf die bizarre Geschichte und die Tatsache, dass Vivian Maier ihr Leben als Kindermädchen verbrachte und ihre Bilder nie veröffentlichte, verwiesen. Dieses Vorgehen, das zwar das fotografische Werk als Ausgangspunkt nimmt, sich dann aber vor allem auf die Persönlichkeit Vivian Maiers konzentriert, wirft die Frage auf, inwiefern hier eventuell eine übergriffige Aneignung von privatem Bildmaterial stattfindet. (Dieses Problem wird weiter unten in Abschnitt 2.2 noch ausführlicher diskutiert werden.)

1.2 Der Archiv-Fund

Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muss sich verhalten wie ein Mann, der gräbt.24

Walter Benjamin

Neben den filmischen Fund-Erzählungen über nachgelassenes Material, das bereits dem Vergessen überantwortet war, also im Begriff stand, weggeworfen zu werden, gibt es diejenigen Filme, die in privaten, aber auch in öffentlichen Archiven unbekanntes, kurioses, auffälliges oder irritierendes Material entdecken.

Sofern es sich um fotografisches Material aus privaten Archiven handelt, geht es bei den Entdeckungen oft darum, der eigenen Familiengeschichte nachzugehen, wie beispielsweise in den Filmen der Filmemacherinnen Angelika Levi und Natalia Bruschtein, Mein Leben Teil 2 (Deutschland 2004) und El tiempo suspendido (Mexiko 2015). Darauf, dass sich in künstlerischen Arbeiten eine zunehmende Tendenz zeigt mit Familienfotos zu arbeiten, um eine neue und andere Perspektive auf das Material zu bekommen, hat bereits Marianne Hirsch in ihrem Buch »Family Frames« deutlich gemacht:

Increasingly, family pictures have themselves become objects of scrutiny. Contemporary writers, artists, and filmmakers, as well as contemporary cultural critics, have used family photographs in their work, going beyond their conventional and opaque surface to expose the complicated stories of familial relation – the passions and rivalries, the tensions, anxieties, and problems that have, for the most part, remained on the edges or outside the family album.25

Um die aus Familienalben hervorgehende kohärent oder idealisiert erscheinende Narration aufzubrechen, bedarf es dieser künstlerischen Metaebene: »Only in the context of this meta-photographic textuality and in this self-conscious contextuality can photographs disrupt a familiar narrative about family life and its representations, breaking the hold of a conventional and monolithic familial gaze.«26 Und auch Roger Odin schreibt über Familienfilme, dass sie erst jenseits ihres ursprünglichen Kontexts lesbar werden: »To read a home movie as a document is to ›use‹ it for something that is not its own function.«27

Sowohl Levi als auch Bruschtein arbeiten sich durch die familiären Bestände durch und rekurrieren auf fotografische Dokumente aus dem Besitz ihrer Mutter (Levi) oder Großmutter (Bruschtein), um zugleich mit der Familiengeschichte die Gewaltverbrechen aufzuarbeiten, die in beiden Fällen unmittelbar damit verbunden sind: Levi verlor Familienmitglieder während des Nationalsozialismus, Bruschtein während der argentinischen Militärdiktatur. Das einzige, was von ihnen bleibt, sind die hinterlassenen Dokumente in Gestalt von Fotos, Briefen oder Film- und Videoaufnahmen: »Jene geisterhaften Spuren, die Fotografien, sorgen jetzt für die zeichenhafte Präsenz der verstreuten Angehörigen. Das Fotoalbum einer Familie bezieht sich im Allgemeinen auf die Familie im weiteren Sinne – und ist häufig alles, was davon übrig geblieben ist.«28

Im Gegensatz zu diesen beiden sehr intimen Filmen von Levi und Bruschtein, finden Filmemacher*innen wie Henri-François Imbert, Eitan Efrat, Sirah Foighel Brutmann und Miranda Pennell das fotografische Material, das sie in ihren Filmen adressieren, zwar auch innerhalb familiärer Bestände, halten dabei aber ihre persönliche Geschichte weitgehend im Hintergrund oder thematisieren sie nur beiläufig: Der Film No pasarán, album souvenir (Frankreich 2003) von Henri-François Imbert handelt von der Suche nach fehlenden Postkarten, die eine Reihe von Karten aus einem Sammelalbum ergänzen könnten. Diese Karten entdeckt Imbert in einem Album im Haus seiner Großeltern in einem französischen Dorf namens Le Boulou in den Pyrenäen nahe der spanischen Grenze: Die nummerierten Postkarten zeigen fotografische Aufnahmen von Geflüchteten aus dem Spanischen Bürgerkrieg, die Ende der Dreißiger Jahre in der Nähe von Le Boulou in einem Internierungslager untergebracht wurden. Imbert macht sich auf die Suche nach den fehlenden Postkarten der Serie, um so die Geschichte der vergessenen und in der offiziellen französischen Geschichtsschreibung verschwiegenen Lager erzählen zu können.

Auch das Künstlerpaar Eitan Efrat und Sirah Foighel Brutman verwendet für seine Filme das private Archiv des Vaters der Filmemacherin, des Fotografen André Brutman. Sie inszenieren einen Teil des dort vorgefundenen Materials für den Film Journal (2013) in Form einer Ausstellung, in dem Film Printed Matter (2011) hingegen durch nacheinander aufgelegte Negativstreifen auf einem Leuchtkasten, die abgefilmt werden, um so das auf den Fotos Abgebildete in den Blick zu rücken. Im ersten Film sind dies die Blicke verschiedener Besucher*innen auf eine im Museum Yad Vashem in Jerusalem ausgestellte Fotografie, die KZ-Häftlinge in einer Baracke zeigt. Im zweiten ist es das Nebeneinander von privater Familiengeschichte und journalistischer Fotografie, das den Aufnahmen aus der Zeit der ersten und zweiten Intifada, der Ermordung von Yitzhak Rabin und der Zeit von Saddam Husseins Raketenangriffen auf Israel eingeschrieben ist. Zwischen die journalistischen Fotos eingeschoben finden sich auf den Negativstreifen immer wieder Aufnahmen aus der Kindheit von Foighel Brutmann und ihrem Bruder sowie Fotos ihrer Mutter, die sie in familiären und privaten Situationen zeigen.

Eine Verflechtung zwischen individueller und kollektiver Vergangenheit ist auch in dem Film The Host (Großbritannien 2016) von Miranda Pennell zu entdecken. Ausgangspunkt des Films ist ein Buch, das die Filmemacherin im Nachlass ihrer Eltern findet. Es trägt den Titel Eastern Odyssey und besteht aus einer Sammlung von reproduzierten, handschriftlichen Briefen, die ein junger Geologe namens Christian O’Brien in den Dreißiger Jahren während seiner Tätigkeit im Iran verfasste. Das Buch enthält eine Widmung an die Mutter Pennells und führt die Filmemacherin zu Joy O’Brien, der Frau des Autors, die beide nach den Pennells in jenem Haus in Teheran lebten, in dem die Filmemacherin ihre Kindheit verbrachte. Ihr Vater hatte dort für die britische Anglo-Iranian Oil Company (AIOC) gearbeitet. Pennells Faszination für das Foto auf dem Cover des gefundenen Buches, das eine Pyramide zeigt, führt sie schließlich ins BP-Archiv, wo sie nach weiteren Fotos sucht. Die Suche im Archiv wird nun zum eigentlichen Thema des Films, inszeniert als ein Prozess der Recherche, bei dem das Archiv als Labor figuriert, in dem Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt werden können und in dem es neben der Suche nach historischer Evidenz auch um die Verortung der eigenen Biografie innerhalb einer Kolonialgeschichte geht. Dies zeigt sich vor allem anhand der eigenen Familienfotos, die Pennell gegen Ende des Films mit den Archivbildern verknüpft.

Ähnlich geht Pennell in ihrem vielfach ausgezeichneten Kurzfilm Why Colonel Bunny Was Killed (Großbritannien 2010) vor, in dem sie sich – wenn auch aus einer größeren Distanz und nicht anhand von fotografischem Material aus Familienbeständen – einem ihrer entfernten Verwandten nähert und einige seiner privaten Dokumente als Ausgangspunkt verwendet. Die Texte, die der medizinische Missionar Dr. T. L. Pennell um 1906 während eines Aufenthalts an der afghanischen Grenze verfasst hat, werden in der Montage mit Fotos von anderen Missionaren, die Pennell aus verschiedenen Archiven in London zusammentragen hat, verknüpft. Im Gegensatz zu den bislang erwähnten Filmen geht es in Why Colonel Bunny Was Killed allerdings weniger um den Fund des fotografischen Materials als um das Finden von etwas, dass sich innerhalb des Materials verbergen könnte. Die Prämisse ist, dass diese verborgenen Einzelheiten, Informationen und Facetten bisher noch nicht wahrgenommen wurden, da das Material einst für andere Zwecke angefertigt und archiviert wurde. Pennells filmischer Zugriff besteht folglich vor allem darin, Details der Fotos herauszustellen und sie mit Details in anderen Fotos zu assoziieren, um einen Zusammenhang, eine Bedeutung herzustellen, die zunächst noch nicht sichtbar ist:

Archives are only as interesting as the questions you bring to them. In practice it’s a mixture confronting both the tedium of repetition, and the fascination of small and surprising revelations. The real discoveries occur in the process of making connections between seemingly disparate fragments.29

In beiden Filmen Pennells offenbart sich innerhalb der Montage das Verhältnis zwischen den britischen Kolonisatoren oder Unternehmen und der jeweiligen kolonialisierten Bevölkerung, indem Pennell durch Zoombewegungen in das Bild hinein oder aus dem Bild heraus, durch Fragen aus dem Off oder durch langes Fokussieren bestimmter Einzelheiten akzentuiert, was zuvor im fotografischen Bild unsichtbar war oder in seiner Betrachtung keine Rolle gespielt hat. (Mit der Narrativierung und Anordnung des fotografischen Materials in den bisher genannten Filmen werden sich das zweite und das dritte Kapitel noch sehr viel eingehender beschäftigen.)

Zusammenfassen lässt sich hier, dass der Prozess des Findens und Entdeckens in Filmen, die mit Archivmaterial arbeiten, in das fotografische Bild hinein verlagert wird, um diesen dann als Ausgangspunkt einer Erzählung zu nutzen, die dann an weitere Funde und Entdeckungen anknüpfen kann.

1.3 Der assoziative Fund

Eine weitere Form des inszenierten Fundes ist das assoziative Finden, bei dem Entdeckungen erst im Zuge der filmischen Montage und durch die Kontextualisierung der heterogenen Materialien zum Vorschein kommen. Als Beispiele für diese Form können die Essayfilme November (Deutschland 2004) von Hito Steyerl und Kirik Beyaz Laleler30 (Deutschland/Türkei 2013) von Aykan Safoğlu dienen. In beiden Filmen steht die Verknüpfung der eigenen Biografie mit einer anderen im Vordergrund.

Steyerl findet das Material, an dem sich die Erzählung in November orientiert, in ihrem eigenen Bildarchiv: Es handelt sich um einen von ihr selbst gedrehten feministischen Martial-Arts-Film auf Super 8 aus den Achtziger Jahren, in dem sie und ihre Freundin Andrea Wolf die Hauptrollen spielen. Steyerl glaubt, aus den frühen kämpferischen Gesten und Posen, die ihre Freundin in diesem Film einnimmt, deren zukünftiges politisches Engagement herauslesen zu können. Im Fall von Wolf bestand dieses Engagement darin, mit Anfang Dreißig als Kämpferin für die PKK in die kurdischen Gebiete zwischen der Türkei und dem Nordirak zu gehen, wo sie schließlich 1998 von türkischen Truppen getötet wurde. Neben dem Martial-Arts Film dient als ein weiterer assoziativer Bezugspunkt ein in kurdischen Kreisen kursierendes Foto der Freundin, auf dem diese als revolutionäre Märtyrerin zu sehen ist. In einem Kino, neben dem Plakat eines Sexfilms, entdeckt Steyerl das Gesicht von Andrea Wolf abgedruckt auf einem Plakat »just like another Pin-Up«31 wie sie aus dem Off formuliert. An dieser Stelle beginnt, markiert durch einen eingeblendeten Zwischentitel, ein Exkurs über Gesten und Posen: Videoaufnahmen von tanzenden und posierenden Frauen in Unterwäsche, durchweg in Schwarzweiß und in schlechter Qualität, werden abgelöst von Filmausschnitten, in denen Männer von Pin-Up Girls zusammengeschlagen werden. Besonders die Figuren aus Russ Meyers Faster Pussycat! Kill! Kill! (USA 1965), so Steyerl aus dem Off, dienten ihr und Wolf bei der Gestaltung ihres frühen Films als Inspiration und Vorlage für ihre eigenen Posen als Martial-Arts-Kämpferinnen.

So findet Steyerl ausgehend von ihrem eigenen Film, den sie zwanzig Jahre zuvor gedreht hat, eine Verbindung zu dem Foto einer Jugendfreundin als kriegerischer Ikone und dann über die Motive der Pin-Up-Girls und die Appropriation ihrer Posen wieder zurück zu den Bildern auf Super 8. Dieses Narrativ dient offensichtlich weniger dafür, den Fund einer in sich geschlossenen Sammlung in Szene zu setzen, sondern vielmehr, um die Inszenierung einer Serie von Entdeckungen in einer Material-Montage zu ermöglichen, die von einer Assoziation zur nächsten führt, und so einen Zusammenhang herstellt.

Auch Aykan Safoğlu verknüpft in Kirik Beyaz Laleler seine eigene Biografie mit der einer anderen Person, indem er fotografisches Material von James Baldwin aus der Zeit, die dieser in den Sechziger Jahren in Istanbul verbrachte, mit privaten Fotos der Familie Safoğlu in Beziehung setzt. Hinzu kommt noch Material aus der türkischen Musik- und Popgeschichte, über die Ölkrise und die US-amerikanische Fernsehserie Dallas. Die Heterogenität des Materials, das aus einzelnen analogen und digitalen Fotografien, Pass- und Polaroidfotos, ausgeschnittenen oder abfotografierten Fotografien aus Büchern, Postkarten, Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitten, Buchseiten und Zeichnungen besteht, verweist auf eine Vielzahl von Funden, die in einer Assoziationskette nach und nach zu einem Puzzle zusammengefügt werden.

Auch in dieser assoziativen Montage werden, ähnlich wie in Steyerls Film November, neue Zusammenhänge sichtbar, indem zum Beispiel eine doppelte Migrationsgeschichte erzählt wird: die Migration Baldwins in die Türkei und die des Filmemachers nach Deutschland viele Jahre später. Darüber hinaus geht es aber auch um das Migrieren und Aneignen von Bildern und Wörtern: Wörter wie beispielsweise Zenci, eigentlich ein rassistisches Wort, das verwendet wurde, um Baldwin in einem Zeitungsartikel als schwarz zu kennzeichnen. Auch den Spuren von Objekten geht Safoğlu nach, indem er beispielsweise der Geschichte der Tulpen bis in den Iran folgt, um sich so der Tulpenzeit32 anzunähern: »Die Form migriert auch. Und wir vergessen so viel, wir tendieren zum Vergessen. Niemand würde bei Tulpen heute an den Iran denken. Aber die persische Kultur hatte über Jahrhunderte wesentlichen Einfluss auf die osmanische Kultur.«33 Um diesem Vergessen entgegen zu wirken, werden die Fundstücke in Kirik Beyaz Laleler als Puzzlestücke, als Relikte aus einer anderen Zeit inszeniert und assoziativ in der Montage miteinander in Beziehung gesetzt, um auf diesem Weg eine neue Sichtbarkeit zu erhalten.

Auch wenn mit der Typologie des Zufallsfundes, des Archivfundes und des assoziativen Fundes sehr verschiedene Narrative verbunden sind, zeigen sich im Vergleich einige Gemeinsamkeiten und Parallelen darin, wie die Entdeckung des fotografischen Materials diskursiviert und inszeniert wird: In allen Filmen dienen die Funde zunächst als Ausgangspunkt, um eine Erzählung in Gang zu bringen. Hier sind sie, die Fotos, ersteigert auf einer Auktion, gefunden auf der Straße, im eigenen oder im öffentlichen Archiv oder im privaten Fotoalbum. Fotos oder Abzüge, denen zunächst keine Beachtung geschenkt wurde, denen aber jetzt, dank der Filmemacher*innen, wieder eine Bedeutung zugeschrieben wird. Es handelt sich, so die implizite Unterstellung aller Filme, bei dem fotografischen Material keinesfalls um gewöhnliche oder generische Fotos, auch weil man es mit letzten Kopien, letzten Fotos oder ganzen Vermächtnissen zu tun haben könnte, die auf etwas verweisen, das sonst ganz vergessen würde: Geliebte Menschen, unbekannte Künstler und Künstlerinnen oder politische und historische Zusammenhänge, die sich erst durch genaueres Hinsehen entdecken lassen.

2 Formen der Bild-Aneignung – Rettungen, Erbschaften, Zeugnisse

2.1 Tendenzen und Probleme zeitgenössischer Aneignungen

Über die filmische Aneignung privater Fotos und Filmaufnahmen, schreibt Alexandra Schneider:

Privataufnahmen und Familienfilme bis hin zu digitalen Home-Videos sind an vielen Orten zum Stoff von Dokumentarfilmen geworden, zu Ego-Dokumenten, die durch die Übersetzung in die Form des reflektierten Dokumentarfilms über den privaten Zusammenhang hinaus mit Relevanz versehen (oder mit Relevanzbehauptungen aufgeladen) werden.34

Auch in allen hier untersuchten Filmen verwenden die Filmemacher*innen Bildmaterial, Dokumente und Erzählungen, die sich auf andere Personen beziehen und sich im Besitz anderer Personen befunden haben und nun mit Bedeutung aufgeladen werden. In allen Fällen, auch jenen, in denen der filmische Zugriff auf die Fundstücke scheinbar dem Willen der Protagonist*innen entspricht, handelt es sich um eine Aneignung des Materials. In diesem Zusammehang stellt sich die Frage nach Legitimität, Angemessenheit und Transparenz solcher Aneignungen von Film zu Film ganz unterschiedlich. Es macht einen Unterschied, ob die Filme sich auf Privatpersonen und deren Leben oder auf historische Ereignisse und Zusammenhänge konzentrieren; nicht unwichtig ist außerdem, ob es sich bei dem verwendeten Material um intime und private Momentaufnahmen, um Amateurfotos oder um historische Dokumente handelt. In zahlreichen Filmen ist allerdings eine Material-Mixtur anzutreffen, bei der sich diese Kategorien nicht klar trennen lassen, weil individuelle und historische Erzählungen, intime und ikonische Bilder und private und öffentliche Bestände aufeinander bezogen werden und ineinander verschränkt sind. Die hier untersuchten Filme thematisieren Kapitel der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, wie den britischen Kolonialismus in Afghanistan und im Iran (Why Colonel Bunny Was Killed und The Host), vergessene Internierungslager in Frankreich (No pasarán, album souvenir), die erste und die zweite Intifada (Printed Matter), die argentinische Militärdiktatur (El tiempo suspendido) oder den Holocaust (Journal, Mein Leben Teil 2).

Betrachtet man den filmischen Zugriff auf das fotografische Material im Kontext der Filmgeschichte und im Vergleich zu älteren Dokumentar- und Essayfilmen, stellt sich die Haltung der zeitgenössischen Filmemacher*innen gegenüber dem vorgefundenen Foto insgesamt als sehr viel unkritischer dar, als etwa der Umgang in den Filmen von Alexander Kluge, Chris Marker oder Hollis Frampton aus den Sechziger bis Achtziger Jahren. Um diese Beobachtung zu veranschaulichen, möchte ich im Folgenden kurz auf einige kanonische Beispiele verweisen, die im Verlauf der nächsten Kapitel immer wieder eine Rolle spielen werden und in denen fotografisches Archivmaterial vor allem zur Erzeugung von Zweifeln an der Evidenz der fotografischen Aufnahme und zur Irritation von Sehgewohnheiten eingesetzt wurde.

Darunter ist zum Beispiel Alexander Kluges erster Film Porträt einer Bewährung (1964), in dem der Filmemacher ausschließlich anhand von fotografischem Archivmaterial ein fiktionales Porträt eines Polizisten im Nachkriegsdeutschland der Fünfziger Jahre entwirft. Ein weiterer Film ist der wahrscheinlich bekannteste aller Fotofilme, La Jetée (1962) von Chris Marker, in dem zusätzlich zu den für den Film produzierten Fotos einige Archivbilder des Zweiten Weltkrieges zu sehen sind, um einen fiktiven Dritten Weltkrieg bildlich darzustellen. Fotos aus privaten Beständen werden bereits in den Siebziger Jahren in Hollis Framptons Nostalgia (1971) eingesetzt, um vor laufender Kamera einzeln und nacheinander verbrannt zu werden. Und auch die Essayfilme von Agnés Varda und Harun Farocki aus den Achtziger Jahren nehmen der Fotografie gegenüber eine viel skeptischere und zweifelndere Haltung ein. Dies geschieht etwa, indem sie die Bilder nicht als Zeugnisse verwenden, sondern als Ausgangspunkt für Fragen nach dem, was die Fotografie nicht zeigen kann. Neben Bilder der Welt und Inschrift des Krieges (1988) von Farocki ist dies in Ulysse (1982) von Varda zu beobachten, in dem die Filmemacherin einem Foto, das sie zwanzig Jahre zuvor gemacht hat, nachgeht und im Zuge ihrer Recherche die Inkongruenz zwischen den Erinnerungen aller Beteiligten vorführt.

Unter den zeitgenössischen Filmen lässt sich eine solche kritische, das Material hinterfragende und foto-skeptische Position am ehesten noch in November von Hito Steyerl erkennen. Ein Film, in dem es viel weniger um die Rettung und Bewahrung von fotografischem Material geht als um dessen Transformation und Manipulation. Steyerl setzt sich in November kritisch mit dem fotografischen Porträt als Ikone und seiner Verwendung als Mittel zu propagandistischen Zwecken auseinander, indem sie anhand von Foto- und Filmmaterial den Weg ihre Freundin nachzeichnet und erzählt, wie diese von der zunächst fiktiven Märtyrerin in einem selbstgedrehten Super-8-Film zu einer ermordeten Kämpferin und später einer Märtyrerin auf real existierenden kurdischen Plakaten wird. Auch eine Aufnahme von Steyerl selbst, die sie auf einer Demonstration gegen den Irak-Krieg mit einer Fackel und dem Plakat der Freundin in der Hand zeigt, verselbständigt sich und erscheint ohne Zutun der Filmemacherin prominent in einer Fernsehreportage. Aus dieser Reportage geht nicht hervor, dass sie auf dieser Demonstration eigentlich nur als Kamerafrau im Rahmen einer Auftragsarbeit anwesend war. Es geht also in November um einen kritischen Blick auf die Fotografie und ihre Funktion in der Ikonen- und Mythenbildung, selbst wenn der Film sich auch um die Erinnerung und um die bildlichen Restbestände einer Freundschaft dreht.35

In vielen anderen der hier diskutierten Filme, wie etwa A Story for the Modlins, Finding Vivian Maier, No pasarán, album souvenir, The Host, El tiempo suspendido oder Printed Matter werden die Fotografie und ihr Vermögen zur Abbildung historischer Ereignisse und Situationen zwar an manchen Stellen angezweifelt oder hinterfragt. Dies geschieht jedoch im Rahmen eines tendenziell unkritischen Zugangs, der das gefundene und ›gerettete‹ Material zur Rarität und zur Antiquität erhebt. Die Fotos fungieren als letztes Zeugnis, als Fundstück oder Puzzleteil, das vervollständigt und bewahrt werden muss. Indem die Filmemacher*innen sich in der Rolle derjenigen inszenieren, die das fotografische Material gefunden und gerettet haben, tritt eine stark personalisierte Perspektive in den Vordergrund, zumal sie oft eigene Privatfotos hinzuziehen und so ihre individuelle Lebensgeschichte mit einbeziehen und zu den gefundenen Fotos ins Verhältnis setzen.

Darüber hinaus ist im Vergleich der zeitgenössischen Dokumentar- und Essayfilme mit ihren Vorläufern zu beobachten, dass derzeit in kaum einem Film aus dem hier vorgestellten Spektrum mit selbstproduzierten Fotografien gearbeitet wird. Wo Chris Marker, Hollis Frampton oder Agnès Varda in den Sechziger bis Achtziger Jahren oft eigenes, mal ›reaktiviertes‹, mal direkt für den Fotofilm produziertes Material verwenden, präsentieren die Filme aus den letzten beiden Jahrzehnten fast immer Material, das bereits existierte und lange vor dem entsprechenden Filmprojekt vorhanden gewesen ist:

By the end of the twentieth century, the problem was no longer how to create a new media object such as an image; the new problem was how to find an object that already exists somewhere. If you want a particular image, chances are it already exists – but it may be easier to create one from scratch than to find an existing one.36

Die Masse der analogen Medien, die in den letzten einhundertfünfzig Jahren produziert wurden: Fotos, Kassetten, Filme und Videos, die nun durch die computerbasierten Medien abgelöst werden, stellt vor die Herausforderung, die medialen Bestände irgendwie aufzubewahren, zu sichern oder zu archivieren. Das Material der post-analogen Ära, das aus konvertierten und neuen digitalen Daten besteht, bedarf wiederum ganz anderer Archivierungsprozesse.37 Innerhalb dieser medienkulturellen Transformationsprozesse scheint die Suche nach (oder die unerwartete Konfrontation mit) den analogen, bereits irgendwo existierenden Objekten von einer besonderen Dringlichkeit geprägt zu sein. Die analogen Bestände scheinen auf die zeitgenössischen Künstler- und Filmemacher*innen einen größeren Reiz auszuüben als die Produktion neuer technischer Bilder. Dies ist immer auch im Zusammenhang mit der wiederholt thematisierten Vergänglichkeit älterer Bilddokumente zu sehen.38 (Der neue Status des Analogen im Verhältnis zum Digitalen wird weiter unten in Abschnitt 3 noch einmal eingehend erläutert werden.)

2.2 Aneignung als Rettung

Jeder Dokumentarfilm impliziert immer auch einen Aushandlungsprozess in der Beziehung zwischen den Filmemacher*innen und den Gefilmten,

in dem sich Individuen zueinander verhalten und kommunikative Rollen einnehmen. Die Akteure vor der Kamera […] mögen adressiert werden als Opfer politischer Unterdrückung oder ökonomischer Ausbeutung, denen eine Stimme verliehen werden soll, sie mögen zu Komplizen im dokumentarfilmischen Prozess werden oder sich als ein Gegenüber erweisen, an dem der Filmemacher sich reibt oder gegen das er anrennt – und immer sind sie zugleich auch Darsteller ihrer selbst, die das Recht auf Gestaltung des eigenen Bilds für sich in Anspruch nehmen.39

Wie verhält sich diese Aushandlung jedoch bei Filmen, die mit gefundenem Material arbeiten, das den Gestalter*innen eine entsprechende Interaktion ›erspart‹? Die in dieser Studie untersuchten Filme entstanden, abgesehen von wenigen Ausnahmen, hauptsächlich im Modus der Postproduktion, das heißt: im Schnitt und in der nachträglichen Bildbearbeitung. Zwar standen die Abgebildeten einmal vor einer Kamera, nur war es eben nicht die Kamera der Filmemacher*innen. Da die meisten Protagonist*innen bereits verstorben sind, können sie ein Recht auf Gestaltung und Mitbestimmung nicht mehr in Anspruch nehmen. Auch eine »Einverständniserklärung« kann nicht mehr unterschrieben und ein Einspruch gegen die Verwendung und Kontextualisierung des fotografischen Materials nicht mehr erhoben werden.

Den auf den Fotos abgebildeten Personen werden durch den filmischen Zugriff unterschiedliche Rollen zugewiesen, darunter die von Repräsentanten, Opfern oder Zeugen einer überindividuellen Geschichte. Aber es gibt kein kommunikatives Setting, in dem Widersprüche oder Unstimmigkeiten zwischen ihrer Perspektive und der Darstellung durch die Filmemacher*innen diskutiert werden könnten. Letztere können zwar ausdrücklich auch auf Lücken und Inkongruenzen verweisen und Beobachtungen zu möglichen Widersprüchen in der Verwendung des fotografischen Materials formulieren; ein Feedback durch die Abgebildeten wird aber notwendig ausbleiben. Die Reflexion, mitunter auch kritische Reflexion, des Umgangs mit dem Material und deren ästhetische Vermittlung liegt somit in der Verantwortung der Filmemacher*innen.

Betrachtet man den Umgang der Filmemacher*innen mit ihren fotografischen Fundstücken genauer, dann fällt auf, dass sich der jeweilige Gestus in einem Spannungsfeld zwischen Rettung, Aneignung und Transformation situiert. Hier werden zunächst die Rettung des Materials sowie die Präsentation des Fundes zu Ereignissen, die nun im Rahmen des Films narrativiert, in Szene gesetzt und memoriert werden. Dabei betonen die Filme immer die Notwendigkeit des filmischen Recherche- und Bewahrungsprojekts selbst: Besonders die Filme Finding Vivian Maier und A Story for the Modlins, die sich auf Material beziehen, das zum Zeitpunkt der Entdeckung kurz davor stand, ›entsorgt‹ zu werden, inszenieren die Rettung des Materials als ein Projekt, das erzählt werden muss, um den bisher nicht beachteten Fotos eine gebührende Aufmerksamkeit zu erweisen.

Was zunächst als Hommage erscheinen mag, ist jedoch nur zum Teil altruistisch. Nicht nur hat der Filmemacher Sergio Oksman einen Film aus dem fotografischen Material der Modlins gemacht, auch der eigentliche Finder Paco Goméz betreibt mit den entsprechenden Fotos bereits ein jahrelanges, noch andauerndes Projekt: Er veröffentlichte ein Buch, kuratierte Ausstellungen mit den Gemälden von Margret Modlin und entwickelte eine Modlin-App, mit der Interessierte selbst das Material in einer Art Spiel durchforsten und individuell zusammenstellen können.40 Im Gegensatz zu Oksman, der die Modlins als eine zurückgezogene Familie darstellt, präsentiert Goméz überraschenderweise auch Fotos, die sie außerhalb ihrer Wohnung, auf Reisen, auf der Straße und unter Freunden zeigen. Dennoch vermittelt Goméz, genau wie Oksman, das Bild einer verschrobenen, exzentrischen Künstlerfamilie, deren Wunsch, berühmt zu werden, zu Lebzeiten unerfüllt bleiben musste und erst durch die posthume Narration erfüllt werden kann.41

Trotz der faszinierenden Qualitäten des Materials und der gekonnt und spannend inszenierten filmischen Rekonstruktion einer möglichen Version des Lebens der Familie, erscheinen die Selbstinszenierung der Finder und das Marketing, das der Umgang mit dem Material in Folge des Projekts begleitet, problematisch. Auf der Homepage von Paco Goméz wird in einem hochdramatischen Trailer die heroische Tat des Finders beschworen, der Familie ihren lang gehegten Traum zu erfüllen. Diese Selbstinszenierung einer rettenden Instanz geht mit dem Anspruch einher, das Material nach Belieben zu deuten und zu interpretieren, um ein Narrativ zu erzeugen. Dadurch nehmen sowohl der Fotograf Goméz als auch der Filmemacher Oksman in ihren Inszenierungen eine auktoriale Erzählposition ein. Diese zeichne sich, so die Erzähltheoretiker Martinéz und Scheffel, die sich auf den Literaturtheoretiker Stanzel beziehen, durch »die Vorherrschaft einer Allwissenheit suggerierenden Außenperspektive und sekundär durch die Anwesenheit einer Erzählerfigur sowie die Nichtidentität der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren«42 aus. Diese allwissende Perspektive wird jedoch erst auf den zweiten Blick deutlich, beziehungsweise wird suggeriert, dass sich der Erzähler in A Story for the Modlins oder Finding Vivian Maier dieser nicht bewusst ist, da er zunächst eine vermeintlich subjektive Haltung einnimmt, wenn er es sich zur selbst erklärten Aufgabe macht, die unbekannte Familie Modlin oder die Fotografin Vivian Maier posthum berühmt zu machen. Unbewusst vor allem deshalb, weil beispielsweise Maloofs Perspektive auf den Fund als eine sehr persönliche und vor allem zögernde Haltung inszeniert wird. Diese entwickelt sich jedoch im Verlauf zu einer klassisch auktorialen Position, aus der heraus Maloof mit Sicherheit behauptet, dass sich hinter Maier eine großartige Künstlerin verbirgt. Und obwohl ihn, seiner Darstellung zu Folge, zunächst keines der großen Kunstmuseen, bei denen er anfragt,43 in diesem Projekt unterstützen will, lässt er sich dennoch nicht davon abhalten, Maiers Fotos professionell zu entwickeln und zu verkaufen, ihr Werk in Galerien und Ausstellungen unterzubringen, ein Buch über sie zu veröffentlichen und schließlich den Film Finding Vivian Maier zu realisieren. Seine Mission sei es, so sagt er im Film, das Werk Maiers in die Geschichtsbücher eingehen zu lassen: »My mission is to put Vivian in the history books«44. Zu diesem Zweck werden bekannte Fotograf*innen und Jounalist*innen interviewt und bestätigen die Professionalität der von Maloof entdeckten Bilder, Maiers ›gutes Auge‹, ihren Sinn für Humor oder für die Tragik des Lebens.45

Eine Journalistin bemerkt jedoch: »Something was wrong. There is a piece of the puzzle missing.«46 Die Frage, warum seine Protagonistin ihre Fotos nie veröffentlichte und stattdessen als Nanny arbeitete, lässt Maloof nicht los. In den folgenden Recherchen wird Maier, ähnlich wie die Modlins, als eine zurückgezogene, verschrobene und exzentrische Existenz stilisiert. Auch ihre ehemaligen Arbeitgeber*innen beschreiben sie vor der Kamera als »paradoxical«, »mysterious« und »bold«. Ihr unzeitgemäßer Kleidungsstil und ihre künstlerische Betätigung hätten nicht mit den gängigen Vorstellungen von einer Nanny zusammengepasst. Erst recht gelte dies für ihre mysteriöse Vergangenheit und die Unklarheiten über Maiers Identität: Obwohl sie Amerikanerin war, hatte sie einen französischen Akzent. Sie nannte sich mal Smith, mal Maier, mal einfach nur Viv; sie wechselte die Schreibweise ihres Namens: Maier, Meyer oder Mayer.

»I am sort of a spy«, so zitiert sie ein ehemaliger Bekannter, »I am the mysterious woman«, sagt sie über sich selbst auf einer ihrer Tonaufnahmen. Als Maloof einen Ahnenforscher trifft, lässt er sich von diesem bestätigen, dass nicht nur Vivian, sondern auch der Rest ihrer Familie als Einzelgänger*innen zu betrachten seien: »All of them seem to be private. All of them seem to want nothing to do with the rest of the family. All of them seem to be disconnected from the remainders of their family.«47

Diese Stilisierung zur einsamen, solitären Figur steht allerdings in gewissem Widerspruch zu der Annahme, dass Maier die Aufmerksamkeit, die ihr durch Maloofs Filmprojekt zuteil wird, begrüßt oder gewünscht hätte. »She might have seen this as a kind of an intrusion«48, sagt einer ihrer ehemaligen Arbeitgeber im Interview. Und eine Freundin von Maier ist sich sicher: »She would never let this happened, had she’d known about it. No … she never … that were her babies. She wouldn’t have put her babies on display!«49 Und eine weitere Arbeitgeberin sagt: »I think she’d like her artwork to be honored, but I don’t think she personally would have liked being in the limelight.«50

Trotz Maloofs eigener, im Film formulierten Unsicherheit über die Legitimität des Projekts, Vivian Maiers Fotos zu präsentieren und Recherchen über ihr Leben in Szene zu setzen, hat er sich offensichtlich dafür entschieden, das Material bekannt zu machen und filmisch zu inszenieren. Der bereits erwähnte Brief, den Maier nach Frankreich schickte, bestätigt ihm, dass sie diese Bilder nicht nur für sich selbst gemacht hat, und wird von ihm als Legitimation präsentiert, ihr fotografisches Werk zu veröffentlichen:

Previously we thought Vivian had no intention to having anybody else print her work or show her work. This letter proves that assumption wrong. Vivian knew she was a good photographer and she knew that these photographs were good. She wanted to show them to people. She may not have had that happened while she was alive, we are doing it now.51

Im letzten Drittel des Films rückt Maiers Werk dann aber verstärkt in den Hintergrund und es geht maßgeblich um das Ergründen ihrer Person. Je mehr Personen sprechen, die Maier kannten, desto mehr erscheint sie plötzlich nicht mehr als die liebenswerte, neugierige Nanny mit Hang zu Kuriositäten. Einige berichten davon, dass sie als Kinder unter ihr als Nanny gelitten hätten, andere, dass sie psychisch krank gewesen sei. Diese Wende hin zur Anekdoten- und Legendenbildung wirft die Frage auf, wie notwendig die Erzählung des ›mysteriösen Kindermädchens‹ ist, um das Werk überhaupt erst interessant werden zu lassen? Es scheint, als müsste auch hier, wie bereits in A Story for the Modlins, ein plausibler Plot konstruiert werden, um einerseits einen Spannungsbogen zu halten, andererseits aber auch um den Filmemacher als rettende Instanz noch einmal hervorzuheben.

2.3 Letzte Zeugnisse – Familiengeschichte retten und tradieren

In den Dokumentarfilmen, die sich privater, familiärer Bildbestände annehmen, wie beispielsweise Mein Leben Teil 2 und El tiempo suspendido, wird die Aneignung und Verwendung des Materials im Film insbesondere dadurch begründet, dass es sich um Dokumente handele, die als Zeugnisse sowohl an die partikulare Familiengeschichte als auch an die politischen Verbrechen erinnern können, die dieser Geschichte eingeschrieben sind. Diese Entscheidung, das Moment der Zeugenschaft und die memoriale Dimension zu verknüpfen, doppelt sich in Mein Leben Teil 2 wie in El tiempo suspendido insofern, als nicht nur die Tochter (Mein Leben) und Enkeltochter (El tiempo