Frag nach Jane - Heather Marshall - E-Book
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Frag nach Jane E-Book

Heather Marshall

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Beschreibung

Drei Frauen und ihr Kampf für selbstbestimmte Mutterschaft – der Nr.-1-Bestseller aus Kanada Angela, Evelyn und Nancy haben als Frauen, Töchter und Mütter unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Angela ist 2017 nach langer Kinderwunschbehandlung endlich schwanger und umso ergriffener, als sie den Brief einer unbekannten Frau an ihre Tochter findet, der ein wichtiges Geständnis enthält und offenbar nie zugestellt wurde. Während sie nach der rechtmäßigen Empfängerin sucht, stößt Angela auf Evelyn, die im Toronto der 1970er Teil des illegalen Abtreibungsnetzwerks »Jane« war. Evelyn möchte als Ärztin anderen Frauen die Wahl ermöglichen, die sie selbst nie hatte: Sie wurde in einem Heim für unverheiratete Mütter gezwungen, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Auch Nancy stößt 1981 in einer Zeit der Haltlosigkeit zu den Janes. Durch ihr Aufeinandertreffen finden die drei Frauen Beistand – und langersehnte Antworten.

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Seitenzahl: 542

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Heather Marshall

Frag nach Jane

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Längsfeld

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel

Looking For Jane bei Simon & Schuster Canada, zugehörig zu Simon & Schuster, Inc.

 

© der deutschsprachigen Ausgabe

2023 Arche Literatur Verlag,

ein Imprint der Atrium Verlag AG, Zürich

© 2022 by Heather Marshall Inc.

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Johanna Schwering, Berlin

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03790-002-4

 

www.arche-verlag.com

www.facebook.com/ArcheVerlag

www.instagram.com/arche_verlag

 

 

Für R

Absolutes Wunschkind einer höchst freiwilligen Mutter

2010

Es war ein absolut gewöhnlicher Tag, als ein absolut ungewöhnlicher Brief im falschen Briefkasten landete.

Direkt nebeneinander hingen zwei identische Briefkästen, aus demselben dünnen, billigen Blech, mit leicht angerosteten Scharnieren. Sie waren neben der Eingangstür zum Antiquitätenladen an die braune Ziegelmauer montiert; jene Tür, deren Glocke fröhlich – oder auch nervtötend, je nachdem, wen man fragte – bimmelte, sobald Kundschaft den Laden betrat oder verließ.

Der Briefkasten von Thompson’s Antiques & Used Books hing links und war mit einer goldenen Eins beschriftet, ein Aufkleber, dessen Ecken sich bereits leicht ablösten. Der Briefkasten der Wohnung über dem Antiquitätengeschäft hing rechts und war auf gleiche Weise mit einer Zwei beschriftet. Es gab tatsächlich kaum einen Unterschied, und doch machte die falsche Zustellung für Nancy Mitchell, die in der Wohnung über dem Laden lebte und keine Ahnung von dem Brief hatte, den sie nie bekam, einen riesengroßen Unterschied.

Weil aus der Anschrift die Nummer der Wohnung in dem alten Gebäude in der College Street nicht ersichtlich war, warf der Postbote den Brief einfach in den Briefkasten des Antiquitätengeschäfts, um dann seine hektische Zustelltour fortzusetzen.

Drei Stunden lang blieb der Brief, wo er war – dicht an dicht mit einer Postkarte vom Sohn der Ladeninhaberin, der sich seinerzeit auf Frankreichreise befand, und der Postwurfsendungen dieses Freitags –, bis besagte Inhaberin ihn nach ihrer Zigarettenpause mit in den Laden nahm. Sie warf den Poststapel unbesehen in den Eingangskorb, wo er später von einer unaufmerksamen Angestellten sortiert und der Brief fatalerweise verlegt werden sollte.

So kam es, dass der Inhalt dieses Briefs sieben Jahre lang unentdeckt blieb, ehe er das Leben dreier Frauen für immer veränderte.

Erster Teil

Kapitel 1Angela

Toronto – Januar 2017

Angela Creighton hat es eilig.

Sie ist am Vorabend zu spät ins Bett gekommen und wacht an diesem Sonntagmorgen mit einer Migräne auf, die sie nun gar nicht gebrauchen kann. Um ihre Frau, die heute ausschlafen kann, nicht zu wecken, schleicht sie leise in die Küche, wo sie mit einem Glas fruchtfleischfusseligem Orangensaft eine Kopfschmerztablette runterspült, dann einen Bagel toastet und mit zu viel Knoblauchfrischkäse bestreicht. Ihr Frühstück zwischen die Zähne geklemmt wie ein Retriever seine Beute, setzt sie sich eine Mütze auf, schließt den Gürtel des karierten Mantels, zieht behutsam die Wohnungstür hinter sich zu und eilt durchs Treppenhaus nach unten.

Auf dem Gehweg angekommen läuft Angela kauend weiter zur Bushaltestelle, während sie mit der freien Hand ihre Sonnenbrille aus der Handtasche fischt. Normalerweise würde sie sich jetzt freuen, denn im Winter sind Sonnentage rar gesät. Aber das grelle Licht lässt sie die Augen zusammenkneifen, der Schädel dahinter pocht wie eine Schussverletzung.

Sie war am Vorabend bei ihrer Freundin Jenn zum allmonatlichen Treffen ihres gemeinsamen Lesezirkels, der, wie es viele Lesezirkel an sich haben, im Laufe der letzten Monate zu einem Weinzirkel mutiert ist. Jetzt trinken sie zu viel billigen Pinot Grigio, vertilgen mit einer Hingebung, die an eine Henkersmahlzeit erinnert, Hartwurstwürfelchen und Käse, und ab und zu unterhalten sie sich auch mal über Bücher, die sie gelesen haben.

Angela war in den letzten Monaten nicht an den Weingelagen beteiligt, aber gestern Abend hat sie die Zurückhaltung aufgegeben. Endlich wieder Alkohol trinken zu dürfen ist nach ihrer Fehlgeburt der einzige, jämmerliche Fetzen Silberstreif am Horizont, und sie hat sich quasi im Galopp darauf gestürzt. Sobald sich ihr Körper ausreichend erholt hat, werden Tina und sie einen neuen Versuch wagen und die nächste Runde Fruchtbarkeitsbehandlungen angehen. Bis es so weit ist, findet Angela, kann sie genauso gut dem Alkohol frönen. Es war bereits die zweite Fehlgeburt in einem Jahr, und irgendwie hat sie das Gefühl, das Risiko wird mit jedem Versuch einer künstlichen Befruchtung und jeder gescheiterten Schwangerschaft weiter steigen. Steter Alkoholzufluss lässt die Hürden ein wenig niedriger erscheinen – wenn auch nur flüchtig.

Der Bus zuckelt auf die Haltestelle zu, Angela steigt ein, wirft eine Münze in den Metallschlitz und findet neben der hinteren Tür einen freien Sitzplatz. Das Geschäft, das sie leitet – Thompson’s Antiques & Used Books –, liegt knapp zehn Häuserblocks Richtung Westen, und ein paar Haltestellen weiter stolpert sie schon wieder aus dem Bus auf den schneematschigen Bordstein.

Der Ladeneingang befindet sich im Grunde mitten auf dem Gehweg der quirligen College Street, und Angela quetscht sich, mit dem Schlüsselbund hantierend, in den Türrahmen, um den Fußgängern auszuweichen. Sie stemmt sich mit der Hüfte gegen die alte, windschiefe Holztür, fliegt quasi mit ebenjener ins Haus und macht sie eilig hinter sich zu.

Angela mag den Laden. Dieses Geschäft ist eine ganz besondere Mischung, Umschlagplatz für viele alte Bücher, die regelmäßig kommen und gehen, und Heimat einer kunterbunten Antiquitätensammlung, die eigentlich ausnahmslos ein Ladenhüterschicksal fristen. Es duftet nach Möbelpolitur, Kaffee und dem leicht modrigen und gleichzeitig unfassbar anziehenden Geruch alter Bücher. Der Laden ist eher klein, nicht größer als ein bescheidenes Apartment. Hinter der Kasse befindet sich ein enger Lagerraum mit einem Stapel verstaubter, vergessener Kartons und einer billigen Kaffeemaschine, die Angela in ihrer allerersten Woche mitgebracht hat.

Sie kann spüren, wie sich ihre Stimmung bei dem wohlvertrauten Geruch ein wenig hebt. Angela hat Bücher schon immer geliebt, und sie und Tina haben, was Einrichtung betrifft, einen höchst vielseitigen Geschmack, weshalb der Antiquitätenladen ihr sehr zupasskommt.

Angela schaltet das Licht an, tritt an den alten Schreibtisch, der als Verkaufstresen dient, und schiebt mit dem Fuß ihre Tasche darunter. Sie fährt die Computerkasse hoch – das mit Abstand fortschrittlichste Stück Technologie im ganzen Geschäft – und verzieht sich dann ins Lager, um eine Kanne gnadenlos starken Kaffee aufzusetzen. Während sie schwanger war, hatte sie ausschließlich koffeinfreien getrunken, der festen Überzeugung, mit doppelter Pulverdosis trotzdem einen Placeboeffekt erzielen zu können. Heute aber setzt sie mit einem bitteren Stich im Herzen eine Kanne ganz normalen Kaffee auf.

Sie gibt sich einen Ruck und beginnt mit dem angeschlagenen Kaffeebecher in der Hand ihr Tagwerk: Neuzugänge sortieren und Reserviertes bereitstellen. Sie wird nie begreifen, wie dieser Laden sich halten kann, vor allem angesichts der Immobilienpreise in der Stadt. Die kleine Wohnung über dem Geschäft ist vermietet und spült etwas Geld in die Kasse, denn das Haus gehört Angelas Tante Jo – die in alten Geldadel eingeheiratet hat und auf Einkünfte nicht wirklich angewiesen ist. Sie könnte den ganzen Klotz binnen Tagen für ein Vermögen verkaufen. Angela vermutet, dass ihre Tante den Laden nur deshalb behält, damit sie bei den wöchentlichen Maniküresitzungen mit ihren perfekt gepflegten Freundinnen etwas zu erzählen hat.

Ehe Angela bei Thompson’s anfing, war sie kreuz und quer im Einzelhandel rumgehopst, zuletzt unter der Fuchtel des kleinkarierten Geschäftsführers eines überteuerten Schuhgeschäfts. Auch wenn sie ihm nichts beweisen konnte, hat Angela den Verdacht, dass sie nur deshalb »aufgrund saisonbedingt rückläufiger Verkaufszahlen« gekündigt worden war, weil ihr Chef ein paar Wochen zu früh von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. Er war Mitte fünfzig, stockkonservativ, homophob veranlagt und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Anhänger jener Schule, für die Mutterschutzurlaub einen Akt der Geschäftsschädigung darstellt. Angela hatte sich einer Kollegin anvertraut, nachdem ihr die Ausreden für ihre wegen der Übelkeit ständig notwendigen Besuche der Angestelltentoilette ausgegangen waren. Sie ist sich sicher, dass die Kollegin den Mund nicht halten konnte.

Als sie deshalb mit Mitte dreißig und nach diversen kostspieligen Fruchtbarkeitsbehandlungen plötzlich auf der Straße stand, zapfte sie auf der verzweifelten Suche nach einem Job – irgendeinem Job – sämtliche Kanäle an. Sie brauchte etwas, womit sie weiterhin ihren Teil zur Miete beisteuern und dabei helfen konnte, ein finanzielles Polster für ihre kleine Familie zu schaffen. Beim letzten Thanksgiving-Essen bot Tante Jo Angela dann mit einer eleganten Geste ihrer juwelenbesetzten Hand die Geschäftsführung ihres Ladens an, damit sie selbst »sich endlich zur Ruhe setzen« könne. Obwohl Angelas Erfahrung mit Antiquitäten bestenfalls überschaubar war, sah sie sich außerstande, das Angebot auszuschlagen. Außerdem wusste sie, dass Tante Jo ihre eigene Nichte im Falle einer Schwangerschaft kaum vor die Tür setzen würde. Drei Tage später überreichte Jo ihr die Schlüssel.

Sonntags ist Angela allein im Laden, aber sonntags ist es auch eher ruhig, vor allem in den Herbst- und Wintermonaten, wenn der Touristenstrom durch die Stadt sich zu gletschergleichem Fließen verlangsamt. Nachdem die Neuzugänge sortiert sind, macht Angela sich an die Durchsicht der nicht abgeholten Reservierungen. Dies gehört zu den frustrierendsten Aufgaben auf Angelas Liste. In acht von zehn Fällen haben sich übereifrige »Schnäppchenjäger und Antiquitätendetektivinnen« (meist selbst ernannt und frischgebacken), die zu einem Shopping-Trip in die Stadt gekommen sind, ein Möbelstück reservieren lassen. Sie schaudern vor Entzücken angesichts des potenziellen Schnäppchens und bitten um Reservierung, um später mit einem angemessen großen Fahrzeug zurückzukehren und die samstägliche Jagdtrophäe nach Hause zu schleppen. Und so gut wie jedes Mal gebrauchen die potenziellen Käuferinnen und Käufer dann am Telefon so lange irgendwelche Ausflüchte, bis Angela die Reservierung rückgängig macht und ihrem Gegenüber die Demütigung erspart, zugeben zu müssen, dass es sich um eine spontane Laune gehandelt hat. Dieser Vorgang hat zur Folge, dass Angela einen Großteil der Sonntagvormittage damit verbringt, pinkfarbene »Reserviert«-Schilder von Möbeln zu pflücken und die Stücke in ihren gemütlichen Ecken des Ladens wieder sich selbst zu überlassen, wo sie wie in die Jahre gekommene Waisenkinder geduldig des nächsten Beinahe-Käufer-Plagegeistes harren.

Ganz oben auf der Liste steht heute eine kleine Kommode mit drei Schubladen. Angela weiß genau, um welches Möbelstück es sich handelt, und begibt sich in den hintersten Winkel des Ladens. Sie tritt näher und greift nach dem Kärtchen mit dem »Reserviert«-Aufdruck, das in die oberste Schublade geklemmt ist. Als sie das Schild entfernen will, rutscht ihr die Schublade ein Stückchen entgegen. In dem Spalt sieht Angela etwas Weißes schimmern. Sie lässt auf der Suche nach einem sicheren Ort für ihren Kaffeebecher den Blick schweifen, zweckentfremdet das pinkfarbene Kärtchen als Untersetzer und stellt den Becher neben sich ins Bücherregal. Dann öffnet sie die Schublade.

Im selben Augenblick ertönt die Türglocke und verkündet die erste Kundschaft des Tages. Angela schließt die Schublade wieder und bahnt sich, vorsichtig um willkürlich aufgetürmte Bücherstapel navigierend, den Rückweg nach vorne.

»Hallo!«, ruft sie.

»Hallo«, sagt ein schüchternes Mädchen im Teenageralter mit mausbraunen Haaren und gekrümmter Haltung.

»Kann ich dir helfen?«, fragt Angela und zieht sich den Schal enger um die Schultern. Das Mädchen hat einen eisigen Windhauch mit in den Laden gebracht, und Angela ärgert sich darüber, auch wenn ihr klar ist, dass das irgendwie ungerecht ist. Sie will zu ihrer Schublade zurück.

»Nein, danke, ich schau mich nur mal um.«

»Klar«, gibt Angela zurück. »Sag Bescheid, wenn du was brauchst.«

Das Mädchen lächelt flüchtig und wendet sich dem nächstgelegenen Bücherregal zu. Angela nimmt die höfliche Abfuhr als willkommene Erlaubnis, sich zu entfernen. Sie kehrt zu der kleinen Kommode zurück und zieht die oberste Schublade wieder auf.

Darin liegt ein kleines Kästchen aus Marmor. Angela holt es heraus und betrachtet es eingehend. Die meisten Antiquitäten im Geschäft sind aus Holz, der Rest hauptsächlich aus Messing oder Silber: angelaufene Bilderrahmen mit verschnörkelten viktorianischen Verzierungen; Handspiegel, bei denen man sofort altmodische Frisuren mit Häubchen im Regency-Stil vor dem inneren Auge hat; silberne Sammellöffel mit verblassten Emblemen und ausgeklügelten Familienwappen.

Marmor ist Angela bei Thompson’s noch nicht zwischen die Finger gekommen, und das schöne Kästchen aus dem hellen Stein mit den grau glitzernden Adern könnte tatsächlich einen Abnehmer finden. Sie lässt den lauwarmen Kaffee, wo er ist, und nimmt ihren Fund mit nach vorne an den Verkaufstresen. Nach einem kurzen, prüfenden Blick auf ihre inzwischen in ein Bücherregal versunkene einzige Kundin lässt Angela sich auf dem Barhocker nieder und öffnet die goldfarbene Verschlussspange.

Das Kästchen enthält einen Stapel vergilbtes Papier. Es sieht nach alten Geschäftspapieren aus, schreibmaschinengeschriebene Tabellen, Verkaufsnotizen. Zählend nimmt Angela ein Blatt nach dem anderen heraus – fünf Stück. Alle alt, so wie es aussieht. Kein Wunder, denkt sie, schließlich ist das hier ein Antiquitätengeschäft.

Ganz unten entdeckt Angela einen ungeöffneten Briefumschlag, beschriftet mit elegant geschwungener Handschrift. Sie hält ihn gegen das Licht, das durchs Ladenfenster fällt. Entlang der Lasche ist das Papier leicht gewellt, als wäre der Umschlag zwischenzeitlich feucht geworden. Die Briefmarke wirkt modern. Die schräge Schreibschrift oben links verrät als Absenderin eine gewisse Mrs. Frances Mitchell. Adressiert ist der Brief an Ms. Nancy Mitchell, und Angela stutzt, als sie unter dem Namen die Adresse des Antiquitätengeschäfts entdeckt.

Die Handschrift wirkt etwas zittrig, doch Angela erkennt, dass sie einst, vor vielen Jahrzehnten, schön und anmutig gewesen sein muss.

BUMM!

Erschrocken wirft Angela einen Blick zu dem Mädchen rüber, das sich, eine Entschuldigung murmelnd, nach einem dicken Buch bückt. Mit rasendem Puls bringt Angela ein schiefes Lächeln zustande, doch das Mädchen verabschiedet sich hastig winkend und mit einem gemurmelten »Danke«. Die Türglocke bimmelt erneut, und der nächste kalte Windhauch weht herein.

Froh, wieder allein zu sein, lässt Angela nachdenklich die Finger über die zugeklebte Lasche auf der Rückseite des Umschlags gleiten. Der rote Poststempel in der oberen rechten Ecke der Vorderseite verrät ihr, dass der Brief 2010 aufgegeben wurde. Doch er ist nie geöffnet worden. Ist er versehentlich an die falsche Adresse geraten? Nein, da steht eindeutig die Anschrift des Ladens und dazu der ihr völlig unbekannte Name Nancy Mitchell.

Er war an diese Anschrift adressiert.

Angela weiß, dass es, technisch betrachtet, strafbar ist, fremder Leute Post zu öffnen, doch ihre Neugier siegt über ihr Moralempfinden. Sie angelt sich den antiken Messingbrieföffner aus dem tintenverschmierten Marmeladenglas, das als Stiftebecher dient, schiebt behutsam die Spitze unter die Kante und schlitzt mit einem befriedigenden Geräusch den Umschlag auf. Mit den Fingernägeln zieht sie den Brief heraus, als wolle sie vermeiden, verfängliche Abdrücke zu hinterlassen, und faltet ihn auseinander. Er ist auf Büttenpapier geschrieben, schwer und mit Wasserzeichen. Kostspielig. Erstanden von jemandem, der viele Briefe schrieb und Wert darauf legte, ihnen Gewicht zu verleihen.

Neugierig fängt Angela an zu lesen, fasziniert gleiten ihre Augen unter den dunklen Ponyfransen von Zeile zu Zeile:

Liebe Nancy,

dieser Brief wird dich erst erreichen, wenn ich nicht mehr bin. Ich habe meinen Anwalt angewiesen, ihn erst nach meinem Ableben an dich weiterzuleiten. Dieser Umstand tut mir leid, aber ich habe meine Gründe. Trotzdem möchte ich sichergehen, dass du von gewissen Dingen, die deine persönliche Geschichte betreffen, erfährst.

Liebe Nancy, ich habe dich so geliebt, wie eine Mutter ihre Tochter nur lieben kann. Ich habe getan, was ich konnte, und war dir die beste Mutter, die ich sein konnte. Aber auch ich bin nur ein Mensch und nicht vollkommen, Liebes.

Ich weiß keine andere Möglichkeit, als es geradeheraus hinzuschreiben: Wir sind nicht deine leiblichen Eltern, dein Vater und ich. Wir haben dich adoptiert, als du noch ein Baby warst.

Wir haben jahrelang versucht, ein Kind zu bekommen, flehten Gott tagtäglich an, uns ein Baby zu schenken, aber es sollte nicht sein. Deshalb beschlossen wir, ein Neugeborenes zu adoptieren, und unser Hausarzt verwies uns an das Sankt-Agnes-Heim für Ledige Mütter hier in Toronto.

Du kamst an dem Tag zur Welt, den du als deinen Geburtstag kennst: am 25. April 1961. Man sagte uns, deine leiblichen Eltern wären ein junges Paar, zwei Teenager und in auswegloser Situation. Sie waren mittellos und außerstande, dich großzuziehen. Es hieß, deine Mutter hätte dich aus freien Stücken zur Adoption freigegeben, schweren Herzens und in der Hoffnung, dass wir in der Lage wären, dir eine glücklichere Zukunft zu bieten als sie, so jung und arm, wie sie war. Ihre Geschichte ging uns sehr nah, trotzdem dankten wir Gott für ihre Selbstlosigkeit und das unfassbar kostbare Geschenk, das sie uns machte.

Wir zogen dich groß und liebten dich wie unser eigen Fleisch und Blut. Der Priester und die Schwestern von Sankt Agnes rieten uns, dir nichts von der Adoption zu erzählen und einfach so zu tun, als wärst du unser von Gott gegebenes Kind. Sie waren der Auffassung, so sei es leichter für dich. Wir hielten uns an ihren Rat. Wir glaubten, sie wüssten, was gut ist. Und doch ist kein einziger Tag vergangen, an dem ich jene Entscheidung nicht infrage gestellt habe.

Als wir dich zu uns nach Hause holten, entdeckte ich tief unten in der Decke, in die du gewickelt warst, ein paar handgestrickte gelbe Schühchen. Ich nahm an, dass deine leibliche Mutter sie dir als Glücksbringer mit auf den Weg gegeben hatte, doch ich brachte es nicht über mich, sie zu benutzen, und verschloss sie in einer Schublade. Ich hatte Angst, dir von deiner leiblichen Mutter zu erzählen, weil ich dachte, du würdest mich dann womöglich mit anderen Augen sehen, außerdem hatte ich ständig die arme Frau vor Augen, irgendwo da draußen, wie sie dich schrecklich vermisste. Ich versuchte, mich zumindest ein wenig von meiner Schuld reinzuwaschen, indem ich jedes Jahr zu deinem Geburtstag in der Kirche eine Kerze anzündete und für sie betete.

Und doch, mein liebstes Kind … und doch muss ich dich aus tiefstem Herzen um Vergebung bitten.

Kurz nach deiner Hochzeit fanden dein Vater und ich heraus, dass du nicht aus freien Stücken zur Adoption freigegeben wurdest, so wie man uns damals glauben machte. Wir wurden belogen, Nancy. Und wir haben dich belogen.

In den Nachrichten gab es eine Reportage über einige Mädchen, die sich in einer ausweglosen Situation an das Sankt-Agnes-Heim gewandt hatten und dort unter Drohungen und Schlimmerem dazu gezwungen worden waren, ihre neugeborenen Kinder wegzugeben. Nicht lange nachdem du zur Welt gekommen warst, wurde das Heim geschlossen. Auf uns wirkten die Leute, die es leiteten, wie gute Menschen. Wir wünschten uns verzweifelt ein Kind, und wir glaubten ihnen bereitwillig. Wir hatten keinen Grund, es nicht zu tun. Wir wussten nichts davon. Nach der Reportage fasste ich mir ein Herz, schloss die alte Schublade wieder auf und entdeckte in einem der beiden gestrickten Schühchen eine Nachricht. Ich habe den Zettel diesem Brief beigelegt. Bitte lies selbst, Liebes.

Dein Vater wollte dir trotzdem nicht die Wahrheit sagen. Und als er starb, blieb ich weiter stumm. Meine Feigheit ist die einzige Entschuldigung, die ich dafür finde. Es tut mir unsagbar leid, Nancy. Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass Geheimnisse zu nichts Gutem führen. Sie schwären wie Eiterwunden und brauchen, wenn der Schaden erst angerichtet ist, umso länger zur Heilung. Es gibt kein Entrinnen, es zerstört uns innerlich, und das soll dir erspart bleiben.

Der Name deiner Mutter lautet Margaret Roberts. Sie war, als sie dich zur Welt brachte, viel jünger als ich, und es kann sein, dass sie noch am Leben ist. Ich möchte dich dazu ermutigen, dich auf die Suche nach ihr zu machen und dich vielleicht durch die Wiederbegegnung mit deiner anderen Mutter, wie ich sie insgeheim immer genannt habe, über meinen Tod hinwegzutrösten. Ich wünsche dir, dass du nach vorne blicken kannst, und hoffe inständig, dass du uns verzeihen kannst, deinem Vater und mir.

Ich habe dich immer aus tiefstem Herzen geliebt, Liebes, und deshalb ahne ich, wie hart es für deine andere Mutter, Margaret, gewesen sein muss, dich aufzugeben. Seit ich ihre Nachricht las, habe ich jeden Tag meines Lebens dafür gebetet, dass sie mir verzeiht. Ich habe mich ihres Kindes, meines Kindes – unseres Kindes –, mit all meiner Liebe angenommen. Vermutlich wird Gott unsere Rechnung begleichen, so wie Er es für richtig erachtet. Es liegt alles in Seiner Hand.

Bitte vergib mir, mein liebstes Kind. Ich bete, dass wir uns einst wiedersehen, in ferner, ferner Zukunft.

Mum

Angela legt den Brief auf den Tisch und greift nach einer Schachtel Taschentücher, um sich die Tränen wegzuwischen, die ihr unwillkürlich in die Augen gestiegen sind.

»Herr im Himmel!«

Sie denkt an ihre eigene Familie, an ihre Mom und an die andere Frau, die sie zur Welt brachte, Sheila, und die sie vor fünf Jahren endlich kennengelernt hat. Sein Leben lang nicht zu wissen, dass man adoptiert wurde, ist eine schreckliche, abwegige Vorstellung. Die drei Frauen tun ihr unendlich leid: Nancy, die Tochter; Frances, die Mutter, die dieses Geheimnis so lange mit sich herumgetragen hat und das als Geständnis dann zu allem Überfluss auch noch verloren ging; und Margaret Roberts, die eine heimliche Nachricht kritzelte, um der Welt mitzuteilen, dass sie gezwungen wurde, ihr Kind zur Adoption freizugeben …

Die Nachricht.

»Wo ist die Nachricht?«, fragt Angela laut in den leeren Laden hinein. Sie mustert den Schreibtisch, beugt sich vor, sucht den Fußboden ab. Als sie den Umschlag wieder zur Hand nimmt, segelt ein Fetzen Papier heraus. Er ist vergilbt und knittrig. Eine Kante ist angesengt, als wäre er irgendwann beinahe verbrannt.

Angela liest die kurze, handgeschriebene Notiz. Es sind nur zwei Zeilen, aber die letzten fünf Worte brennen sich fast in ihre Netzhaut. Mit verschwommenem Blick starrt sie auf den kleinen Zettel.

Sie liest die Notiz noch ein paar Mal und platziert sie dann behutsam auf dem Brief. Sie braucht Rat. Sie greift zu ihrem Telefon und wiegt es in der Hand, während sie überlegt, wen sie zuerst anrufen soll. Sie scrollt kurz durch die Kontaktliste, tippt einen Namen an und hebt das Telefon ans Ohr, während sie sich mit dem freien Handrücken eine Träne von der Wange wischt.

»Hallo, Mom? Ich bin’s. Hast du eine Minute?«

Kapitel 2Evelyn

Toronto – Oktober 1960

Ich kann froh sein, wenn ich es hier lebend wieder rausschaffe, denkt Evelyn Taylor.

Das Sankt-Agnes Heim für ledige Mütter sieht aus wie ein verlassenes Schloss, dessen einstige Bewohner sich mitsamt aller Freude aus dem Staub gemacht und es bereitwillig den Ratten und dem kriechenden Efeu überlassen haben. Möglicherweise war das große Gebäude mit den geschwungenen Prachtfenstern im obersten Stockwerk und den dunkelbraunen, von üppigem Grün umgebenen Ziegelmauern tatsächlich mal ein schönes Schloss. Doch als Evelyns Vater am Straßenrand hält und sie den Blick an der Fassade hinaufgleiten lässt, starrt ihr aus einem der großen Fenster im Obergeschoss ein gespenstisch blasses Gesicht entgegen. Zwei Hände schieben sich durch die Gardinen und ziehen das Mädchen vom Fenster weg. Evelyn blinzelt, doch von den zwei Gestalten ist schon nichts mehr zu sehen. Kurz fragt sie sich, ob sie sich das Gesehene nur eingebildet hat. Das Gebäude hat eine abschreckende Ausstrahlung, und noch ehe Evelyn die Autotür aufgemacht hat, kriecht ihr eiskaltes Grauen in die Eingeweide.

Ihr Vater bleibt regungslos sitzen, den Blick starr geradeaus auf einen Punkt irgendwo jenseits der Motorhaube gerichtet. Sie fragt sich, was er denken mag. Er räuspert sich.

»Also dann«, sagt er, ohne sie anzusehen. »Lebe wohl.«

Evelyn fasst nach dem Türgriff und steigt aus. Sie drückt den Rücken durch, öffnet die hintere Tür und zerrt ihren Reisekoffer heraus. Ihr Vater bietet ihr keine Hilfe an. Er hat nicht mal den Motor abgestellt.

Nachdem Evelyn die Tür wieder zugeschlagen hat, folgt eine kurze Pause, ehe sie hört, wie der Gang eingelegt wird und der Wagen sich vom Bordstein entfernt. Sie sieht der chromglänzenden Stoßstange nach, während das Auto um die Ecke biegt. Über dem beigefarbenen Fahrersitz erkennt sie noch den Hinterkopf ihres Vaters.

Wie gelähmt steht Evelyn in ihren flachen Schnallenschuhen auf dem Gehweg vor dem Heim, während ihr träges Hirn versucht, die neue Wirklichkeit zu verarbeiten. Ihre Mutter telefonierte, Pater Richard kam zum Tee, und die Entscheidung, sie nach Sankt Agnes zu schicken, war getroffen, noch ehe der Priester um eine zweite Tasse Orange Pekoe bat.

Einerseits ist sie dankbar, den bösen Blicken ihrer Mutter entronnen zu sein und ein bisschen Freiraum zu haben, während sie das Ende ihrer Schwangerschaft abwartet. Auf der anderen Seite leidet sie an gebrochenem Herzen, sie ist erschüttert, dass sie überhaupt hierhermuss – und sie hat Angst vor dem, was sie hinter dieser schweren Holztür mit dem Messingklopfer erwartet. Niemand hat ihr gesagt, worauf sie sich einstellen muss. Sie fühlt sich wie Dorothy aus dem Zauberer von Oz, von einem Wirbelsturm gepackt und meilenweit weg von zu Hause an einem seltsamen Ort wieder abgesetzt. Alles ist auf den Kopf gestellt. Verzerrt und falsch.

Sie spürt die Blicke der Nachbarn im Nacken, stellt sich vor, wie sie ihre neugierigen, rosigen Gesichter an die Scheiben ihrer Wohnzimmerfenster pressen und die neue Heimbewohnerin mit dem sichtbaren Beweis ihrer Schande abschätzig mustern.

Ihr ist klar, dass sie nicht die Erste ist und nicht die Letzte sein wird. Vielleicht ist es den Nachbarn inzwischen auch egal. Vielleicht hat sich das Spektakel um die schwangeren Mädchen schon vor Jahren abgenutzt, lange bevor Evelyn den Wagen ihres Vaters verlassen und den Fuß auf diesen abgetretenen Bordstein der Riverdale Avenue gesetzt hat. Flüchtig streift sie der Gedanke, einfach davonzurennen, doch dann wendet sie sich mit einem Gefühl angespannter Resignation den Stufen zu, die hoch zum Eingang führen.

Evelyn ergreift den schweren Türklopfer und schlägt damit dreimal gegen das polierte Hartholz, ehe sie ihn mit dumpfem Schlag und quietschendem Scharnier wieder fallen lässt. Sie wartet. Der Wind fährt raschelnd in die braun gefärbten Blätter der Bäume neben der Veranda. Die Luft ist schwer und statisch aufgeladen von einem nahenden Herbststurm. Über den Dächern und Schornsteinen der alten Reihenhäuser rollen dunkle Wolken heran.

Aus dem Inneren des Hauses dringen gedämpfte Geräusche an ihr Ohr, eine ins Schloss fallende Tür und das Rufen einer Frau. Eine andere antwortet, ihre Stimme klingt tiefer als die erste. Schritte nähern sich der Haustür, und Evelyn zieht sich der Magen zusammen. Als sie hört, wie der Riegel zurückgeschoben wird, strafft sie die Schultern und reckt das Kinn.

Das Erste, was sie sieht, sind die Augen der Frau unter einer Haube, die den Großteil der Stirn verdeckt. Sie sind so grau und kalt wie der Sturmhimmel, und der Blick ist noch bedrohlicher. Die Nonne macht die Haustür weit auf und bleibt, die Hände in die Hüften gestemmt, vor Evelyn stehen. Im Gürtel um ihre Taille steckt neben einem Rosenkranz etwas, das Evelyn mit nervösem Blick als Peitsche zu erkennen glaubt. Auf der Brust der Frau glänzt ein Kruzifix.

»Evelyn Taylor.« Es ist keine Frage. »Nun dann, kommen Sie herein. Lassen Sie uns mal sehen.«

Sie macht einen Schritt zur Seite, und Evelyn betritt das Haus. Der eisige Blick der Nonne bringt sie instinktiv dazu, sich schützend eine Hand auf den Bauch zu legen – eine Geste, die sie augenblicklich bereut.

»Kein Grund, sich aufzuführen wie ein armes, verirrtes Lämmchen. Den Schlamassel haben Sie sich und Ihrem Baby schließlich selbst eingebrockt.« Sie zeigt mit dem Kinn auf Evelyns Bauch. »Wir haben hier weder Zeit noch Muße für Mitleidsbekundungen.«

Evelyn senkt den Kopf.

»Na los, kommen Sie in den Salon. Mein Name ist Schwester Maria Theresa. Ich bin die Leiterin von Sankt Agnes.«

Die Nonne verlässt die Eingangshalle durch einen Durchgang, und Evelyn folgt ihr gefügig. Als sie den Bogen durchschreitet, fallen ihr das wunderschöne Buntglasfenster in dem Querholz darüber und das Kruzifix auf, das daneben an der Wand hängt. Der »Salon« ist ein eher schlichtes Zimmer, tapeziert mit Blumenmuster auf gelbem Grund. Obwohl noch nicht Abend ist, brennen sämtliche Lichter, denn kein Tageslicht dringt herein. Das große Fenster ist mit dichten dunkelbraunen Vorhängen verhängt, und Evelyn muss den Drang bekämpfen, auf dem Absatz kehrtzumachen und durch die Haustür zurück an die frische Luft zu flüchten.

»Bitte setzen Sie sich.« Schwester Theresa deutet auf einen zerschlissenen Ohrensessel gegenüber einem Chesterfield-Sofa mit steifer Lehne.

Etwas im Tonfall der Frau sagt Evelyn, dass dies eher Befehl als Bitte ist. Sie lässt sich auf der Stuhlkante nieder und macht Anstalten, sich zurückzulehnen.

»Haltung, Miss Taylor. Die Körperhaltung ist für die Erscheinung einer jungen Dame von überragender Bedeutung, vor allem, wenn sie schwanger ist.«

Evelyn setzt sich wieder gerade hin und gibt ihrem Unbehagen mit einem Seufzer Raum. Was weiß diese professionelle Jungfrau schon vom Schwangersein?

»Nun.« Schwester Theresa sieht sie streng an. »Wie haben Sie sich in andere Umstände gebracht?«

Offensichtlich noch weniger, als ich dachte … »Ich habe mich nicht in andere Umstände gebracht«, widerspricht Evelyn. »Man kann sich nicht selbst in …«

»Entschuldigen Sie, Miss Taylor. Eines sollten wir gleich klarstellen. Wir dulden in diesem Haus keine Widerworte.«

Evelyn nickt. »Ich bitte um Verzeihung, Schwester Theresa.«

»Gut. Wie haben Sie sich also in andere Umstände gebracht?«

Schwester Theresa rückt die Klemmtafel auf ihrem Schoß zurecht und mustert Evelyn mit gezücktem Bleistift über den Rand ihrer metallgefassten Brille. In der Stille, die auf ihre Frage folgt, fällt Evelyn auf, wie still es insgesamt im Haus ist. Sie hätte Lärm erwartet, Gelächter oder Stimmen, das Geklapper von Tellern und Töpfen aus der Küche.

»Miss Taylor?«

Evelyns Gedanken kehren zu den Nächten mit Leo zurück, und es schnürt ihr die Kehle zu. Sie kann sein Gewicht auf ihrem Körper spüren, fühlt ihn in sich und seine Worte in ihrem Ohr – flüsternd gestand er ihr seine Liebe, sagte ihr, dass nichts dabei wäre, weil sie schon bald verheiratet wären. Sie hätte nie geglaubt, dass sie so einfach schwanger werden könnte.

»Wir hatten kein Präservativ«, bringt sie stammelnd heraus, das Gesicht flammend heiß.

Schwester Theresa macht sich eine Notiz. »Und kannten Sie den Vater?«

»Ja!«

Die Nonne setzt einen Haken auf ihrem Formular. »Wie lange kannten Sie ihn schon? Wie oft haben Sie sich gesehen? War es etwas Festes?«

»Er war mein Verlobter. Wir wollten heiraten.«

»War dies Ihr erster Geschlechtsverkehr?«, will Schwester Theresa wissen.

Evelyn muss schlucken. »Ja.«

»Sie sagten, Sie waren verlobt und wollten heiraten? Besteht seitens des Putativvaters Interesse an diesem Kind?«

»Verzeihung, des was?«

»Des Putativvaters«, wiederholt Schwester Theresa und hebt den Blick von ihrem Klemmbrett. »Des mutmaßlichen Vaters.«

Ebenso gut hätte die Nonne sich über den Tisch beugen und Evelyn eine Ohrfeige verpassen können.

»Nicht mutmaßlich. Daran besteht kein Zweifel.«

»So bezeichnen wir hier alle Väter.«

»Er ist der Vater. Wir haben uns geliebt, wir wollten heiraten. Wie ich schon sagte.«

»Was ist passiert?«

Evelyn zögert. »Er ist gestorben. Er … er hatte einen Herzinfarkt und starb.« Die Worte schmecken nach Galle.

Schwester Theresas Mund verzieht sich missbilligend. »Das ist bedauerlich. Dennoch, Miss Taylor, war Ihnen zweifelsohne bewusst, dass auch Geschlechtsverkehr während der Verlobungszeit als außerehelich gilt.«

Evelyn drängt heiße Tränen zurück. Die Nonne wendet sich wieder ihrem Klemmbrett zu.

»Nun dann. Noch ein paar abschließende Fragen, ehe ich Ihnen Ihren Schlafplatz zeige. Sind Ihre Eltern beide noch am Leben? Wenn ich mich recht entsinne, hat Ihre Mutter uns angerufen, um Ihren Aufenthalt bei uns zu arrangieren.«

»Ja. Sie leben beide noch.«

Wieder ein Häkchen. »Geschwister?«

»Ein Bruder.«

»Ist er verheiratet? Jünger? Älter?«

»Älter und verheiratet.«

»Haben Sie Freundinnen?«

»Ja, ich denke schon. Ein paar Mädchen aus meiner Schulzeit.«

»Und hat eine dieser Freundinnen Kenntnis von Ihrem Zustand?«

»Nein.«

»Ihr Bruder?«

»Ja, der schon. Und seine Frau auch. Ich dachte mir, vielleicht …«

»Also gut.« Schwester Theresa hebt den Blick und sieht Evelyn an. »Angesichts Ihrer Situation gehen wir davon aus, dass Sie das Kind zur Adoption freigeben möchten. Wir verfügen über eine Warteliste mit Paaren, die darauf hoffen, im Laufe der nächsten Monate ein Kind adoptieren zu können. Glücklich verheiratete, reizende Ehepaare. Gottesfürchtig, finanziell gut situiert, solide. Ehrenwert.« Sie lässt das letzte Wort ein wenig nachklingen. »Sie werden uns das Kind nach der Geburt überlassen.« Sie setzt ein letztes Häkchen auf ihr Klemmbrett.

Evelyn ist wie vom Donner gerührt. Sie bringt kein Wort heraus. In ihren Gedanken herrscht Chaos, Panik steigt in ihr hoch, breitet sich in ihrem Brustkorb aus, droht, sie zu überwältigen. Sie kann kaum atmen. Wieso ist hier kein Fenster geöffnet?

»Ist das, ich meine, ist es Vorschrift, dass ich mein Kind aufgebe? Darüber habe ich mit meinen Eltern nicht gesprochen. Es gibt noch keine Pläne.«

Schwester Theresas eisige Augen fixieren sie über den Rand der Brille hinweg. »Plan? Ihr Plan, Miss Taylor, lautet, das Ende Ihrer Schwangerschaft abzuwarten und das Kind in einem diskreten, sicheren Umfeld zur Welt zu bringen, um im Anschluss mit möglichst unbeflecktem Ruf in den Schoß Ihrer Familie zurückkehren zu können. Der Nutzen für Sie sollte eigentlich auf der Hand liegen. Der Nutzen für uns wiederum besteht in der Möglichkeit, gesunde, kräftige Kinder an adoptionswillige Ehepaare zu vermitteln.«

»Aber dieses Kind, mein Kind … es wurde in Liebe gezeugt. Das muss doch etwas zu bedeuten haben. Wir wollten heiraten, der Vater und ich. Ich habe ihn geliebt.« Evelyns Stimme bricht. »Ich habe ihn verloren. Muss ich sein Kind denn auch noch verlieren?«

»So lauten die Regeln dieses Hauses«, antwortet Schwester Theresa wie aus der Pistole geschossen, als hätte Evelyn ihr nicht gerade ihr Herz ausgeschüttet. In einem bestens einstudierten Monolog rezitiert sie die Hausordnung. »In diesen vier Wänden benutzen Sie ausschließlich Ihren Vornamen. Ausschließlich. Ich kann dies gar nicht genug betonen. Unsere Mädchen und ihre Familien legen während des Aufenthaltes in unserem Haus größten Wert auf Diskretion. Wie Sie zweifellos wissen, empfinden die meisten Familien große Scham über die Lage ihrer Töchter, und wir garantieren ihnen größtmögliche Privatsphäre. Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten und stellen Sie keine Fragen. Sie werden mit Ihren Zimmergenossinnen oder anderen Insassinnen weder über Ihr Privatleben noch über Ihre Familie, Ihren Freundeskreis, Erlebnisse aus der Vergangenheit oder andere Details sprechen. Sie alle befinden sich aus einem bestimmten Grund hier bei uns. Behalten Sie den Ihren für sich.

Sie setzen ohne ausdrückliche Erlaubnis keinen Fuß vor die Tür dieses Hauses. Ebenso wenig lassen Sie sich am Fenster blicken oder öffnen die Vorhänge. Den Insassinnen steht kein Telefon zur Verfügung. Sie dürfen Ihren Lieben Briefe schreiben, nicht jedoch dem Putativvater, obgleich diese Regel in Ihrem Fall hypothetischer Natur ist. Zum Schutze Ihrer Privatsphäre und zu Ihrer eigenen Sicherheit findet eine Überprüfung sämtlicher ankommender und ausgehender Korrespondenz statt. Den Anweisungen der Schwestern und des Personals sowie denen von Pater Leclerc, Ihrem neuen Priester, ist unbedingt Folge zu leisten. Sie werden jeden Sonntagmorgen hier im Salon dem Gottesdienst beiwohnen. Außerdem werden Sie an diversen Kursen teilnehmen, die zum Ziel haben, sich jene Fähigkeiten anzueignen, die Sie benötigen, um nach Ihrer Rehabilitation eine gute Ehe- und Hausfrau abzugeben. Der Unterricht umfasst Kochen, Nähen, Reinemachen, Stricken und natürlich Bibellektüre. Nachdem Sie das Kind zur Welt gebracht haben, ziehen Sie in den Schlafsaal der Wöchnerinnen um. Sobald unser Arzt Ihnen volle Arbeitsfähigkeit attestiert, bleiben Sie drei weitere Monate im Haus, um Ihre Schulden zu begleichen. Danach werden Sie zurück in die Obhut Ihrer Eltern entlassen. Das ist der Standard in allen Heimen dieser Art.«

Drei Monate?

Mit im Schoß geballten Fäusten sitzt Evelyn da, während Schwester Theresa ihre Ausführungen beendet und sich erhebt.

»Und nun folgen Sie mir, Miss Taylor. Besser gesagt, Evelyn. Das war für eine ganze Weile das letzte Mal, dass Sie Ihren Nachnamen benutzt haben. Es ist gleich Zeit fürs Abendessen, und wir folgen einem strikten Zeitplan. Nehmen Sie Ihren Koffer, ich zeige Ihnen Ihren Schlafplatz. Bis auf Weiteres teilen Sie sich das Zimmer mit zwei anderen Mädchen: Louise und Anne. Margaret, Ihre dritte Zimmergenossin, stößt morgen zu uns.«

Evelyn zwingt sich, aufzustehen.

»Ja, Schwester Theresa«, sagt die Nonne ihr vor.

Evelyn senkt den Blick und starrt den Henkel ihres Koffers an. »Ja, Schwester Theresa.«

Kapitel 3Nancy

Toronto – Sommer 1979

Nervös schlüpft Nancy Mitchell in der Diele ihres Elternhauses in die roten Gummistiefel und die dunkelblaue Regenjacke. Sie lügt ihre Mutter höchst ungern an, aber sie muss diese Auseinandersetzung dringend beenden, sonst kommt sie zu spät zu der Verabredung mit ihrer Cousine Clara.

»Mum, wir kommen zu spät zu Susans Geburtstagsparty«, sagt Nancy. »Ich muss jetzt wirklich los.«

Ihre Mutter schnaubt verärgert. »Ich finde es absolut unangemessen, dass zwei junge Mädchen sich mitten in der Nacht unbegleitet auf irgendwelchen Partys herumtreiben.«

Nancy versucht, die Anschuldigungen ihrer Mutter nicht an sich heranzulassen. Frances Mitchell wuchs in England auf, bis ihre Eltern sie und ihre Schwestern nach Kanada verfrachteten. Damals war sie zwar erst vierzehn gewesen, trotzdem hat sie sich ihr ganzes Leben lang an die in ihrer alten Heimat kultivierten Werte von Schicklichkeit und Anstand gehalten. Diese Werte erden sie. Sie verleihen ihrem Leben Beständigkeit und Vorhersehbarkeit. Es ist ein Regelwerk, an dem sich das Leben ausrichten lässt.

»Wir sind keine kleinen Mädchen mehr, Mum. Wir sind alt genug, um wählen zu gehen. Schon vergessen?«

»Wo findet diese Party überhaupt statt? Das hast du noch mit keinem Ton erwähnt.«

»Nun lass sie schon in Ruhe, Frances«, ertönt krächzend die Stimme von Nancys Großmutter aus dem hohen Lehnsessel neben dem Wohnzimmerfenster.

»Ich mache mir eben Sorgen«, sagt Frances.

»Ja, aber Mutterschaft bedeutet im besten Falle chronische Angst auf niedrigem Niveau, Liebes. Das weißt du doch. Außerdem hat jede Frau das Recht auf ein paar kleine Geheimnisse, nicht wahr?«

Frances wirft ihrer Mutter einen vernichtenden Blick zu und stürmt nach nebenan in die Küche. Ein paar Minuten später riecht es verdächtig nach Chlorbleichlauge. Jedes Mal, wenn Frances sich mit ihrer Tochter streitet, macht sie ihrer Verärgerung Luft, indem sie die Gummihandschuhe überzieht und anfängt, die Küche zu schrubben, von oben bis unten und bis in die letzten Winkel hinein.

Anlass für den Streit an diesem Abend war – wie schon so oft – Nancys Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Die Tatsache, dass sie beschlossen hat, aus dem Haus ihrer Eltern auszuziehen, obwohl sie zum Studium in der Stadt bleibt, hat Frances dazu gebracht, mit noch größerer Vehemenz zu klammern als sowieso schon, und Nancy hat dafür langsam kein Verständnis mehr.

Sie drückt ihrer Großmutter einen Kuss auf die faltige Wange. »Danke, Großmama. Ich hoffe, dir geht es wieder besser. Bis morgen früh.«

Nancy setzt die übergroße Kapuze ihrer Regenjacke auf, schließt die Haustür mit mehr Nachdruck als beabsichtigt und wagt sich hinaus in den regnerischen Abend. Ihr ist klar, dass sie nichts dazu beigetragen hat, den heutigen Streit zu vermeiden, aber sie war wegen des Treffens mit Clara schon den ganzen Tag über äußerst nervös.

Im Gegensatz zu ihrer Mutter hat Nancy kein Problem damit, die Regeln zu dehnen – oder falls nötig auch zu brechen –, aber sich bei Nacht und Nebel durch die Stadt zu schleichen, um einen illegal agierenden Abtreiber aufzusuchen, rangiert definitiv außerhalb ihrer Komfortzone.

Sie hat eingewilligt, ihre Cousine zu begleiten, ohne wirklich darüber nachzudenken, und seit ihrer Zusage vor einer Woche sind ihre Bedenken kontinuierlich gewachsen. Clara rief letzten Mittwochabend an und flehte Nancy an – mit tränenerstickter Stimme und immer stärker schluchzend, während die Panik sich Bahn brach –, sie zu einem Schwangerschaftsabbruch zu begleiten. Sie hätte, sagte sie, von einem Mann gehört, der es für achthundert Dollar macht, und niemand bräuchte jemals was davon zu erfahren.

»Weiß Anthony Bescheid?«, fragte Nancy. Claras Freund hat ein Temperament wie Napalm; es bleibt an allem kleben, worauf er es abfeuert, und verbrennt alles, das im Weg ist, zu Asche.

»Nein. Natürlich nicht! Er würde das niemals zulassen. Das weißt du doch.«

Diese Antwort hatte Nancy erwartet. Sie seufzte und senkte die Stimme. »Bist du dir ganz sicher, Clara?«

»Ja!«, jammerte Clara. »Mom und Dad bringen mich um. Ich habe keine Wahl. Es gibt keine andere Möglichkeit, Nancy.«

»Aber ich meine, ist der Typ denn überhaupt seriös? Man hört die schrecklichsten Geschichten, weißt du das nicht? Was, wenn er ein Quacksalber ist?«

»Glaub ich nicht. Die Freundin von einer Arbeitskollegin aus dem Diner war bei ihm, und alles lief glatt. Er sitzt draußen im East End.«

»Gibt es …« Nancy hasste sich für diese Frage. »Gibt es sonst niemanden, der dich begleiten kann?« Sie hielt den Atem an und wickelte sich die Telefonschnur um den Zeigefinger.

»Nein«, sagte Clara. »Ich brauche dich. Ich brauche ein Mädchen an meiner Seite, und du warst schon immer so was wie eine Schwester für mich.« Das war die reinste Übertreibung. »Ich kann das nicht allein. Bitte. Hilf mir.«

Also steht Nancy jetzt, um neun Uhr abends an diesem regnerischen Freitag im August, vor dem U-Bahn-Eingang Ossington Station im neblig trüben Lichtkegel einer Straßenlaterne und wartet. Sie kann vor lauter Regen kaum etwas erkennen, doch als eine schmale Silhouette aus der Dunkelheit tritt, vermutet sie angesichts der gekrümmten Schultern und des gehetzten Gangs, dass es sich um Clara handelt. Nancy hebt die Hand, und die Gestalt eilt auf sie zu. Sie ist blass, und ihre Augen sind vor Angst geweitet. Clara wirft ihr die nassen Arme um den Hals, und Nancy spürt, wie sie zittert.

»Du musst versuchen, ruhig zu bleiben, Clara«, sagt sie und macht sich los. »Bald ist es vorbei.«

Die Mädchen gehen runter zur U-Bahn und werfen ihre Münzen in den Metallkasten. Nacheinander landen sie mit einem satten Pling auf den Hunderten Münzen der Pendler des zu Ende gehenden Tages. Normalerweise liebt Nancy dieses Geräusch. Es ist der Klang von Wegfahren. Der Klang von Besuchen bei Freunden oder abenteuerlichen Samstagnachmittagsausflügen auf den St. Lawrence Market. Sie liebt es, ziellos durch die Stadt zu streifen, irgendwelche Läden, Galerien oder Cafés zu besuchen, nach Lust und Laune innerhalb der Grenzen dieser heiß geliebten Stadt immer wieder neue, seltsame Kuriositäten und verborgene Kostbarkeiten zu entdecken. Heute Abend aber hallt das Geräusch mit unheimlicher Kraft von den Wänden der verlassenen U-Bahn-Station wider.

Sie eilen die Stufen zum Bahnsteig hinunter und atmen U-Bahn-Geruch: feucht und staubig zugleich, mit stechenden Unterströmungen von verrottendem Müll und Urin. Die wenigen anderen Fahrgäste starren in ungeduldiger Erwartung näher kommender Lichter und des Windzugs, der die Ankunft des Zuges verkündet, in den finsteren Tunnel hinein. Als die U-Bahn schließlich kommt und Nancy und Clara eingestiegen sind, suchen sie sich zwei Sitzplätze in der Nähe der Türen.

Nancy fällt Claras abwesender Blick auf. Eindringlich starrt sie den leeren Sitzplatz gegenüber an, das blasse Gesicht schwebt fast gespenstisch über dem kleinen goldenen Kreuz, das sie um den Hals trägt. Nancy kennt keine einzige Frau, die schon einmal hat abtreiben lassen. Zumindest, denkt sie mit einem Schreck, weiß sie es von keiner. Sie weiß nicht, worauf sie sich einstellen muss, und das macht sie nervös. Nancy gehört zu den Menschen, die sich am wohlsten fühlen, wenn sie möglichst genau wissen, was ihnen bevorsteht, sei es nun positiv oder negativ. Heute Abend aber hat sie das Gefühl, sich mit Clara blind durch dichten Nebel zu tasten, die Richtung nur erahnend.

Nach einigen Haltestellen mustert Clara kurz den Netzplan über der Tür, steht auf und räuspert sich. Es ist ein leises Geräusch, wie von einem kleinen Mädchen. Nancy steht in dem Augenblick auf, als der Waggon ruckelnd zum Stehen kommt.

Auf der Straße holt Clara ein knittriges Blatt Papier aus der Tasche und versucht, es im Schein der Laterne zu entziffern.

»Hier lang, glaube ich«, murmelt sie.

Sie wenden sich nach rechts, in eine Seitenstraße hinein, die sie noch tiefer in die heruntergekommene Gegend führt. Je länger sie durch die verlassenen Straßen laufen, desto nervöser wird Nancy. Die unvertrauten Häuser stehen dicht an dicht und scheinen sie regelrecht zu umzingeln. Nach zehn Minuten Fußweg und zwei Kehrtwenden haben sie die Adresse erreicht. Es handelt sich um ein dreistöckiges Gebäude, von dem der Putz blättert. Die Dachrinne ist abgesackt, und eine verrostete Fliegentür hängt wie betrunken in den Angeln. In der Wohnung im obersten Stockwerk brennt Licht, doch der Hausflur ist dunkel. Nur durch einen Spalt zwischen den Vorhängen der Souterrainwohnung dringt ein Streifen gelbliches Licht.

»Seiteneingang, hat er gesagt«, raunt Clara, doch sie bleibt wie angewurzelt stehen. Sie wirkt regelrecht verwirrt, als hätte sie vergessen, weshalb sie mitten im strömenden Regen auf dieser seltsamen Straße stehen.

Nancy leckt sich über die trockenen Lippen. »Clara? Sollen wir … Willst du das wirklich machen?« Ein überwältigender Teil von ihr hofft, dass ihre Cousine Nein sagt, dass sie es sich anders überlegt hat, lass uns nach Hause fahren, uns fällt schon was ein. Aber Clara nickt. »Ja.«

Nancy schluckt den bitteren Kloß im Hals hinunter und folgt ihr in die schmale Gasse zwischen dem Haus und dem Nachbargebäude. Es ist stockfinster, und der Asphalt glänzt regennass.

Clara klopft zaghaft an die Hintertür. Hinter dem gläsernen Oberlicht erwacht flackernd eine Lampe zum Leben. Sie hören, wie diverse Schlösser entriegelt werden, dann erscheint ein Mann im Türspalt. Er hat einen struppigen rötlich braunen Bart und eine runde Brille in seinem leicht verschwitzten Gesicht. Er mustert Clara und wirft dann Nancy einen Blick zu, die hinter ihr steht.

»Welche von euch hat mich angerufen?«, will er wissen.

»Ich«, sagt Clara.

»Hast du die achthundert?«

»Ja.«

»Lass sehen, Mädchen.«

Clara öffnet den Reißverschluss ihres Regenmantels und holt ein Bündel Zwanzig-Dollar-Scheine aus der Innentasche. Nancy presst die Zähne zusammen. Sie weiß, dass Clara jeden Cent Trinkgeld aus dem Diner für ihre Ausbildung spart. Um so viel Geld wieder reinzuholen, muss sie ab sofort Doppelschichten machen.

»Gut«, sagt der Mann. »Kommt rein. Beeilung.«

Er öffnet die Tür ganz, und Clara tritt über die Schwelle. Nancy zögert einen Augenblick, dann folgt sie ihrer Cousine. Sie bereut ihre Entscheidung unendlich, aber an diesem Punkt kann sie Clara nicht im Stich lassen, und irgendwie fühlt sie sich als Ältere für ihre Cousine verantwortlich.

Der Mann führt sie durch ein schmales, kahles Treppenhaus in die Kellerwohnung. Mit jedem Schritt wird es feuchter. Sie betreten ein kleines Zimmer am Ende des Flurs, und bei dem Anblick dreht Nancy sich der Magen um.

In der Mitte des Raums steht ein Tisch. Er sieht aus wie ein alter, hölzerner Küchentisch. Darauf liegt ein Laken und an einem Ende ein kleines, flaches Kissen. Das Laken ist schwarz. Nancy zuckt zusammen, als ihr klar wird, dass es wahrscheinlich voll ist mit dem Blut der vielen Frauen, die schon hier gelegen haben. Das Tuch sieht aus wie die schwarze Sargverkleidung bei einer Trauerfeier.

Neben einem Rollcontainer aus Metall, der aussieht wie vom Krankenhaussperrmüll, steht am Fußende des Tisches ein kleiner Hocker. Er erinnert entfernt an eine Arztpraxis, doch er ist verrostet und hat nur drei Räder. In einer Ecke des Raumes steht ein weiterer kleiner Tisch, darauf eine große Flasche Reinigungsalkohol, ein Abfallbehälter, ein paar chromfarbene Instrumente, Handtücher und ein Radio, das völlig fehl am Platze wirkt. Claras Blick wird wie magisch von den Instrumenten angezogen, und sie fängt an, den Kopf zu schütteln.

Der Mann schließt die Tür. »Gut, jetzt zieh dich untenrum aus und leg dich auf den Tisch.«

Als die Tür ins Schloss fällt, macht Nancy einen Satz, und ihr Herz fängt wie verrückt an zu schlagen. Der Mann hat ihnen noch nicht mal seinen Namen verraten. »Clara …«, sagt sie.

»Okay«, flüstert Clara und tut, was der Mann gesagt hat. Nancy will sich instinktiv zur Wand drehen, um die Privatsphäre ihrer Cousine zu wahren, aber das ist völlig sinnlos. Der Raum ist winzig, und es gibt nichts, womit Clara sich zudecken könnte. In diesem Zimmer ist kein Platz für Würde, und Claras entschlossenes Gesicht mit dem fest aufeinandergepressten Kiefer sagt Nancy, dass sie viel zu dringend nicht mehr schwanger sein will, um sich mit etwas so Bedeutungslosem wie ihrer Würde abzugeben.

»Trink das.« Der Mann reicht Clara eine Flasche. Sie hat kein Etikett, und Nancy kann nur hoffen, dass sie Alkohol enthält, um die Schmerzen zu betäuben. Clara nimmt drei tiefe Schlucke und hustet angewidert. Ein bisschen von der Flüssigkeit läuft ihr über das Kinn, und Nancy macht einen Schritt auf sie zu, um es wegzuwischen. Es riecht seltsam.

»Mein eigener kleiner Spezialcocktail«, sagt der Mann mit einem kleinen Grinsen. »Gut für die Nerven. Den Damen scheint’s zu schmecken.«

Clara schließt die Augen, aus den Augenwinkeln laufen ihr Tränen über die Schläfen und versickern in den blonden Haaren. Ihre Unterlippe zittert. Nancy rieselt eiskalte Angst den Rücken hinunter. Sie kann sich nicht vorstellen, wie Clara sich fühlen muss. Nancy greift nach ihrer Hand und drückt sie fest, aber Clara reagiert nicht.

Der Mann macht sich an dem Tisch in der Ecke zu schaffen und reibt die Instrumente mit Alkohol ab – Messer, Skalpelle, ein seltsamer langer Stab, weitere Gerätschaften. Dann hockt er sich auf den Schemel am Fußende des Tisches und legt die Gegenstände neben sich auf ein Tablett. Mit einem schnalzenden Geräusch zieht er sich ein Paar blaue OP-Handschuhe über. Erst in diesem Augenblick trifft es Nancy mit voller Wucht – das, was mit Claras Körper passieren wird, das, was sie vielleicht gleich sehen und hören und riechen wird.

»Ich bin hier«, murmelt sie Clara ins Ohr und streicht ihr sanft die feuchten Haare aus der Stirn. Clara ist von dem Zeug, das der Typ ihr verabreicht hat, inzwischen ganz benommen.

»Sag ihr, sie soll hier draufbeißen.« Der Mann drückt Nancy einen alten Ledergürtel in die Hand. Ihr Magen rebelliert, und sie muss wieder hinunterwürgen, was ihr in die Kehle steigt. Entlang der Ränder haben sich Dutzende Zahnabdrücke in das dicke Leder gekerbt.

»Herr im Himmel!«, murmelt Nancy.

»Der hilft dir hier unten auch nicht weiter, Herzchen.«

Nancy ignoriert den Mann. »Clara, hier, beiß da drauf. Na komm.« Sie hat Mühe, ihrer Cousine den Gürtel zwischen die Zähne zu schieben, aber schließlich nimmt Clara ihn in den Mund. »Ich bin bei dir. Alles wird gut.«

Der Mann schiebt Claras Beine auseinander und nimmt eines der Instrumente zur Hand. Nancy hört es klappern. Der ätzende Chemiegeruch des Reinigungsalkohols brennt ihr in der Nase. Dann räuspert sich der Mann, schaltet das Radio an und dreht die Lautstärke bis zum Anschlag auf.

Nancy zuckt schon wieder zusammen, ihre Nerven liegen jetzt schon völlig blank. »Muss das sein?«, brüllt sie gegen den Lärm an.

»Keine Sorge!«, schreit der Mann ihr über Claras nackte Beine hinweg zu. »Das ist nicht mein erster Ritt, Süße.«

Nancy kapiert nicht gleich, was der Lärm aus dem Radio soll. Aber dann reißt Clara plötzlich die Augen auf, und aus ihrer Kehle löst sich ein Schrei, der Tote wecken könnte. Ihre eben noch schlaffe Hand krallt sich an Nancys fest. »Halt sie unten!«, brüllt der Mann ihr zu. »Sie darf sich nicht bewegen!«

Angewidert von ihm und von sich selbst presst Nancy mit der freien Hand Claras Brustkorb nieder, während Donny Osmonds »Sweet and Innocent« aus den winzigen Lautsprechern gellt.

Und draußen auf der Straße hören Nachbarn und Passanten nichts als die harmlos fröhliche Melodie und den zuckertriefenden Text des jugendlichen Schnulzenstars. Das Lied wird Nancy für den Rest ihres Lebens mit diesem Abend in Verbindung bringen. Es wird sie zu dem Wunsch verleiten, ihr Autoradio mit dem Hammer zu zertrümmern und dazu, von der Party einer Freundin zu fliehen.

Clara hört nicht mehr auf zu schreien. Tränen rinnen ihr über die Schläfen und durchnässen das schwarze Kopfkissen, während Donny seine Ballade für das Mädchen, das einfach zu jung war, hinaus in die Welt schmettert.

* * *

Die U-Bahn-Türen schließen sich, der Zug setzt sich in Bewegung und bringt die Mädchen auf dem gleichem Weg, den sie gekommen sind, weg von dem Horror in dem finsteren Keller und zurück in die Stadt. Aus Claras Mund bricht sich ein Schluchzer Bahn, gefolgt von kaum hörbarem Wimmern.

»Ach, Clara«, sagt Nancy. »Es ist vorbei. Jetzt wird alles wieder gut.«

»Danke, Nancy.«

Clara lehnt den Kopf an Nancys Schulter, und Nancy nestelt unbeholfen den Arm zwischen ihnen heraus und zieht Clara an sich. So bleiben sie ein paar Haltestellen lang sitzen, geschaukelt von der rhythmischen Bewegung des Zuges. Inzwischen ist es beinahe Mitternacht, und ihr Abteil ist glücklicherweise so gut wie leer.

Zwei Stationen vor Ossington rüttelt Nancy Clara sanft. »Wir sind gleich da.«

Clara reagiert nicht. Ihr Kopf liegt schwer auf Nancys Schulter.

»Nächster Halt Ossington. Ossington«, verkündet die monotone Lautsprecherstimme.

»Clara«, sagt Nancy wieder. »Komm, steh auf.«

Ihre Cousine reagiert nicht.

»Clara?«

Nancy beugt sich vor, um Clara ins Gesicht zu sehen.

Sie ist leichenblass, die Lippen sind blau.

»Clara!« Nancy packt ihre Cousine an den Schultern und rüttelt sie. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Claras Augen öffnen sich einen Spaltbreit, und sie stöhnt etwas, das Nancy nicht versteht.

»Komm, steh auf, wir müssen dich nach Hause schaffen. Jetzt!«

»Achtung, Einfahrt Ossington.«

Der Zug bremst ab. Nancy greift Clara unter die schmalen Arme und hebt sie hoch. Ihre Cousine ist zierlich und kleiner als sie, schwer ist es also nicht, sie hochzuhieven, doch als Nancy sie auf die Füße zerrt, fällt ihr Blick auf den Sitz, auf dem Clara eben noch saß. Unter ihrer Regenjacke bricht Nancy der eiskalte Schweiß aus.

Der Sitz ist so getränkt mit Blut, dass der Stoffbezug schimmert.

»Ach du Scheiße! O Gott! Verdammt!«

Claras Kopf baumelt schlaff herunter wie bei einer Stoffpuppe. Sobald die Türen sich öffnen, schleppt Nancy sie nach draußen auf den verlassenen Bahnsteig. Die Pfeife ertönt, der Zug setzt sich wieder in Bewegung und nimmt Fahrt auf. Die Zugluft weht Nancy durch die Haare. Clara fängt wieder an zu stöhnen.

»Clara!«, keucht Nancy. »Clara, du musst mir jetzt helfen. Ich muss dich irgendwie die Treppe raufkriegen. Du musst laufen. Bitte!«

Clara blinzelt sie durch schwere Augenlider an und bewegt lautlos die Lippen. Sie setzt einen Fuß vor den anderen, langsam und kraftlos, aber es reicht, um Nancy dabei zu unterstützen, sie die Treppe nach oben zu bugsieren. Die U-Bahn-Station ist verlassen. Auch das Kontrollhäuschen ist leer.

Nancy zerrt Clara rückwärts, als würde sie eine Schwerverwundete vom Schlachtfeld bergen, durch die Türen hinaus auf die Straße. Es hat aufgehört zu regnen, und in der schwülen Luft liegt der Geruch von Schlamm. Nancy macht sich auf den Weg in Richtung der Ampelkreuzung in der Bloor Street, einen Häuserblock entfernt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit entdeckt sie ein näher kommendes Taxi.

»Taxi!«, brüllt sie und reißt die Hand in die Luft. Das Auto hält neben ihr am Straßenrand. Clara mit einem Arm stützend öffnet Nancy mit der freien Hand die Tür. Sie lässt Clara beinahe in den Wagen fallen und rutscht neben sie auf die Rückbank.

»Wir müssen sofort ins nächste Krankenhaus!«, ruft sie dem Fahrer entgegen.

»Möchten Sie ins St. Joe? Ist wahrscheinlich das nächste.« Er schaut in den Rückspiegel zu ihnen nach hinten. »He, die sieht aber nicht gut aus. Nicht dass sie …«

»Fahren Sie einfach!«, brüllt Nancy ihn an.

Kopfschüttelnd und ohne den Blinker zu setzen, fährt der Mann los.

Nancy rüttelt Clara sanft und tätschelt ihre Wange so kräftig sie sich traut. »Clara! Bleib wach! Bleib einfach wach. Bitte, bleib bei mir!«

* * *

Nancy hat noch nie allein im Wartezimmer eines Krankenhauses gesessen. Sie kennt es, weil es mit ihrer Großmutter in den letzten Jahren zunehmend bergabging und sie zusammen mit ihrer Mutter schon oft warten musste, aber mit den Eltern in einem Wartezimmer zu sitzen ist etwas ganz anderes. Man ist in Begleitung von jemand Älterem, jemandem, der Bescheid weiß, einem Ansprechpartner, an den sich die Ärzte automatisch wenden. Man hat jemanden an seiner Seite, der einem einen Becher Tee holt und sagt, dass alles wieder gut wird. Jetzt sitzt Nancy mutterseelenalleine da, tippt nervös mit dem Gummistiefel auf den Fliesenboden und kaut sich die Fingernägel fast ab bis aufs Fleisch. Nancy fühlt sich plötzlich so erwachsen wie noch nie. Sie trägt die Verantwortung für einen anderen Menschen. Jetzt ist sie hier die Ansprechpartnerin.

Clara hat halb bewusstlos auf ihrer Schulter gehangen, als sie endlich die Notaufnahme erreichten. Zwischen ihren Beinen tropfte Blut auf den weißen Fliesenboden. Nancy hat versucht, im Gespräch mit der aufnehmenden Schwester möglichst nichts preiszugeben. Ihre Mutter – eine Frau mit untrüglichem Gespür für Etikette, das sie bei ihrer Einwanderung in Kanada mit einführte wie ein schweres Gepäckstück – hatte Nancy von klein auf dazu erzogen, sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern, und ihr dabei immer wieder ihren Lieblingsleitsatz gepredigt: »Mit Zurückhaltung, mein Kind, fährst du stets am besten.« Aus welchem Grund Nancy mit der halb bewusstlosen, heftig blutenden Clara in der Notaufnahme aufgetaucht ist, geht niemanden etwas an. Der Job dieser Leute besteht darin, ihren Patienten zu helfen. Andererseits handelt es sich hier nicht um einen Herzinfarkt oder die Folge eines Autounfalls. Claras Verletzungen sind das Ergebnis von etwas Illegalem. Als Nancy die möglichen Konsequenzen klar werden, hämmert ihr Herz irgendwo auf Höhe ihrer Mandeln.

Sie sieht an sich herunter und entdeckt die Blutflecken an den Hosenbeinen ihrer Jeans. Sie muss die Hose, wenn sie nach Hause kommt, unbedingt noch in der Badewanne auswaschen, ehe ihre Eltern sie entdecken. Sie hofft, dass ihre Mutter nicht wach geblieben ist, um auf sie zu warten. Einen Augenblick später kommt ein Arzt durch die Schwingtüren gerauscht, und Nancy dreht sich fast der Magen um. Er ist groß, hat kurz rasierte dunkle Haare und sieht sehr, sehr wütend aus.

»Sie da! Junge Frau!«, bellt er in ihre Richtung. Die etwa sechs Menschen, die mit ihr warten, heben irritiert die Köpfe.

»J-ja?«, sagt Nancy.

»Kommen Sie mit.« Er winkt sie mit gebieterischer Geste zu sich, und sie folgt ihm durch die Schwingtür und diverse Gänge bis ins Innerste der Notaufnahme, ein Ort, den man nur betritt, wenn ein geliebter Mensch in großen Schwierigkeiten steckt. Was auf Clara offensichtlich zutrifft.

»Erzählen Sie uns endlich, was mit Ihrer Freundin passiert ist!«, blafft der Arzt sie an. »Sie haben der aufnehmenden Schwester so gut wie nichts gesagt. Nur, dass sie stark blutet, was definitiv zutrifft. Genauer gesagt, sie läuft Gefahr, zu verbluten. Die Lage ist ernst.« Er verschränkt die Arme. »Los. Reden Sie schon.«

Nancy ist stark versucht, es zu tun. Claras Zustand ist kritisch, aber sie fragt sich trotzdem, was mit ihnen passieren wird, wenn sie zugibt, dass Clara sich einer illegalen Hinterhofabtreibung unterzogen hat.

Nancy entscheidet sich für eine Gegenfrage. »Wird sie … wird sie es schaffen?«

»Ja, ich denke schon. Aber es ist knapp. Um sie richtig behandeln zu können, müssen wir wissen, was passiert ist. Sie selbst kann uns nichts sagen, sie ist bewusstlos. Sie bekommt im Augenblick eine Transfusion. Sie hat viel Blut verloren. Sehr viel Blut.«

»Sie wird also überleben.«

Er schüttelt den Kopf, und einen Moment lang fürchtet Nancy das Schlimmste. Ein eiskalter Schwall durchfährt ihre Adern, ehe ihr klar wird, dass sich seine Geste auf ihr Verhalten bezieht, nicht auf Claras Schicksal.

»Ja. Wird sie.«

»Okay. Danke.« Gott sei Dank.

»Wollen Sie wissen, was ich glaube?« Er macht einen Schritt auf Nancy zu. Er riecht nach Reinigungsalkohol und Rasierwasser mit Tannenduft. »Ich glaube, sie hatte da ein kleines Problem, und ihr beide habt beschlossen, euch selbst darum zu kümmern. War es so?«

Nancy erstarrt und versucht, das in ihr aufsteigende Zittern zu unterdrücken. »Nein.«

»Nein?«

»Nein. Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Ich mache das nicht erst seit gestern«, sagt der Arzt. »Und wissen Sie was? Wenn junge Mädchen mit starken Blutungen zu uns kommen, liegt das eigentlich immer daran, dass sie versucht haben, abzutreiben, und dabei ein Organ perforiert wurde. Bei dieser Scheiße werden nicht nur Babys getötet, sondern auch Frauen. Deshalb ist es illegal.«

Nancy kann seine Wut förmlich spüren. »Wir haben nicht versucht, abzutreiben.«

Ich zumindest nicht.

»Genau danach sieht es aber aus.«

Er starrt sie an, und schließlich endet ihr Blickduell mit einem Patt. Sie wird ihm nicht mehr sagen, und das weiß er.

»Ich habe jetzt Dienstschluss, aber machen Sie sich besser darauf gefasst, dass meine Kollegin von der Nachtschicht noch so einige Fragen an Sie hat. Denn eines kann ich Ihnen sagen: Falls sie denselben Verdacht hat wie ich, wird sie die Polizei informieren, ehe sie auch nur daran denkt, Ihre Freundin zu entlassen. Sie können dann ja gerne versuchen, die anzulügen, und zusehen, wie weit Sie damit kommen.« Er deutet auf ein kleines Untersuchungszimmer zu Nancys Linken. »Setzen Sie sich da rein. Und warten Sie auf meine Kollegin.«

Nancy denkt nicht daran, ihm zu widersprechen. Sie betritt den kleinen Raum, setzt sich auf einen Stuhl und wartet. Die helle Panik, die sie beim Anblick von dem vielen Blut auf dem U-Bahn-Sitz ergriffen hatte, hat sich ein bisschen gelegt, sobald Clara in den Not-OP geschoben wurde, aber jetzt meldet sie sich zurück. Unaufhörlich tippt Nancy mit der Fußspitze auf den Boden.

Sie mustert die Wand des Untersuchungsraums. Die Uhr sagt ihr, dass es inzwischen fast ein Uhr morgens ist. Kein Wunder, dass ihre Augen brennen. Nancy sieht den Zeigern zu, während die Minuten verstreichen. Ihr ist klar, dass sie ihre persönliche Sperrstunde inzwischen sträflich überschritten hat und mit ernsthaften Konsequenzen rechnen muss.

Auf der Station ist es ruhig. Nur ab und zu hört man Stimmen, Ärzte und Schwestern, die einander etwas zurufen, gelegentlich freundschaftliches Gelächter und im Hintergrund das leise Piepsen von Geräten. Nancy lehnt sich auf dem Plastikstuhl zurück und schließt die Augen.

Zwanzig Minuten später erscheint eine Ärztin in der Tür. Ihr Gesicht ist ernst. Sie sieht aus wie Anfang fünfzig, hat eine hohe Stirn und grau gesträhnte braune Haare, die zu einem Knoten zurückgebunden sind.

»Hallo, Miss …?«

»Nancy. Mein Name ist Nancy.«

»Okay. Nancy. Ich bin Dr. Gladstone.«

»Äh, hallo«, sagt Nancy und steht auf. »Wie geht es Clara? Ihr Kollege meinte …« Sie verstummt.