Frankfurt verboten - Dieter David Seuthe - E-Book

Frankfurt verboten E-Book

Dieter David Seuthe

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Beschreibung

Am berühmten Hoch'schen Konservatorium in Frankfurt wird die junge Elise Hermann zur Pianistin ausgebildet. Ihre große Begabung verspricht eine glänzende Zukunft, und in Max von Hochem findet sie die Liebe ihres Lebens. Doch dann ändert sich alles, als Hitler an die Macht kommt. Elises Debüt-Konzert im März 1933 wird verboten, wie öffentliche Auftritte jüdischer Künstler generell untersagt werden. Die junge Frau muss um ihr berufliches bald auch persönliches Überleben kämpfen. Vor der Kulisse des historischen Frankfurt am Main erzählt dieser Roman vom glücklichen und leidvollen Weg einer jungen jüdischen Frau zwischen 1929 und 1936. Dieter David Seuthe folgt in seinem ersten Buch der Maxime, dass man sich an die Wahrheit halten muss, um aus der Geschichte zu lernen.

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Seitenzahl: 551

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Impressum

Dieter David SeutheFrankfurt verbotenRoman

© Weissbooks GmbH Frankfurt am Main 2013Alle Rechte vorbehalten

Konzept DesignGottschalk+Ash Int’l

UmschlaggestaltungJulia Borgwardt, borgwardt designunter Verwendung alter Postkarten aus der Sammlung des Autors

Foto Dieter David Seuthe

© Michael Utz

eISBN:978-3-940888-87-7

weissbooks.com

Dieter David SeutheFrankfurt verbotenRoman

Frankfurt verboten

Für Remmi, der unsere Hoffnungen trägt.

Inhalt

ERLÖSUNG

1 DUNKEL DIE WELT

2 KONZERT FÜR LOUISE

3 UNERFÜLLTE TRÄUME

4 HITZE DER NACHT

5 AUFBRUCH

6 FREIE REICHSSTADT

7 DIE FREIHEIT INNEN

8 SONNE UND EIS

9 VIEL PASSIERT

10 STURM

11 LASCIA CH’IO PIANGA

11 GEBROCHENES HERZ

13 WAHLVERWANDTSCHAFTEN

I. 1993

14 GARTEN GOTTES

15 VON DER LIEBE UND VOM TOD

16 DUNKEL UND LEISE

17 FRANKFURT VERBOTEN

18 GLEICHGESCHALTET

19 PARTEIGENOSSE MAX

20 TRUMPFKARTE

21 SICHERHEIT

22 IN DER SCHWEBE

23 SCHATTEN DES SCHLOSSES

24 BIST DU BEI MIR

25 ZION STRECKT IHRE HÄNDE AUS

26 AUF DEM WEG

27 DAMOKLESSCHWERT

28 DAS KOMMENDE JAHR

29 EINE FRAGE DER ZEIT

30 WEIL ICH SIE LIEBE

31 BERLIN 1936

32 KÖNIGSKINDER

33 FLUCHT

II. 1993

III. 1996

IV. 1997

DANK UND HOFFNUNG

ERLÖSUNG

Dieses Buch sollte nie geschrieben werden.

1936, kurz vor meiner Auswanderung, die ich nicht Flucht nennen will, habe ich beschlossen, mein deutsches Leben, das man mir verboten hat, für immer in mir zu verschließen. Die Erinnerung an das Verlorene hätte mir die Luft genommen. Erstickt wäre ich.

Aber wirklich geschafft habe ich es nicht, das Vergessen. An jedem Abend meiner langen Ankunft in der Fremde, die mir mit den Jahren so schwer nur zur Heimat geworden ist, war ich gequält von der immer gleichen Frage. Wieso gerade ich? Wieso bin ich entkommen, wieso mussten die anderen sterben? Jeden Morgen beim Aufwachen habe ich daran gezweifelt, mich zusammenhalten zu können. Aber ich konnte es, immer wieder. Meine Musik hat es möglich gemacht, jeden Tag neu. Musik, das Lebendigste in mir, haben sie nicht töten können.

Im Alter dann, nachdem ich Geoffrey verloren habe, bin ich krank geworden. Mein Tod hat sich mir genähert, respektvoll. Ob ich jetzt bereit bin, hat er gefragt. Nein, habe ich geantwortet, noch nicht. Eine Aufgabe bleibt mir noch. Wieder hat er erlaubt, ihn auf später zu vertrösten, mein geduldiger Tod, der mich schon früher verschont hat.

1936 hat Max ihn gehindert, mir mein Leben zu nehmen, so wie all den anderen, die ich kannte, und den Unzähligen, die ich nicht kenne. Max musste ich versprechen zu leben, wie es auch meine Eltern wollten. Dieses Versprechen habe ich gehalten.

Meine späte Krankheit hat mich gelehrt, dass ich einen Ausweg finden muss, damit die Anstrengung meines Überlebens nicht zum Schluss vergebens war. Die Erinnerungen meiner unruhigen Nächte sollen mich nicht überwältigen, jetzt, da das Alter mich zurückschauen lässt, jetzt, da der Nachklang meines verbotenen Lebens lauter in mir wird. Mein Schweigen muss aufhören für Sarah, die ich liebe und die nach mir kommt. Erlösung muss ich finden – für meine Tochter, jetzt, da auch Geoffrey mein Leben nicht mehr teilt.

So habe ich mich entschieden, meine Geschichte aufzuschreiben. Wie eine Schriftstellerin will ich es tun, mit dem Blick von außen. Damit die junge Frau aus der verbotenen Heimat mit dem Namen Elise endlich wieder existieren darf, muss ich sie lebendig werden lassen.

Ich schließe meine Augen und versuche, mich zu erinnern an dieses ferne Leben, das einst mein eigenes war.

Gore, Neuseeland, im Sommer 1985Elise,die jeder anders nennen darf,weil sie ihren Namen selbst nicht mehr kennt

1DUNKEL DIE WELT

Louises Stimme bebte, ganz sacht. So wenig, dass man es nur bemerkte, wenn man sehr genau hinhörte.

Elise, ihre einzige Enkelin, hörte immer genau hin. Für die 17-Jährige war das Leben eine unendliche Abfolge von Geräuschen und Tönen, mal laut und lustig, mal leise und traurig, vor allem aber immer spannend.

»Ach Elly, Kind … wie dunkel die Welt um mich geworden ist.«

Die Zärtlichkeit, mit der ihre Großmutter sie Elly nannte, tat der Enkelin gut. Nur das Beben in Louises Stimme irritierte sie. Was meinte sie mit »wie dunkel die Welt«? Elise blickte von ihrem Notenheft auf, in das sie zur Übung eine Melodie in verschiedenen Tonarten schrieb.

Früh am Sonntagnachmittag zogen sich Elises Eltern immer zu ihrem geliebten Wochenendluxus, dem ausgiebigen Mittagsschlaf, unter die warmen Federbetten ihrer Schlafkammer zurück. Gemeinsam mit ihrer Großmutter saß Elise dann am Tisch in der Küche des alten, etwas schief ans Nachbarhaus gelehnten Fachwerkhauses mit der Nummer 15 oben im Pfahlgraben von Bad Ems.

Im Herd brannte in diesem kalten Winter 1929 immer ein kleines Feuer. Dann war es in der Küche wärmer als in den anderen Räumen, und Strickjacken genügten, um die Enkelin und ihre Großmutter angenehm warm zu halten.

Im Sommer des vorigen Jahres hatte der Vater das Haus durch einen Zufall günstig anzahlen können. Beide Eltern stammten aus besitzlosen Familien. Ihr ganzes Arbeitsleben lang hatten sie Geld für ein eigenes Haus zurückgelegt, damit sie im Alter keine Miete zahlen mussten. Aber 1923 kam die Inflation und zehrte sämtliche Ersparnisse auf. Sie begannen von vorn, was sonst blieb ihnen übrig?

Nach der Reichstagswahl im Mai 1928 hatten sie, ermutigt durch solide Mehrheiten von SPD und bürgerlichen Parteien, wieder genügend Vertrauen in die Republik, um diesen Kauf zu wagen. Im heißen August 1928 hatte die Familie begonnen, sich in dem Haus mit den ochsenblutrot gestrichenen Fachwerkbalken einzurichten.

Ein kleines Zuhause war es, mit einem zu großen Janowsky-Klavier im Wohnzimmer. Dadurch war der Kreis der Kaufinteressenten von Anfang an klein. Die verstorbenen Vorbesitzer hatten das Klavier in besseren Zeiten unter hohen Kosten ins Haus schaffen lassen. Aber der steile Pfahlgraben war nicht für Klaviertransporte gedacht. Also entschieden sich die Erben, das Instrument im Haus zu belassen und mit zu verkaufen.

Elise freute sich darüber. Sie hatte Klavierunterricht bekommen, seit sie sieben Jahre alt war. Ihr bisheriges Klavier hatte der Vater für einen zierlich geschwungenen Damensekretär aus Kirschbaumholz eingetauscht, der jetzt in Elises kleinem Zimmer im Obergeschoss stand.

Ja, Pianistin wollte Elise immer schon werden. Dies war ihr inniger Wunsch von klein auf, das erhoffte sie von ihrem Leben. Ein so verzaubertes Instrument wie das Pianoforte, mit dem man die Menschen zum Weinen, Lachen und Träumen bringen konnte, was konnte es denn Besseres geben?

Die lebhaften Erzählungen der Großmutter, die als fünfjähriges Mädchen Clara Schumann bei ihrem Konzert mit Johannes Brahms und der »schwedischen Nachtigall« Jenny Lind im prächtigen Kursaal von Bad Ems erlebt hatte, waren Elise sehr präsent. Noch heute konnte ihre Großmutter sich genau an die umlaufende Empore mit den vielen Marmorsäulen erinnern, an drei riesige Kristalllüster, die von der hohen, mit üppig geschnitzten Holzkassetten verzierten Decke hingen und den großartigen Saal erleuchteten. Ihre musikbegeisterte Tante hatte die kleine Louise damals mitgenommen, weil das Kind es sich so sehr gewünscht hatte. Nur für einen Stehplatz hatte das Geld gereicht. Die Begeisterung der Menschen für den Vortrag dieser begnadeten Musiker, der tosende Applaus, all das hatte sich unauslöschlich in das Gedächtnis des Mädchens eingeprägt. 22 Jahre später nannte Louise deshalb ihre einzige Tochter Clara nach der immer noch berühmten Pianistin, die zu der Zeit bereits in Frankfurt am Hoch’schen Conservatorium neue Generationen von Klaviervirtuosen ausbildete. Dass auch ihre Enkelin Pianistin werden wollte, diesen Wunsch unterstützte Louise nach Kräften.

Zwar hatten sie jetzt zu Hause im Wohnzimmer nur das einfache Janowsky-Klavier, aber für Elise gab es die Gelegenheit, regelmäßig auf besseren Instrumenten zu üben. Ihr Klavierlehrer, Professor Wenkemann, besaß ein Klavier und dazu einen Bechstein-Flügel, auf dem gelegentlich seine besten Schüler spielen durften. Das Spielen vor Publikum, die Macht, Menschen in den Bann zu ziehen, fühlte sich unvergleichlich an, göttlich sozusagen. Nicht umsonst hatte Orpheus mit seiner Musik die Herzen der Götter berührt, als er Eurydike verloren hatte. Das ging Elise oft durch den Kopf, wenn sie an ihren zukünftigen Beruf dachte.

Die Realität des Sonntagnachmittags in diesem kältesten Winter seit Menschengedenken holte die junge Frau aus ihren Träumen zurück. Sie legte ihren Bleistift beiseite und wickelte nachdenklich eine Haarsträhne um den Zeigefinger.

An eine Ausbildung in einem guten Konservatorium war wegen der fehlenden finanziellen Mittel der Eltern nicht zu denken, zumal sie jetzt noch das Haus abzahlen mussten. Elises Traum würde sich nicht erfüllen, Talent und Begeisterung hin oder her. Andererseits hatte sie keine Idee, was sie sonst aus ihrem Leben machen könnte.

Draußen rieselte Schnee vom grauschwarzen Himmel. In der Küche war es schon dämmerig und Elise glaubte, die Großmutter hätte mit ihrem Satz über die dunkle Welt die Schneewolken draußen gemeint. Doch im Aufblicken bemerkte sie, wie Tränen eine feuchte Spur auf den Wangen ihrer Großmutter hinterlassen hatten.

Eine kleine Lache Milch glänzte neben der Kaffeetasse ihrer Großmutter auf der vom Alter und der täglichen Reinigung mit Scheuersand hell gewordenen Holzplatte des Tisches.

Elise strich die Seitenfransen ihrer dunklen, leicht welligen und zu einem modischen kurzen Pagenkopf geschnittenen Haare mit einer energischen Bewegung hinter die Ohren zurück. Rasch stand sie auf, um das Spültuch zu holen. Nachdem die kleine Milchpfütze aufgewischt war, trat Elise hinter den Stuhl der Großmutter und drückte ihr liebevoll einen Kuss auf die silbergrauen Haare, die im Nacken mit zwei Hornkämmen zu einem lockeren Knoten zusammengesteckt waren.

»Ach Louischen, das ist doch nicht so schlimm.«

Sie hauchte ihren warmen Atem ins Haar der Großmutter. Ihre Stimme wurde dunkel vor Zuneigung für Louise.

»Vergossene Milch ist doch kein Grund für Tränen, nicht bei uns beiden. Siehst du, schon habe ich sie aufgewischt. Gieß dir einfach etwas Milch nach.«

Die Großmutter beugte den Kopf nach hinten und schaute auf zu ihrer Enkelin. Elly war alles, was sie gern selbst gewesen wäre – dieses überragende musikalische Talent, diese zarte, ungewöhnliche Schönheit der blauen Augen zu den schwarzen Haaren und diese Entschlossenheit, etwas aus sich zu machen.

»Weißt du, Elly, in letzter Zeit passiert mir das immer öfter. Ich denke, ich gieße etwas in die Tasse, aber dann läuft es einfach daneben. So wie vorhin.«

»Kein Wunder, Großmutter, du hältst die Kanne ja neben die Tasse. Du musst sie richtig darüber halten.«

Elise griff zur Tülle des Milchkännchens, das ihre Großmutter zum Gießen angehoben hatte, und schob sie mitten über die Tasse. Louise atmete langsam durch, um sich zu beruhigen.

»Ich kann es einfach nicht mehr richtig sehen, Kind. Es ist seit ein paar Wochen, als würden zwei Bilder nebeneinander stehen. Ich weiß dann nicht mehr, welche Tasse die richtige ist und wo ich wirklich die Milch hineingießen muss.«

Ein einzelnes, mühsam unterdrücktes Schluchzen brach aus Louise heraus. Sie schämte sich und versuchte, es hinunterzuschlucken. Trotzdem, ihre Sorge konnte sie nicht verbergen.

»Ich will doch niemandem zur Last fallen, Kind. Vor nichts habe ich mehr Angst, als blind zu werden und euch allen lästig zu sein.«

Elly legte der Großmutter eine Hand auf den vor Aufregung zitternden Arm.

»Wahrscheinlich ist dein Grauer Star schlimmer geworden, Großmutter. Wenn du den Finger auf den Rand der Tasse legst, kannst du genau fühlen, wo die Tasse steht. Sieh mal, so …«

Mit diesen Worten demonstrierte sie ihrer Großmutter, wie man das machen könnte mit dem Eingießen, auch wenn die Augen schlechter geworden waren. Louise, die nicht kleinmütig scheinen wollte, fasste sich wieder.

»Du hast ja Recht, Elly. Mit 78 Jahren wird man schnell ein wenig mutlos. Ja, so kann ich es versuchen, mit dem Finger auf den Rand der Tasse, das müsste gehen.«

Louise nickte und bemühte sich um ein beruhigendes Lächeln.

Willy, ihr fortschrittlicher Schwiegersohn, hatte die »Frankfurter Zeitung« abonniert, deren Redaktion aus Vertretern eines liberalen bis sozialistischen und zumeist jüdischen Bürgertums bestand.

»Als Lehrer muss man wissen, was in der Welt so vorgeht«, sagte er immer als Begründung für den Luxus eines auswärtigen Zeitungsabonnements. Sein Nachname Hermann deutete nicht unbedingt auf seine jüdische Herkunft hin, sein zweiter Vorname Samuel schon. Kollegen, Freunde und Familie aber nannten ihn nur Willy.

Gern las Elise im Feuilleton der »Frankfurter Zeitung«, auch weil sie das feine Rascheln beim Umschlagen der Seiten liebte. Oft wurde dort über wissenschaftliche und kulturelle Fortschritte speziell der Deutschen berichtet.

Erst kürzlich hatte sie einen Artikel über neue Erkenntnisse bei der Heilung der verbreiteten »Alterskrankheit Grauer Star« gelesen und ihrer Großmutter darüber berichtet. Dort war eine vom deutschen Augenchirurgen Elschnig in Prag entwickelte neue Operation beschrieben worden, bei der die getrübte Linse in einem Stück aus dem Auge entfernt wurde und dadurch die Erkrankung mit geringem Infektionsrisiko im wahrsten Sinn des Wortes an der Wurzel gepackt werden konnte. Die nach der Operation fehlende Linse wurde durch eine »Starbrille« mit stark gewölbten Gläsern ersetzt. Auch über die Kosten eines solchen Eingriffs hatte der Journalist berichtet. Das Mädchen wusste, dass ihre Familie diese Mittel nie würde aufbringen können. Bloß, die Großmutter brauchte eine solche Operation, und zwar bald.

Sie fragte ihren Vater, aber der bestätigte, was ohnehin klar war: Man würde eine solche Operation niemals bezahlen können. Unvorhergesehene Ausgaben in dieser Höhe waren einfach nicht machbar, nicht jetzt, in einer sich abzeichnenden Wirtschaftsflaute und mit dem gerade gekauften Haus, das abgezahlt werden musste.

Doch Elise gab nicht auf. Vielleicht konnte man einen anderen Weg finden, es gab ja immer einen anderen Weg. So hatte es der Vater ihr beigebracht.

Öfters sprach sie mit ihrem besten Schulfreund Arno Kolp über das Problem. Mit ihm redete sie über alles, was ihr wichtig war. Er stammte von einem großen, aber abgelegenen Bauernhof im Westerwald. Seit einem Jahr bezahlten ihm seine Eltern ein möbliertes Zimmer in Bad Ems, weil er dort das Abitur machen sollte.

1926 hatte die Schulbehörde entschieden, die Kaiser-Friedrich-Schule, an der Elises Vater Englisch, Geschichte und Sport unterrichtete, zur Oberrealsschule auszubauen. Dadurch konnten Abiturprüfungen auch in Bad Ems abgelegt werden, und zwar in Zukunft auch für Mädchen. In diesem Jahr nun würde Elise zum ersten Abiturjahrgang gehören.

Außer ihr gab es aber noch keine anderen Mädchen auf der Oberrealschule. Ihre früheren Mitschülerinnen aus der höheren Töchterschule von Bad Ems, der Luisenschule, waren mit dem »Einjährigen« ausgeschieden oder nach Koblenz gewechselt, um dort ihr Abitur zu machen. Elise hatte, weil ihr Vater an der Kaiser-Friedrich-Schule unterrichtete und sie die geplante Koedukation erproben wollten, eine Sondergenehmigung des Schulrats bekommen. So hatte sie keine beste Freundin mehr in Bad Ems. Diese Rolle füllte jetzt Arno aus. Er war feinfühlig und lustig, hatte einen guten Geschmack und originelle Ideen. Außerdem war er der extravaganteste junge Mann, den man sich denken konnte.

Zum Beispiel weigerte er sich nachdrücklich, seine beste Freundin Elise zu nennen. Für ihn war sie »Elle, die Verkörperung der göttlichen Französin«. Das Aufsehen, das er ständig hervorrief, machte ihm überhaupt nichts aus, im Gegenteil: Er schien es zu genießen. Elise bewunderte dieses Selbstbewusstsein, das so gar nicht zu seinem recht ländlichen und traditionellen Elternhaus zu passen schien.

Als sie einmal darüber sprachen, lachte Arno ihre Bedenken weg.

»Ich bin eben die neue Zeit, Elle«, bemerkte er lässig und strich seine blonden Haare mit einem koketten Schwung aus der Stirn zurück. So unbekümmert und mutig wie er wäre Elise gern auch gewesen.

Allerdings musste Arno zunehmend vorsichtig sein, weil seine offensichtliche Andersartigkeit bei den auch in der Kurstadt Bad Ems inzwischen massiver auftretenden Nationalsozialisten Widerwillen auslöste. Vor allem einige Mitschüler seiner Klasse, der Oberprima, hänselten ihn immer wieder. Einmal hatten ihn ein paar angeheiterte Mitglieder der ein Jahr zuvor in der Kurstadt gegründeten Hitlerjugend wegen seiner »weibischen« Haare abends auf der Straße handgreiflich belästigt. Verprügelt hatten sie ihn bloß deshalb nicht, weil zufällig Dr. auf der Haar, Studiendirektor der Oberrealschule, mit seiner Frau vorbeikam und die lärmenden Schüler scharf zur Ordnung rief.

Arno weigerte sich, trotz solcher Erfahrungen diskreter aufzutreten.

»Eines Tages werden sie mich erschlagen und in den Fluss werfen, so wie die Luxemburg und den Liebknecht vor zehn Jahren. Und wenn du morgens zur Schule gehst, werde ich dich aus meinen Wasserleichenaugen anschauen und du wirst dich zu Tode erschrecken.«

Spöttisch gelacht hatte ihr Freund, als er das sagte, aber Elise hörte den bekümmerten Unterton. Sie sah ihn entsetzt an.

»Lass das, Arno. Das ist nicht lustig, überhaupt nicht.«

Er hatte sie angelächelt, etwas hilflos.

»Soll ich denn weinen, Elle? Ich bin wie ich bin, und alle werden damit leben müssen. Ich auch.«

Am besten an Arno aber war: Er sprühte nur so vor überraschenden Ideen. Eines Morgens Anfang März, kurz vor den mündlichen Abiturprüfungen, zog er Elise auf dem Pausenhof der Schule beiseite. Er strahlte sie an und sein Blick zeigte ihr, dass er einen vielversprechenden Plan im Kopf hatte.

»Auch wenn du nicht aus einer wohlhabenden jüdischen Familie kommst, liebste Elle, ihr habt doch bestimmt gute Beziehungen. Mir ist eingefallen, dass Clara Schumann ihre kleine Rheinreise mit ihrem Geliebten Brahms auch durch ein Konzert in Bad Ems finanziert hat. Weshalb solltest nicht du die Operation deiner Großmutter ebenso bezahlen? ›Elises Konzert‹ könnten wir es nennen oder ›Konzert für Louise‹.«

Er machte eine Kunstpause, um die Wirkung seiner Idee auf die Freundin zu prüfen.

»Stell dir vor, du wirst in der Aula auftreten, unsere ganze Schule, die jüdische Gemeinde und alle möglichen Kurgäste werden sich drängen, ihre wohltätigen Spenden für die begabte und schöne, aber mittellose Pianistin und die Operation ihrer geliebten Großmutter abzugeben, weil die sonst erblindet. Eine rührend dramatische Geschichte, sehr publikumswirksam.«

Arno sah, wie Elise Feuer fing.

»Ich entwerfe dir ein edles und auffälliges Plakat und rede mit Willi Bär, dem Lokalredakteur der ›Emser Zeitung‹. Ich bin sicher, er wird uns unterstützen. Weiß deine Familie nicht jemanden, der wichtige Leute kennt und helfen kann, so was vorzubereiten? Sag doch was, Elle. Was denkst du?«

Arnos Idee war brillant, keine Frage, sie überzeugte Elise auf Anhieb. Das wäre die Lösung für ihre Sorgen. Ein Problem blieb aber: Weder ihre Eltern noch ihre Großmutter unterhielten enge Beziehungen zur jüdischen Gemeinde. Im Gegenteil, sie waren entschieden liberal und assimiliert, fühlten sich eher als Deutsche denn als Juden. Kaum dass sie noch in die Synagoge gingen, nicht einmal zu Jom Kippur oder Rosch ha-Schanah.

Ein Gespräch mit ihrer Mutter brachte Elise entscheidend weiter. Eine ältere Dame, Kurgast in Bad Ems, hatte sich im letzten Herbst von Clara einen warmen Wintermantel schneidern lassen. Sie hieß Rosa Bamberg und war früher Stadtverordnete in Frankfurt gewesen. Diese ältere Dame war klug und couragiert. Bei den Anproben hatte sie sich ein wenig mit Elises Mutter angefreundet. Am Schluss hatten sich beide sogar geduzt.

Sie kannte wichtige Leute, nicht nur in Bad Ems, vor allem in der Main-Metropole, wo sie lebte, aber auch in Gießen, ihrer Geburtsstadt. Rosa, das hatte Clara ihrer Tochter erzählt, war immer interessiert an wohltätigen Projekten zugunsten sozial schwacher Schichten, speziell zugunsten benachteiligter Frauen.

Der jüdischen Gemeinde in Bad Ems, wo sich Frau Bamberg zuweilen zur Erholung aufhielt, fühlte sie sich eng verbunden. Nicht, weil sie besonders religiös gewesen wäre, da waren der Sozialdemokratin und profilierten Frauenrechtlerin aus Frankfurt ihre politischen Überzeugungen schon wichtiger. Aber sie schätzte den Rabbiner Dr. Levisson und seine soziale Einstellung sehr.

Zu Ostern würde Frau Bamberg zum ersten Mal in diesem Jahr wieder in Bad Ems sein. Gleich am Osterwochenende wollte Elise mit ihr sprechen und sie um Unterstützung für ihren Plan bitten. Die junge Frau vergaß ihre Scheu, das Wohltätigkeitskonzert einer bekannten und hoffentlich einflussreichen Dame der Gesellschaft vorzustellen. Die Operation für ihre Großmutter ging vor.

2KONZERT FÜR LOUISE

1929 fiel der Samstag vor Ostern auf den 30. März. Ihre letzten schriftlichen und mündlichen Prüfungen lagen hinter Elise, das Ergebnis war ein bestandenes Abitur, wenn auch nur mit durchschnittlichen Noten – außer in Musik, Englisch und Geschichte. Aber sie wollte ja keine wissenschaftliche Karriere machen, sondern Pianistin werden. Und sie war entschlossen, einen Weg dafür zu finden, irgendeinen Weg.

Wenn man etwas nur genug wollte, konnte man es auch schaffen. Das hatte sie von ihrem Vater gelernt. Der hatte sich aus bescheidenen Verhältnissen und entgegen der Skepsis seines früh verstorbenen Vaters, der Viehhändler war, zum Studienrat hochgearbeitet, ganz aus eigener Kraft. Jetzt füllte er diesen Beruf voller Hingabe aus.

In der Nacht zuvor hatte es bei klarem Himmel ein wenig gefroren. Beim ersten Blick aus ihrem Zimmerfenster nach dem Aufwachen bemerkte Elise noch den silbrigen Hauch von Raureif, der das Dach des Schuppens in dem kleinen Garten hinter dem Haus überzog.

Später, kurz nach Mittag, schien die Sonne schon angenehm warm vom Himmel. Mit dem zusammengerollten Plakatentwurf von Arno unterm Arm betrat Elise das erstklassige Hotel »Staatliches Kurhaus« gleich vorn an der Römerstraße. Der ergraute Pförtner öffnete die cremeweiß gestrichene Rundbogentür im Haupteingang. Beim Empfang fragte Elise nach Rosa Bamberg. Man war telefonisch übereingekommen, sich um 14 Uhr im zentral gelegenen Hotelcafé zu treffen.

Ein paar jüngere Gäste im Foyer schauten sich interessiert nach der jungen Frau um. Groß war sie und ausnehmend hübsch. Erkennen konnte man aber auch, dass die noble Umgebung sie unsicher machte, dass sie nicht dazugehörte.

Trotzdem, sie passt hierher, sie hat Klasse. Das war das Urteil des Empfangschefs, der in seinem Beruf gelernt hatte, Menschen schnell und sicher einzuschätzen. Freundlich gab er Rosas Nachricht für Elise weiter.

»Ja, Frau Bamberg erwartet die junge Dame im Café des Hauses, beim großen Durchgang vorn links neben der Halle.«

Auch Dr. Julius Levisson von der jüdischen Gemeinde Bad Ems hatte sich angeboten, Kontakt zu Spendern herzustellen, als er von Elises Plan hörte.

Ein »Konzert für Louise«, was für eine fabelhafte Idee! Ein jüdisches Mädchen, das Pianistin werden wollte, aber kein Geld für die Ausbildung hatte, gab ein Konzert für ihre Großmutter, die dringend am Grauen Star operiert werden musste, sich die Operation aber nicht leisten konnte. Mit Sicherheit eine Sache, für die es sich einzusetzen lohnte, vor allem, wenn eine junge Künstlerin so begabt war wie dieses Mädchen. Elise hatte für Dr. Levisson auf dem Klavier in seiner Wohnung gespielt, um ihn für ihren Plan zu gewinnen. Besonders begeistert war er von ihrer innigen Interpretation einer Sonate von Schubert. Wenn Musik so gut gespielt wurde wie von Elise, dann fühlte er sich beflügelt und froh. Seine Frau hatte beim Zuhören nach seiner Hand gegriffen und sie einen Moment lang gedrückt. Das wollte etwas heißen.

Möglicherweise konnte man mehr für diese Familie tun, auch wenn sie sich seiner jüdischen Gemeinde nicht so verbunden fühlte. Vielleicht gerade deshalb.

In Zeiten wie diesen, da er, den seine Frau einen unverbesserlichen Schwarzseher schalt, neue Pogrome von den im Deutschen Reich so dreist gewordenen Nationalsozialisten heraufziehen sah, würde jeder Jude zählen, der selbstbewusst zu seiner Herkunft stand und dagegenhielt. Diese Einstellung war genau das, was ihn am meisten mit Rosa Bamberg verband.

Die sozial äußerst engagierte Stadtverordnete kannte er aus langen Gesprächen recht gut. Wenn sie sich in Bad Ems aufhielt, besuchte sie seine Schabbatgottesdienste regelmäßig.

Sie hatte dem Rabbiner erzählt, dass sie aus Gießen stammte, aus der Familie der Löwensteins. Ihr Vater, der im Gegensatz zur Mutter auf religiöse Dinge wenig Wert gelegt hatte, betrieb in der mittelhessischen Universitätsstadt eine Holzhandlung. In ihrer Jugendzeit hatte er seine Tischlerei für Bugholzmöbel durch ein Feuer verloren, Rosas Familie hatte damals wirtschaftliche Not am eigenen Leib zu spüren bekommen. Ihr Bruder Nathan wurde früh Sozialist und SPD-Mitglied, vielleicht wegen des Geldmangels, der das Familienleben der Löwensteins für einige Zeit bestimmt hatte. Auch Rosa wurde später Sozialdemokratin, obwohl sie nicht immer gemäß den Vorgaben der Partei dachte. Allerdings blieb sie, anders als ihr Bruder, ein Leben lang ihrer jüdischen Herkunft verbunden. »Zum-Trotz-Jüdin« nannte sie sich, weil sie es heuchlerisch fand, wie sie als junge jüdische Frau an einer guten Berufsausbildung gehindert worden war, von der Gesellschaft genauso wie von ihrer eigenen Familie. Ihre acht Kinder mit dem Frankfurter Lederwarenhändler Wilhelm Bamberg, der nach dem Konkurs seiner Firma eine Arbeit als Inspektor der Frankfurter Aktiengesellschaft für kleine Wohnungen aufnahm, hatten ihre Ansichten ebenso stark geprägt. Herkunft und eigene Familie waren für sie kein Hindernis, so beherzt für die politischen Rechte von Frauen einzutreten, im Gegenteil, genau das waren ihre Gründe dafür.

Wenn ihr etwas am Herzen lag, dann die Situation der drei im frühen 20. Jahrhundert immer noch weithin diskriminierten Gruppen: Frauen, Arbeiter und Juden. Als Mitglied der SPD war sie in der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung zwischen 1919 und 1924 in den Bereichen Finanzen, Schul- und Gesundheitswesen sowie Soziales tätig gewesen. Daher hatte die inzwischen 67-jährige Dame gute Beziehungen, in Frankfurt und auch in Gießen, im bürgerlichen Lager ebenso wie bei den Sozialisten.

Rosa Bamberg saß also an diesem Ostersamstag mit der aufgeschlagenen »Frankfurter Zeitung« bei einer duftenden Wiener Mélange im Café des nach der Besatzungszeit frisch renovierten Hotels in Bad Ems. Die geschliffenen Kristalle der Wandleuchter funkelten wieder, jetzt im Licht der neuartigen elektrischen Glühlampen in Kerzenform, die die Vorkriegs-Gasbeleuchtung ersetzt hatte. Eine weiß-gold gestreifte Tapete schimmerte elegant, der hohe Kamin aus dunkelrotem Marmor mit dem weichen Perserteppich davor verbreitete eine gediegene Atmosphäre.

Frau Bamberg war bewusst einfach gekleidet und hob sich dadurch von den anderen Gästen ab. Ihr dunkelgraues Wollkostüm schien an den Ellenbogen etwas abgewetzt, nur eine schlichte weiße Bluse trug sie, keinen Schmuck, keinen Schal, keinen Hut. Ihre freundlichen Augen unter den hochgesteckten silbrig-weißen Haaren blickten der jungen Frau mit der Plakatrolle interessiert entgegen.

Sie erhob sich leicht aus ihrem Sessel und streckte ihre Hand zur Begrüßung aus. Dann bot sie Elise einen Platz an und beide setzten sich.

»Du könntest ja meine Enkelin sein. Wusstest du, dass ich acht Kinder und zehn Enkelkinder habe?«, eröffnete sie das Gespräch. Elise schüttelte den Kopf. Nein, das hatte sie nicht gewusst. Aber sie freute sich über die Offenheit und das Du, während sie den Plakatentwurf vorsichtig auf einem freien Stuhl ablegte.

»Meine Großmutter ist schon 78 Jahre. Sie sind doch sicher viel jünger«, antwortete Elise charmant und mit einem zarten Lächeln. Rosa bemerkte, wie die Augen der jungen Frau aufmerksam die noble Umgebung musterten. Ungewöhnlich blaue Augen, bei diesen dunklen Haaren, dachte Frau Bamberg erstaunt. Was für eine schöne junge Frau.

»Na ja, Elise, ich gehe auch auf die 70 zu. Du hast sicher gehört, dass ich Sozialdemokratin bin. Wir in der SPD halten nicht so viel von Standesunterschieden, und ich persönlich glaube sowieso nicht daran. Auf den Menschen und seine Einstellung kommt es an, nicht auf seine Herkunft oder Zugehörigkeit. Es würde mich freuen, wenn du mich duzen würdest. Das machen in meiner Partei viele, egal wie alt wir sind, und das finde ich auch richtig. Fräulein Hermann werde ich dich bestimmt nicht nennen.«

Elise, die Rosa gegenüber Platz genommen hatte, nickte. Sie hörte aus der Art, wie Rosa »Fräulein« sagte, dass sie dieses Wort überhaupt nicht mochte. Noch nie hatte Elise darüber nachgedacht. So war das eben – unverheiratete Frauen wurden »Fräulein« genannt, verheiratete »Frau«. Das war ja auch praktisch, auf diese Weise wusste jeder gleich Bescheid.

Rosa strich nachdenklich die zusammengefaltete Zeitung glatt.

»Und noch etwas, Elise. Nicht, dass du glaubst, ich wohne in diesem Hotel. Das kann ich mir nicht leisten, und das ist auch nicht notwendig für mich. Aber eine schöne Umgebung weiß ich trotzdem zu schätzen. Deshalb komme ich gern hierher ins Café, jetzt, wo es wieder fast so angenehm ist wie vor dem Krieg und der Besatzung.«

Elise war es nicht gewohnt, eine fremde ältere Dame zu duzen. Sie überwand sich nur, weil ihr die Ungezwungenheit von Frau Bamberg so gut gefiel. Eifrig begann sie, ihren Plan zu erklären.

»Ein Freund von mir hat ein Plakat entworfen, und der Direktor und unser Musiklehrer haben mir erlaubt, dass ich unsere Schulaula für das Konzert benutzen darf. Sehen Sie, das ist die Liste der Stücke, die ich mit Professor Wenkemann ausgesucht habe. Er ist seit Jahren mein Klavierlehrer, über 70 Jahre alt und immer noch auf dem Laufenden mit der neuen Musik. Sehen Sie nur, das ›Clair de lune‹ von Debussy, das war sein Vorschlag.«

Elise biss sich verlegen auf die Unterlippe, weil sie Frau Bamberg nun doch gesiezt hatte. Rosa bemerkte ihre Unsicherheit und grinste sie verschmitzt an.

»Lass mich sehen. Oh, ein wunderbares Programm habt ihr zusammengestellt. Dreimal Bach, Scarlatti, Beethovens ›Für Elise‹, zweimal Schumann, Schubert und Debussy. Willst du nicht noch das ›Regentropfen-Prélude‹ von Chopin dazunehmen? Das wäre das Tüpfelchen auf dem i. Es ist eines meiner Lieblingsstücke. David, unser Jüngster, hat es gespielt, als er noch zuhause war. Sehr edel, das Plakat! Wer ist denn der Künstler?«

Die junge Frau erkannte echte Begeisterung in Rosas Augen.

»Gern werde ich auch das ›Regentropfen-Prélude‹ spielen. Und das Plakat ist von meinem besten Freund in der Schule, von Arno Kolp. Er ist sehr begabt. Seine Entwürfe sind modern und elegant, wie Sie … äh, wie du sehen kannst.«

Rosa nickte beeindruckt. Schwarz-weiß, DIN A3, eine Mischung aus Bauhaus-Elementen und dem in den letzten Jahren besonders beliebten Style Moderne.

»Konzert für Louise« stand in einem Halbkreis aus lang gezogenen, oben sanft gerundeten Buchstaben über einem stilisierten lackschwarzen Flügel. An den Tasten saß eine elegante junge Frau, das Gesicht scherenschnittartig auf einen schwarzen Pagenkopf, Lippen, Augen und die angedeutete Nase reduziert. Ihr gegenüber am Flügel stand eine alte Dame mit weißen Haaren und erblindenden Augen, dargestellt durch die hellgrauen Pupillen.

In einem Textblock wurde der Anlass des Konzerts kurz erklärt. Das musikalische Programm schloss sich an, als Aufführungsort war die Aula der Kaiser-Friedrich-Schule in Bad Ems genannt. Bloß der Termin fehlte noch, weil Elise die Stadtverordnete um ihren Vorschlag bitten wollte.

Rosa blickte Elise anerkennend in die Augen.

»Unser Rabbi Dr. Levisson und ich haben ausführlich über dein Vorhaben gesprochen. Und dann habe ich lange darüber nachgedacht, Elise, wie ich meine Verbindungen für deine Großmutter und dich noch anders nutzen kann als nur für das Konzert.«

Elise fasste Mut und unterbrach ihre Gesprächspartnerin, bevor diese ihre Überlegungen ausführlicher erörtern konnte.

»Ich will bestimmt nicht unhöflich sein, aber ich habe meiner Großmutter versprechen müssen, dich zu uns einzuladen. Sie würde Sie …, na ja, du würdest uns, also … wir wohnen ganz in der Nähe. Meine Mutter würde sich auch freuen, dich wiederzusehen, das hat sie mir extra aufgetragen. Und außerdem muss ich dann nicht wiederholen, was du mir erzählt hast.«

Rosa lachte zufrieden. Die Zielstrebigkeit dieses Mädchens gefiel ihr sehr. Zum Glück waren junge Frauen heute selbstbewusster, nicht mehr so ängstlich und unselbständig wie früher.

»Eine fabelhafte Idee, Kind. Zu dir nach Hause komme ich gern. Du hast recht, so können wir alles gemeinsam mit deiner Familie besprechen. Außerdem brauche ich von deiner Mutter noch ein neues Kostüm für den Sommer. Darüber kann ich dann auch gleich mit ihr reden.«

Und schon hatte Rosa den Kellner gerufen, um ihre Wiener Mélange zu zahlen. Elise rollte das Plakat wieder zusammen und erhob sich ebenfalls.

Als sie draußen den kurzen, von blühenden Krokussen und frühen Osterglocken gesäumten Promenadenweg an der Lahn entlang gingen, bemerkte Elise, dass Rosa das linke Bein ein wenig nachzog. Sie verlangsamte ihre Schritte. Rosa nickte ihr zu.

»Wie du siehst, bin ich tatsächlich nicht mehr die Jüngste. Mein linkes Knie schmerzt beim Gehen etwas, aber ich fühle mich zu jung für einen Stock. Wer eitel ist, muss eben leiden.«

Wieder lachte sie unbekümmert. Dieses Lachen hatte Elise gleich zu Beginn ihres Gesprächs sehr für Rosa eingenommen.

Als sie in die Pfahlgasse einbogen, zeigte die junge Frau auf das Haus der Eltern.

»Da oben wohnen wir schon. Wenn dich der Weg anstrengt, kannst du dich gern bei mir einhängen. Das macht meine Großmutter auch immer.«

Elise merkte, wie sie Rosa gegenüber an Sicherheit gewann.

»Weißt du, unser Haus ist klein und das Klavier ist nicht besonders gut. Aber es ist das, was wir uns leisten können.«

Rosa zog anerkennend ihre Augenbrauen hoch. Jemand, der sich nicht für seine bescheidene Herkunft schämte. Beeindruckend, wirklich. Gern nahm sie das Angebot der jungen Frau an, sich bei ihr einzuhängen. Die steile Straße brachte sie tatsächlich außer Atem. Aber wieder lachte sie die besorgten Blicke von Elise weg. Zwischen zwei schweren Atemzügen meinte sie:

»Es ist nur gesund, Elise, wenn einem das Blut in Wallung kommt. Am besten zweimal am Tag. Das hat mein sportlicher Vater immer gesagt. Insofern wohnt ihr doch genau richtig.«

Im Haus der Eltern bat Elise den Gast ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter und Großmutter bereits auf sie warteten. Rosa Bamberg gewann mit ihrer offenen Art sofort das Herz von Louise. Sie bemerkte an den vorsichtigen Bewegungen der alten Dame, dass sie ihre Umgebung wohl nur noch diffus wahrnahm. Aber aus ihrer früheren Arbeit im Sozialausschuss war sie den Umgang mit behinderten Menschen gewöhnt und reagierte unbefangen und warmherzig.

»Vielleicht spielst du etwas auf dem Klavier, während ich einen Tee für uns mache«, schlug Elises Mutter vor.

Das Mädchen entschloss sich, das »Regentropfen-Prélude« von Chopin zu spielen, das Rosa eben erwähnt hatte. Es war auch eines ihrer Lieblingsstücke. Die zarte melancholische Melodie brachte beide, Louise und Rosa, zum Nachdenken darüber, ob wohl die Vorsehung sie zusammengebracht hatte. Louise wollte sich das gern so vorstellen, es gab ihr ein Gefühl von Gehaltensein. Rosa dagegen glaubte eher, dass die Dinge passieren, die man selbst möglich macht.

Kurz nach dem Ende des Prélude kam Clara mit dem Tee aus der Küche zurück, und die vier Frauen setzten sich bei frisch gebackenem Kirsch-Streuselkuchen zusammen, um ihre Ideen für das Konzert auszutauschen und den Plan festzulegen.

Rosa fühlte sich gleich vom ersten Moment an im Haushalt der Hermanns wohl. Man konnte kaum übersehen, dass dies kein begütertes Elternhaus war. Aber es gelang Clara, mit gutem Geschmack, vor allem mit schönen Stoffen, für eine anheimelnde Umgebung zu sorgen. So fiel der mangelnde Wohlstand kaum auf. Wichtig waren den Hermanns Bildung, eigenständiges Denken und innere Freiheit. Man sah das an den vielen Büchern, die trotz der bescheidenen Verhältnisse überall gestapelt lagen.

Auf der Kommode im Wohnzimmer fiel ihr das Foto eines etwa fünfjährigen Jungen im Matrosenanzug auf, der verschmitzt in die Kamera lachte. Wie schön er lachen konnte. Ähnlichkeit mit Elise hatte er, das bemerkte sie sofort. Aber irgendetwas hielt sie zurück, nach dem Foto zu fragen. Soweit sie wusste, war Elise das einzige Kind der Hermanns.

Zwei Stunden später, auf dem Weg zu ihrer Pension, dachte Rosa noch einmal über den gerade besprochenen Plan für das Konzert nach. Genau wie auf Arnos schönem Plakat sollte es »Konzert für Louise« heißen. Zum Beginn der Sommersaison musste es stattfinden, am besten am Freitag vor Pfingsten, der in diesem Jahr auf den 17. Mai fiel. Dann kamen die wohlhabenden und älteren Kurgäste nach Bad Ems zur Sommerfrische.

Man würde das Konzert in der »Emser Zeitung« und in der »Allgemeinen Zeitung des Judentums« ankündigen. Arnos Plakate würden Elise, Clara und der Kantor der jüdischen Gemeinde in Geschäften und an zentralen Stellen von Bad Ems aushängen, so war es vereinbart. 20 Exemplare reichten, wenn man sie geschickt platzierte.

3UNERFÜLLTE TRÄUME

Nach ihrem Gespräch mit Dr. Levisson hatte Rosa noch zwei weitere Ideen gehabt, die sie zielstrebig umzusetzen begann.

Eine Bindehautentzündung, die hartnäckig wiederkehrte, wurde seit Jahren von Professor Adolf Jess in Gießen behandelt. Der bekannte Ordinarius der Universitäts-Augenklinik hatte ihr kürzlich stolz erzählt, dass jetzt auch an seiner Klinik die neue Staroperation aus Prag durchgeführt wurde. Sie würde mit dem Professor telefonieren. Vielleicht konnte er es irgendwie möglich machen, Louises Augen günstiger zu operieren.

In Frankfurt gab es das berühmte Hoch’sche Conservatorium an der Eschersheimer Landstraße, wo Clara Schumann bis zu ihrem Tod »Erste Klavierlehrerin« gewesen war. Dort würde sie sich nach der Möglichkeit einer Freistelle oder eines Stipendiums für eine begabte Studentin erkundigen. Elises Herzenswunsch nach einer Ausbildung als Pianistin sollte kein Traum bleiben, soweit Rosa dazu beitragen konnte – denn mit unerfüllten Träumen kannte sie sich aus, als Frau des 19. Jahrhunderts, als Jüdin dazu.

Wenn sie keine Frau gewesen wäre, hätte sie genauso erfolgreich studiert wie ihr Bruder Nathan. Aber in ihrer Jugend wurde Frauen ein Studium nicht erlaubt, weil man deren frühe Heirat voraussetzte. Eine Ausbildung zur Lehrerin war das Äußerste, was man als statthaft ansah, und auch nur dann, wenn es Zweifel gab, ob ein Mädchen eine angemessene Partie machen konnte. Kaum hatte Rosas Vater, auf ihr Drängen und das ihrer Lehrer, ihr diese Ausbildung gegen seine eigene Überzeugung erlaubt, da fand er heraus, dass eine jüdische Lehrerin nur ausnahmsweise die Chance bekommen würde, an einer regulären deutschen Schule angestellt zu werden. Dann lieber unter die Haube, entschied er pragmatisch, auch im Hinblick auf den noch nicht lange zurückliegenden Konkurs seiner Firma. So hatte Rosa, ermahnt von beiden Eltern, 1880 mit 19 Jahren zweifelnd, aber gehorsam nach Darmstadt geheiratet und die geliebte Ausbildung wieder abgebrochen.

Aus dieser von der Verwandtschaft arrangierten Ehe mit ihrem 26-jährigen Vetter Wilhelm Bamberg hatte sich eine sturmerprobte Beziehung mit acht Kindern entwickelt, sodass sie ihren Schritt nie bereut hatte. Mit großer Zärtlichkeit dachte sie an ihren Mann. Er liebte sie und war, im Gegensatz zu anderen Ehemännern seiner Zeit, stolz auf ihre intellektuellen Fähigkeiten. Ihr unabhängiges Denken imponierte ihm, deshalb unterstützte er sie auch in ihrer Arbeit für den wissenschaftlichen und öffentlich-politischen Bereich, indem er bei der Betreuung der Kinder half. Er machte das gern, obwohl Bekannte den Kopf schüttelten. Hilfe im Haushalt durch den Ehemann war in den bürgerlichen Familien des Kaiserreichs undenkbar. Dafür aber würde Rosa ihrem Will immer dankbar bleiben. Rosas Vater hatte wenige Jahre vor seinem Tod in Frankfurt ein fünfstöckiges Mietshaus gekauft, zentral im Mauerweg 10, nah an der Ecke zur Berger Straße. Rosa und Will waren 1885 von Darmstadt nach Frankfurt in das Haus des Vaters gezogen. Das war eine wichtige Unterstützung für die junge, rasch wachsende Familie gewesen. Ohne die mietfreie Wohnung wäre es in jeder Hinsicht eng geworden.

Vor allem 1902, als Wills Lederwarenfirma zusammenbrach, verdiente Rosa für einige Zeit mit Vorträgen zu wissenschaftlichen und sozialen Fragen in zahlreichen Städten des Deutschen Reichs den größten Teil des kargen Familieneinkommens.

Schließlich fand ihr Mann über den deutsch-amerikanischen Bankier und Sozialreformer Charles Hallgarten und den an Architektur interessierten Frankfurter Lederwarenhändler May, Vater des später berühmten Stadtplaners Ernst May, eine Anstellung bei der »Frankfurter AG für kleine Wohnungen«. Vom selbständigen Kaufmann zum angestellten Inspektor bei bescheidenem Lohn, was für ein sozialer Abstieg! Das jedenfalls glaubten viele Bekannte, gerade in der jüdischen Gemeinde.

Aber Rosel und Will, wie sie sich gegenseitig liebevoll nannten, standen souverän über Standesdünkeln dieser Art. Im Gegenteil, die Arbeit in der »Frankfurter AG für kleine Wohnungen« fanden beide politisch äußerst wichtig. Stolz und zufrieden waren sie, dass Will in dieser wohlhabenden, aber trotzdem liberalen Stadt etwas Sinnvolles für die rasch wachsende Zahl der Einwohner mit kleinen und mittleren Einkommen tun konnte, selbst wenn er dadurch nie reich werden würde. Diese Aktiengesellschaft bedeutete für sie beide die Verwirklichung freiheitlicher und demokratischer Gedanken dort, wo es für wenig verdienende Menschen am wichtigsten war – im Wohnungsbau. Genau das wollte Ernst May für die Frankfurter heute als Stadtbaurat in großem Stil erreichen: Kleine Wohnungen, intelligent und preiswert geplant, mit »Licht, Luft und Sonne«. Rosa und Will hatten dazu beigetragen, jeder auf seine Weise.

So hatte Rosa Bambergs Leben sie in die Rollen einer jüdischen Ehefrau, Mutter und Hausfrau, Vortragsrednerin, bürgerlichen Sozialdemokratin, Frauenrechtlerin, Stadtverordneten, Soziologin und Gesundheitsexpertin gelenkt. Ihr Engagement für das moralisch Richtige war in allen Facetten ihres Lebens spürbar, obwohl ihre fehlende wissenschaftliche Ausbildung Rosa immer wieder zweifelnde Kommentare aus der überheblichen Männerwelt bestimmter Akademiker eingetragen hatte.

Einen entscheidenden Vorteil jedoch hatte sie auf diese Weise: Nirgends gehörte sie richtig dazu. So konnte sie als erfahrene Mittlerin zwischen all diesen verschiedenen und teilweise sogar kontroversen Welten auftreten und sich trotzdem ihre Unabhängigkeit bewahren.

Rosa war froh, dass sie durch dieses nicht ganz einfache Leben und die von außen erzwungenen Kämpfe nicht bitter geworden war. Wenn sie eine junge und mittellose Frau auf ihrem Weg in die berufliche Selbständigkeit unterstützen konnte, würde sie es tun. Immer. Erst recht, wenn sie so begabt und sympathisch war wie Elise.

Mit einem zufriedenen Lächeln erhob sich Rosa von der Bank im Flur ihrer Pension und ging hoch zu ihrem Will, der inzwischen sicher ausgeschlafen hatte und bei einem Virginia-Zigarillo auf sie wartete.

Elise übte in den sechs Wochen vor ihrem Auftritt mit großer Hingabe. Sie wollte mit ihrer musikalischen und pianistischen Leistung überzeugen – es hing ja viel davon ab. Ihre Familie kannte das Repertoire bald auswendig, genau wie Arno, der wegen der Vorbereitung des Konzerts häufig bei Familie Hermann zu Gast war und Elise unterstützte.

Louise und Clara verstanden intuitiv, dass dieser Freund keine Gefahr für Elise war. Also hatten sie nichts dagegen, wenn sich beide ausgiebig in Elises Zimmer aufhielten. Manchmal hörte man ihr Sprechen und Planen und Lachen bis in den Flur. Clara und Willy waren sicher, dass Elise ihnen gesagt hätte, wenn da etwas Ernsthaftes zwischen ihr und Arno gewesen wäre. Sie vertrauten ihrer Tochter.

Am letzten Sonntagabend Ende April saßen die Freunde wieder in Elises Zimmer. Sie merkte, dass Arno ungewohnt still war, weil er angespannt über etwas nachdachte.

»Was ist denn los?«, fragte sie.

Er strich sich die Haare aus der Stirn, obwohl er sie inzwischen viel kürzer geschnitten trug.

»Ich glaube, ich habe mich verliebt, Elle.«

»Hm. Wer ist denn der Glückliche?«

»Du fragst mich nicht einmal, ob es ein Mädchen sein könnte?«, äußerte der junge Mann fast gekränkt.

»Nein, das habe ich nicht angenommen, Arno. Dazu kenne ich dich zu gut.«

Er nickte langsam.

»Du hast ja recht, Elle. Es ist kein Mädchen.« Er holte tief Luft. »Es ist Martin aus unserer Klasse.«

»Welcher Martin? Du meinst doch nicht Martin Weißensee?«

Ungläubig schaute Elise ihren Freund an und zog die Augenbrauen hoch.

»Der ist doch der Schwarm von so ungefähr allen Mädchen in Bad Ems! Und außerdem ist er in der Hitlerjugend.«

»Genau der. Und da liegt auch das Problem.«

»Was meinst du? Weiß der überhaupt davon, habt ihr darüber gesprochen? Jetzt erzähl doch, Arno.«

Der seufzte, und gleichzeitig lächelte er froh.

›Na ja, neulich bin ich zufällig vorbeigekommen, als er nach der Schule trübsinnig auf einer Bank am Lahnufer saß und auf die Silberau hinüberstarrte. Schon lange habe ich ihn interessant gefunden, aber nie gewusst, ob er das mitbekommen hat oder ob ich es ihm zeigen kann. Er hat mich bemerkt, sich nach mir umgedreht, mich angesehen. Dann hat er neben sich gezeigt, ich sollte mich zu ihm setzen. Weißt du, kein Wort hat er gesagt. Nur angesehen hat er mich und mit dem Kopf auf den Platz neben sich gedeutet.«

Arno schob eine Pause ein, die für Elise viel zu lange dauerte.

»Mach’s nicht so spannend, Arno.«

Er fuhr fort und wurde etwas rot dabei.

»Ich habe mich hingesetzt und war so aufgeregt, dass ich kein Wort rausgekriegt habe. Martin hat weiter vor sich hingestarrt. Dann hat er plötzlich gefragt, ganz beiläufig, ob ich eigentlich weiß, dass hier früher die Hexen verbrannt worden sind. Ich habe den Kopf geschüttelt.

›Was für ein passender Platz für uns‹, hat er gesagt und bitter gelacht. Dann hat er sich ganz zu mir herumgedreht und gemeint, er sitzt wegen mir hier. Komisch, dass ich gerade jetzt vorbeikäme, merkwürdiger Zufall. So ganz genau habe ich das mit dem Zufall nicht verstanden. Ich hatte ja auch an ihn gedacht. Dann hat er mir erklärt, dass er mich ziemlich mutig findet. Ich würde nie Rücksicht darauf nehmen, was andere über mich denken. Und dass er jetzt überlegt, ob er selbst vielleicht andersherum ist, weil ausgerechnet er über mich nachdenkt, wo doch jeder in unserer Klasse sicher wäre, dass ich andersherum bin. Seit der Weimarer Republik und Dr. Hirschfeld wäre das ja auch nichts Besonderes mehr. Sogar Ernst Röhm von der SA wäre ganz offen andersherum, und jeder wüsste es, und viele Künstler und Schriftsteller und Schauspieler sowieso.«

Arno drehte eine Ecke von Elises gesteppter Bettdecke zu einer kleinen Rolle zusammen. Sie starrte auf seine kurz geschnittenen Fingernägel.

»Und, was ist dann passiert?«

»Na ja, ich habe ihn gefragt, ob er glaubt, dass er auch andersherum ist. Er hat lange geschwiegen, schließlich hat er geantwortet. Dass er sich manchmal vorstellt, wie es wäre, mit einem Mann eben. Danach hat er wieder aufgehört zu reden und plötzlich über meine Hand gestreichelt, ganz flüchtig und zart. Dann ist er aufgesprungen und weggerannt.«

»Habt ihr später noch mal darüber gesprochen?«

Elise wollte eigentlich wissen, ob noch mehr geschehen war. Arno nickte grüblerisch.

»Ich konnte nicht mehr aufhören, daran zu denken. Er ist mir ständig durch den Kopf gegangen. In der Schule hat er mich drei Tage gemieden, und das war schlimm. Weißt du, es war, als ob er die Macht hätte, mich aus dem Licht in die Dunkelheit zu stoßen.«

Sein Satz erschreckte Elise. Sie, die Liebe noch nie erlebt hatte, stellte sich dieses Gefühl als etwas Schönes vor, nicht als etwas Dunkles, an dem man zerbrechen konnte.

»Weshalb hast du mir denn nichts erzählt, Arno? Wenn meinem besten Freund so etwas Wichtiges passiert, würde ich es gern wissen. Wir erzählen uns doch alles, oder nicht?«

»Elle, ich habe mich nicht getraut, dir davon zu erzählen. Es ist ja nicht so richtig normal, zwischen Jungen, meine ich. Und Martin würde es bestimmt nicht wollen. Jedenfalls, am Mittwoch ist Martin zu mir gekommen und hat gesagt, dass er sich Donnerstagabend mit mir an der Malbergbahn treffen will. Wenn uns wer sieht, würde er sagen, dass er für Samstag einen Gemeinschaftsabend der Hitlerjugend mit Lagerfeuer oben auf dem Berg vorbereiten muss.«

Arno wischte sich über die Stirn und seufzte.

»Erst war ich nicht sicher, ob er wirklich kommen würde. Aber ich war da. Weißt du, ich konnte an nichts anderes mehr denken. Und dann tauchte er tatsächlich an der Station auf. Wir sind schweigend zusammen hochgefahren. Unterhalb vom Hotel Schweizerhaus ist diese alte Bank, du weißt schon, an der kleinen Aussichtsterrasse. Wir beide waren auch schon mal zusammen da. Martin und ich haben uns wortlos hingesetzt. Fast dunkel war es, bloß unten in der Stadt haben die Gaslaternen an der Promenade geglüht. Niemand sonst hielt sich noch dort oben auf, dazu war es zu kalt. Nur die Schwäne auf dem Teich hat man leise gehört. Wir wussten nicht, was wir sagen sollten. Auf einmal hat er sich zu mir herübergebeugt und mich geküsst. Ich habe mit der Hand durch seine Haare gestrichen, durch seine schönen welligen Haare, und seinen Kuss erwidert. Aber es war so traurig, so unglaublich traurig.«

Elise hörte, dass Arno schlucken musste, weil er so bewegt war. Sie selbst hatte noch nie einen Freund gehabt – und Arno küsste sich mit dem Schwarm aller Mädchen auf dem Malberg und beide waren traurig, weil es niemand wissen durfte. Sie konnte es kaum glauben.

»Habt ihr zusammen … na, du weißt schon. Ist noch mehr passiert?«

»Nein, Elle, mehr war nicht. Ich habe etwas geweint. Danach sind wir aufgestanden und langsam den Serpentinenweg zur Stadt durch den Wald hinuntergegangen. Es war ganz dunkel, und mein Herz hat so heftig gepocht, dass ich Angst bekommen habe. Nicht wegen der Dunkelheit. Ich hätte so gern seine Hand gehalten, aber ich habe mich nicht getraut. Martin hat auch über dich geredet. Dass er nicht mag, wenn ich so eng mit dir befreundet bin. Du wärst doch bloß ein jüdisches Mädel, hat er gesagt. Wir wären halt nicht ebenbürtig, ich als Arier und du als Jüdin. Und dass ich in die Hitlerjugend eintreten soll, weil er und ich dann ganz einfach immer zusammen sein können, ohne dass es auffällt.«

Elise war schockiert. Arno sollte nicht mehr ihr Freund sein, weil sie Jüdin war? Sie hätte nie gedacht, dass so etwas zwischen ihnen je eine Rolle spielen würde. Sie störte es doch auch nicht, dass Arno homosexuell fühlte.

»Was hast du Martin denn geantwortet?«, fragte Elise. Es machte ihr Mühe, die Betroffenheit in ihrer Stimme zu überspielen. Arno schaute sie nicht an, er holte tief Luft.

»Nichts, Elle. Und später hat Martin auch nicht mehr darüber geredet.«

Am Klang seiner Stimme konnte Elise hören, dass Arno sich schämte. Plötzlich verstand er, was Martin ihm da vorgeschlagen hatte und wie grundverkehrt es war.

»Vielleicht hat er es ja nicht so gemeint. Bestimmt, er hat das nicht so gemeint, er ist doch nicht dumm. Aber ich wollte dir wenigstens davon erzählen. Ich habe dir immer alles erzählt. Und ich kann doch nichts dafür, was Martin denkt oder sagt.«

Das stimmte, natürlich. Trotzdem, die Unbefangenheit ihrer Freundschaft war gebrochen, zum ersten Mal seit sie sich kannten. Auf einmal fiel es ihnen schwer, über etwas anderes zu sprechen, weil beide immerzu an Martins Satz denken mussten.

»Bloß ein jüdisches Mädel …«

Bald verließ Arno das Haus der Hermanns und kehrte verwirrt in sein möbliertes Zimmer in der Viktoria-Allee zurück.

Ein paar Tage später, am Donnerstag, dem 2. Mai, wurde Elise 18 Jahre alt. Sie hatte beschlossen, in diesem Jahr wegen des Konzerts nicht zu feiern. So gab sie es jedenfalls vor. In Wirklichkeit sollte ihre Familie nicht wissen, weshalb sie Arno im Moment mied. Immer noch kreisten ihr seine Worte durch den Kopf. Sie konnte es kaum glauben, dass er nicht mehr mit ihr befreundet sein sollte und sich nicht wehrte. Wo sie doch so viel miteinander geteilt hatten.

Die Sache mit Martin schien Arno ernst zu sein. Vielleicht ist jedem seine erste Liebe wichtiger als Jugendfreundschaften, vielleicht würde sie es genauso halten. Zu einem anderen Schluss konnte Elise nicht kommen.

Schließlich traf sie eine Entscheidung. Sie würde einfach vernünftig sein. Um alles andere konnte sie sich nach dem Konzert kümmern, jetzt würde sie sich auf ihr Programm konzentrieren und die Stücke noch sorgfältiger üben. Immerhin würde das große Ereignis schon in anderthalb Wochen stattfinden, und außerdem hingen die Gesundheit ihrer Großmutter und ihre eigene Zukunft davon ab, dass sie hinreißend spielte. Da blieb kein Platz für solche Probleme.

Elises Mutter hatte ihr ein einfaches, aber sehr elegantes Kleid geschneidert. Dichter Crêpe de Chine in Schwarz, schwer fallend, mit einem schmalen, gerade geschnittenen Oberteil, am Hals hoch geschlossen. Das Kleid hatte einen wadenlangen Glockenrock, damit sie beim Spielen bequem sitzen konnte. An der Hüfte war es durch ein breites, glänzendes Ripsband mit Schleife abgesetzt, wie es in den späten 20er Jahren Mode war. Dazu hatte Elise von Louises erspartem Geld ein elegantes Paar schwarze Spangenschuhe aus Kalbsleder vom Schuhhaus Leopold in der Römerstraße kaufen dürfen, die allen ausnehmend gut gefielen. Es waren Elises erste Schuhe mit höheren Absätzen, ein Beitrag der Großmutter zum Konzert und zum Erwachsenwerden ihrer Enkelin.

Louise war ungeheuer gerührt, dass Elise so etwas Wunderbares für sie in Gang gesetzt hatte. Von Rosa Bamberg hatte sie erfahren, dass mit dem Professor der Gießener Augenklinik vereinbart war, die Operation dort schon bald nach dem Konzert vorzunehmen, gleich Anfang Juni. Und was am wichtigsten war: Rosa hatte ihr über Clara, die am Telefon der Schneiderei mit der Stadtverordneten gesprochen hatte, ausrichten lassen, dass sie sich wegen der Operationskosten keine Sorge machen solle. Das sei mit Professor Jess günstig geregelt worden.

Elise fiel ein Stein vom Herzen, weil so das ursprüngliche Ziel der Veranstaltung erreicht war, noch bevor ihr Konzert überhaupt stattgefunden hatte. Und eine weitere Nachricht von Rosa war ihr durch Clara übermittelt worden. Elise machte einen Freudensprung, als ihre Mutter ihr erzählte, dass Bernhard Sekles, Direktor am Hoch’schen Conservatorium in Frankfurt, selbst beim Konzert in Bad Ems anwesend sein würde. Rosa hatte ihm von dem Plan und der außerordentlichen Begabung Elises berichtet. Auch sein wichtigster musikalischer Mitstreiter im Fach Klavier, der österreichische Pianist Fritz Malata, würde am Freitag vor Pfingsten mit nach Bad Ems kommen.

Ungeachtet der extrem schwierigen Finanzlage und politischer Querelen zwischen dem preußischen Kultusministerium und der Stadt Frankfurt gab es vom Konservatorium aus die Möglichkeit eines Patronatsstipendiums. So hatte Bernhard Sekles es jedenfalls Rosa gegenüber erwähnt, und die hatte es Elises Mutter weitergegeben.

Merkwürdigerweise war Elise beim Gedanken an das Konzert nicht aufgeregt. Sie würde ihr Bestes leisten, und alles andere musste sich ergeben. Diesen Spruch ihres Vaters hatte sie von Kindheit an immer wieder gehört und sie wusste: das stimmte. Wenn man sein Bestes gab, entwickelte sich alles Weitere so, wie es für einen gedacht war, irgendwie.

Der Kontakt zu Arno war im Moment völlig abgerissen. Bei Elise war viel enttäuschter Schmerz übriggeblieben über etwas, das sie bei allem Verständnis für seine Verliebtheit doch als Verrat empfand. Er hätte Stellung beziehen müssen, Stellung für sie. Sie war nicht bloß ein jüdisches Mädel, sie war in erster Linie ein Mensch. Das Jüdische war doch nur ein Zufall der Geburt, so jedenfalls sah sie es.

Und obwohl sie die diffuse Ahnung hatte, Arno Unrecht zu tun, blieb vor allem dieses nagende Gefühl einer Ungerechtigkeit gegen sie durch ihren besten Freund zurück. Er war jetzt meist mit Martin zusammen oder mit der Hitlerjugendclique um ihn herum, das bekam sie über ihren Vater mit oder durch andere Abiturienten, die sie gelegentlich in Bad Ems traf.

Im Juni würde Arno nach Frankfurt gehen, so war der Plan. Er hatte sich für ein sechsmonatiges Volontariat als Bühnenbildner bei Ludwig Sievert am Frankfurter Schauspielhaus vorgestellt. Seine Eltern würden ihm diese Möglichkeit finanzieren.

Elise wusste nicht einmal, ob er überhaupt noch zu ihrem Konzert kommen würde. Sie hatte versucht, sich abzulenken, indem sie allein in den Filmpalast gegangen war. Dort wurde der erste große Tonfilm der UFA mit Lil Dagover und Willy Fritsch gezeigt, die »Ungarische Rhapsodie«. Aber allein machte das Kino keinen Spaß, ihr fehlten die ironisch-witzigen Kommentare von Arno, ihr fehlte das gemeinsame Lachen.

Zweimal waren sie sich vor dem Pfingstwochenende zufällig in der Stadt begegnet, und beide Male hatten sie nicht miteinander gesprochen. Es hatte sie ungeheuer geschmerzt, zu merken, wie verlegen Arno wurde, wie er vorgab, sie nicht zu sehen. Noch schlimmer war, als sie beobachtete, wie besitzergreifend Martin den Arm um Arnos Schulter legte und wie triumphierend er zu ihr auf die andere Seite der Römerstraße herüberblickte. Elise hatte Besorgungen für die Großmutter gemacht. Sie kam so bestürzt nach Hause, dass Louise die Niedergeschlagenheit ihrer Enkelin gleich spürte. Auf ihre Nachfrage erzählte Elise, was vorgefallen war.

Louise seufzte.

»Kind, glaub mir: Menschen, die einen nicht wirklich wollen, sind es nicht wert, dass man sich ihretwegen grämt. Und außerdem, wenn eine Tür zugeht, gibt es hundert neue Türen, die man öffnen kann. So ist es immer im Leben.«

Elise brauchte Zeit, bevor sie antworten konnte. Sie blickte auf das alte, schön gerahmte Aquarell mit einer blühenden Rose an der Wand. Es hing neben dem viel benutzten, vom Alter etwas schäbigen Lesesessel der Großmutter. Oft hatte Elise bei ihren vertrauten Gesprächen auf das Bild mit der zartrosa Blüte geschaut.

»Wenn du sehen könntest, wie er mich meidet, Großmutter. Dabei war ich seine beste Freundin. Wir haben über alles gesprochen, wirklich, über alles. Und jetzt tut er so, als ob er mich nicht einmal sieht.«

Die Augen der jungen Frau füllten sich mit Tränen.

»Wieso ist ihm dieser Martin denn so wichtig? Verstehst du das?«

»Er ist eben in ihn verliebt.«

Die Großmutter schien nicht besonders erstaunt zu sein.

»Ich hatte mir schon gedacht, dass Arno sich eher für Männer interessiert, extravagant wie er ist. Früher mussten sich solche Menschen mehr verstecken als heute, aber gegeben hat es sie immer. Wenn Arno Männer liebt, brauchst du das Ganze doch nicht so persönlich zu nehmen, Kind. Als ich meine erste Liebe entdeckt habe, hätte ich auch alles andere dafür stehen und liegen lassen.«

Elise horchte auf. Ihre Großmutter hatte plötzlich so anders geklungen. Eine erste Liebe hatte Louise noch nie erwähnt, also fragte die Enkelin:

»Was ist denn damals passiert?«

Louise strich ihren Rock glatt und setzte sich auf.

»Du kannst dir nicht vorstellen, Elly, wie es früher war, wenn eine junge Frau keinen Mann fand. 1876 war ich immer noch nicht verheiratet, obwohl ich kurz vor meinem sechsundzwanzigsten Geburtstag stand. Zwar kam ich mit dem Lohn als Verkäuferin einigermaßen hin, aber ich galt schon als alte Jungfer. Ich war hübsch, doch ich wollte nicht irgendwen. Meine Eltern haben mir deswegen oft Vorwürfe gemacht. Niemand wäre mir gut genug, ich wäre eingebildet und undankbar. Irgendwann würde ich ihnen als unnützer Esser auf der Tasche liegen. ›Unsere einzige Tochter ein Blaustrumpf!‹, das war ihre größte Angst.«

Die schwere Kränkung über die Vorwürfe ihrer Eltern klang noch heute in Louises Stimme nach.

»Immer wieder haben sie mir erklärt, dass es nun mal die erste Pflicht jeder Frau sei, eine Familie zu gründen und gut zu versorgen. Die Liebe würde dann schon kommen. Ich konnte solche leeren Redensarten nicht mehr hören. Das Schlimme war, irgendwie hatten sie trotzdem recht. Damals war eine Heirat für ein mittelloses Mädchen wie mich der einzige Weg in eine bessere Zukunft. Aber ich blieb bei meiner Einstellung. Es sollte der Richtige sein. Ich wollte einen finden, den ich von Anfang an lieben konnte. Und dann, plötzlich, war er da. Über den Weg gelaufen ist er mir, einfach so.«

Louise atmete tief durch. Die Erinnerung an diese schicksalhafte erste Begegnung überwältigte sie immer noch. Ein Lächeln lag in ihrer Stimme.

»Auf der Römerstraße kam er mir mit seinem schwungvollen Gang entgegen. Wir liefen genau aufeinander zu. Er war auf dem Weg zur russischen Kirche auf der anderen Seite der Lahn, an der Wilhelms-Allee. Früher liebten die Russen Bad Ems. Nun, im Frühjahr 1876 wurde in der russischen Kirche eine prächtige Trennwand zwischen Gemeinde und Altar von Eugen Schrader, dem Hofschreiner des Zaren aus St. Petersburg, eingebaut. Im Juli musste sie fertig sein, zum Besuch des Zaren. Schrader hatte einen Vergolder mitgebracht, einen jungen Balten mit dem Namen Sergej von Borowski. Im April 1876 war das. Damals haben wir uns zum ersten Mal gesehen. Ich wusste sofort: Der ist es.«

Die alte Dame musste noch einmal tief Luft holen. Wie sehr diese Geschichte sie immer noch bewegte, obwohl inzwischen mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen war!

»Groß und schlank war er und stark. Seine glatten, dichten Haare hatten in der Frühlingssonne die blassgoldene Farbe von frischem Löwenzahnhonig. Er trug sie etwas länger, und als er mich ansah, ich war etwas kleiner, fielen sie ihm vor die blauen Augen. Da nahm er die gespreizten Finger der rechten Hand und strich die Haare aus der Stirn nach hinten zurück. Ich sehe heute noch diese rasche und bestimmte Bewegung vor mir. Seine Haut war leicht gebräunt. Ein paar Tage hatte er sich nicht rasiert, seine blonden Bartstoppeln schimmerten hell im Sonnenschein dieses Apriltages, als er mich mit seinen weißen Zähnen anlachte. Am besten aber gefielen mir seine Hände: lang und schlank, fein und doch zupackend. Er hätte Pianist sein können, aber er war Vergolder.«

»Und wie ging es dann weiter? Man lernt sich doch nicht kennen, bloß weil man auf der Straße aneinander vorbeigeht.«

»Na ja, weißt du, Elly, wir Mädchen von damals mögen unfrei gewesen sein, aber dumm waren wir deshalb noch lange nicht. Ich sollte gerade für das Geschäft eine Auswahl von besonders schön bestickten Taschentüchern zur Witwe des englischen Duke Caversham in den Darmstädter Hof bringen. Tja, eines davon fiel mir leider in den Staub der Straße, gerade in dem Moment, als Sergej vorbeikam. Als Kavalier bückte er sich und überreichte mir das beschmutzte Tuch mit einer kleinen Verbeugung. Ich wurde rot und er traute sich, mir in die Augen zu schauen. Sein Blick traf mich ins Herz und dieser einzige Blick reichte auch für ihn, um sich in mich zu verlieben.«

Elise war zwar klar, dass ihre Großmutter den schönen Balten nicht bekommen hatte, sonst würde sie jetzt nicht Sälzer heißen. Trotzdem wollte sie die Geschichte, die Louise offensichtlich so glücklich gemacht hatte, zu Ende hören.

»In diesem Frühjahr haben wir uns oft heimlich getroffen, was in unserer kleinen Stadt sehr schwierig war, zumal der Kurbetrieb mit den Fremden erst ab Mai begann. Aber wir haben Wege gefunden, weil wir es wollten. Im Juni hatte Sergej vor, sich mit mir zu verloben. Vermutlich hätten meine Eltern ohnehin nicht zugestimmt, sie hatten sich eher einen älteren, gut situierten Kaufmann für mich vorgestellt. Aber das wäre mir egal gewesen, ich wäre mit Sergej gegangen. Ende Juni, kurz vor der Fertigstellung der Ikonostase zum Einweihungsbesuch des Zaren, hat Meister Schrader dann Wind von der Geschichte bekommen und Sergej umgehend heim zu seiner Familie nach Riga geschickt. Wir haben uns nicht einmal voneinander verabschieden können.«

Elise räusperte sich heftig, Louise bemerkte ihren Ärger.

»Du musst das verstehen, Kind. Damals waren die Zeiten anders als heute. Ein neunzehnjähriger Adliger war dem Hofschreiner vom Zaren persönlich anvertraut worden. Sergej wollte ein Handwerk bei Schrader lernen, er sollte nicht seine Zukunft durch eine falsche Heirat riskieren. Eine Verlobung mit einer deutschen Jüdin, einem mittellosen Ladenmädel dazu, hätte auch die Stellung Schraders beim Zaren gefährdet. Und dann war da noch der Altersunterschied zwischen uns. Lauter gute Gründe für den Hofschreiner, Sergej zu seinen Eltern zurückzuschicken.«

Louise schluckte.