Franz und das Schwarz - Marius Rehwalt - E-Book

Franz und das Schwarz E-Book

Marius Rehwalt

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Beschreibung

Wenn das Schwarz zum König wird . . . Ein unbekanntes Ereignis bringt die innere Welt von Franz zum Einstürzen und er verfällt in einen tiefen Schlaf. Der Schwarze Mann hat Besitz von ihm und seiner Gefühlswelt ergriffen. Franz muss sich der permanenten Finsternis in sich stellen. Mit Iocus an seiner Seite begegnet er sich selbst und seinen Eigenheiten in Gestalt skurriler Charaktere. Er trifft auf sein Gewissen, die Unzufriedenheit, einen kleinen Blechmann und sieht die Wahrheit als gefangenes Wesen. Franz wird mit seinen tiefsten Abgründen konfrontiert. Es beginnt die Odyssee einer sensiblen Seele durch befremdliche Welten. Erstmals in seinem Leben lernt er auch die Liebe und Zufriedenheit kennen. Wird es Franz gelingen, Frieden mit sich zu schließen und den Schwarzen Mann endgültig aus seinem Geist zu vertreiben?

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Seitenzahl: 279

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Franz und das Schwarz

ImpressumTitelWidmungVorwortFür dichFranz und das EtwasTeil 1Rückwärts, blind mit SelbstjustizFinsterwaldMiss AlmadeamorDer PythagoräerFlaschenpostFlaviusDer BasiliskHang zur MisanthropieDas schwarz-weiße HausZwei Mal sehenTeil 2Das VerlangenKadavergehorsamDas OxymoronBigotterie und VerumMaskenball mit Marie AntoinettePhilanthropie durch surreale EidetikDie AvantgardeDer BlechmannKalibanUnter der ErdeTeil 3Das Summen des Funkens (Dechiffriert)SegelnDevot bis zum HerzstillstandVagabund der Anderswelt (Reformation des Geistes)Ich rufe dichDie Einsiedler (eine unbekannte Zeit)Herkunft bestimmter Figuren und ihrer NamenDanksagungDer expressive ExtremistÜber den Autor

Impressum

Originalausgabe

1. Auflage 2021

© 2021 by Marius Rehwalt

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Herausgeber

David Walther

Dornblüthstraße 21

01277 Dresden

0173 3714104

Umschlaggestaltung und Motiv: Marius Rehwalt

Für Fragen, Anregungen, Buchungen und Presse:

David Walther

0173 3714104

Instagram: mariusrehwalt

Mail: [email protected]

mariusrehwalt.com

Druck (Taschenbuch): epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Marius Rehwalt

Franz

und das

Schwarz

Eine

surreale

Erzählung

Gewidmet meinem Opa.

Vorwort

Geschrieben 2017 während einer elfwöchigen, stationären Therapie und in den darauffolgenden zwei Monaten.

Aufgezeichnete, wirre Ideen. Neuorientierung eines alten Körpers zu einem neuen Leben.

Mein wichtigstes Anliegen bei der drei Jahre später erfolgten Überarbeitung dieses Werkes war es, die kindliche Not, in welcher wir uns befinden, wenn wir uns unzulänglich, minderwertig, falsch, angegriffen oder Ähnliches fühlen, möglichst zu erhalten. Eine Depression ist an vielen Stellen nicht rational. Auch ich fühlte mich in vielen Momenten nicht einfach nur hilflos, sondern wie ein ausgeliefertes Kind. Handlungsunfähig, nervig und überflüssig. Fragen, die ich mir stellte, empfand ich selbst als dumm. Gefühle, die ich hatte, erachtete ich als überbewertet. Ich hoffe, trotz – oder gerade wegen – der langen Pause zwischen den Überarbeitungen zwei wichtige Dinge vereint zu haben: die naive Sprache und meine Emotionen aus der damaligen Zeit, in der ich oft nichts anderes als weinen oder sterben oder wenigstens in eine einsame Dunkelheit verschwinden wollte. So hoffe ich aber auch, Textstellen und Sätze, welche gänzlich aus dem Raster gefallen sind, womöglich nicht klar oder sprachlich ästhetisch waren, gut stilisiert zu haben. Mein Ansporn war, einen Feinschliff ohne zu tiefen Einschnitt vorzunehmen, um für intensive Vorstellungen und einen angenehmen Lesefluss zu sorgen, aber auch Interpretationsspielraum zu geben.

Daher möchte ich mich schon hier für jede Minute und die Geduld bedanken, welche Senta Herrmann auch diesem sensiblen Werk geschenkt hat. Ohne sie wäre Franz und das Schwarz noch lange nicht bereit, präsentiert zu werden. Für mich persönlich möchte ich damit einige Kapitel meines Lebens als abgeschlossen betrachten.

Ich danke jedem, der sich mit diesem Werk und seinen Gedanken, aber auch dem Entstehungsprozess sowie dem Warum und Wie auseinandersetzt.

Euer Marius, Dresden, 2021

Für dich,

die mich kriechen ließ

am dunkelsten Orte meiner Seele.

Die mein Denken und Fühlen verformte,

meinen Geist masochistisch quälte.

Nahmst mir Hoffnung, Liebe und Kraft,

bis ich als Würde beschwor

meines Leibes Nekrose.

Doch hör genau hin, 

verkneife höhnisches Lachen!

Dich zu hassen 

bleibt nicht mein einziges Wachen.

Ebenso Liebe und Dankbarkeit

sind in mir für dich

in Flammen entfacht.

Lehrtest mich Kämpfen und Menschlichkeit,

Verständnis und Einfühlen für andere Schwache.

Jetzt steh’n wir im Ring, 

du ganz in Waffen;

ich muss allein

und nackt hier erschein’.

Doch höre mit mir

das Summen des Funkens.

Der letzte Ton

ist noch nicht erklungen.

Krieg frei, liebe Dysthymia!

Franz und das Etwas

Jeder schätzte, dass der kleinste Windstoß Franz davontragen würde. Klein und hager kam er daher. Seine dünnen Ärmchen hingen ihm wie Streichhölzer links und rechts seines leichten Buckels herab. Schlapp, als könnten sie sich niemals von selbst bis zu den Schultern erheben.

Keiner konnte mehr genau sagen, was ihn zu seiner plötzlichen Reise animiert hatte, doch es war nichts Gutes gewesen. Vielmehr etwas Schmerzliches, etwas, das sein Leben und seine Befindlichkeit so ins Wanken gebracht hatte, dass es in ihm zum Überlaufen gekommen war.

Seine Welt bestand schon lange aus einer Art schwarzem Schleim, den er seit vielen, vielen Jahren in seiner Brust mit sich herumschleppte. Er sah die Welt in Grau. Egal wie farbig er sie sich ausmalte, wie sehr er auch mit Pinsel und Stiften versuchte, sie bunter zu gestalten, das Grau bestimmte seinen Alltag. Mit dem Einbruch des großen Unglücks breitete sich die Schwärze weiter aus. Sie ergriff von ihm Besitz und übermannt ihn. Von seiner Brust aus wuchs sie und wuchs sie wie ein seelisches Krebsgeschwür, für das es keine Heilung zu geben schien. Bald war die Welt nicht mehr grau, sondern pures Schwarz. Seine Adern pulsierten schwarze Masse durch Herz und Hirn.

Doch in der hintersten Ecke seines Herzens gab es ein Fünkchen, tausendmal kleiner als die Spitze einer Stecknadel. Einen Funken aus purer Liebe. Es war seine Liebe zu den Menschen, zu seiner Familie, zu seinen Freunden. Und zum Leben. Das Leben war schön. Das hatte er immer gewusst, nur das Gespür dafür allmählich verloren. Sein Funke aber hatte ihn nun zum Aufbruch bewogen. Zu einer Reise tief in sich. Um den Funken zu entfachen und das Schwarze aus sich zu vertreiben.

Und so war er in jener Nacht ruhig eingeschlafen und hatte die Wanderung begonnen …

Teil 1

Der Weg

Pures Schwarz zerfrisst mich ganz,

ich taufe mich in Traurigkeit.

Rückwärts, blind mit Selbstjustiz

verlauf ich mich im Finsterwald.

Ich sehne mich zurück

nach etwas, das ich nie gekannt.

Nach einem alten Licht,

welches tiefer in mir brennt.

Doch nur noch dessen Glut

leise im Wind kämpft.

In meinem toten Körper

ist nichts als diese Leere.

Es kreist umher ein stummer Schrei,

ein alter Virus um sich greift.

Mit Widerhaken zieht

die Welt an meiner Haut.

Es rinnt das Blut, es beißt der Schmerz,

ich bin verwirrt geboren.

Pures Schwarz zerfrisst mich ganz,

ich taufe mich in Traurigkeit.

Finsterwald

Franz stand auf einem kleinen Hügel. Die Wolken hingen schwer über ihm. Grau und fahl zogen sie am Himmel nach Osten. Das Gras war welk, nirgendwo sah er eine einzige Blume. Vom Hügel ging ein geschwungener Pfad hinab, an dessen Fuß einst ein kleines Rinnsal verlaufen war. Die Brücke, die Besucher hinüberbringen sollte, war zerbrochen und abgebrannt, als hätte jemand den Weg in den dunklen Wald dahinter versperren wollen.

Hoch über dem Wald sah Franz einige Raben und Krähen ihre Bahnen ziehen. Hin und wieder hörte er ein leises würgendes Gurgeln.

Langsam bewegte Franz sich auf den Wald zu.

Dieser schien nicht still. Irgendetwas an ihm wirkte, als befände er sich in ständiger Bewegung. Die grauen Bäume, die Büsche … Nichts schien standhaft an einem Ort zu verweilen. Kurz hielt Franz inne und mit einem Mal war alles ruhig.

Seltsam, dachte Franz. Einige Augenblicke blieb er stehen und betrachtete den schwarzen Wald, ehe er weiter auf die Brücke zuging. Zwischen seinen Beinen huschte etwas hindurch. Er erschrak und sprang einen Schritt zurück.

Zitternd suchte er den Boden ab. War es ein Tier?

Nach einigen Momenten der erfolglosen Suche beschloss er, die Sache auf sich beruhen zu lassen, und nahm wieder seinen Kurs auf.

Wenige Meter weiter kreuzte ihn wieder etwas zwischen seinen Beinen. Als er abermals zurückwich, tippelte es erneut vorbei. Nach einer kurzen Zeit wieder. Und wieder und wieder und wieder. Es entstand eine kleine Staubwolke auf dem trockenen Pfad. Eine feine, piepsige Stimme drang an seine Ohren.

»Hallo, Znarf!«

Franz weitete die Augen. Wer? Znarf? Wer soll Znarf sein?, fragte er sich.

»Na, na. Nicht so schüchtern, lieber Znarf«, fuhr das Stimmchen fort.

Allmählich legte sich die Staubwolke und Franz erkannte ein kleines, nacktes Tierchen. Es hatte ungefähr die Größe einer Ratte, besaß jedoch kein Fell. Seine Augen wurden von einer großen Fettschicht überdeckt, die in einen schmalen Rüssel überging. Es stand auf vier dünnen Beinen mit hühnergleichen Füßchen und hatte obenauf zwei kleine Flügel, ähnlich einer Stubenfliege. Die nackte Haut war rosa-grau.

»Hallihallo, mein lieber Zarf. Warum denn nur so schreckhaft? Bin doch klein und fein. Was soll ich schon tun gegen dich so großen Mann?«

Franz fand langsam wieder zu seiner Sprache. »Was bist du? Und warum sagst du meinen Namen falsch herum?«

»Doofe Fragen, dumme Fragen. Sinnlos! Was geht nur in dir vor?«

»Nichts ist dumm. Macht es dir Spaß, mich zu beleidigen? Das find ich unerhört. Wo bin ich hier? Es ist so kalt, so grau. Noch grauer als die Wirklichkeit.«

Das kleine Wesen erhob sich und flog um ihn herum. Franz hatte alle Mühe, ihm zu folgen und es nicht aus den Augen zu verlieren. Nach zwei, drei Runden setzte es sich wieder auf den Pfad, spreizte die Hinterbeine weit auseinander und stieß einen großen Seufzer aus.

»Ach, herrje! Das kann was werden. Wo –«

»Hörst du wohl auf! Beantworte seine Fragen, ob dumm, ob schlecht! Schnell, bevor die Nacht einhält!«, schmetterte eine erhabene weibliche Stimme aus dem Nichts und ließ den Boden erbeben.

Franz fuhr zusammen und sank auf seine Knie. Die Hände hielt er sich schützend über den Kopf.

»Ja, ja. Ich mach ja schon. Immer hat sie was … Immer schreit sie … Was ist sie nur so hart?«, brabbelte das Wesen in sich hinein.

Franz blickte es fragend an, die Arme immer noch abwehrend erhoben.

»Nun gut, du Albermann. Ich will dir sagen, wer ich bin. Ich bin Iocus. Doch was ich bin, kann ich nicht sagen. Das weißt nur du allein. Und wo du bist? Was denkst du denn? Streng dich nur an!«

Franz nahm seine dünnen Ärmchen herunter und schaute sich um.

»Es ist so trostlos hier. So kalt, so rau. Alles seh ich nur in Grau.« Franz sackte ein wenig in sich zusammen und wirkte umso buckliger. »Dies hier muss mein Herz wohl sein. Ich kann es mir nicht anders denken.«

»Oh, oh, oh! Du kleiner Narr. Dein Herz? Dein Herz so grau? Dies hier ist für dich grau? Durfte lange nicht in so freudvollen Gegenden spazieren. Niemals ist dies dein Herz. Bis dahin ist’s noch weit. Dunkler, schwärzer, bis du nichts mehr siehst! Bist du einmal in deinem Herzen, wirst du nur tastend kriechen. Aber hui, du hast mich gar zum Schmunzeln wohl gebracht, hab Dank. Rat ruhig weiter, nur folge mir derweil! Die Alte macht mich sonst nur mürbe, wenn wir zu spät nach Hause kehren.«

»Wohin gehen wir?« Langsam stand Franz auf und blickte in den Wald. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinab.

Das Wesen setzte zum Fluge an, umschwirrte ihn und stupste ihn dann zum Gehen. Franz gehorchte und lief los. Langsam und bedächtig durch die welken Gräser. Iocus setzte sich auf seine Schulter.

»Ach, kleiner Znarf, ich mag dich doch irgendwie. Siehst so elend aus. Bist so allein. Aber das wird nicht immer sein.«

Bei jedem Schritt, den Franz auf den Pfad setzte, sah er es jetzt sicher. Die Bäume des Waldes schoben sich hierhin, dorthin und kurz danach wieder woandershin. Bäume, die erst vorn gewesen, rutschten nun nach hinten. Von links nach rechts, es gab nur Ruhe, wenn auch Franz innehielt. Mulmig wurde ihm davon. Iocus schien genau in diese Richtung zu wollen, hinein in diesen dunklen Wald.

Die kleine Brücke ließ er rechts von sich liegen, der Bachlauf war ohnehin ausgetrocknet. Zwei, drei Meter stieg Franz hinab, übersprang die großen Steine und kletterte auf der anderen Seite wieder hinauf.

Überall krächzte es, gurgelte, knackte und rumorte. Auch die Raben und Krähen schrien immer wieder wütend. Der Wald war so dicht bewachsen, dass Franz sich fragte, wie er hindurchkommen sollte. Iocus flog von seiner Schulter bis zur anderen Seite der Brücke. Dort hielt er an und deutete zwischen die Bäume.

»Hier geht’s lang, du schlaffer Bub. Los, los, bald tönen schon die Schatten!«

Franz hatte das dumpfe Gefühl, dass alles, was das kleine Wesen sagte, höhnisch, gar spöttisch war. Fieberhaft überlegte er, was es wohl für ein Wesen sein könnte. Doch im Moment fiel ihm nichts ein. Er verscheuchte den Gedanken und besann sich seines Weges. Er folgte Iocus, der schon vorweg zum Waldrand geflogen war. Dort stand er nun vor einem schmalen Weg ins Reich des Morbiden. Franz konnte nur zehn oder zwanzig Meter weit in den Wald hineinschauen, dahinter lag tiefe Dunkelheit. Die Bäume umschlossen den Pfad zu allen Seiten, bildeten einen Tunnel und ein Dach aus morschen und vertrockneten Ästen. Die Geräuschkulisse wurde immer lauter, immer bedrohlicher.

Am Anfang des Weges erkannte Franz deutlich eine Linie auf dem Boden. Eine Art Grenze. Irgendwer muss sie mit einem Stock gezeichnet haben, schlussfolgerte Franz.

»Und? Haben wir es nun? Ich würd gern los. Nun komm!«

Franz nickte kurz und setzte seinen Fuß über die Linie. In diesem Moment drehte es ihn einmal um sich selbst, bis er wieder auf die Brücke schaute. Herumdrehen konnte er sich nicht. Er wollte zurücklaufen, den Strich erneut Richtung Brücke und Hügel überschreiten, aber auch dies blieb ihm versagt. Jeden Schritt, den er setzte, lief er rückwärts.

»Was ist hier los? Hilf mir doch, du freches Wesen!«, schrie Franz und stand den Tränen nahe.

»Habe nicht immer so viel Angst. Da musst du durch! So ist dein Finsterwald. Er macht, was er will. Oder was du wohl willst? Wer weiß das schon genau? Wirst du schon noch erfahren. Laufe nur, der Wald wählt heute deinen Weg. Ich schaue schon, dass du nicht fällst – über Wurzeln oder was dich sonst noch quält.«

Iocus krallte sich einen Zipfel seines Hemdes und zog an ihm. 

Es war ein Graus für Franz’ Kopf. Jede Bewegung, die er machte, trieb ihn einen Schritt nach hinten. Dahin, wo er keine Augen hatte, immer tiefer in die verstörende Finsternis hinein. Schon nach wenigen Schritten schloss sich vor ihm das Dickicht. Die Brücke war weg, der kleine Hügel verschwunden. Düster war es nun geworden und seine Blicke huschten nervös hin und her. Aber er setzte weiter seine Schritte, einen nach dem anderen.

Manchmal versuchte Franz, hinter sich zu blicken, doch er konnte nicht weit sehen. Er sah nur, wie der Wald sich weiter wandelte und einen Weg freigab. Lange konnte er so nicht gehen, ehe ihn sein Nacken schmerzte.

Nach einer ganzen Weile glaubte Franz, dass es ein wenig heller wurde. Der Wald war in ein tiefes, dunkles Blau getaucht, dem sich ein Hauch von Lila untermischte. Die Bäume blieben weiter fahl, grau und wie abgestorben. Einige wirkten, als ob hier und da ein Feuer gebrannt hätte. Manchmal meinte er sogar, noch eine Glut oder einen dünnen Rauchschwaden zu sehen. Er war sich dessen aber nie ganz sicher. Zu viel Bewegung befand sich im Geäst.

Plötzlich stolperte er und stürzte auf den Rücken. Er stieß sich den Kopf und schrie auf. Als er sich aufsetzte, erkannte er eine Wurzel, die dick war wie ein Oberschenkel.

»Warum hast du nichts gesagt, Iocus?«

Das Wesen schaute ihn dümmlich an und schwieg. Zwischendurch zuckten kurz seine dünnen Flügel.

»Hey, ich rede mit dir! Was soll das? Du kannst doch alles sehen und geradeaus fliegen. Warum legst du mich so herein?« Franz wurde sauer. Dieser Ort, so fremd und gespenstisch, ein Wesen mit einem seltsamen Namen … Ihm wurde das alles viel zu viel.

Doch in diesem Moment lachte das Wesen lauthals los. Es rollte sich auf seinen Po, landete auf dem Rücken und lief purpurrot an.

»Hihihi … hohoho …«

»Was gibt es da zu lachen? Hast du das mit Absicht gemacht? Mich eiskalt über diese Wurzel stolpern lassen?«

Iocus wurde lauter, lachte und gluckste. Tränen kullerten aus seinen Augen, unter dieser dicken Fettschicht hervor.

Franz stand auf und wollte das Wesen fassen, es ergreifen und schütteln. Doch es war zu flink. Es schnellte hoch und umsurrte ihn weiter lachend. Franz ballte seine kleinen Hände zu Fäusten und senkte seinen Blick.

Nach einer ganzen Weile sagte er: »So langsam weiß ich, was du wohl für ein Wesen bist. Du musst der Argwohn sein. Nichts andres fänd’ ich passend.«

Augenblicklich hörte das Wesen auf zu lachen und zu surren. Gerade noch war es hinter Franz, nun setzte es sich vor ihm hin.

»Oh, er spricht also auch mal ein paar kluge Sätze. Ja, ja, so in der Form hat mich auch das Weib betitelt. Bist der Zweite, der das sagt. Ach, i wo! Damit kann ich wohl leben. Was ist schon dabei, am Leid der anderen? Am Unglück, hä?«

»Das ist nicht schön. Das tut den anderen weh. Wenn nicht körperlich, dann wohl im Herzen. Wer kann dir sagen, wer nicht schlafen kann – wohl wegen deiner Taten? Ich finde dich entsetzlich, nun, wo ich dein wahres Gesicht erblicken musste.«

»Bist du wohl still? Halt die Fresse!« Das Wesen wurde wütend und wuchs pulsierend heran, bis es Franz um mehrere Köpfe überragte.

Seine Stimme war nun nicht mehr piepsig, quiekend böse traf es eher.

»Bist du wohl selbst schuld, du Nichtsnutz! Hast den Schwarzen Mann gewähren lassen, der alles infizierte. Früher war ich lustig, witzig. Jeder wollte mit mir lachen. Fell hatte ich und große Augen. Sieh mich an, was mit mir passierte! Aus Humor hast du den Argwohn geboren. Tölpel! Wie sehn’ ich mich zurück nach wahrem Witz!«

Franz beruhigte sich. Ihm erschien nicht alles klar, doch er bemerkte, dass das kleine Wesen auf eine Art recht hatte. Er spürte, dass es mit Grund nicht erfreut über seine Worte war.

Und so entschuldigte sich Franz höflich bei dem Argwohn.

»Nun gut. Ich nehme sie an, deine Entschuldigung. Es sei verziehen. Aber merk dir eins, mein lieber Znarf, verletz’ hier niemanden! Du hast sie alle so gemacht. Du hast sie sich so verwandeln lassen.«

»Gut, mein Freund. Es tut mir leid.« Franz reichte Iocus seine Hand.

Iocus schlug mit seiner kleinen Pranke ein und pulsierte sich kurz darauf wieder auf seine eigentliche Größe.

Ab diesem Moment machte der Argwohn hin und wieder einen kleinen bösen Witz. Meist, um sich über ihn oder irgendwelche Bewohner dieser Welt, die Franz aber alle unbekannt waren, lustig zu machen. Hier und da schmunzelte er mit oder machte auch einmal den einen oder anderen Witz. Aber natürlich meist über sich selbst. Er machte sich nicht gern über andere lustig, wusste er doch zu gut, wie es sich anfühlte, das Opfer von Hohn und Verachtung zu sein. Gleichermaßen erschrak er über sich, da ihm dennoch hin und wieder etwas einfiel, was er bei anderen abwertend oder spöttisch betrachtete. Und so war er gespalten in seinen Reaktionen, sein guter Geist mochte die Späße des Argwohns zumeist wirklich nicht, nein, sie missfielen ihm regelrecht. Doch dann pochte etwas Fremdes in ihm auf und er musste schmunzeln.

Wo kommt das nur her?

Immer wieder sprach der Argwohn über ein altes Weib, zu dem sie hinmüssten. Sie könne an jedem Ort mit Franz und auch den anderen Wesen in dieser Welt reden.

»Sie sieht alles!«, sprach Iocus ganz frei heraus.

»War sie die laute Stimme vorhin, als du mir nicht hast antworten wollen?«

»Ja, ja. Das war sie. Denk nur scharf nach! Du weißt, wer sie wohl ist. Ist geprägt von Urbeginn. Kann dir Hinweise geben, Korrektur, Anmerkungen wohl. Kommt nur nicht raus, muss bleiben drin in ihrer Hütte. Der Schwarze Mann vertreibt sie sonst. Ach, was sag ich! Auslöschen würde er sie, wenn sie nicht bliebe im Licht.«

Franz hatte keine Ahnung, wer sie sein sollte. Er zermarterte sich den Kopf, entschied dann aber, dass es ihm nichts brachte. Wenn er sie sah, würde er sie fragen. Und wer oder was war eigentlich der Schwarze Mann?

So liefen sie weiter und weiter. Franz nach wie vor rückwärts, Iocus schwebte vor ihm, hinter ihm oder neben seinem Kopf. Gelegentlich setzte er sich auf seine Schulter, wenn er müde schien vom Fliegen. Manchmal aber hockte er auch auf Franz’ Kopf. Immer so, wie es ihm gerade beliebte. Es wurde immer dunkler und Franz fragte sich, wie lange sie schon gingen. Doch sein Zeitgefühl hatte ihn vor einigen Stunden schon verlassen. Der Argwohn achtete nun genau darauf, Franz immer rechtzeitig zu warnen, damit er nicht noch einmal fiel. Auch wenn man dem Argwohn anmerkte, dass es in ihm brannte, Franz noch ein weiteres Mal zum Stolpern zu bringen.

Dann endlich quiekte das Wesen von seinem Kopf: »Wir sind da. Miss Almadeamor, Miss Alma, wir sind da!«

Über seine Schulter sah Franz eine kleine Hütte. Sie hatte die Form eines Dreiecks, war zwei Mann hoch. Die Dachseiten reichten bis in die Erde und waren mit Moos, Gras und einem kurzen, dünnen Bäumchen bewachsen. Eine kleine, bucklige Esse befand sich im hinteren Bereich des Daches. Vor der Hütte sah Franz eine Veranda, deren Geländer an einigen Stellen gebrochen war. In der ihm zugewandten Dachseite gab es ein Fenster. So klein, dass Franz nicht einmal seinen Kopf hindurchstecken könnte. Ein schwaches, warmes Licht strahlte aus dem Inneren.

Franz wurde von einem Moment zum anderen bitterkalt. Er zitterte und schwitzte gleichzeitig. Seine Bewegungen wurden immer langsamer, er schien Stück für Stück einzufrieren. Dann hörte er etwas, das alles in ihm zusammenfahren ließ. Ein Tuscheln. Ein Raunen. Zähne klapperten und Sabber hörte er triefen.

»Rrrrmph … Rrrrmmmph …«, machten tausende Stimmen in unterschiedlichen Höhen und Stimmlagen.

Andere raunten und zogen immer wieder geräuschvoll die Nase hoch. Gequälte Schreie mischte sich dazwischen.

»Schnell!«, schrie der Argwohn Franz an und zog an ihm. »Die Schwärze hat sich gleich geschlossen. Schnell, nun komm!«

Franz stürzte die Veranda hinauf, kam ins Fallen und rollte rückwärts über seinen Kopf. Eine Tür wurde zugeschlagen und Franz verfiel in Düsternis.

Miss Almadeamor

Als Franz sein Bewusstsein zurückerhielt, umschloss ihn eine sommerliche Behaglichkeit. Wohltuende Wärme durchströmte ihn aus seiner innersten Tiefe heraus, benetzte sein Herz und seine Haut und entspannte sanft seine Glieder.

Verschwommen blickte er sich um, konnte jedoch so gut wie nichts erkennen. Er rieb sich die Augen. Alles wirkte doppelt. Die Umrisse pulsierten, waren mal nah und dann wieder fern. Alles drehte sich und stand auf dem Kopf, ehe es sich wieder entfernte. Auch sein Empfinden, ob er lag oder saß, schien ihn zu trügen. Als würde er auf dem Kopf stehen, tastete er um sich und spürte, dass er in eine riesige aufgeplusterte Decke gehüllt war.

Allmählich sah er erste schärfere Konturen und nach und nach erkannte er, dass er sich in einem großen Raum befand. Das Bett stand in der Mitte des Zimmers und er lag mit dem Rücken zu einer Eingangstür. Vor ihm zeigte sich ein kleiner Kamin mit einer Kochstelle. Rechts daneben hockte eine alte Dame auf einem antiken Hocker. Der Rest des Raumes quoll über von Bücherregalen, deren Inhalt wohl geordnet schien. Überall sah man Kärtchen mit Buchstaben und Verweisen.

»Miss Alma! Miss Almadeamor! Er ist munter.« Iocus setzte sich vor Franz auf die Decke und schaute ihn höhnisch an.

»Wo bin ich?«

Die Dame streckte sich und stand mit quietschenden und knarrenden Gelenken auf. Sie ergriff ihren kleinen Stock, der wie eine geschwungene Wurzel aussah, aber am oberen Ende den Kopf eines Franz unbekannten Tieres hatte. Es besaß scharfe Augen und spitze Zähne.

Dann drehte sie sich um und schaute ihn liebevoll an. Ihre Augen beanspruchten die Hälfte ihres Gesichtes. Darunter war eine winzige Brille auf einer noch winzigeren Nase. Der Mund schien nur ein kleiner Strich, kaum wahrzunehmen zwischen den vielen Falten. Ein dennoch breites Lächeln setzte sie auf, als sie sagte: »Oh! Das ist gut. Nur gut.«

Sie wackelte mit kleinen Schritten zu einem Regal, zog ein Buch heraus, dann ein weiteres und noch ein drittes; schlurfte zum Kamin, gab einen Pfiff von sich und von der Decke fielen zwei Tassen. Sie nahm das erste Buch und goss daraus eine teeartige Flüssigkeit in die Tassen. Dann packte sie das zweite und dritte Buch und wiederholte die Prozedur. Franz konnte nicht erkennen, was es war. Als sie fertig war, kam sie zu ihm, gab ihm eine Tasse und setzte sich wieder auf den kleinen Hocker.

»Trink nur fein! Trink, trink!«

Iocus schwirrte an den Buchreihen vorbei. Hin und her, hoch und runter, brabbelte vor sich hin und kam dann wieder zurück. Franz war geistig noch nicht anwesend. Er war weg. Sehr weit weg. Doch konnte er den Ort, an dem er sich gerade befand, nicht genau definieren. Als wäre er aus mehreren Stockwerken direkt in seinen Körper gefallen und sein innerer, geistiger Körper bei seiner Rückkehr ins Hier und Jetzt auf seinen fleischlichen geprallt.

Iocus stupste ihn und animierte ihn zum Trinken. Er nahm einen Schluck von seinem Tee und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Bitter und sauer schmeckte das Getränk der alten Dame. Doch als er es hinunterschluckte, wurde es süß und warm. Er trank die ganze Tasse in einem Zuge aus und schien plötzlich voll bei Sinnen.

Unvermittelt stand er auf und ging ein wenig umher. Irgendwie fühlte er sich für den Bruchteil eines Momentes fast schon gut. Es war ungewohnt für ihn. Er verscheuchte das positive Gefühl und kehrte wieder zur inneren Unruhe zurück, die ihn schon so lange umtrieb. Franz setzte sich auf die Bettkante und schaute das Mütterchen an.

»Na, Znarf? Tat dir der Tee gut?«

»Oh ja! Es war fast schon beängstigend, liebes Mütterchen. Etwas, dass ich lange nicht mehr verspürt habe. Eine Freiheit von schlechten Gedanken. Wie eine Freundlichkeit zu mir selbst.«

»Ich kann mir gut vorstellen, dass das sehr ungewohnt und fremdartig für dich war. Darum habe ich dir auch einen nicht so starken Tee gemacht. Das hättest du noch nicht vertragen. Zu lange schon trägst du deine Last.«

»Er war sehr lecker. Vielen Dank.«

»Nun, nichts zu danken, kleiner Znarf!«

»Warum sagt ihr alle Znarf zu mir? Das verstehe ich am wenigsten bisher. Und was waren das für grässliche Geräusche, bevor ich hier in dein Haus eintrat?«

Das Mütterchen erhob sich, nahm den kleinen Hocker und kam näher an ihn heran. Dann setzte sie sich wieder und stöhnte kurz auf.

»Ach! So viele Fragen. So viele Fragen. Nun, wo fange ich am besten an? Iocus, was sagst du?«

»Eh, am besten am Ende, Miss Almadeamor, hihi, hihi.«

»Du bist albern. Wird Zeit, dass du wieder der Alte wirst.« Sie schüttelte den Kopf und dachte einige Momente nach, ehe sie begann: »Wie geht es dir, lieber Znarf?«

»Gerade eigentlich recht gut. Ich spüre eine angenehme Wärme in mir. Nicht ganz so vertieft in meiner Unruhe wie sonst.«

»Nein, nein. Nicht jetzt. Gerade bist du sicher. Kein Problem kann dich hier erreichen. Mein Haus ist ein Schutz. Eine Barriere, die auch der Schwarze Mann nicht zu durchbrechen vermag. Nur waren meine Freiheiten früher weitaus größer. Und nicht nur das: Eigentlich gab es überhaupt keine Grenzen für mich. Und es gab ein reibungsloses Leben zwischen dir und mir. Zwischen allen Bewohnern deines Geistes. Dann aber kam der Schwarze Mann. Und er empfand vieles als schlecht. Als erdrückend und nicht lebensnützlich. Da du ihn hast gewähren lassen, nahm er Stück für Stück alles, was er konnte.«

»Das ist viele Jahre her, habe ich recht?«, fragte Franz traurig.

»Oh ja. Deine Bewohner leiden. Viele sind nicht mehr da. Viele sind gestorben. Sind vom Schwarzen Mann und seinen Schergen vernichtet worden. Manche nur vertrieben, so wie ich. Manche wurden in ihrer Art und ihrem Denken manipuliert, so wie der kleine Argwohn.«

»Wer bist du? Was hat der Schwarze Mann gegen so ein liebes, kleines Mütterchen?«

»Ich bin dein Gewissen. Versuche dir zu helfen, dich zu schützen. Habe dem Schwarzen Mann eine Einschränkung gesetzt. Hinten im Jammertal. Da hatte er einen kleinen Tümpel. Den Tümpel der Trauer. Aber die Hindernisse hielten nicht. Du hast sie geöffnet und so hat er sich nach und nach ausgebreitet. Mich hat er als Erstes bedroht. Wenn die Dunkelheit sich einschleicht jede Nacht, kann ich nicht raus. Würde ich auch nur die Hand nach draußen stecken, würde es mich von innen zerfressen.«

»Was ist so schlimm an dir? Ich verstehe es nicht.«

»Vielleicht war ich zu streng? Obwohl, nein. Das glaub ich nicht. Er wollte einfach volle Macht. Und nicht mehr eingepfercht in einem dreckigen Tümpel leben. Er möchte dich regieren. Deine Trauer ist sein Leben.«

»Was kann ich dagegen tun?«

»Oh, das ist nicht leicht. Aber du bist hier. Das ist gut. Der erste Schritt wird sein, dass du es glaubst.«

»Was soll ich glauben?«

»Dass er da ist. Dass er real ist, tief in dir. In deinem Sein. In allem, was du bist.«

»Der Schwarze Mann?«

»Ja, genau der.«

Franz sah sich um und ging zum Fenster. Als er sich direkt davorstellte, wich er zurück. Grüne, gelbe und scharfe rote Augen sahen ihn an. Ohne Körper. Alles andere war pure Nacht.

»Keine Angst. Die Schergen kommen hier nicht rein. Die Moral hält weiter stand.«

Er ging rückwärts zum Mütterchen und drehte sich erst bei ihr wieder um.

»Warum muss ich glauben, dass er ist?«

»Weil er dich sonst ganz bekommt. Sonst hast du keine Angst. Siehst keinen Sinn darin, ihn zu bekämpfen.«

Franz sank auf den Boden und igelte sich ein. Er fing bitterlich an zu weinen und wippte leicht hin und her. Er weinte leise. Doch jede Träne schnitt eine tiefe Wunde in sein Herz. Es war, als wäre es schon seit vielen Jahren vertrocknet. Als liefen die Tränen mit ihrem Salz in all die Risse und brannten wie Feuer darin. Er weinte lange. Und erst, als er nicht mehr konnte, weil seine Augen schmerzten, hörte er auf. Das Mütterchen gab ihm einen neuen Tee und streichelte ihm über den Kopf.

»Der Schwarze Mann hat sehr viel Macht. Er ist ein Tier. Er ist besessen von Trauer und Gier nach Selbstmitleid«, sprach das Gewissen ernüchternd.

»Er war es all die Zeit, der mich so kriechen ließ ganz tief unter der Erde.«

»Das hast du gut erkannt. Doch du hast nun einen Namen. Mit einem Namen lässt sich besser kämpfen. Und du musst kämpfen, bis er nur noch eine Träne in einem weggeworfenen Taschentuch ist.«

»Sag mir, Mütterchen: Bin ich ein schlechter Mensch?«

Wieder tätschelte sie ihn am Kopf. »Ach wo! Wer sagt denn sowas? Du hast es nicht gewusst. Das hast du nie. Hast auch die Schleusen nicht mit Wissen oder Macht geöffnet. Es ist einfach nur passiert, hast ihn einfach gewähren lassen. Dazu kommt der größte Feind, die Unzufriedenheit. Sie erst hat den Schwarzen Mann verführt, nach mehr Macht sich auszustrecken. Es ist ein Zusammenspiel von so vielen Dingen, Erlebnissen und Gefühlen. Es ist schwer durchzublicken, wie genau alles entstand. Aber ich habe dich die Jahre über gesehen. Du hast dich lange sehr gewehrt. Ich bin sehr stolz auf dich. Hast Großes auch erreicht. Doch diese Pest, dieser Krebs, er war zu machtvoll.«

»Und? Ist es jetzt zu spät?«

»Für manche, ja, wie ich schon sagte. Viele hatten nicht die Kraft. Sie sind auf halbem Wege wohl verloren gegangen. Aber für dich? Niemals. Hör nur hin, sei ganz still!«

Und so lauschte Franz in die Stille und tatsächlich: Ganz leise hörte er einen feinen, glockenartigen Singsang. Er hörte ihn nicht mit seinen Ohren. Er hörte ihn mit all seinen Sinnen und besonders mit seinem Herzen. Aber er schien unendlich weit weg zu sein. Gar nicht auf diesem Planeten, so kam es Franz vor.

»Was ist das? Es ist schön.«

»Das ist dein Funken.«

»Mein Funken?«

»Ja, dein Leben. Deine Liebe, deine Freude. Dein ganz eigenes Glück.«

»Es ist noch nicht erloschen?«

»Es kann niemals ganz erlöschen, nur mit dem Tode. Es kann nur verschlossen werden, aber den Schlüssel kann man finden und dann wird es frei sein.«

»Und wo finde ich den Schlüssel?«

»Oh, das kann ich dir nicht sagen. Es wird auch nicht nur einer sein, denn dann wäre es ganz einfach. Einen habe ich hier.« Sie zog an einer Kette, die sie um den Hals trug und an der ein kleiner, feiner Schlüssel hing. Sie löste ihn von der Kette und gab ihn Franz.

»Meinen hast du. Heb ihn gut auf! Aber wie viele du noch brauchen wirst, das kann auch ich dir nicht sagen. Du musst deinem Weg folgen, weiterziehen. Und auf der Reise wirst du schon merken, wo du wieder einen Schlüssel erhältst. Der Weg formt sich für dich. Das wirst du spüren. Verlasse ihn nicht und versuche zu lernen und zu handeln! Helfe dem einen oder anderen, bezwinge vielleicht auch manchen auf deinem Weg, und wenn du ankommst beim Schwarzen Mann, befreie deinen Funken aus seiner Hand! Aus seinem Würgegriff. Erlöse ihn aus dem Verlies.«

Franz schluckte schwer.

»Der Schwarze Mann hat meinen Funken?«

»Ja, aber hab keine Angst! Du wirst genug Verstand und Mut auf deinem Weg lernen, um ihn zu besiegen und zu bezwingen.«

»Ich muss darüber reflektieren, Mütterchen. Aber ich denke, mir bleibt keine Wahl. Ich möchte, dass es wieder geordnet in mir ist. Möchte, dass Harmonie in mir sich birgt.«

»Oh, Harmonie? Die hast du, kleiner Znarf. Manchmal auch zu viel.«

»Kann man denn zu viel Harmonie haben?«

»Nein. Da hast du recht. Das kann man nicht.«

Beide mussten schmunzeln.

Das Mütterchen fügte noch hinzu: »Aber andere meinen, man könne zu viel an Harmonie besitzen. Das wirst du noch verstehen.«

Franz nickte.

»Aber warum sagt ihr alle Znarf zu mir? Dass es mein Name rückwärts ist, das habe ich verstanden. Aber warum?«

»Nun, was denkst du? Nach dem, was du nun weißt?«

Franz schloss seine Augen, um in sich hineinzuhorchen.

Nach einigen Minuten schlussfolgerte er: »Ihr seid ich. Und ich bin ihr. Das ist meine Welt. Von innen, meine Spiegelwelt? Ihr alle seid meine Gedanken und Gefühle, also meine Spiegelbilder. Darum redet ihr mich so an.« Das Mütterchen schloss zufrieden seine Augen und wippte lächelnd mit dem Köpfchen auf und ab.

»Du bist ein kluger Junge. Viel mehr brauche ich nicht zu sagen. Es ist aber auch eine Art Anderswelt. Das, wo du herkommst, würden die meisten als die Gutwelt bezeichnen. Und dass du hier bist, wird dort, in der sogenannten besseren, der angeblich richtigen Welt, nicht jedem gefallen.« Sie strahlte innere Zuversicht aus und fuhr fort: »Aber du wirst es schon schaffen und den Schwarzen Mann besiegen. Es ist schön, dich hier zu haben.«

Iocus surrte zu den beiden, er hatte ein kleines Nickerchen gemacht.

»Seht!«, piepste er. »Es wird hell. Wir müssen weiter.«

Das Mütterchen stand auf und begleitete die beiden zur Tür. Sie verabschiedeten sich mit einer kleinen Umarmung und dann stieg Franz die Veranda hinab und blickte sich noch einmal um.

Er war verwundert. Das Haus war so winzig, der Raum aber so groß gewesen.

Doch er konnte nicht weiter darüber nachdenken, Iocus zog wieder an ihm. Sie schritten um das Häuschen und gingen weiter in den Wald. Mit Freude stellte Franz fest, dass er nicht mehr rückwärtsgehen musste.

Der Pythagoräer

Sie liefen einige Stunden im Morgengrauen durch den Finsterwald. Hier und da huschten schwarze Schatten mit leuchtenden Augen an ihnen vorbei.

Je näher eines dieser Wesen an Franz herankam, umso kälter wurde ihm. Doch allmählich schien er sich daran zu gewöhnen. Sie unternahmen nichts, rannten einfach nur umher und gaben verstörende Geräusche von sich. Entweder war es ihnen schon zu hell oder Franz musste irgendetwas an sich haben, das sie davon abhielt, ihm irgendetwas anzutun, schlussfolgerte er. Doch dann zuckten die Bäume und begannen zu kriseln. Als ob Franz durch eine Filmwelt schreiten und die Filmrolle verenden würde. Alles wurde schwarz und es dröhnte ein helles Pfeifen in seinen Ohren.

Im nächsten Moment kamen Franz und Iocus an einen Ort, der noch suspekter schien. Sie befanden sich inmitten eines unendlich weitläufigen Raumes. Nicht weit von ihnen sahen sie ein Zimmer, das der Länge nach aufgeschnitten war. Darin befand sich eine große Tafel, wie man sie aus jeder Schule kennt. Eine riesige Seifenblase umschloss den Raum.

Bunte Dreiecke und diverse andere geometrische Formen und Körper flogen durch die Luft. Große, kleine. Mal nur zweidimensional, manchmal auch dreidimensional. Stellenweise waren sie mit Nummern oder Formeln versehen. Der Boden war in einer Sprache beschrieben, die Franz nicht verstehen konnte.