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Eiskalte Machenschaften zwischen Paris und der Provence – der siebte Fall der Mimikexpertin im malerischen Frankreich Nachdem Mimikexpertin Margeaux Surfin bei ihrem letzten Fall nur knapp einem Serienmörder entkommen ist, brauchen sie und ihr Mann dringend Urlaub. Und wo ließe sich der Schrecken dunkler Tage besser vergessen als in der Stadt der Liebe? Margeaux und Thierry fahren zur Verwandtschaft nach Paris. Dort stellt sich heraus, dass Pierre, mit dem Margeaux aufgewachsen ist, in Schwierigkeiten steckt. Als seine Tochter verschwindet, nimmt Margeaux die Ermittlungen auf. Ist sie in die Hände gnadenloser Killer gefallen? Die Spur führt nach Aix en Provence und Marseille …
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Veröffentlichungsjahr: 2024
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© Piper Verlag GmbH, München 2024
Redaktion: Julia Feldbaum
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Cover & Impressum
Vorbemerkung
Prolog
Hameau les Bouisses, 14. Juni
Stuttgart, 14. Juni
In der Dunkelheit
Paris, 14. Juni
Hameau les Bouisses, 14. Juni
Barbentane, 14. Juni
Paris, 14. Juni
Marseille, 14. Juni
Kein Lebenslicht
Hameau les Bouisses, 14. Juni
Paris, 14. Juni
Stuttgart, 14. Juni
Hameau les Bouisses, 14. Juni
Paris, 14. Juni
Hameau les Bouisses, 15. Juni
Gleißende Helligkeit
Paris, 1. Juli
Paris, 2. Juli
Barbentane, 2. Juli
Marseille, 2. Juli
Paris, 2. Juli
Paris, 2. Juli
Stuttgart, 2. Juli
Paris, 2. Juli
Barbentane, 3. Juli
Lähmende Hoffnungslosigkeit
Paris, 3. Juli
Marseille, 3. Juli
Paris, 3. Juli
Stuttgart, 3. Juli
Cassis, 3. Juli
Stuttgart, 3. Juli
Marseille, 3. Juli
Paris, 3. Juli
Cassis, 3. Juli
Stuttgart, 3. Juli
Eisige Kälte
Paris, 3. Juli
Im TGV zwischen Stuttgart und Paris, 3. Juli
Marseille, 3. Juli
Route du Soleil, 3. Juli
Paris, 3. Juli
Marseille, 3. Juli
Paris, 3. Juli
Marseille, 3. Juli
Cassis, 3. Juli
Paris, 3. Juli
Pure Berechnung
Marseille, 3. Juli
Paris, 3. Juli
Cassis, 3. Juli
Paris, 3. Juli
Marseille, 4. Juli
Marseille, 4. Juli
Paris, 4. Juli
Cassis, 4. Juli
Marseille, 4. Juli
Im TGV zwischen Paris und Avignon, 4. Juli
Mitleidlose Verachtung
Hameau les Bouisses, 4. Juli
Cassis, 4. Juli
Marseille, 4. Juli
Hameaux les Bouisses, 4. Juli
Marseille, 4. Juli
Paris, 4. Juli
Aix-en-Provence, 4. Juli
Cassis, 4. Juli
Marseille, 4. Juli
Cassis, 4. Juli
Aix-en-Provence, 4. Juli
Cassis, 4. Juli
Marseille, 4. Juli
Aix-en-Provence, 4. Juli
Cassis, 4. Juli
Marseille, 5. Juli
Hameau les Bouisses, 5. Juli
Marseille, 5. Juli
Cassis, 5. Juli
Hameau les Bouisses, 5. Juli
Marseille, 5. Juli
Marseille, 5. Juli
Marseille, 5. Juli
Marseille, 5. Juli
Herz aus Eis
Marseille, 5. Juli
Paris, 5. Juli
Marseille, 5. Juli
Marseille, 5. Juli
Paris, 5. Juli
Marseille, 5. Juli
Paris, 5. Juli
Marseille, 5. Juli
Marseille, 5. Juli
Marseille, 5. Juli
Hameau les Bouisses, zehn Monate später
Bericht zum Tathergang im Fall Angerer/Surfin
Rezepte aus der Provence für vier Personen
Courgette Chèvre-Gâteau mit Mousse de Chèvre
Mousse de Chèvre
Weiße Kabeljau-Rogencreme im knusprigen Carobtörtchen
Schwarze Nudeln mit Tomaten-Sahne-Soße und Crevetten
Das Familien-Festessen
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Frank Kaiser, Margeaux Surfins guter Freund und ehemaliger Partner bei der Mordkommission in Stuttgart, verfasst in dem hier vorliegenden Fall den Bericht über den Tathergang der Geiselnahme Surfins durch den Serienmörder Martin Angerer im Buch Französische Vergeltung. Aufgrund der Gefahr des Spoilerns für besagten sechsten Band der Krimi-Serie können Sie diesen Bericht am Ende des Buches nachlesen.
Das Wasser zerreibt Steine,/Platzregen spült das Erdreich fort;/so machst du die Hoffnung des Menschen zunichte.
Hiob 14,19
Die Tür öffnet sich, und jeder versucht, mit der Dunkelheit zu verschmelzen, denn die Hoffnungslosigkeit ist mit den Ängsten, den Ausdünstungen und Fäkalien zu einem täglichen Parfüm geworden, das alle Poren durchdrungen und das Aufbegehren gelähmt hat.
Das Schimmern von Skleraweiß schält sich aus der Dunkelheit – fünfzig- oder sechzigmal –, und die Augen blicken, vor Furcht weit aufgerissen, einer Zukunft entgegen, die schlimmer ist als der Tod.
Wieso klammert man sich nur so krankhaft an das Leben?
Hilde streichelte das lockige rotblonde Fell des Dackels, der sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte. Sie spürte seine Wärme auf ihren Beinen und wie die Anspannung aus seinem Körper wich, sobald ihre Hände ihn liebevoll berührten. Sie tat es für ihn und für sich selbst. Willis zärtliche Nähe war ihr Trost und Mahnung zugleich. Alles konnte so schnell vollkommen anders sein. Eben noch saß man auf einem Stuhl in einem sonnenbeschienenen Innenhof und schaute mit stolzem Blick auf eine weiß gekleidete Braut, dann befand man sich plötzlich umzingelt von sterilem Weiß in einem Krankenzimmer und lauschte den bedrohlichen Worten eines Arztes. Hatte man das einigermaßen verkraftet und Hoffnung geschöpft, krachte die Welt erneut durch die Wände der gerade wieder solide erscheinenden Umgebung, stürzte abermals über einem zusammen und hinterließ wieder nur staubige Zerstörung.
Es war zu viel.
Der Hund bemerkte sofort, dass sie gedanklich abdriftete und ihr Herz rascher zu schlagen begann, weil sie die Furcht, die sich irgendwo im Mark ihrer Knochen eingenistet hatte, nicht abstreifen konnte. Er bewegte sich, drehte sich leicht auf den Rücken. Präsentierte ihr seinen empfindlichen Bauch und schob eine Pfote vorsichtig auf ihre Hand. So, als wollte auch er sie streicheln – ihr Mut zusprechen. Doch die vergangenen Jahre hatten ihr alles abverlangt, und sie war müde. Nicht jene Schwere, die einen aufs Bett sinken und traumlos in die Erholung gleiten ließ, sondern jene Müdigkeit, die jede Zelle zu lähmen schien und die nie endete, egal, wie lange man sich hinlegte.
Es war einfach zu viel.
Ihr Leben hatte ihr unterschiedlichste Erfahrungen geschenkt, und das hatte Spuren hinterlassen. Es fiel ihr schwer, dies zuzugeben, denn sie war so oft für die ganze Familie der Fels in der Brandung gewesen: Hilde im bunten Kittel am Herd – resolut, unbequem und doch voller Liebe. Über alle Verluste hinweg waren ihr diese Wesenszüge erhalten geblieben. Bis zu jenem Tag, als die Nachricht gekommen war: Margeaux befindet sich in der Gewalt des von ihr besessenen Serienmörders Martin Angerer – in einer deutschen Strafanstalt! Jede mit großer Kraftanstrengung wieder aufgebaute Fassade der forschen Entschlossenheit war an diesem Tag langfristig zusammengebrochen, und es war ihr bisher nicht gelungen, alles abermals zusammenzusetzen.
Aimé hatte die Chemotherapie und die folgenden Bestrahlungen gut überstanden und es besser als sie geschafft, mit der Situation umzugehen. Er war es gewesen, der Thierry in den Armen gehalten hatte, als dieser die Ungewissheit nicht mehr ertragen konnte, seine starre Maske des Schocks zersplitterte und nur ein traumatisierter Ehemann zurückblieb, der seine Tränen und den zitternden Körper nicht unter Kontrolle hatte.
Sie war seither nicht mehr wirklich zu etwas nutze. Alltägliches fiel ihr nach wie vor schwer – selbst ihre Freude am Kochen war nicht vollends zurückgekehrt. Noch nicht, sagte ihre innere Stimme stets hoffnungsvoll, und Hilde wollte ihr so gern Glauben schenken.
Willi rollte sich wieder zusammen, und sie ließ ihre Hand auf seinem Bauch ruhen, spürte seine gleichmäßigen Atemzüge und tat es ihm gleich: Einatmen … ausatmen …
Die Sonne hatte die Mauern des Hauses erwärmt, und ein sanfter Wind wehte den wohltuenden Duft des blühenden Lavendels zu ihr herüber. Sie sog ihn ein, und ihr Blick schweifte umher: Einige verwelkte Blütenblätter der üppigen Glyzinie tanzten träge in Richtung Pool. Sie müsste aufstehen, den Besen holen und alles zusammenfegen. Schließlich war es stets ihre Verpflichtung gewesen, das Anwesen der Familie Winter-Surfin in Ordnung zu halten. Das liebevoll renovierte Bauernhaus auf dem kleinen Weiler Hameau les Bouisses war doch ihre Lebensaufgabe.
Genau wie Margeaux. Aimé und sie hatten das Mädchen wie ihr eigenes Kind großgezogen, und Pierre – ihrer beider leiblicher Sohn – war der Kleinen ein guter Bruder gewesen. Hilde sollte aufstehen. Etwas tun … Charlène auf die Nerven gehen, die ihr seit einiger Zeit jene körperlich anstrengenden Aufgaben abnahm, die die Versorgung eines großen Hauses mit sich brachte. Doch da war nur Schwere in ihren Gliedern – und diese unendliche Müdigkeit.
Vielleicht war es an der Zeit, all das hier hinter sich zu lassen und sich für den bevorstehenden Lebensabend mit ihrem geliebten Aimé einen anderen Mittelpunkt zu suchen. Vielleicht musste sie diesen Ort und diese Familie loslassen, um wieder zu sich selbst zu finden und die Freude am Leben zurückzugewinnen. Pierre kam seit der Krebsdiagnose seines Vaters regelmäßig mit dem TGV aus Paris angereist, blieb sogar über Nacht und brachte hin und wieder die Enkelkinder mit. Teenager … Zwei Großstadtmädels, die auf dem Land leicht verloren wirkten, aber stets ihr Bestes gaben, die Großeltern aufzuheitern. Das konnte jedoch nicht dauerhaft gelingen, solange Hilde sich kraftlos fühlte. Nichts würde wieder in Ordnung kommen, wichen Müdigkeit und Resignation nicht bald – denn dann würde sie irgendwann einfach unter den Trümmern liegen bleiben und für immer verloren sein.
Frank Kaiser hob den Blick von seinem Bildschirm und war zufrieden, dass seine Sinne ihn nicht getäuscht hatten: Seine Partnerin Pia Waldheim starrte ihn über ihren Computer hinweg an. Er wollte zwar nicht, dass sie das tat, doch es wäre zu albern gewesen, es ihr zu verbieten, denn alle starrten ihn so an. Seit Wochen folgten ihm, wo er stand und ging, etliche Augenpaare. Prüfend. Mitleidig. Bewertend. Er hasste es, so betrachtet zu werden.
Ihre Blicke trafen sich zwischen den Schreibtischen, hingen für einen Augenblick im Raum, und sie waren wie zwei Cowboys zum High Noon, die gleich ihre Colts ziehen und aufeinander schießen würden. Sie hatten ihre Differenzen zwar beiseitegelegt, aber dennoch war mit Margeaux alles anders gewesen.
Margeaux …
Würde er sich je von dem erholen, was in der JVA geschehen war? Es war ein Prozess, und der Polizeipsychologe redete mit ihm entweder wie mit einem begriffsstutzigen Schuljungen oder wie mit einem bockenden Pferd. Beides war unerträglich, doch an den regelmäßigen Terminen führte kein Weg vorbei, wollte er im Dienst bleiben. Er war auf das Diensttauglichkeitszeugnis des Seelenklempners angewiesen. Also trabte er brav zu den anberaumten Sitzungen und versuchte, so kooperativ wie möglich zu erscheinen. Seine wahren Gefühle zeigte er nur im Sportstudio, wenn er wie ein Verrückter nach dem Boxsack trat und auf ihn einschlug, bis die alten Narben an seinen Knöcheln schmerzten. Im Heim hatte er als Junge oft die Fingerknöchel gegen die Wand gedonnert, bis diese wie eine blutige Masse ausgesehen hatten und er daraufhin eingesperrt worden war. Heute packte ihn niemand mehr am Hemdkragen und zerrte ihn in ein gammeliges Loch. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt versuchten sie, ihn mit Blicken zu zähmen oder – alternativ – in ihn zu dringen. Er verbot sich ein knurrendes Geräusch, unterbrach den Augenkontakt aber keine Sekunde. Er würde sie nicht gewinnen lassen. Doch Pia war zäh und gab ebenfalls nicht auf.
Gott, war das alles albern!
»Es geht mir gut«, sagte er und bemühte sich, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen, um nicht gleich wieder als unkontrolliert und aggressiv bezeichnet zu werden.
»Wenn du meinst«, erwiderte sie leichthin und wies dann mit ihrem Finger auf eine Akte am Rand ihres Tisches. »Wir müssen … Du musst den Bericht bis kommenden Mittwoch fertigstellen.«
Ihre Hand schwebte über der blassgrauen Kladde, und der Kloß in seinem Hals – den er glaubte, erfolgreich beseitigt zu haben – baute sich wieder auf und erschwerte ihm das Schlucken.
Warum war es in den letzten Jahren so gewesen, dass überall da, wo Margeaux auftauchte, plötzlich jede Menge Blut im Spiel war? Oder es lag alles nur an dem Irren, der in ihrer aller Leben getreten war und alles aus den Angeln gehoben hatte. Frank konnte die Frage einfach nicht klar genug für sich beantworten. Sein Hass auf den Serienmörder war mittlerweile unbezähmbar, und alle, die ihm nahestanden, spürten das. Egal, wie sehr er sich zu beherrschen versuchte, die Wut brodelte unter seiner Haut wie tosendes Wasser, das in Kaskaden über eine Klippe stürzte, würde man es freilassen. Nicht selten fühlte er sich auch so: von der brodelnden Strömung nach unten gezogen, atemlos gegen die Angst ankämpfend … vollkommen hilflos. Dieses Gefühl verabscheute er am allermeisten, denn es war wie damals, als sie ihn aus der Armen der Nachbarin gerissen hatten, die sich immer dann, wenn seine Mutter länger hatte arbeiten müssen, um ihn gekümmert hatte. Machtlos. Hilflos. Ausgeliefert. Er kannte all diese Gefühle nur zu gut, und sie als Erwachsener erneut zu durchleben, war schmerzhaft.
»Mittwoch«, wiederholte seine Partnerin, und ihr Tonfall verbarg ihre Besorgnis nun nicht mehr.
Rasch sprang er auf, sein Schreibtischstuhl sauste nach hinten und knallte mit einem dumpfen Schlag gegen den Aktenschrank. Sie erschrak nicht. Als hätte sie eine Reaktion vorausgesehen. Doch das konnte nur Margeaux. Nicht Pia Waldheim, die sie nach wie vor alle »die Kleine« nannten. Er wusste, dass sein Verhalten unangemessen war, doch alles Atmen half nicht, um diesen emotionalen Mix zu regulieren.
Mit wenigen Schritten stand er vor ihrem Arbeitsplatz, riss den Ordner an sich, sodass einige andere von der Kante rutschten und mit einem sanften Knall auf den Boden fielen. Sollte sie nur herumkriechen und die Blätter wieder einsammeln … Jetzt hatte sie doch, was sie wollte.
Er klemmte sich die Akte unter den Arm und stürmte auf den Flur – mitten in seinen Chef Werner Walter hinein.
Und zu den anderen hörte ich ihn sagen: Geht hinter ihm her durch die Stadt und schlagt zu! Eure Augen sollen kein Mitleid zeigen, gewährt keine Schonung! Alt und Jung, Mädchen, Kinder und Frauen sollt ihr erschlagen und umbringen …
Hesekiel 9,5–6
Wenn alle Illusionen der Wahrheit dem echten Leben zum Opfer fallen, wer ist man dann noch? Wenn der letzte Funken Hoffnung durch den schimmlig-feuchten Geruch von Furcht und Kapitulation übertüncht wird, was bleibt dann noch?
Kann man das Martyrium annehmen, weil der Mensch stets davon angetrieben wird, überleben zu wollen? Wird der Schmerz für immer bleiben und sich täglich steigern?
Wenn das Bild über die eigene Zukunft trotz fehlenden Lichts klar sichtbar wird, erstarrt die Seele. Man versucht, sie in einen schützenden Kokon zu hüllen, damit, überlebt der Körper die Qualen, ein menschlicher Kern vorhanden ist, aus dem sich vielleicht ein Wesen für ein lebenswertes Morgen formen lässt.
Nur wird diese Zukunftsmusik im Hier und Jetzt übertönt vom angsterfüllten Stöhnen unterschiedlichster Stimmen, bis sich das Grauen wie ein erstickender Mantel über alles und alle legt und die Stille verdeutlicht, dass es für niemanden ein Entkommen geben wird.
Ist der Tod doch die bessere Wahl?
Pierre Vigne beugte sich hinab, um das Handy aufzuheben, das ihm aus der Hand gerutscht war. Er hatte immer alles getan, damit sie Karriere machen konnte, und war dafür nicht nur einmal in die zweite Reihe zurückgetreten. Natürlich hatte er sich in den vergangenen Wochen und Monaten um seine Eltern gekümmert und war daher regelmäßig zwischen Paris und Barbentane gependelt, was dank der hervorragenden TGV-Verbindung innerhalb weniger Stunden verlässlich klappte. Dadurch war ihm einiges durchgegangen, und nun stand er hier und konnte kaum fassen, dass sich seine Frau wieder einmal in eine gefährliche und beinahe ausweglose Situation manövriert hatte.
Aurélie war Anwältin für Menschenrechte. Da gab es selten Fälle ohne Eskalationsstufe. Als er sie damals während des Studiums kennengelernt hatte, war ihr großes idealistisches Ziel Gerechtigkeit für die Welt gewesen. Daher hatten sie auch nach der Jahrtausendwende achtzehn Monate in Den Haag verbracht. Für ihn als Geoingenieur war es nicht so leicht gewesen, seine Berufstätigkeit aus Paris in die Niederlande zu verlegen, doch er hatte ihren Wunsch verstanden und gerade das an ihr geliebt: ihre Ideale, ihren Biss.
Wahrscheinlich hatte Margeaux ihn viel mehr geprägt, als ihm bewusst war. Sie war ein Wildfang gewesen mit jeder Menge Humor und einer unermüdlichen Ernsthaftigkeit, wenn ihr etwas wirklich wichtig war. Seine Frau war genauso.
Mit den Jahren war es Pierre nicht selten zu viel geworden, dass Aurélie das Wohlergehen völlig fremder Kriegsopfer über das ihrer eigenen Familie stellte. Sie waren 2007 kurz vor Marylènes Geburt nach Paris zurückgekehrt, und Aurélie hatte sich – kaum dass sie das kleine Mädchen abgestillt hatte – wieder in den Kampf geworfen. Danielle war vier Jahre später zur Welt gekommen und hielt sie gerade mit ihren pubertären Stimmungsschwankungen auf Trab. Daher war es für ihn umso unbegreiflicher, dass Aurélie wieder einen brisanten Fall angenommen hatte – und diesmal, ohne sich mit ihm abzustimmen. Er hatte immer zu ihren Entscheidungen Stellung nehmen dürfen und mehr als einmal im Nachgang Dinge tun müssen, die weit außerhalb seiner Komfortzone lagen, um Frau und Kinder in Sicherheit zu wissen. Wobei er nur zu genau wusste, dass das eine gedankliche Illusion war, denn niemand war wirklich sicher. Das konnte er bei seinen Eltern sehen und auch bei Margeaux. Seine Schwester hatte die beiden alten Leute oft genug in Gefahr gebracht, und es war ihm zunehmend schwerer gefallen, das zu akzeptieren. Sein Vater hatte nicht selten von der erfolgreichen Polizistin geschwärmt, sodass sich Pierre mit seinem Einsatzgebiet der Altlastensanierung in der Hauptstadt wie ein nutzloser Zwerg vorgekommen war. Doch gegen Margeaux das Wort zu erheben, hätte nichts gebracht. Er hatte sie gern, und am Ende konnte sie ja auch nichts für die Vernarrtheit der Vignes … Margeaux hatte selbst genug Schmerz erleiden müssen, und sie gehörte zur Familie.
Er steckte das Handy in die Hosentasche, strich das Papier glatt, das seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, und ging damit in Aurélies Arbeitszimmer. Sein Herz stockte kurz, als er sie dort sitzen sah. Sie war im Laufe der Jahre immer schöner geworden, und er liebte sie über alles. Sie und die Mädchen waren sein Leben. Natürlich hatte er auch eine Bindung an seine Eltern, doch bei Weitem kam nichts an seine Liebe für Aurélie heran. Sie war wie Jeanne d’Arc von einem inneren Feuer beseelt, das sie wie eine leuchtende Aura umgab. Ihre langen dunklen Haare wiesen mittlerweile einige graue Strähnen auf und fielen ihr glatt bis auf die Rückenmitte. Die klaren Gesichtszüge waren markant geschnitten, und ein sinnlicher Mund nahm ihnen die Schärfe. Mit leicht geöffneten rosigen Lippen und eng zusammengezogenen Augenbrauen las sie etwas auf ihrem Bildschirm.
Sie hatte nicht aufgeblickt, als er hereingekommen war, sondern hob jetzt stattdessen kurz die Hand, um ihm zu signalisieren, sie nicht zu unterbrechen. Er seufzte leise, blieb aber stehen. Der Zettel in seiner Hand fühlte sich schwer an, denn diesmal ging es nicht um die Opfer eines Genozids oder Frauen, denen alle Rechte genommen wurden. Es ging um eine sehr konkrete Bedrohung.
An wen sollte er sich nun wenden, um diese Gefahr zu minimieren und für den Schutz seiner drei Mädels zu sorgen? Wem würde er diesmal die Stiefel lecken müssen und an dem Dreck beinahe ersticken?
Hilde fuhr so sehr zusammen, dass der Hund einen Satz von ihrem Schoß machte, als sich ihr eine Hand auf die Schulter legte. Sie war in ihre Gedankenwelt abgedriftet und von der angstvollen Lähmung ergriffen gewesen.
»Entschuldige, ich wollte euch nicht erschrecken.« Margeaux’ Stimme klang sanft, als redete sie mit einem scheuen Tier.
»Ich … du … ich war in Gedanken«, wehrte Hilde die Fürsorge rasch ab.
Margeaux neigte sich zu ihr hin und legte ihre Wange an Hildes, während Willi sich um die Fußknöchel seines Frauchens zu wickeln schien. In Hilde griff eine kalte Hand nach ihren Eingeweiden, und etwas in ihr wollte die Umarmung abschütteln. Sie widerstand dem Impuls, konzentrierte sich auf das Bild des kleinen Mädchens mit den lockigen Haaren, das laut lachend durch den Garten gefegt war. Das war ihre Margeaux. Und doch wollte dieses komische, vernichtende Gefühl nicht weichen, denn nie vorher hatte der drohende Tod so offensichtlich an Margeaux’ Händen geklebt. Ganz egal, ob es eben Polizeiarbeit war – wie Aimé immer betonte oder auch nicht. Willi nahm ihr die Entscheidung ab, denn er gebärdete sich wie wild, und Margeaux löste sich von Hilde, um den kleinen Dackel zu liebkosen.
Hilde stand auf. Ihre Knie waren weich, und sie fürchtete zu straucheln. Sie brauchte Urlaub – musste weg aus dieser Situation. Nichts war schöner als der azurblaue Himmel der Provence, das Zirpen der Zigallen, der Duft von Rosmarin und Thymian und die Wärme, die sich im Sandstein speicherte und nach Sommer roch. Gleichzeitig waren auch all diese Sinneseindrücke zu viel. Alles vermischte sich mit dem eisenhaltigen Geruch von Blut. Aimé hatte geblutet … Sie hatte es im Griff gehabt, nicht mehr daran zu denken und das Gute an der Stichverletzung zu sehen: Durch sie war der Krebs gerade noch rechtzeitig erkannt worden. Er lebte und war wieder fit. Pfiff wie immer zufrieden vor sich hin und observierte untreue Ehepartner. Es könnte alles in Ordnung sein.
Doch als sie alle im März nach Süddeutschland gereist waren, weil sie die Ungewissheit, Margeaux betreffend, nicht aushalten konnten, war in ihr jener Schmerz erneut aufgebrochen, den sie damals nach der Fehlgeburt empfunden hatte. Es war Jahrzehnte her, und doch hatten die Empfindungen sie fest im Griff gehabt.
Martin Angerer war eine große, alles vernichtende Nummer. Aimé – zu diesem Zeitpunkt noch geschwächt durch das Gift, das die aggressiven kranken Zellen bekämpfte – war nicht fähig gewesen, klare Gedanken zu fassen, um mit Frank aus der Polizeiperspektive auf die Situation zu blicken. Thierry …
Hildes Herz krampfte sich zusammen, wenn sie daran dachte, wie er vor ihren Augen zusammengebrochen war. Margeaux’ Vater Julien hatte nicht mehr ausgesehen wie der smarte, erfolgreiche Spitzenkoch, sondern wie der Schatten eines Lebewesens, dem man die Seele geraubt hatte. Sie waren eine Gruppe von fünf Menschen gewesen, in der sich totale Hoffnungslosigkeit wie der Samen einer schnell wachsenden Pflanze ausgebreitet hatte. Sie hatte kaum atmen können, es aber trotzdem geschafft, Thierry Mut zuzusprechen.
Dann war das Wunder geschehen, und sie hatten Margeaux zurückbekommen – unversehrt. Und doch würde Hilde diesen Anblick niemals vergessen. Ihre über alles geliebte Ziehtochter war über und über mit Blut befleckt gewesen. In ihren Augen hatte ein Blick gelegen, der Hilde Angst eingejagt hatte.
Aimés Polizeiarbeit in Barbentane war im Regelfall ein beschaulicher Job gewesen: Ein paar Diebstähle, Ruhestörungen, Verkehrsdelikte oder auch mal eine Prügelei. Nur wenige Male hatte er mit einer Gruppe von Kollegen im Auftrag seines Vorgesetzten Gilbert Brenot wirklich schlimme Fälle aufklären müssen. Sie selbst als Ehefrau war davon weitestgehend unberührt geblieben. Aimé hatte sie stets geschont – vielleicht weil er gefürchtet hatte, es würde sie zu sehr aus der Bahn werfen, sie würde wieder anfangen zu trinken … wie damals …
Der eisige Blick Margeaux’, die zu allem bereit war, hatte aus dem blutverschmierten Gesicht geflackert. So musste jemand aussehen, den kalte Berechnung antrieb. Sollte eine Mordermittlerin solche Gefühle überhaupt haben, oder war Margeaux in dem Besuchszimmer der JVA zu einem Monster mutiert? Hilde war erschüttert auf ihr Mädchen zugewankt. Denn das war Margeaux doch stets gewesen: ihr Mädchen. Bis zu diesem Augenblick.
Denn seither war etwas anders.
Margeaux hatte das Blut buchstäblich an ihren Händen kleben. Warum war sie nur zu Angerer zurückgekehrt? Warum hatte sie ihn wieder in ihr Leben gelassen? Hilde konnte es nicht verstehen und war zudem nicht fähig, es zu verzeihen. Damit schlug sie sich nun seit einem Vierteljahr herum, und Margeaux wusste das. Sie musste es wissen, denn sie konnte die feinsten mimisch-muskulären Bewegungen wahrnehmen und sie emotionalen Zuständen zuordnen. Sie musste Hildes Abscheu sehen, egal, wie sehr Hilde diesen zu bekämpfen und zu verbergen versuchte.
Während Margeaux sich langsam aufrichtete und der Dackel schwanzwedelnd über die Sandsteinplatten flitzte, wurde Hilde bewusst, dass Liebe etwas Fragiles war – auch die einer Mutter, und die war sie stets für Margeaux gewesen. Ihre Blicke trafen sich, und die junge Frau holte Luft, um etwas zu sagen. Der Ring um Hildes Brustkorb zog sich enger zusammen, denn ihre Fantasie spielte ihr einen raschen Streich – verschmierte Margeaux’ Gesicht mit rostig-rotem Blut. Die Zähne schimmerten auffällig hell in dem grausigen Szenario, und der geöffnete Mund ließ sie martialisch leuchten.
Dann klingelte das Telefon im Flur fordernd. Das Bild verschwand, und das hübsche Gesicht ihrer Ziehtochter war wieder zu sehen.
»Ich gehe«, sagte Hilde rasch, um der Situation zu entkommen. Sie wusste, dass es so nicht weitergehen konnte, hatte aber weder die Kraft noch eine Idee, wie sie es anpacken sollte. So schnell es ihr möglich war, steuerte sie den Flur an, um den Anruf entgegenzunehmen. Ihr war vollkommen bewusst, dass Margeaux auch diesen Impuls richtig deutete: Hilde floh!
Aimé fuhr sich mit der Hand über das stoppelige Haar. Er hatte schon vor der Chemotherapie kaum welche auf dem Kopf gehabt, doch nun sprossen sie noch spärlicher. Er hatte die Frau eines angesehenen Bankiers aus Châteaurenard beobachtet, war ihr mit dem Wagen bis zum Fitnessstudio gefolgt, hatte ihr durch die breite Fensterfront auf dem Laufband zusehen können – keine Ahnung, warum Menschen in einer Art Schaufenster Sport trieben – und war sich dann rasch sicher gewesen, dass sie dort wirklich nur rannte und Gewichte stemmte. Im Anschluss hatte er einen unfreiwilligen Stadtbummel gemacht und ihr beim Shoppen zugesehen. Sie war allein geblieben, hatte noch einen Kaffee getrunken, ganz versunken in sich. Nicht einmal das Handy war auf dem Tisch gelegen. Von Avignon war sie direkt zur Schule in ihrem Wohnort gefahren und hatte die bezopften Zwillinge abgeholt.
Vielleicht irrte sich ihr Mann. Aimé mochte den aufgeblasenen Typen sowieso nicht und hatte sich sogar gewundert, dass Margeaux den Fall angenommen hatte. Sie wollte den Schein der Normalität bei allem wahren. Doch nichts war mehr normal.
Er schaute auf die Uhr und stellte fest, dass es an der Zeit war, zum Bahnhof zu fahren, um Thierry abzuholen. Der Bäcker hatte sechs Wochen in der psychiatrischen Klinik »La Jauberte« in Aix-en-Provence verbracht – auf eigenen Wunsch. Jean-Baptiste Baile, Thierrys gut vernetzter Vater, den alle nur Bap nannten, hatte seinem Jungen innerhalb kürzester Zeit einen Platz dort organisiert. Sie waren alle mehr als besorgt über den Zustand des sensiblen Mannes gewesen, der sich von seinem Zusammenbruch in dem Warteraum nahe dem Gefängnis in Süddeutschland nicht mehr erholt hatte. Davor waren filigran gearbeitete Mottotorten und künstlerische Petits Fours seine Spezialität gewesen, doch er hatte seine Hände nicht mehr ruhig halten können. Sie hatten dem Flattern von Kolibriflügeln geglichen, und weder Fondant noch Schokolade hatten ihnen so gehorchen wollen.
Aimé hatte bereits bei Hilde eine eklatante Wesensveränderung wahrgenommen, und Thierry hatte den Eindruck erweckt, als hätte er seine Persönlichkeit – sein liebenswertes, offenherziges Wesen – in sich eingesperrt, ohne den Schlüssel wiederzufinden. Alles war vollkommen verrückt, denn die Person, die am ehesten einen Knacks hätte davontragen müssen, war munter wie ein Fisch im Wasser: Margeaux.
Die kleine Bäckerei in Barbentane lief weiterhin gut, auch wenn der Chef fehlte. Die Mitarbeitenden gaben sich alle Mühe, die Lücke so gut wie möglich zu füllen, sodass man weiterhin knusprige Baguettes, buttrige Croissants und einige andere wichtige Backwaren erstehen konnte. Er hatte den Jungen einmal kurz besucht. Die Ärzte waren der Ansicht, dass es besser war, wenn Margeaux ihm diese Zeit für sich ließ. Sie hatte sich an alle Vorgaben gehalten. Doch auch das war Aimé sonderbar vorgekommen, denn wenn es um ihren Mann ging, war die ehemalige Kommissarin der Mordkommission bei Weitem nicht so rational wie in ihrem Job.
Er klappte den Laptop zu, schob ihn in die Aktentasche und stellte diese in den Schrank neben der Treppe. Hilde versuchte, so viel Normalität wie möglich in ihrem Alltag zu haben, und war auf den Weiler gefahren, um ihre Nachfolgerin Charlène zu beobachten und zu triezen. Er hielt das für keine gute Idee, denn solange sich in ihrer Miene Ekel und Angst widerspiegelten, wenn sie Margeaux ansah und sich unbeobachtet glaubte, war das für alle Beteiligten eine Tortur. Er hatte mehrfach versucht, es anzusprechen, doch seine dickköpfige Frau machte dicht. Er dachte an Pierre, der bei seinem letzten Besuch – mit einem vorsichtigen Seitenblick auf seine Mutter – angeregt hatte, für eine Auszeit nach Paris zu kommen.
»Aurélie und die Mädchen würde sich so freuen, euch zu verwöhnen«, hatte der blonde Mann gesagt, der Hilde so sehr glich.
Margeaux glich eher ihm. Ach, verflixt! Nicht selten vergaß er beinahe, dass sie nicht seine eigene Tochter war, und doch war sie ihm so ähnlich. Vielleicht hatte sein Sohn recht, und etwas Abstand von all dem hier würde ihnen guttun. Natürlich würde er erst noch der Bankiersfrau einige Tage auf Schritt und Tritt folgen, doch sein Instinkt sagte ihm, dass da nichts war. Zumindest nichts, was von ihr ausging. Vielleicht wollte sich der Gatte gern aus dem Familienkonstrukt verabschieden, und es erschien ihm besser, seiner Frau den schwarzen Peter in die Schuhe zu schieben … Manche Leute schrieben solche Treueklauseln in ihre Eheverträge. Für Aimé war das alles sonderbar. Betrachteten sich diese Menschen eigentlich als Paar oder eher als Geschäftspartner?
Er musste los. Thierry sollte nicht wie bestellt und nicht abgeholt am Bahnhof herumstehen. Aimé nahm sich vor, Pierre auf das Angebot anzusprechen und dann ein offenes Gespräch mit Hilde zu suchen.
Aurélie blickte auf und erkannte am Zettel in seiner Hand sofort, dass die Katze aus dem Sack war. Sie hatte ihm schon länger sagen wollen, dass ihr Arbeitgeber Human Rights Lawyers zugesagt hatte, einen brisanten Fall zu übernehmen und die einflussreichen Drahtzieher eines Menschenhändler-Kartells zu überführen. Das sollte Signalwirkung haben und dieser bösartigen Spezies verdeutlichen, dass es weiterhin mutige Menschen gab, die für Gerechtigkeit einstanden.
Ihr Mann hielt den kleinen Zettel in der Hand, und sein Blick war nicht verärgert, sondern … traurig. Damit konnte sie nie gut umgehen. Unverhohlener Frust war einfacher zu handhaben. Wenn die Mädchen türenschlagend durch die Wohnung fegten, wilde Verwünschungen ausstießen, war das zwar anstrengend, aber viel einfacher zu ertragen als der waidwunde Ausdruck in Pierres Augen. Sie war es gewohnt, wüsten Drohungen Paroli zu bieten und dabei Ruhe zu wahren – rational zu bleiben und sich nicht von jedem provokativen Mistkerl aus der Reserve locken zu lassen. Meist unterschätzten die Gegner sie. Sie wusste genau, dass ihr Äußeres das Weibchenschema in deren Kopf befütterte: lange Haare, sinnliche Lippen, schmale Taille, schlanke Beine … Wer so aussah, hatte seine Position möglicherweise anderen Qualitäten als einem scharfen Verstand zu verdanken und stellte keine Gefahr dar. Ihr Ruf eilte ihr zwar mittlerweile voraus, doch es gab immer unwissende Anzugträger, die mit wichtiger Miene in den Gerichtssaal stolzierten und den Fall bereits als gewonnen ansahen, weil ihr Blick auf Aurélie Coty-Vigne fiel. Dabei müsste allen schon aufgrund ihrer Abstammung klar sein, dass sie aus hartem Holz geschnitzt war. Schließlich hatte ihr Urgroßvater einst fünf Jahre an der Spitze der französischen Union gestanden.
War Pierre aufgebracht, stützte er sich mit den Händen auf ihren Schreibtisch und knirschte mit den Zähnen. Sie waren schon viele Jahre ein Paar – hatten bald silberne Hochzeit –, und sie kannte ihn durch und durch. Heute ließ er sich in den dunkelgrünen Samtsessel fallen, auf dem sie gern saß, wenn sie Klageschriften vorformulierte.
Ihr Mann zögerte kurz, warf einen Blick über seine Schulter und vergewisserte sich, dass die Tür geschlossen war, denn Danielle war bereits zu Hause und sollte offensichtlich nichts von dem mitbekommen, was hier gesprochen wurde. Sie war anderer Meinung, was das anbetraf, denn ihre Töchter mussten wissen, was da draußen vor sich ging. Es gab keine heile Welt, sondern nur ein ewiges brutales Ringen um Macht und Einfluss. Die Erde war von einem kaum heilbaren Virus namens Mensch befallen, dessen Innerstes auf Zerstörung programmiert war. Kein anderes Lebewesen arbeitete ansonsten so intensiv daran, seine Artgenossen zunichtezumachen.
»Ich habe mich darauf verlassen, dass du die Finger von so was lässt.«
Er hob den Zettel hoch, und sie erwiderte seinen Blick abwartend. Er war enttäuscht von ihr, und sie wollte ihn nicht zum Narren halten. »Ich kann nicht … also ich meine nicht, dass ich es dir nicht sagen kann … Das hätte ich längst tun müssen. Du hast vollkommen recht! Aber ich kann nicht dasitzen und am Unrecht vorbeischauen.«
»Aurélie, das ist verdammt gefährlich. Diesmal ganz besonders, denn du willst Leute angreifen, die jede Menge Einfluss haben … auch hier in Paris.«
»Ist es nicht immer gefährlich, den Finger in die Wunde zu legen? Bisher ist es stets gut gegangen, und wir haben diesen skrupellosen Ärschen immer wieder gezeigt, dass es Grenzen gibt.«
Pierre senkte kurz den Kopf, betrachtete seine Hände eingehend und strich dann mehrfach den Zettel auf seinem Oberschenkel glatt. Er seufzte leise. Kein theatralisches lautes Gestöhne. Nur ein leiser Ton unendlicher Verzweiflung. Irgendwas war anders als sonst.
Warum war dieser Fall etwas, was ihn so sehr zu belasten schien? Er kannte mit dem Zettel in seinen Händen nur eine plakative Überschrift und keine Details.
Ihr Instinkt flackerte kurz auf, doch dann meldete sich ihr Gewissen zu Wort: Das war ihr Ehemann, der dort saß, und kein Angeklagter, auf den sie mit dem Finger zu deuten hatte. Sie erhob sich, umrundete den Schreibtisch und setzte sich auf die Kante des massiven braunen Tisches. Ihre Großmutter Geneviève hatte ihr das gute Stück vermacht, und Aurélie hütete den Tisch wie ihren Augapfel: Hier würde sie Geschichte schreiben! Vielleicht war dieser Zeitpunkt jetzt gekommen. Doch ohne den Rückhalt ihrer Familie war es nicht zu schaffen. Jeder Mensch, der für etwas voller Leidenschaft in den Kampf zog, benötigte einen Rückzugsort. Pierre musste auf ihrer Seite sein, und die Mädchen sollten es natürlich auch. Sie waren alt genug, um zu begreifen, dass die Welt da draußen nicht nur gut war.
»Ich will, dass dieser Idiot ein für alle Mal seine Schnauze hält und sich verpisst – wohin, ist mir egal«, brüllte Lionel Sournois.
Die Tür zu seinem Büro öffnete sich, und Mathis lehnte sich provokativ gegen den Türrahmen. »Bist du jetzt langsam fertig? Erstens bin ich nämlich hier, und zweitens höre ich dich auch bei normaler Lautstärke bis ins nächste Zimmer. Du bekommst noch einen Herzinfarkt, wenn du weiter so herumschreist.«
»Sei nicht so vorlaut, Mathis!« Lionel ließ seine freie Hand auf den Tisch hinabsausen, und der gläserne Briefbeschwerer hüpfte einen Zentimeter in die Höhe.
»Lionel, ich fasse nur Tatsachen zusammen. Du bist Hafenmeister, da braucht man ein lautes Organ – keine Frage, aber du musst mich nicht durch die Wände anbrüllen, mit mir kannst du ganz normal reden. Was hat Maxime gemacht, damit du so ausflippst?«
»Es geht nur am Rande um Maxime.« Lionel musste atmen, um klarer denken zu können und Mathis zwar einzubinden, ihm aber gleichzeitig auch nicht zu viel zu verraten. Gebot man über einen Hafen wie den von Marseille, dann jonglierte man mit jeder Menge Frachtcontainern, und die Struktur musste einer nachvollziehbaren Ordnung entsprechen. Zumindest weitestgehend. Er war für die gesamte Organisation und Überwachung des Hafenbetriebes verantwortlich. Es galt, die Hafengebühren zu erheben, die Hafenanlagen instand zu halten und eng mit den Behörden und der Küstenwache zusammenzuarbeiten. Zudem war er Ansprechpartner für die Eigentümer der Frachter, die Firmen, die die Waren löschten, und noch vieles mehr.
Vieles, das Mathis nicht zu interessieren hatte. Wobei der Kerl schlau war und gern seine lange Nase in Dinge steckte, die ihn nichts angingen. Seine Aufgabe war es unter anderem, das Wetter zu überwachen und die Bootseigner und Schifffahrtsunternehmen über mögliche Gefahren oder Einschränkungen zu informieren. Die Durchsetzung der Sicherheits- und Umweltstandards hatte er ihm ebenfalls aufgebrummt. Er machte seine Sache gut. Er war nur zu neugierig. Lionel bekam regelmäßig Bluthochdruck, wenn der Jüngere sich aufspielte, als hätte er die Seefahrt erfunden.
Zudem hatte man es in einem Containerhafen mit vielen verschiedenen Dingen zu tun. Denn hier tummelten sich Gestalten jeder Art und machten Geschäfte. Nicht alle davon waren … legal. Aber das war seine Sache. Auch wenn er gerade die Beherrschung verloren hatte, weil ihm einer der Frachtführer blöd gekommen war. Der Europort-Containerhafen war der größte französische Warenhafen und dadurch Umschlagplatz für Gut und Böse. Anders konnte man es nicht nennen. Mehr als eineinhalb Millionen Container wurden hier bewegt. Es war ein kleines Königreich und er der unangefochtene Herrscher. Das wurde man nicht, indem man kleinlaut hinter verschlossener Tür mit piepsiger Stimme vor sich hin schnatterte. Laut und selbstbewusst zu sein war die Devise, und das lag ihm im Blut. Daher würde er sich von Mathis nicht belehren lassen oder ihm gar das Gefühl vermitteln, er könne ihn umerziehen oder an die Kandare nehmen.
Heute kam eine wichtige Ladung an. Der Frachtführer einer der größten Speditionen, die dafür verantwortlich waren, die genormten Container auf ihre Lkws zu packen und über die Straße oder auf die Schiene zu bringen, hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er andere Margen erwartete. Jedes Jahr kam irgendein Idiot auf die Idee, dass das den richtigen Weg zum Reichtum darstellte. Doch Lionel würde ihm diesen Zahn in Bälde und unter Schmerzen ziehen. Diese Art der Dummheit machte ihn wütend. Sehr sogar. Sein Netzwerk war trotz seines grobschlächtigen Verhaltens fein geflochten und umspannte den ganzen Planeten. Das war nicht übertrieben. Hier gingen sie alle vor Anker, und er war der Dreh- und Angelpunkt. Die wichtigsten Papiere liefen durch seine Hände, wurden von ihm abgestempelt und freigegeben – oder eben nicht. Das machte seine Position gefährlich. Er hatte sich daran gewöhnt, bedroht zu werden, aber am Ende des Tages war all diesen Kerlen bewusst, dass ein Nachfolger mehr Probleme bereiten würde, als mit ihm heftig zu feilschen. Das alles hatte ihn reich gemacht. Vorsicht war jedoch die Mutter der Porzellankiste, und so hortete er das Geld auf Offshore-Konten, und seine Immobilien überall auf der Welt gehörten Briefkastenfirmen, die sich nicht zu ihm zurückverfolgen ließen. Panama bot großartige Möglichkeiten, Firmenmäntel für überschaubare Beträge zu erwerben. Nicht wenige verfügten sogar über Verlustvorträge, und man konnte noch munter Gelder vom Staat einsacken. Nichts davon durfte nach außen dringen. Er hatte ein gutes Gehalt, aber Millionengeschäfte konnte man damit nicht finanzieren. Einen reichen Erbonkel gab es in seinem Leben ebenfalls nicht. Insofern kreierte er grundsätzlich ein ideenreiches Storyboard, fuhr er in den Urlaub nach Aspen, Sankt Moritz oder zu anderen Hotspots: Gut situierte Freunde luden ihn ein, ihr Gast zu sein, oder er hütete für sie Villen und Jachten. Bisher war er damit gut gefahren. Der neugierige Mathis hatte zwar schon häufiger gefragt, ob Lionel all die Leute durch seinen Beruf kennengelernt habe, aber er sah sich hier nicht in der Pflicht, Auskunft zu geben.
»Ich verstehe ja, dass die Leute oft glauben, sie seien unsere einzigen Probleme, und daher erwarten, dass ihre Probleme vorrangig gelöst werden, aber Maxime … Er hat doch schon die ersten Lösch-Slots«, fasste sein cleverer Mitarbeiter die Situation noch einmal in Worte.
Lionel wägte rasch ab, wie viel er preisgeben konnte. Ihm war bewusst: Blieb er zu vage, würde Mathis nur noch mehr nachbohren, aber sagte er zu viel, machte er sich und auch Maxime angreifbar. »Er hat angeboten, seine Vertragskonditionen anpassen zu lassen – für dieses Privileg.«
Mathis atmete vernehmlich ein, und Lionel entdeckte Erstaunen in dessen Blick, denn im Regelfall wollte niemand freiwillig mehr zahlen. Doch Lionel sah hier seine Chance: ein paar Cent mehr pro Slot – ganz offiziell – und den Rest wie immer direkt in seine Tasche.
»Das passiert nicht jeden Tag, dass jemand mit einem solchen Auftragsvolumen seinen Geldbeutel öffnet …« Mathis’ lange Gestalt streckte sich nun im Türrahmen. Er war rund zwei Meter groß, durchaus trainiert, aber trotzdem schlaksig und jungenhaft wirkend, trug eine runde Brille mit einem feinen dunkelgrauen Gestell und bis auf die wirklich heißen Sommermonate immer einen schwarzen Rollkragenpullover. Im privaten Kreis belächelte Lionel seinen Mitarbeiter gern und sagte: »Der Junge macht einen auf Steve Jobs und glaubt, er kann die Hafenstruktur revolutionieren.«
»Wir werden sehen, wie das wirklich ausgeht. Maxime ist anmaßend, und wir sind hier nicht auf dem orientalischen Basar und feilschen wie Straßenhändler«, machte Lionel seinen Standpunkt klar und rückte damit noch einmal seine entrüstete Reaktion ins richtige Licht.
Doch die Männer wollten nicht auf ihn hören. Da ergriff der Levit seine Nebenfrau und brachte sie zu ihnen auf die Straße hinaus. Sie erkannten sie und trieben die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen ihren Mutwillen mit ihr …
Richter 19,25
Wie muss der Verstand geartet sein, um nicht zu begreifen, was da kommen wird? All jene Stimmen, die sich trotz der Kranken und Toten noch erheben, um hoffnungsvoll von einem Leben danach zu sprechen.
Ist das Dummheit oder einfach nur jener Funke, der den Menschen zu etwas sehr Sonderbarem macht, das sich stets ans Überleben klammert. Jene Kinder, die von ihren Eltern verkauft werden, damit diese das Auskommen der anderen Familienmitglieder sichern können. Die dann auf die Schiffe der Fischfangflotten gebracht werden, um dort Frondienste zu leisten. In Drecklöchern zu hausen. Schimmlige Reste zu essen und tagein, tagaus sechzehn Stunden auf hoher See zu schuften. Riesige Oktopusse zu zerteilen, Unmengen an anderem Getier zu erschlagen und dabei zu kaltblütigen Maschinen abzustumpfen … oder zu sterben. Auch sie hoffen bis zum letzten Tag auf eine Zukunft ohne Schmerz und Erniedrigung.
Doch am Ende wartet auf sie alle nur der Tod. Wertloser Menschenmüll – hineingezwängt in lichtlose Gefängnisse. Kein Entkommen.
Die sonderbar blau strahlenden Pupillen in den mandelförmigen Augen des kleinen Jungen werden brechen – so wie die aller anderen auch, die lebend aus der Dunkelheit geholt werden. Am Ende sind sie menschlicher Schrott. Es wäre leichter zu ertragen, blutige Hände von den rauen Seilen der Netze zu haben, als an so vielen anderen Stellen des Körpers zu bluten.
Es ist nicht Hoffnung, die aus denen spricht, die davonzukommen glauben. Es ist Dummheit, denn in der Dunkelheit des Ungetüms voller Gestank gibt es keinen Lichtblick. Ihrer aller Licht wird auf ewig verlöschen.
Margeaux warf einen Blick in den Spiegel und strich sich das lockige Haar zurück, um es mit einer geschickten Handbewegung zu einem Knoten auf dem Oberkopf zusammenzufassen. Die sommerliche Sonne hatte ihre Haut mit einem bronzefarbenen Schimmern überzogen, und sie musste nur ein wenig Rouge auftupfen, Kajal auf die Unterlider malen und die Lippen mit einem roséfarbenen Stift nachziehen. Der Look war natürlich und verlieh ihr einen gesunden Touch.
Gesund …
Das Wort rollte sonderbar durch ihre Gedanken. Das Gegenteil von gesund war krank. Sie war nicht krank … vielleicht ein bisschen angeschlagen, aber nicht krank. Sie war Polizistin geworden, weil sie Aimés Wertegrundlagen übernommen hatte und seinem Vorbild gefolgt war. Ihre Entscheidung für das Morddezernat hatte sie ganz bewusst getroffen. Es gab jede Menge anderer Einsatzorte für Beamte im gehobenen Dienst. Sie hatte gewusst, was es bedeutete, dem Tod stets einen Schritt hinterher zu sein … und dass sie es im Regelfall mit Leuten zu tun hatte, die im Affekt töteten oder Totschlag begingen. Mord erforderte Vorsatz. Das war viel seltener der Fall. Dass man in Deutschland auf einen Serienmörder traf, war so unwahrscheinlich, dass kaum jemand auf dem Schirm hatte, was dann zu tun war. Und was es mit den ermittelnden Personen machte …
Sie wollte gut aussehen, wenn Thierry nach Hause kam. Auch das rollte schwerfällig durch ihren Kopf. Seit sie die Eheschließung geplant hatten, war zu viel passiert, um aus ihrem Haus ein gemeinsames Zuhause zu formen. Sie hatte ihn nicht in Aix-en-Provence besuchen dürfen, und die sechs Wochen waren ihr wie eine Ewigkeit erschienen. Fast so, als hätten die zweiundvierzig Tage die Macht besessen, sie zu Fremden zu machen. Sie öffnete den Wandschrank in der Dachschräge ihres Schlafzimmers, knipste das Licht an und schaute sich ihre Kleidung an: alles hervorragende Qualität, edel und doch von lässigem Schick geprägt. Sie hatte Geld. Ein wunderschönes Heim … aber das waren alles nur schnöde Dinge. Auf nichts davon kam es am Ende wirklich an, denn dann zählte nur, wer man war und von wem man geliebt wurde – und dass man sich im Spiegel ansehen konnte und es in Ordnung war, was man dort erblickte.
Hildes Reaktionen waren wie messerscharfe Spitzen zerbrochenen Spiegelglases, die sich unaufhaltsam in Margeaux’ Herz bohrten, die Muskelhaut durchdrangen und sich im Inneren des Organs einnisteten, um dort irreparablen Schaden anzurichten. Sie war noch immer dieselbe Person und hatte gehandelt, wie eine Polizistin eben agierte. Was man so viele Jahre antrainiert bekam, schüttelte man nicht binnen weniger Minuten ab. Man schickte sie in Kampfräume mit der gezückten Waffe in der Hand, um sie darauf zu konditionieren, drohende Gefahren in Sekundenbruchteilen zu identifizieren und mit Hochgeschwindigkeit auszuschalten. Polizeiarbeit!
Sie war eine von den Guten. Hilde musste das doch wissen, und doch konnte Margeaux die Ablehnung in dem geliebten Gesicht sehen, wenn sich die Oberlippe für Millisekunden anhob oder sie den Mundwinkel einseitig kurz einzog. Ekel und Verachtung im Gesicht ihrer Ziehmutter … Wieder schnitten die Splitter schmerzhaft ins Fleisch, und je heftiger ihr Herz pochte, umso tiefer drangen sie ein. Sie musste sich beruhigen, auch wenn sie gerade noch zusätzlich die Sorge in sich trug, dass Thierry aufgehört hatte, sie zu lieben, während er versucht hatte, das Geschehene zu verarbeiten. Sie atmete zittrig aus – lange –, um dann tief einzuatmen. Das wiederholte sie fünfmal. Bewusstes Atmen beruhigte das limbische System nachweislich und machte dadurch eine Emotionsregulation möglich.
Manchmal war es so still auf dem Weiler … die Nachbarn Camille und Benjamin besuchten ihre erwachsenen Enkelkinder in Cavaillon, und Suzan und Michel machten wahrscheinlich gerade Mittagsschlaf. Die Pferde hatten sich irgendwo in den Schatten zurückgezogen, und die restlichen Anwohnenden waren auf der Arbeit. Man hörte nur das sanfte Plätschern der Poolpumpe, den Gesang der Zigallen – und ein Auto, das sich seinen Weg über die steinig holprige Privatstraße bahnte.
Sie kamen!