Französische Vergeltung - Nicole de Vert - E-Book

Französische Vergeltung E-Book

Nicole de Vert

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Beschreibung

Ein skrupelloser Mörder und ein gefährlicher Verbündeter – der sechste Fall der Mimikexpertin im malerischen Frankreich  Bei Mimikexpertin Margeaux Surfin kehrt nach ihrem aufwühlenden letzten Fall der Alltag wieder ein. Doch dann tauchen in Deutschland und Frankreich übel zugerichtete Männerleichen auf. Treibt hier vielleicht sogar ein brutaler Serienmörder sein Unwesen? Margeaux kennt nur eine Person, die helfen kann: der berüchtigte Straftäter Martin Angerer. Der Privatdetektivin bleibt nichts anderes übrig, als ihn als Berater hinzuzuziehen, während sie mit Sonderrechten der Kripo ermittelt. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, bei dem Margeaux an ihre ganz persönlichen Grenzen kommt …  »Das Buch ist ein packender, fesselnder Kriminalroman. Immer wieder der Wechsel zwischen wunderbaren Schilderungen aus der Provence und andererseits unglaublich finstere Beschreibungen eines Verbrechens. Durch ihre Kenntnisse in der Mimikanalyse und der nonverbalen Kommunikation zeichnet sich die Autorin aus. Wenn man erst mal anfängt zu lesen, dann hört man kaum auf.« ((Leserstimme auf Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Julia Feldbaum

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Prolog

Das Zimmer

Die Kammer

Die Bude

Die Entfesselung

Der Schmerz

Das Entsetzen

Die Gefangenschaft

Der geprügelte Hund

Die Schlinge

Das Ende

Epilog

Rezepte für vier Personen

Französische Zwiebelsuppe von Aimés Mutter

Offener Raviolo mit Entenconfit und geschmorten Aprikosen

Entenconfit (am Vortag zubereiten)

Geschmorte Aprikosen

Gesamtgericht

Thierrys Clafoutis

Dreierlei vom Fenchel

Fenchelsalat

Fenchel aus dem Salzteig

Fenchel-Flammkuchen mit weißer Schokolade

Für das Topping

Nachwort

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Prolog

»Weine nicht. Weine nicht. Weine nicht.« Erst waren die Worte noch tröstend, doch dann wurde der Ton rauer und lauter. Bis es am Ende einer Drohung gleichkam: »WEINE NICHT!« Und unausgesprochen waren in dem Tonfall all die Dinge, die geschehen würden, wenn noch eine einzige Träne aus den feuchten Augen perlte.

Nichts von alldem war zu ertragen. Aber der menschliche Organismus reagierte nun einmal so, wenn Trauer, Hilflosigkeit und Wut das Handeln lahmlegten. Im Gehirn setzte dann etwas aus, und ein eiserner Griff packte das Herz – quetschte das Leben hinaus. Legte den Muskel lahm. Das Blut schien sich erst in den Adern zu stauen, bis das Gefühl, sie könnten jederzeit bersten, es zum Gefrieren brachte. Die endlose Kälte zog einen Schleier vor die Augen, trübte den Blick für das, was war, und schob alles Menschliche beiseite.

»Weine nicht.« Damit war alles gesagt.

Wurde der Geist immer wieder mit dieser krankhaften, frostklirrenden Herzlosigkeit auf ein Minimum reduziert – denn wer konnte schon eisig erstarrt noch fühlen, was richtig oder falsch war –, so war man eines Tages nicht mehr man selbst. Bitterkeit und Resignation ergaben schon allein einen toxischen Mix, und mit einem Schuss Erniedrigung und einer großzügigen Prise Gewalt betäubte dieser Drink alle Sinne. Ein Wort, ein Geruch, ein Bild, ein Geräusch oder auch eine taktile Empfindung reichten dann aus, um das Monster, das unter den ungewollt ungeweinten Tränen lauerte, zu entfesseln. Wurde man bereits als grausame Kreatur geboren, oder machten einen die Umstände dazu?

»WEINE NICHT!«

Vor Angst zitternd gab sich der Körper seiner instinktiven Reaktion hin und wollte in Deckung gehen, als sich die verdammte Träne aus der Wimper löste und auf die Wange tropfte. Doch es gab keinen Zufluchtsort, und irgendwann hatte auch die Seele keine Kraft mehr, sich an einen geheimen Ort zurückzuziehen.

Monster gebaren Monster, und niemand wollte den Schmerz eines solchen hören oder sehen. Also versiegten die Tränen irgendwann und öffneten der Versuchung die Tür, sich dem Ungeheuer zu unterwerfen. War dieser Punkt überschritten – gab es dann noch ein Zurück?

Das Zimmer

Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Lästerung, Hochmut und Unvernunft. All dieses Böse kommt von innen und macht den Menschen unrein.

Markus 7, 21–23

Die Möbel waren nicht neu, machten den Raum aber heimelig. Ein dunkelbraunes Cordsofa mit abgewetzten Kanten stand mittig. Darauf lagen eine gestrickte Decke und drei orangebraune Häkelkissen, die ihre besten Zeiten schon hinter sich hatten. Das zeigten die abgenutzten Kanten und die Fäden, die langfingrig heraushingen. Ein speckiger beiger Fernsehsessel stand links vom Sofa, und rechts befand sich ein Hocker aus Cord. Der klobige Glastisch hatte einen Riss in der Platte, der gewiss von dem massiven Aschenbecher, der darauf thronte, verursacht worden war. Er war voller Kippen – mit und ohne Filter. Der riesige Fernseher auf einem Sideboard an der Stirnwand dominierte den Raum und wirkte neu und teuer. Der Boden war dunkel gefliest, und einige gemusterte Teppiche unterbrachen den düsteren Charakter.

An der Wand rechts vom Sofa hing ein Gemälde mit einer Jagdgesellschaft, die sich über einen Hirsch beugte, dessen Leib aufgerissen war und aus dem blutrote Eingeweide quollen. Über dem Bild glotzten die toten Augen eines felligen Kopfes mit Geweih ins Nichts. Staub hatte sich grauflusig auf dem ausgestopften Tier angesammelt. Das Fenster links vom Sofa verzierten eine beige Spitzengardine und braune Schals, die bis auf den Boden reichten und mit je einer goldfarbenen Kordel zusammengebunden waren. Ein Rollladen, der halb herabgezogen war, verhinderte den Blick auf die Balkone der gegenüberliegenden Wohnungen in dem gesichtslosen grauen Wohnblock.

Schon auf dem Weg hinauf in die Wohnung wurde deutlich, dass Teile der Anlage ungepflegt waren: Von den Fassaden bröckelte der Putz, die Fensterrahmen waren rissig, und die Farbe blätterte ab, die Balustraden der winzigen Balkone waren aus verwittertem grauem Sichtbeton, an dem moosiges Grün wuchs. Alles machte einen trostlosen Eindruck. Graue Wäsche baumelte hie und da im Wind. Im lang gezogenen Treppenhaus voller Graffiti und klebrigem Schmutz – der Aufzug war wohl bereits seit Wochen außer Betrieb, darauf wies ein fleckiges Schild an der Tür hin – wurde die Verwahrlosung besonders deutlich. Müll hatte sich in den Ecken der Etagen und Treppenstufen eingenistet, und kaum eine Klingel konnte mit einem Namensschild aufwarten. Hie und da sollte eine bunte Fußmatte den kalten Eindruck mildern, doch es gelang nicht. Man fröstelte schnell in dieser Atmosphäre der Gleichgültigkeit.

Doch das Zimmer, das von einem schmalen Flur voller achtlos abgelegter Jacken, Schuhe und allerlei Taschen und Tüten abging, war ein Zuhause. Es war gut geheizt, und die Couch lud dazu ein, sich hineinzufläzen, sich in die Decke zu wickeln und aneinandergekuschelt Serien anzuschauen. Es war ein gutes Zimmer.

Stuttgart, 1. März

Frank Kaiser beugte sich über den leblosen Körper und wünschte sich nicht zum ersten Mal in seiner Laufbahn, einen anderen Beruf gewählt zu haben. Vielleicht Finanzbeamter oder etwas ähnlich behütet Langweiliges; eine Verwaltungsstelle. Nicht, dass er wirklich darüber nachdachte, den Dienst zu quittieren und sich wie seine ehemalige Lieblingskollegin und beste Freundin Margeaux Surfin mit der Observierung von Betrügern zu befassen. Das entsprach nicht seinem Naturell. Sie hatte es nicht geschafft, sich komplett aus dem Reigen der Gewalttaten zu befreien, und er wusste nur zu gut, dass sie es auch nicht wirklich im Sinn gehabt hatte. Sicher würde es ihm ganz ähnlich ergehen, und egal, wie furchtbar der Körper vor ihm zugerichtet war – er würde den Job vermissen, denn es bedeutete so viel mehr für ihn, Polizist zu sein, als nur die reine Ermittlungsarbeit. Auch wenn er sein Temperament oft nicht im Griff hatte, so war er ein gradliniger und aufrechter Mensch. Ein Mann, dem Unrecht gegen den Strich ging, und er konnte den Gedanken nicht ertragen, nicht dagegen anzugehen.

Also würde er wohl weiterhin Kommissar bei der Mordkommission in Stuttgart bleiben, auch wenn die Provence, in der Margeaux seit einigen Jahren lebte und die für ihn mittlerweile beinahe zu einer Heimat geworden war, seinen Namen rufend flüsterte. Dort hatte er enge Freunde, die für ihn zu einer Familie geworden waren, denn er besaß keine eigene. Es ging ihm gut in der Abgeschiedenheit in den kleinen Hügeln vor den Toren Avignons, aber seine Arbeit hier in Deutschland konnte er nicht loslassen.

»Kann ein normaler Mensch einen anderen so zurichten, oder kann das nur Hulk?« Seine Partnerin Pia Waldheim – die er immer nur »die Kleine« nannte, obwohl er wusste, dass das despektierlich war – verzog fragend das Gesicht. Er musste ihr recht geben, denn der Mann schien wirklich einer unglaublichen Zerstörungswut zum Opfer gefallen zu sein.

»Ich fürchte, Werner und auch die Presse machen da nicht mit: Gesucht und des Mordes verdächtigt wird ein großes grünes Biest.« Er verzog das Gesicht bei dem Gedanken an die Miene ihres Chefs. Er hatte sich in den letzten Monaten mit dem Vorgesetzten mehr als arrangiert. Sie hatten noch immer Meinungsverschiedenheiten und trugen diese heftig aus, doch sie fanden rascher als früher einen Kompromiss, und Frank musste zugeben, dass er Werner mittlerweile sogar manchmal mochte. Das war vor einigen Jahren noch vollkommen unvorstellbar gewesen. Doch egal, wie die Beziehung nun geartet war, »Hulk« kam als Täter wohl nicht infrage. »Wie weit seid ihr?«, wollte er von den noch anwesenden Kriminaltechnikern wissen.

»Mit der Leiche durch, aber … na ja … du siehst ja, was das für ein Gemetzel war.« Einer der Männer deutete auf die umliegenden Möbel und Wände und die darauf befindlichen Blutspritzer, Hautfetzen und Knochenfragmente.

»Es dauert also noch?« Pia ließ ihren Blick schweifen.

Der Kriminaltechniker hob den Daumen. »Den Toten lassen wir gleich in die Rechtsmedizin bringen«, sagte er und wandte sich wieder seiner Aufgabe zu.

Frank und Pia gingen beinahe gleichzeitig neben dem Körper in die Hocke, eifrig darauf bedacht, keine Spuren zu zerstören. Die weißen Papieranzüge knisterten bei dieser Bewegung raschelnd. Frank fuhr kurz mit der Hand unter den Gummizug an der Kapuze, der durch die Aktivität unangenehm in die Gesichtshaut schnitt. Er hasste die Dinger, doch bei einem solchen Tatort war es unerlässlich, Anzüge, Handschuhe und Überschuhe zu tragen, um den Platz des Verbrechens nicht zu kontaminieren. Spurenverseuchung schlossen sie an sich dadurch aus, dass ihre Fingerabdrücke im System gespeichert waren, doch es konnten sich eben auch noch Substanzen an der eigenen Kleidung befinden, die es im Nachgang erschwerten, eine klare Täterzuordnung zu gewährleisten.

»Können wir sicher davon ausgehen, dass es sich um …« Pia klappte die bereits als Beweismittel gekennzeichnete Brieftasche des Toten auf und schaute auf den darin befindlichen Personalausweis. »… Günther Jungmann handelt?«

Frank kniff die Augen zusammen und versuchte vergeblich, eine Verbindung zwischen dem Foto und dem knochigen Brei, aus dem das Gesicht des Opfers bestand, herzustellen. »Körpergröße und Haarfarbe passen, aber beim Rest … Das muss der Doc herausfinden. Es ist Jungmanns Wohnung, und auf den ersten Blick spricht alles dafür, dass er das Opfer ist, gleichzeitig tröten wir das nicht in die Welt hinaus ohne klaren Beweis. Das hier ist wirklich brutal.«

Seine Partnerin starrte den übel zugerichteten Körper an, und er konnte in ihrem Gesicht erkennen, dass sie zwar geschockt war über die Gewalt, die hier gewirkt hatte, aber keine Anzeichen von Abscheu oder gar Übelkeit zeigte. Er gestand sich ein, dass sie zwar nervig war und es schaffte, ihn immer wieder auf die Palme zu bringen mit ihrer belehrenden Art und ihrer buchstabengetreuen Einhaltung des Gesetzes, doch sie war auch tough und durch nichts so leicht aus der Ruhe zu bringen. Außer wenn es um Kinder ging – und da waren sie alle empfindlich –, blieb sie sachlich, beobachtete aufmerksam. Gut, sie war nicht Margeaux, und das würde sie auch nie sein, aber das war nicht ihr Fehler. Er hatte es seinen ständig wechselnden Partnern nach Margeaux’ Weggang nicht leicht gemacht, und »die Kleine« war bisher die Einzige, die sich davon nicht hatte ins Bockshorn jagen lassen. War er ehrlich zu sich, so musste er sich eingestehen, dass allein das schon für sie sprach. Zudem hatte sie, ohne zu murren, akzeptiert, dass Margeaux als Expertin für Emotionsausdrücke in der Mimik immer mal wieder auftauchte, da sie von Werner als offizielle Beraterin der Polizei unter Vertrag genommen worden war. Er an ihrer Stelle wäre bei so was sicher nicht entspannt geblieben, sondern hätte revoltiert – offen und unterschwellig.

»Ich glaube nicht, dass eine Frau hier als Täterin infrage kommt.« Sie deutete mit einem behandschuhten Finger auf die massiven Brüche der Gesichtsknochen und fuhr fort: »Ich lehne mich gewiss nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich der Ansicht bin, dass das Faustschläge waren und keine Waffen eingesetzt wurden.«

»Auf den ersten Blick stimme ich dir zu, wobei die Verletzungen am Schädel auf jeden Fall …« Er schaute suchend umher, und seine Augen fanden ein mit einem Schild gekennzeichnetes blutverschmiertes Beweisstück.

Pias Blick folgte dem seinen, und sie nickte. Frank erhob sich und nahm die kleine gusseiserne Figur in Augenschein, an der sowohl Haare als auch helle Knochenfragmente mit bloßem Auge zu erkennen waren. Entweder hatte der Täter bereits eine unsagbare Wut in sich gehabt, oder er war in Rage geraten und schließlich in einen Blutrausch verfallen. Das hörten sie in manchen Geständnissen: Totschläger oder Mörder berichteten davon, dass sie nicht mehr hatten aufhören können zuzuschlagen und auch selbst keinen Schmerz mehr gespürt hatten, obwohl das Zertrümmern von Knochen mit der Faust auch dem Täter sehr wehtat. Frank wusste das nur zu genau. Nicht, dass er Erfahrungen damit hatte, Leuten das Gesicht einzudellen – nein, er hatte früher mit den Fäusten auf Wände eingeprügelt, und auch heute beim Kickboxtraining hieb er noch manchmal ungeschützt auf den Sack ein, um seiner Frustration Ausdruck zu verleihen. Die Knöchel taten weh, und das ließ erst nach, wenn das Adrenalin im Körper überhandnahm.

»Eine kräftige, wütende Frau kann das auch«, widersprach er ihr nun. Sie wiegte den Kopf hin und her und schien nicht überzeugt. Er hatte in den vergangenen Jahren zu viele grausame Taten erlebt, die von Täterinnen ausgeführt worden waren, daher war für ihn erst einmal nichts auszuschließen.

»Warten wir also auf den Rechtsmediziner«, gab sie nach und stand auf.

Avignon, 1. März

Sie beugte sich vor und schob ihm das Kissen in den Rücken. Der Mann im Sessel nebenan lächelte und hob einen Daumen.

»Ist schon gut«, krächzte Aimé.

Margeaux hielt seinem Blick stand. An manchen Tagen war er sehr gereizt, und sie konnte ihm nichts recht machen.

»Ich sage doch immer, du musst nicht …«

»Und ich sage, ich will«, unterbrach sie ihn. Sie hatte wenig Lust auf eine erneute Diskussion. Beiden war klar, dass sie ihn nicht zu der Chemotherapie begleiten musste und er das auch ohne ihre Hilfe schaffte. Aimés Sitznachbar schob sich die Kopfhörer in die Ohren. Er kam immer zur selben Zeit in die onkologische Abteilung des Klinikums und hatte immer den angrenzenden Sessel. Daher kannte er das Thema zur Genüge. Ihn begleitete niemand, doch nicht etwa, weil er das nicht wollte. Es gab einfach niemanden, der Zeit und Lust dazu hatte.

Na ja – Lust war in diesem Zusammenhang ein sonderbares Wort. Lust hatte sie auch nicht. Es war nicht leicht, ihren ausgemergelten Ziehvater so schwach zu sehen, doch in der Familie war man eben füreinander da. Hilde hatte ihren Mann die ersten Male begleitet, doch es war ihr nicht möglich gewesen, einfach nur neben ihm zu sitzen und ihm Gesellschaft zu leisten. Sie war umhergeflattert wie ein Kolibri, hatte hier eine Decke festgesteckt, dort einen Krümel entfernt und vor allem das Personal anhaltend kritisiert. Aimé hatte ungehalten reagiert, und da die beiden nach ihrer überstandenen Ehekrise im vergangenen Jahr nichts mehr fürchteten als eine erneute Auseinandersetzung und Entfremdung, war Margeaux auf den Plan getreten.

Hilde und Aimé hatten sie großgezogen, während ihre eigenen Eltern berufsbedingt durch die Welt gereist waren. Zudem hatte Margeaux vor wenigen Jahren ihre Mutter Marie-Louise bereits an den verdammten Krebs verloren, und sie würde es nicht zulassen, dass sich dieser kaltblütige Gegner auch noch Aimé holte. Ihr Vater Julien – Aimés ältester Freund – war zu sehr an sein gut laufendes Bistrorant »Chez Louise« gebunden, als dass er der klaren hochgiftigen Flüssigkeit stundenlang dabei hätte zusehen können, wie diese in seinen Freund tropfte. Außerdem war er mit seiner Mitarbeiterin – der begabten Köchin Catherine – liiert und …

Margeaux stoppte sich, bevor ein gehässiger Gedanke sich formen konnte. Sie wusste, welche Emotionen sich dann einstellten und dass diese wenig hilfreich im Umgang mit dem knurrigen Kranken waren.

»Niemand will hier sein, Margeaux«, erwiderte er nun, und seine dunklen Augen waren voller Trauer und Ärger.

Sie konnte auch die Angst sehen, die immer wieder für Sekundenbruchteile über seine Stirn flitzte. Die Augenbrauen formten sich zu einem S, da sich deren Innenseiten hoch- und zusammenzogen, was dazu führte, dass mitten auf der Stirn eine dreieckige Einbuchtung entstand. Der Emotionsmix war situativ vollkommen angemessen. Das war ihr als Emotionsexpertin bewusst. Daher kritisierte sie ihn auch nicht, versuchte aber hin und wieder, Tipps zu geben, um ihm eine Regulation allzu aufwühlender Zustände möglich zu machen. Es kam auf seine Gesamtstimmung an, wie er reagierte. Heute war es wahrscheinlich besser, den Mund zu halten.

Sie setzte sich, zog einige Zeitschriften hervor und ein Rommé-Kartenset. Früher hatten sie alle gemeinsam am Tisch gesessen und mit allen möglichen Mitteln versucht zu gewinnen. Besonders ihre kürzlich verstorbene Großmutter Annabelle hatte wie eine gewiefte Trickbetrügerin mit den Karten hantiert und recht regelmäßig das Match für sich entschieden. Es war also eine Kombination aus Zeitvertreib und Erinnerung an gute Zeiten.

Aimé beäugte es und seufzte. Mitleid zog ihr Herz schmerzhaft zusammen. Sie liebte ihn so sehr. Er war immer ihr Vorbild gewesen – der aufrechte, pfiffige Dorfpolizist –, und seine Werte hatten sie dazu getrieben, ihm nachzueifern. Sie war vor allem Polizistin geworden, weil sie hatte sein wollen wie er. Doch während er als Flic im beschaulichen Barbentane für Recht und Ordnung sorgte, hatte sie in Deutschland Karriere bei der Mordkommission gemacht und sogar an einem Sonderprogramm des FBI in Amerika teilnehmen dürfen. Das war alles Schnee von gestern. Sie hatte den Dienst quittiert, eine Depression überstanden und ihr Leben in der Provence Gott sei Dank wieder in den Griff bekommen – oder eher dank der Menschen, die sie liebten und die sie liebte. Dazu gehörte der Mann vor ihr, und sie ließ sich nicht durch ein paar Beschimpfungen oder garstige Bemerkungen vertreiben.

Aimé litt durch die Therapie unter Appetitlosigkeit und konnte nur wenige Dinge riechen und essen. Doch Thierrys buttrige Croissants waren auf der Liste der Lebensmittel geblieben. Ihr Mann – es fühlte sich noch immer sonderbar an, mein Mann zu denken oder zu sagen, vor allem nach der desaströsen Hochzeitsfeier – führte eine erfolgreiche Bäckerei und Patisserie in Barbentane, und er versorgte sie vor jedem Termin mit frisch duftenden Köstlichkeiten für Aimé, andere Kranke und das Personal der Abteilung. Sie zog die Tüte aus ihrer Tasche, und ihr Knistern lockte die Leute aus allen Ecken herbei. Es war, als wären sie kurz vor dem Verhungern und warteten daher bereits sehnsüchtig auf diesen Augenblick. Während dieses Ritual Aimé an vielen Tagen aufheiterte, blieb er heute störrisch und wandte schweigsam den Kopf ab.

Margeaux verteilte die Leckereien, plauschte hie und da ein wenig, drapierte ein duftendes Croissant auf einem Teller und schob diesen ihrem Ziehvater hin. »Aimé«, sagte sie zärtlich, »ich hab dich lieb.« Ihre Blicke trafen sich, und sie wusste, dass er etwas vor ihr verbarg, hoffte aber auf sein Vertrauen.

»Lass uns mal auf den Flur gehen. Du nimmst die hässliche Begleitung.« Er deutete auf die lästige Maschine neben sich.

Sie half ihm auf, sortierte die Schläuche und schob den Ständer mit dem großen grauen Diffusor neben ihm her. Das Gerät sorgte für das gleichmäßige Tropfen der Infusion und begann regelmäßig, schrill zu piepen, wenn der Durchfluss ins Stocken geriet. Es war nicht ihr erster Ausflug in die tristen Flure. Aimé neigte nicht zu Fatalismus, und doch hatten die Monate der Krankheit und die Rekonvaleszenz nach der schweren Verletzung, die er im Mai erlitten hatte, ihn ausgezehrt, daher spürte sie ein besorgtes Ziehen in ihrer Magengrube und hoffte, dass dieses Gespräch nichts mit seinem Kampf gegen den Krebs zu tun hatte.

JVA in Deutschland, 1. März

Er blickte durch das winzige vergitterte Fenster hinaus in den grauen Himmel. Während des kurzen Hofgangs waren einige Schneeflocken sanft herabgerieselt. Das war für Anfang März nicht ungewöhnlich. Man separierte ihn noch immer von den anderen Gefangenen, und er zog seine Runden entlang der Mauern daher einsam unter den strengen Blicken zweier Wärter. Es war nicht so, dass ihm Gesellschaft grundsätzlich fehlte. Vielmehr vermisste er nur die zweier Frauen. Anna würde nie mehr kommen, und ein intensives Kennenlernen blieb ihm daher für immer verwehrt. Er hatte es akzeptiert, und nur manchmal empfand er etwas, was er als Trauer definierte, auch wenn ihm dieses Gefühl eher fremd war. Margeaux hingegen vermisste er jeden Tag. Ihre Gespräche waren stets von einer besonderen Qualität geprägt gewesen, und sie hatte ihn verstanden. Gut, sie war nie einverstanden mit seinem Tun gewesen, aber ihre besondere Fähigkeit, sich in Menschen einzufühlen, hatte ihm stets vermittelt, dass sie auf ihre Art wusste, wer er war. Das war es doch, wonach alle Menschen strebten. Man wollte gesehen werden. Seine Taten hatten viel über ihn ausgesagt, und ganz egal, wie die Öffentlichkeit dazu stand, er war stolz darauf. Nur ein außergewöhnlich kluger Geist konnte eine solche Vorgehensweise ersinnen und sie dann auch noch virtuos umsetzen. Er hatte es geschafft. Margeaux war so besonders wie er, deshalb war sie nicht nur auf seine Spur gekommen, sondern hatte ihn auch so bezaubert – ja, das war genau das richtige Adjektiv –, dass er sich ihr gestellt und mit großer Freude jede Plauderei genossen hatte. Ihre Fragen waren es, die er bewunderte, und ihre gradlinige Art. Sie hatte nicht um ihn gebuhlt, ihm nicht geschmeichelt oder sich gar verstellt. Sie war immer sie selbst geblieben und wie eine Tochter für ihn. Dieses Empfinden hatte sich nicht verändert, auch wenn seit seinem ersten Kontakt mit ihr einige Jahre vergangen waren.

Seine Verlegung war rasch und heimlich vonstattengegangen, und man hatte ihm mehrfach verdeutlicht, dass sie keine Kenntnis darüber hatte, wo er sich nun befand – wobei dies keineswegs zu ihr passte. Sie war immer eine hervorragende Ermittlerin gewesen und ihren Kollegen und Kolleginnen um Welten voraus, daher war er fest davon überzeugt, dass sie seinen Aufenthaltsort genau kannte. Sie hatten eine besondere Verbindung, und als sie im Krankenhaus an seinem Bett gestanden hatte, hatte sie dies auch Frank Kaiser gegenüber verdeutlicht.

Er betastete die Narbe in seinem Gesicht. Die Ärzte hatten ihn wieder zusammengeflickt, auch wenn es schwer gewesen war, den geschädigten Fazialisnerv wiederherzustellen. War das Wetter so wie heute, spürte er die Beeinträchtigung intensiver als an trockenen, warmen Tagen. Die Spiegelfolie an der Wand verzerrte sein Abbild zusätzlich. Er hatte immer viel Wert auf sein äußeres Erscheinungsbild gelegt, und wenn er ehrlich zu sich war, musste er sich eingestehen, dass ihn die Verstümmelung störte. Wie Margeaux wohl darauf reagieren würde, begegneten sie sich eines Tages erneut? Er war sich sicher, dass sich ihre Wege irgendwann wieder kreuzten. Das Schicksal hatte ihm die Frau, für die er intensivere väterliche Gefühle als für seine eigene Tochter empfand, nicht ohne Grund geschickt.

Er griff zu dem Stift, den er als Privileg benutzen durfte, und zog ein Blatt Papier zu sich heran, denn er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Margeaux jede Woche zu schreiben, auch wenn die Briefe die Haftanstalt nicht verließen. Es war für ihn zu einem lieb gewonnenen Ritual geworden, seine Gedanken für sie zu notieren, und obwohl er ihr schon während der Verhöre zu seinen virtuosen Morden alles so detailliert wie möglich erläutert hatte, so war er nun dazu übergangen, jede noch so kleine Empfindung und Regung zu notieren, die damit und mit anderen Gedanken und Gefühlen einhergingen. Es brachte ihm nicht nur die Genugtuung, seine Taten immer wieder aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln zu betrachten, sondern dabei auch mehr über sich und seine Beweggründe zu erfahren. Der Richter hatte ihm bei der Urteilsverkündung mit schroffen Worten verdeutlicht, dass vor allem seine Reuelosigkeit dazu geführt hatte, dass ihn die volle Härte des Gesetzes traf. Er verstand bis heute noch nicht, warum er sich in ein Büßerhemd hüllen sollte – er hatte doch nichts getan, außer sich als Charon zu verdingen. Er hatte keine Menschen von der Straße gezerrt und ihnen übel mitgespielt, sondern nur jenen den letzten Schritt erleichtert, die sowieso bereit gewesen waren, diesen zu gehen.

Man hatte ihm den schaurigen Beinamen »Der Schächter« gegeben. Die Presse brauchte solche Übertreibungen, um reißerische Schlagzeilen zu kreieren, doch seine Vorgehensweise hatte etwas außerordentlich Wertschätzendes an sich gehabt. Die Seele zu bewahren war doch ein Geschenk. Er hatte Margeaux diese immer wieder als Präsent zukommen lassen, und auch das hatte man ihm vorgeworfen. Er sei bestialisch und kaltblütig.

Weit gefehlt! Er war ein Künstler und keine Bedrohung für die Allgemeinheit. Dass er hier separiert wurde, geschah auch nicht zum Schutz der Mithäftlinge, sondern zu seinem eigenen – obwohl die Gefahr schon längst gebannt war. Daher hatte er sich eine Anwältin genommen, um dem ein Ende zu setzen. Es ging ihm nicht so sehr darum, mit anderen Insassen über die Flure zu wandern oder gar unter der Dusche zu stehen. Er wollte verdeutlichen, dass ihm Unrecht geschah. Nicht er war das Problem gewesen, sondern das System. Zu wenige Wärter, Korruption und eine von Gewalt geprägte Hierarchie machten das Gefängnis zu einem weitaus gefährlicheren Ort als ein Dorf, in dem zum Beispiel jemand wie er lebte. Doch dazu müsste ein Richter – der die Welt grundsätzlich nur durch die Gläser seiner eigenen Brille wahrnahm – eben erkennen, wie wenig gefährlich er für jeden Normalbürger war. Doch solchen durch ein jahrelanges Jurastudium verblendeten Paragrafenreitern fehlte genau diese Fähigkeit. Er war nicht willkürlich über Balkone in Wohnungen eingedrungen und hatte vergewaltigt und getötet. Sie waren mit ihm gegangen, hatten sich verstanden gefühlt – aufgehoben sogar –, und er war ihnen letzten Endes auf seine Art zu Diensten gewesen.

»Angerer«, bellte eine Stimme durch den vergitterten Schlitz in der Tür, »deine Anwältin ist da. Willst du sie sehen?«

Er fuhr sich mit den Händen durch das Haar und blickte an sich hinab. Seine Kleidung war sauber, er hatte erst kürzlich geduscht und sich rasiert, also konnte er Besuch empfangen. Die Tage vergingen im Gleichklang, daher war ihm der heutige Termin irgendwie entfallen. Vielleicht auch, weil er so sehr an Margeaux gedacht und in Erinnerungen geschwelgt hatte. Er verstaute Stift und Papier im Regal und antwortete: »Selbstverständlich. Ich bin bereit.«

Die Tür öffnete sich, und die zwei Wärter gingen in Position, legten ihm Handschellen an und führten ihn durch den Gang. Er blickte sich noch einmal um, um sich zu vergewissern, dass seine Zelle wieder ordnungsgemäß verschlossen war. Erleichtert nahm er wahr, dass die Tür eingeschnappt war. Der Gedanke an den Plausch mit der Anwältin beflügelte ihn, und er hob stolz den Kopf. Er war Martin Angerer, und er war zu klug, um sich von diesem System einschüchtern zu lassen.

Barbentane, 1. März

Hilde rieb sich über die rot geränderten Augen. Willi drückte sich an ihr Bein und fiepte leise. Sie hatte den Dackel mit in ihr Haus in der Rue Pujade genommen, während Margeaux Aimé zur Chemotherapie begleitete. Der knopfäugige Kerl war ihr ein Trost, konnte ihr aber ihre Sorgen nicht nehmen. Er schien sie zu verstehen, denn sie hatte die Tränen unterdrückt und hinter den Lidern eingesperrt. Er war einfühlsam und kannte sie einfach zu gut.

»Ist schon gut, mein Süßer.« Sie beugte sich zu dem rotblonden Kerlchen hinab und tätschelte seinen Kopf. Er leckte ihr die Hand. »Du weißt immer genau Bescheid und guckst mir direkt ins Herz.« Willi drückte sich noch fester an ihr Bein. »Ich vertraue dir ein Geheimnis an: Ich kann nicht aufhören, Angst zu haben.« Die Worte lauerten immer hinter ihren Lippen, und das Gefühl war zu einem Dauerbegleiter geworden, obwohl sie es nicht haben durfte. Sie musste Zuversicht ausstrahlen und positiv sein. Gewiss war sie nicht an dem Krebs schuld, aber dass Aimé verletzt worden war – daran hatte sie vielleicht eine Mitschuld. Sie hatten sich zum ersten Mal während ihrer langen Ehezeit gestritten und nicht mehr miteinander geredet. Sie musste froh darüber sein, dass das Drama, das der Auslöser für seine Verletzung geworden war, dafür gesorgt hatte, dass die Ärzte über den Tumor im Magen gestolpert waren. Doch sie hatten sich geirrt, als sie anfangs davon ausgegangen waren, dass keine Metastasen vorhanden waren, und nun bestand ihr Leben aus Hoffen und Bangen.

»Ich darf ihn nicht verlieren, Willi. Der Gedanke daran macht mich verrückt, und es ist schon wieder eine neue Beule im Auto.« Nun war es raus. Sie musste sich eingestehen, dass sie nun bereits die dritte kleine Delle in den Wagen gefahren hatte, den sie so liebte. Sie war mit ihren Gedanken stets woanders, und die Unkonzentriertheit sorgte vor allem dann für Probleme, wenn sie durch den engen Torbogen zu Margeaux’ Haus auf dem Weiler Hameau les Bouisses rangierte, um sich um das Anwesen zu kümmern.

Aimé war doch glücklich gewesen, oder nicht? Er hatte zumindest stets den Eindruck vermittelt. Sein Beruf machte ihm Spaß, er liebte den Cabanon mit den Obstbäumen und der gemauerten Grillstelle, fühlte sich in ihrem gemeinsamen Zuhause wohl, liebte sie, Pierre, die Enkelkinder und Margeaux sehr. Er hatte seine Freunde und war ein ausgeglichener Zeitgenosse. Mit Pierres Frau wurden sie beide nicht so warm, wie sie es sich wünschten. Sie war eine gute Ehefrau und Mutter, steckte aber ihre gesamte Energie in ihre Arbeit als Anwältin. Die Familie wohnte daher in Paris, und sie sahen sich einfach zu selten, um richtig zusammenzuwachsen. Pierre kam nun häufiger mit dem TGV zu Besuch, der von Paris nur rund zweieinhalb Stunden nach Avignon brauchte.

Willi warf sich auf den Rücken, streckte seine kurzen Beinchen in die Luft und forderte sie zappelnd auf, seinen Bauch zu kraulen. Sie bückte sich und tat wie geheißen, während er sie glücklich anlächelte. Das konnte er wirklich! »Ich wünschte, Pierre würde nicht nur kommen, weil es seinem Vater nicht gut geht. Das ist ungerecht von mir. Ich weiß.« Sie fuhr dem Dackel noch einmal durch das Fell, erhob sich schwerfällig, wusch sich die Hände und drehte sich zum Herd. Kochen war für sie wie eine Therapie, und auch wenn es aktuell nicht mehr viele Gerichte gab, die Aimé essen wollte, so musste sie doch kreative Speisen zubereiten, um nicht verrückt zu werden. Margeaux und Thierry waren dankbare Abnehmer – vor allem an den Tagen, an denen Margeaux mit in die Klinik fuhr. Ansonsten war sie selbst eine hervorragende Köchin. Es lag ihr in den Genen, aber sie hatte Hilde früher in der Küche auch immer über die Schulter geschaut und vieles gelernt.

Aimé liebte Merguez – eine Spezialität der Region. Die scharfe Paprikawurst wurde im Normalfall gegrillt oder in der Pfanne gebraten, doch durch die Chemotherapie hatte sich etwas an seinem Geschmackssinn verändert, und nun war ihm die geliebte Wurst, auf die übliche Weise zubereitet, zu scharf. Daher hatte Hilde sie in feine Scheiben geschnitten, leicht meliert, gebacken und dann in ein fluffiges Omelette eingebettet. Dort teilten sich die knusprigen Stücke den Platz mit Pilzscheiben, ein paar halbierten schwarzen Oliven und Kapern. Sie hatte Pain de Campagne bei Thierry geholt, und der Bäcker hatte sie wie so oft in den Arm genommen und kurz und fest gedrückt. Er durfte das. Von anderen wollte Hilde kein Mitleid.

Das Telefon klingelte und das Gespräch mit einer Freundin aus dem Boule-Klub lenkte sie kurzzeitig von ihren trüben Gedanken ab.

Stuttgart, Institut für Rechtsmedizin, 1. März

Doc Heinzmann war vor wenigen Wochen in die wohlverdiente Pension entschwunden, und sein Nachfolger, Herr Doktor Kevin Schmitt – der Mann bestand tatsächlich darauf, mit Titel und Nachnamen angesprochen zu werden –, herrschte mit strenger Hand über die Sektionssäle.

»Herr Doktor Schmitt.« Frank musste sich jedes Mal hart am Riemen reißen, um nicht gegen diese Diktatur aufzubegehren. Er hatte grundsätzlich damit zu kämpfen, sich schwachsinnigen Vorgehensweisen unterzuordnen, und war deshalb häufig genug mit seinem Chef aneinandergeraten und auch schon das ein oder andere Mal für mehrere Wochen in die Provence entschwunden, bis Gras über seine Verfehlungen gewachsen war. Spezialurlaub!!!, betitelte Werner Walter diese Aufenthalte in seiner unnachahmlichen Art, die ihm allenthalben den Spitznamen Ausrufezeichen-Chef eingebracht hatte.

Der Mediziner drehte sich nicht um, und Frank fragte sich, was er nun schon wieder falsch gemacht und womit er sich der Insubordination schuldig gemacht hatte. Dieser Begriff fiel in beinahe jeder Kommunikation mit Schmitt, und Frank war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, den Typ Schmittchen zu nennen und einfach abzuwarten, bis jemand anders dem Mann Feuer unter dem Hintern machte. Sie kamen schließlich nicht her, weil sie nichts Besseres zu tun hatten, sondern weil sie versuchten, Gewalttaten mit Todesfolge aufzuklären.

Pia legte ihm kurz beruhigend die Hand auf die Schulter, und Frank verspannte sich. Er hatte sich mit ihr arrangiert, schätzte sie als Kollegin, mochte es aber nicht, mit ihr auf Tuchfühlung zu gehen. Und das wusste sie eigentlich auch. Zumindest ging er davon aus. Warum also tatschte sie an ihm herum? Er war dank des Lackaffen mit Doktortitel sowieso schon geladen. Der präsentierte ihm nun seine Kehrseite.

Pia nickte ihm kurz zu und schob ihn aus dem Weg. Frank spürte, dass seine linke Augenbraue hochschnellte, und wusste nur zu gut, dass er damit seiner Missbilligung deutlich Ausdruck verlieh.

»Hallo, Kev«, sagte sie zu Franks Erstaunen, und in ihrer Stimme lag etwas, das er nicht so recht deuten konnte.

»Pia!« Der Doktor drehte sich so schnell um, dass es aussah wie in einem Zeitraffer, und lächelte die dunkelhaarige Polizistin offen an. Frank musste aufpassen, dass ihm nicht der Unterkiefer vor lauter Überraschung aufs Brustbein klappte. Was für ein Gefühlsmix! Ganz offensichtlich lief hier etwas, wovon er keine Ahnung hatte, und er war sich auch spontan nicht sicher, wie er damit umgehen sollte. Pia war ihm keine Rechenschaft schuldig, wen sie kannte und mochte, aber das hier war Teil ihrer Arbeit und kein zufälliges Treffen am Bartresen. Sie waren zwar Partner, doch er war der Dienstältere, und ihr haftete noch immer der Duft eines Frischlings an.

Doktor Schmitt und »die Kleine« ließen ihn stehen wie einen aufdringlichen Verkäufer, und während sie einen der Sektionstische umrundeten, sagte der Pathologe: »Ich freue mich sehr, wenn du mich hier besuchst, auch wenn der Anlass ja immer recht blutig ist.«

Frank wusste, dass es albern und auch unter seinem Niveau war, aber er war tatsächlich kurzzeitig versucht, Würgegeräusche von sich zu geben: Wenn sie ihn hier besuchte … bedeutete das, dass sie ihn auch woanders traf? Egal, wie oft er Regeln brach, es geschah immer, um einen Ermittlungserfolg herbeizuführen oder jemanden zu schützen. So wie das Kind damals in Wangen, das er dem mordlustigen Stiefvater entrungen hatte, ohne auf das SEK zu warten. Zudem war er sich vollkommen bewusst, wenn er die Grenzen überschritt. Ob Pia sich dessen auch bewusst war? Mit dem Leiter der Rechtsmedizin anzubandeln war äußerst unprofessionell.

»Kommst du?« Pia drehte sich zu Frank um und winkte ihn herbei, dabei streifte Schmitts Hand ihren Po. Das war also der Typ Mann, auf den sie stand: Kurz geschorene Haare an den Schläfen, mit leichtem Grau durchzogen, normaler Körperbau mit einer Neigung zum Bauchansatz, penibel rasiert und immer in schmal geschnittene Anzughosen gekleidet.

Er trat näher und versuchte, ihren Blick zu erhaschen. Sie wich ihm aus, und er straffte sich, um die Situation nicht sofort eskalieren zu lassen. Andererseits hatte sie auch nicht so getan, als wäre da nichts zwischen ihr und dem Doktor. Das musste er ihr hoch anrechnen, denn das war ihr gewiss nicht leichtgefallen.

»Der Tote hat keinen einzigen heilen Gesichtsknochen mehr. Das hat die Durchleuchtung gezeigt, und das ist nur mit massiver Gewalteinwirkung möglich. Im Regelfall unter Zuhilfenahme einer Tatwaffe. Die Statue, die am Tatort sichergestellt wurde, kann ich als Waffe von vornherein ausschließen.«

Er beugte sich über das Gesicht des Opfers und zeigte mit seinem silbernen Montblanc-Kuli auf einige Fleischfetzen. Er benutzte dieses teure Schreibgerät mit der Lässigkeit eines Oberschichtmitglieds, und Frank wollte ihn gern schubsen, damit der Kuli im blutigen Brei landete.

Frank atmete tief durch. Ja, er mochte den Mann nicht. Sein Vorgänger Doc Heinzmann war ein knorrig-fröhlicher Geselle gewesen, der auch mal hinter vorgehaltener Hand einen Tipp abgegeben hatte, bevor der Bericht hieb- und stichfest in Stein gemeißelt gewesen war, aber Frank musste sich mit den Gegebenheiten arrangieren und durfte die Animositäten, die bereits zwischen ihm und Schmitt waberten, nicht noch verschlimmern.

»Auch wenn ich noch nicht alle Schlagmuster detailliert vermessen habe – das wird zum Teil auch erst dann möglich sein, wenn ich die Gesichtshaut, Fleisch und Muskulatur abgetragen habe und die Knochenfragmente separiert sind –, hätte ein solcher Gegenstand doch kraterähnliche Einbuchtungen verursacht.« Der Pathologe war ganz in seinem Element. »Die Haut wäre anders aufgeplatzt und gerissen.«

Frank räusperte sich und hoffte, dass er seinen Ton im Griff hatte. »Was können Sie zum jetzigen Zeitpunkt bestätigen, Herr Doktor Schmitt?« Schon als es raus war, war ihm klar, dass man es auch als Vorwurf deuten konnte, nicht über Dinge zu quatschen, die eben nicht bestätigt waren.

Doch der andere reagierte gelassen. »Herr Kaiser, dazu komme ich noch.« Frank dachte kurz nach, ob er aufbegehren und »Kommissar Kaiser« sagen sollte, schluckte den Spruch dann aber hinunter. Er war sich schon am Tatort sicher gewesen, dass die Statue nur für die Kopfverletzungen infrage kam und das Gesicht von Fäusten traktiert worden war.

»Kommen menschliche Fäuste als Tatwaffe infrage?«, wandte sich Pia an den Doktor.

»Zum jetzigen Zeitpunkt ist es noch zu früh, eine solche Aussage zu verifizieren, doch auf den ersten Blick mag das durchaus im Bereich des Möglichen liegen. Wenn Menschen in Raserei geraten, potenzieren sich ihre Kräfte. Was ich auf jeden Fall sagen kann, ist, dass diese …« Er deutete nun mit dem Kuli auf eine tiefe Wunde am Kopf, aus der eine gräuliche Masse drang. »… Verletzung hier allein schon tödlich war, da dem Gehirn ein schweres Trauma zugefügt wurde. Und es sind noch weitere vorhanden.« Er machte sie auf drei weitere Stellen aufmerksam, aus denen jedoch keine Gehirnmasse quoll. Frank konnte sich nicht erinnern, in seiner Laufbahn schon einmal ein Gesicht gesehen zu haben, das durch Schläge aus Menschenhand so fürchterlich zugerichtet worden war. Margeaux und er hatten den ein oder anderen Milieumord aufgeklärt, bei dem mit Eisenrohren auf das Opfer eingeschlagen worden war oder einmal auch mit einem Holzpflock, den man mit Nägeln gespickt hatte. Das hatte ebenfalls zu üblen Verletzungen geführt. Jedoch rein mit Faustschlägen Knochen so zu zertrümmern, war außergewöhnlich, und er musste an Pias erste Reaktion und ihre Anspielung auf »Hulk« denken.

»Sollte sich herausstellen, dass der oder die Täter mit bloßen Händen zugeschlagen haben, so ist das ein spurentechnischer Vorteil, denn dann haben sich auf jeden Fall Spuren übertragen. So etwas geht nicht ohne Blessuren oder gar tiefere Verletzungen an den Händen vonstatten.« Schmitt war Frank mit seiner Erklärung zuvorgekommen. Dann musste der Täter – oder vielleicht hatte der Mann ja auch recht, und es waren mehrere – nur noch erkennungsdienstlich erfasst worden sein. Die DNA log nicht, und das war für die Polizei immer der sicherste Weg der Überführung.

»Dann hoffen wir mal, dass du fündig wirst, denn das würde uns sehr helfen.« Pia lächelte den Weißkittel mit schräg gelegtem Kopf an.

Brauchte er Margeaux, um diesen Blick zu deuten, oder konnte er ganz allein mutmaßen, was da lief? Margeaux! Er vermisste sie auch nach so vielen Jahren noch, denn mit niemandem an seiner Seite war er so gut wie mit ihr.

Stuttgart, Bohnenviertel, 1. März

Der Kioskbetreiber lehnte sich vor und senkte seine Stimme: »Ich habe es gerade zufällig gehört. Aus der Wohnung von Jungengünni haben sie einen zu Brei geschlagenen Kerl getragen. Die Bullen waren mit einem Riesenaufgebot da, und mein Kontakt sagt, die Bude sieht aus wie ein Schlachthaus!«

»Günni? Wen meinst du?« Ein Kunde hob einen Kaffeebecher an den Mund und pustete hinein, bevor er vorsichtig einen Schluck nahm.

»Na, Jungengünni. Den kennst du doch. Den kennt doch hier jeder. So eine Schwulette, die aber so tut, als wäre sie keine. Zieht dann aber mit irgendwelchen Strichern in eine dunkle Ecke …« Der Kioskinhaber unterstrich seinen Satz mit einigen obszönen Gesten.

Der Kaffeetrinker verzog angewidert das Gesicht. »Ach, den meinst du. Günther. Der ist doch nicht schwul. Der ist doch letztes Jahr mit Martha von der Züblin-Kasse ausgegangen.« Das Parkhaus lag hinter dem Kiosk, und man kannte sich in der Ecke gut.

»Das heißt doch nichts. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass er regelmäßig junge Kerle abgegriffen hat, und jetzt isser tot. Matsche!«

»Mensch, Kurt«, der Mann, mit dem Kaffeebecher stöhnte, »mir kommt gleich die Plörre wieder hoch.«

»Ich sag’s nur, wie’s is’«, blieb Kurt am Thema. »Der Günni is’ richtig kaputtgemacht worden. Eine Frau aus dem Wohnblock gegenüber hat alles genau beobachtet, nachdem die Bullen da aufgelaufen sind. Endlich is’ mal was los hier bei uns.«

»Kannst ja der BILD ein Interview geben, dass du den gekannt hast und weißt, was das für einer war. Dann rennen sie dir hier die Bude ein, und du brauchst einen Kartoffelsack, um die Kohle heimzuschleppen.«

»Meinst du echt?« Kurt machte große Augen. »Daran hab ich noch gar nicht gedacht. Ich verscherbel das Blatt hier zwar, aber …«

»Wenn du so sicher bist, dass der mit Kerlen rumgemacht hat und mit Strichern, dann ist das doch ein gefundenes Fressen für die.«

Kurt nickte heftig und dachte darüber nach, wie er am besten zur BILD Kontakt aufnehmen konnte, bevor ihm jemand zuvorkam. Ein Bericht in der Boulevardzeitung würde noch mehr Presse zu ihm locken und vielleicht auch das Fernsehen, und dann würden die ganzen Neugierigen kommen und alle bei ihm was kaufen. Er rieb sich die Hände, zückte rasch sein Smartphone und begann, die Telefonnummer der BILD-Redaktion zu googeln.

Die Kammer

Ihr habt den Teufel zum Vater und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an. Und er steht nicht in der Wahrheit; denn es ist keine Wahrheit in ihm. Wenn er lügt, sagt er das, was aus ihm selbst kommt; denn er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge.

Johannes 8,44

Es war dunkel und kalt – mehr eine Kammer als ein Zimmer auf dem Dachboden des Hauses. Einst mussten Tauben darin gewohnt haben, denn wenn die Tür aufging und etwas von dem schummerigen Licht der Speicherbeleuchtung hineinfiel, konnte man die grauweißen Kotflecken am Gebälk sehen, und es stank eklig darin. Im Sommer schlimmer als im Winter, denn dann war es so kühl, dass schon mal ein Eiszapfen an einem der Balken hing, aber zumindest konnte man den lutschen, um den schlimmsten Durst zu stillen. Denn zum Eingesperrtsein kam hinzu, dass es weder was zu essen noch zu trinken gab. Manchmal verging eine Ewigkeit, bis diese grausame Bestrafung endete. Doch was danach folgte, war meist nicht besser. Weil es keinen Eimer gab oder etwas Ähnliches, um zu pinkeln, stank es nach Pisse und Scheiße und auch nach Erbrochenem, denn kein Mensch konnte den Gestank und die Angst ertragen, ohne selbst bitteren gelben Saft auszuwürgen. Für diese sogenannte »Schweinerei« gab es im Anschluss regelmäßig Prügel. So, als wäre es der eigene Wille gewesen, in einem hölzernen Verschlag zu verschwinden, in dem man schreien und weinen konnte, wie man wollte.

Niemandes Herz erweichte sich. Die Mutter war eine fette Frau mit bösen kleinen Augen. Sie stand meist am Herd, hatte eine Zigarette im Mundwinkel und zeterte über Kinder, die ihr das Essen wegfraßen. Sie wurde nicht müde zu betonen, dass die Geburten ihr die sexy Figur geraubt hatten. Zur Strafe für die Missetat bekam man dann einen Teller mit undefinierbarem Zeug darauf regelrecht hingeworfen. War man zu hungrig und schaufelte den Fraß schmatzend in sich hinein, schlug sie einem mit dem Kochlöffel hart auf den Kopf. Schaute man das Zeug misstrauisch an, bekam man ebenfalls Schläge, und wehe man stieß einen Ton des Schmerzes aus. Das rief nämlich den Vater auf den Plan. Man gewöhnte sich an stummes Hinabwürgen von allem, was auf dem Tisch landete – gern auch mal mit der Asche dekoriert, die von einer der Kippen auf den Teller bröselte –, denn die Strafen des Erzeugers … sie waren … Lieber ließ man sich von der Mutter mit einem Küchengerät dreschen.

Aber am Ende war es egal. Regelmäßig wurde man die Treppe hinaufgeschleift, schürfte sich dabei den Rücken oder die Knie auf – je nachdem, in welcher Körperhaltung der Vater einen gepackt hielt – und landete in der Kammer. Hatte man Glück, waren die Exkremente vom letzten Mal schon angetrocknet, und er reichte einem Eimer und Schaufel mit den Worten: »Mach’s weg, oder ich stecke deine hässliche Fresse rein.«

Also kroch man im Halbdunkel herum, kratzte die Kacke vom Boden und musste dankbar dafür sein, wenn es dabei blieb. An den schlimmsten Tagen zückte der Alte nämlich den Gürtel, während man auf dem Boden entlangkroch, und flüsterte böse: »Los, Hose runter, du stinkendes Schwein.« Das war schlimmer, als mit der Hand geschlagen zu werden, Hunger oder Durst zu spüren, Angst im Dunkeln zu haben oder sich in eine Ecke zu erleichtern, wenn man dringend musste. Es tat weh, wenn der Gürtel auf das nackte Fleisch klatschte, während man auf den Knien kroch. Doch der Vater war nicht nur gnadenlos brutal, er rieb sich auch noch stöhnend den Pimmel dabei. Zu all den anderen ekelerregenden Gerüchen gesellte sich dadurch auch noch der Gestank von Sperma.

Dann warf er die Tür ins Schloss, beschimpfte einen als abartiges Geschöpf, dem es recht geschah, in der Kammer zu verrecken, während man selbst wimmernd darum bettelte, wieder rauszudürfen. »Bitte, Papi, ich will auch brav sein. Ich … ich werde alles essen … bitte, ich bin lieb und gehorche. Bitte … bitte, Papi.«

Doch es half nichts. War die Tür erst zu, blieb man in der Kammer, kauerte sich liegend zusammen, denn Sitzen war auf dem misshandelten Hintern nicht möglich. Man zog die Knie an die Brust, und irgendwann hatte die Natur Mitleid, wenn man vom Wimmern schwach genug war, und schenkte einem Stunden des ohnmächtigen Schlafes.

Avignon, 1. März

Aimé war sich darüber bewusst, dass er nie mehr ganz der Alte sein würde. Auch wenn ihm die Ärzte gute Prognosen stellten, so war doch klar, dass die bösartigen Zellen in seinem Körper lauerten und niemand versprechen konnte, dass die Chemo und die nachfolgende Bestrahlung ihn für immer davon befreiten. Der Gedanke an den Tod war seit jenem Moment, in dem er blutend in Margeaux’ Armen gelegen hatte, zu einem ständigen Begleiter geworden. Es war nicht so leicht, das wieder von sich zu weisen, und schon gar nicht, wenn alle um einen herum so taten, als balancierte man auf des Messers Schneide. Was für ein durchaus passender Vergleich.

Beinahe musste er grinsen, und er spürte einen Teil des alten Aimés in sich aufblitzen. Jenes Mannes, der fröhlich pfeifend seine Polizeimütze in den Nacken geschoben und den Verkehr in Barbentane geregelt hatte. Er war stets stolz auf seine Sprachkenntnisse gewesen, hatte Touristen durch den Ort gelotst und auch dafür gesorgt, dass sich der Hotelierssohn Thierry Baile mit seiner Bäckerei unweit der Gendarmerie niedergelassen hatte. Er war auf seine Art ein Strippenzieher gewesen, denn er kannte alle Welt und war überall beliebt. Mit seinem Vorgesetzten aus Tarascon, Gilbert Brenot, verband ihn sogar eine Freundschaft. Doch das zählte alles nicht mehr.

Er war nun en retraite – im Ruhestand. Konnte man das als Flic überhaupt sein? Vielleicht war es anderen Kollegen und Kolleginnen möglich, doch für ihn war es furchtbar, und genau deshalb war das Gespräch mit Margeaux mehr als nötig. Er brauchte sie auf seiner Seite. Sie würde ihn verstehen, doch wusste er auch, wie besorgt sie war. Dazu brauchte er kein Mimikexperte zu sein. Sie hatte eine Schulung zum Thema Emotionserkennung in Tarascon abgehalten. Ihre Position als Officier de Liaison hatte Brenot nie aufgehoben, und so war sie heute einerseits Privatdetektivin und andererseits beratend sowohl für die französische als auch die deutsche Polizei tätig. Ihr ehemaliger Chef Werner Walter hatte ihr dies für die Kripo in Stuttgart ermöglicht. Das hatte Margeaux aus ihrem Zwiespalt geholfen, in dem sie kurz vor ihrer Eheschließung mit Thierry steckte, denn die Polizeiarbeit hatte ihr ganz offensichtlich gefehlt. Der Vortrag hatte ihre Expertise gezeigt und alle Teilnehmenden begeistert. Für die Polizeiarbeit war das wirklich ein hervorragendes Werkzeug, und Margeaux konnte ihre Expertise teilen und war eben genau deshalb eine versierte Kommissarin gewesen. Da war er wieder beim Thema: Konnte man seinen Beruf als ehemaliger Polizist je ablegen?

Sie ging gelassen neben ihm und schob den Ständer mit dem Piepding. Noch arbeitete es gleichmäßig und schallte nicht schrill durch den Flur, als würde er innerhalb der nächsten Sekunden umkommen. Obwohl der Krebs der Böse war, hatte er begonnen, auch in der Chemo einen Feind zu sehen, denn sie machte ihn schwach und bedürftig. Er hasste es. Doch er würde sich nicht unterkriegen lassen, und für all die nötige Energie brauchte er dringend eine Perspektive.

»Ich will, dass du mich in deine Privatermittlungen einbindest«, ließ er die Katze aus dem Sack.

Sie blieb stehen, und auch er musste stoppen, damit der Schlauch nicht an der Nadel in seiner Armbeuge zerrte. »Wie einbinden?«

»Ganz einfach, Margeaux. Ich habe den Antrag auf den Status als Privatdetektiv gestellt, was bei einem Polizisten i. R. unproblematisch möglich ist, und sowie ich die Bestätigung in meinen Händen halte, will ich mit dir zusammenarbeiten.«

Sie schaute ihn an und zog die Stirn kraus. »Weiß Hilde davon?«

»Du bist die erste und auch die wichtigste Person, der ich das erzähle. Ich will mich nicht mit dem ganzen Kram beschäftigen, wie man Kunden bekommt oder so. Ich will ermitteln, beobachten und Fälle lösen.« Er gab seiner Stimme Nachdruck.

»Solltest du …«

Er wusste, was nun kommen würde, und wappnete sich. Verbannte man ihn aufs Sofa, wäre er bald wirklich nur noch ein Wrack, bei dem Haut die Knochen zusammenhielt. Er straffte sich und wartete ihre Worte ab.

Margeaux begann erneut: »Ich weiß, es ist schwer für dich. Doch wäre es nicht wichtig, erst einmal gesund zu werden?«

Er konnte den Unterton hören oder bildete es sich zumindest ein, das Ungesagte zu verstehen: Er war zu schwach und daher zu nichts nutze. Doch er wollte nicht betteln. Sie musste doch begreifen, dass ein guter Beobachter keinen Marathon laufen musste, um seine Fähigkeit unter Beweis zu stellen. »Was, wenn ich genau das brauche, um mich zu erholen? Du, Margeaux, weißt doch am besten, wie es sich anfühlt, wenn man immer einen guten Job gemacht hat und dann …«

»Hilde?«, insistierte sie mit angehobenen Augenbrauen. Beide waren oben – also schon mal keine Verachtung. Er hatte gut aufgepasst, und vieles von dem, was sie mit Bildmaterial und Videos erläutert hatte, war ihm bereits bekannt gewesen. Schließlich war sie so etwas wie seine Tochter, und sie waren immer im Austausch geblieben, auch, als sie in Stuttgart gelebt hatte.

»Hilde …« Er senkte den Blick, denn es fiel ihm wirklich schwer: »Sie weiß es noch nicht, und ich möchte erst mit ihr sprechen, wenn ich die …«

»Ich soll schon wieder irgendwelche Geheimnisse bewahren, die euch beide betreffen?«, fiel sie ihm ins Wort, und in ihrer Stimme klang Empörung mit. »Das hatten wir doch schon mal, und es ging nicht gut aus, wie wir alle – und ganz besonders du – erfahren haben. Nein. Das mache ich nicht!«