Französische Verstrickungen - Nicole de Vert - E-Book
SONDERANGEBOT

Französische Verstrickungen E-Book

Nicole de Vert

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Ein ungelöstes Rätsel aus der Vergangenheit, Skrupellosigkeit und Gewalt: Margeaux Surfins persönlichster Kriminalfall in SüdfrankreichWie kam Frank Kaisers Mutter wirklich ums Leben? Die als Prostituierte abgestempelte Mutter des Polizisten und Ex-Kollegen von Mimikexpertin Margeaux Surfin wurde vor mehr als drei Jahrzehnten getötet. Aktuelle Spuren führen das deutsch-französische Team in die mafiös organisierte Geldwelt von Marseille. Was wusste die deutsche Bankangestellte, dass sie sterben musste? Und warum wurde nie richtig in diesem Fall ermittelt? Margeaux und ihre Mitstreiter geraten in einen Strudel aus Skrupellosigkeit, Gewalt und politischen Verstrickungen. Mit einem exklusiven Rezept von Sternekoch/TV-Koch Alexander Herrmann »Französische Verstrickungen« ist der vierte Band der fesselnden Provence-Krimiserie rund um Mimikexpertin und Hobbyköchin Margeaux Surfin – mit jeder Menge Südfrankreich-Flair, auch unabhängig von den anderen Bänden der Reihe zu lesen.»Das Buch ist extrem spannend, der Schreibstil ist flüssig und man kann genau erkennen, wie sich die einzelnen Puzzle- Stückchen zur Aufklärung zusammen fügen.«  ((Leserstimme auf Netgalley))

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de

Wenn Ihnen dieser Krimi gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Französische Verstrickungen« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Sprachredaktion: Julia Feldbaum

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Cover & Impressum

Ein weiser König …

Marseille, Europort-Containerhafen, im Oktober

Barbentane im September

Hameau les Bouisses im September

Barbentane im September

Stuttgart, Mordkommission, im September

Stuttgart, Staatsanwaltschaft, im September

Hameau les Bouisses im September

Süß schmeckt dem Menschen …

Stuttgart, Killesberg, im September

Frankfurt im Jahr 1983

Bad Homburg im Jahr 1973

Hameau les Bouisses im September

Tarascon im September

Vor allem haltet beharrlich fest …

Frankfurt im Jahr 1972

Hameau les Bouisses im September

Frankfurt im Jahr 1983

Stuttgart, Mordkommission, im September

Barbentane im September

Bad Homburg im Jahr 1973

Hameau les Bouisses im September

Stuttgart, Killesberg, im September

Das Dossier

Tarascon im September

Boulbon im September

Frankfurt im Jahr 1983

Wir wissen: Wir sind aus Gott, …

Hameau les Bouisses im September

Barbentane im September

Hameau les Bouisses im September

Bad Homburg im Jahr 1973

Vielmehr wird jeder von seiner …

Stuttgart, Killesberg, im September

Stuttgart, »Il Pastaio«, im September

Hameau les Bouisses im September

Tarascon im September

Bad Homburg im Jahr 1974

Stuttgart, »Il Pastaio«, im September

Hameau les Bouisses im September

Stuttgart, »Il Pastaio«, im September

Stuttgart, »Il Pastaio«, 15 Monate zuvor

Stuttgart, »Il Pastaio«, im September

Barbentane im September

Tarascon im September

Hameau les Bouisses im September

Frankfurt im Jahr 1983

Weiter sagte er: Was aus dem Menschen …

Hameau les Bouisses im September

Bad Homburg im Jahr 1974

Tarascon im September

Hameau les Bouisses im September

Bad Homburg im Jahr 1974

Deutschland im Jahr 1973

Stuttgart, Mordkommission, im September

Barbentane im September

Weh denen, die Unheil planen …

Marseille im September

Hameau les Bouisses im September

Hameau les Bouisses im September

Bad Homburg im Jahr 1974

Stuttgart, Staatsanwaltschaft, im September

Hameau les Bouisses im September

Hameau les Bouisses im September

Frankfurt im Jahr 1974

Hameau les Bouisses im September

Marseille im September

Frankfurt im Jahr 1974

Furcht gibt es in der Liebe nicht, …

Bad Homburg am 2. Januar 1975

Hameau les Bouisses im September

Bad Homburg im Januar 1975

Stuttgart im September

Das Dossier

Barbentane im September

Hameau les Bouisses im September

Tarascon im September

Frankfurt im Jahr 1984

Stuttgart im September

Denn das ist die Botschaft, …

Avignon im September

Stuttgart im September

Avignon im September

Stuttgart, Staatsanwaltschaft, im September

Frankfurt im Jahr 1984

Marseille im September

Botnang im September

Das Dossier

Frankfurt im Jahr 1984

Hameau les Bouisses im September

Marseille im September

Wenn wir sagen, dass wir keine …

Hameau les Bouisses im Oktober

Marseille im Oktober

Stuttgart im Oktober

Italien, Gaiole, vier Monate zuvor

Marseille im Oktober

Hameau les Bouisses im Oktober

Jesus aber sagte zu ihm: …

Tarascon im Oktober

Stuttgart, Staatsanwaltschaft, im September

Marseille im Oktober

Botnang im Oktober

Hameau les Bouisses im Oktober

Marseille im Oktober

Stuttgart im Oktober

Arles im Oktober

Frankfurt im Jahr 1984

Hameau les Bouisses im Oktober

Botnang im Oktober

Stuttgart, Mordkommission, im September

Er hat mich getrieben und gedrängt …

Tarascon im Oktober

Hameau les Bouisses im Oktober

Avignon im Oktober

Botnang im Oktober

Avignon im Oktober

Marseille im Oktober

Das aber sollst wissen: …

Avignon im Oktober

Frankfurt im Jahr 1984

Avignon im Oktober

Frankfurt, einige Wochen zuvor

Botnang im Oktober

Avignon im Oktober

Stuttgart im Oktober

Frankfurt im Jahr 1984

Stuttgart im Oktober

Avignon im Oktober

Frankfurt, einige Monate zuvor

Hameau les Bouisses im Oktober

Italien, einige Monate zuvor

Provence im Oktober

Dann wird er zu denen …

Stuttgart im Oktober

Stuttgart im Oktober

Stuttgart im Oktober

Boulbon im Oktober

Stuttgart, Staatsanwaltschaft, im Oktober

Boulbon im Oktober

Stuttgart im Oktober

Stuttgart, Staatsanwaltschaft, im Oktober

Frankfurt, einige Wochen zuvor

Stuttgart im Oktober

Provence im Oktober

Stuttgart, »Il Pastaio«, im Oktober

Barbentane im Oktober

Hameau les Bouisses im Oktober

Marseille, Europort-Containerhafen, im Oktober

Avignon, Hospital, drei Tage später

Epilog

Nachwort

Die Mafia-Strukturen in diesem Buch

Methoden und Studien

Rezepte

Courgettes, gefüllt mit roter Tapenade und Reis

Crème brûlée au chocolat

Vitello tonnato mit Limequat-Kartoffelpüree

Lavendelkuchen mit Basilikumsorbet

Radis noir et poisson croustillant

Rote Bete und Rose

Annabelles Apfelkuchen

Dessert à la Alexander Herrmann

Danksagung

Ein weiser König sondert die Frevler aus. Er lässt über sie den Dreschwagen rollen.

Sprüche 20,26

Diese Stimme.

Sie klang gebrochen, anfangs noch hoch und rasch. Von der Angst getrieben wurde sie immer flehender, um dann leise, dunkel und langsam voller Verzweiflung nur noch ein flüsternder Hauch zu sein. Und sie erstarb nie ganz. Egal wie sehr die Augen aus dem einst so geliebten Gesicht herauszuquellen schienen, als die Atemluft nicht mehr zur Verfügung stand. Die Stimme blieb. Dieser qualvolle Ton. Diese Worte von Liebe und Vertrauen. Einst geliebt? Oder noch immer?

Die Frage blieb offen. Doch die Hetzjagd der Gedanken kam immer wieder. Hände, die Flecken hinterließen, unschön und wie Tattoos: Nur die Auflösung des Fleisches würde sie irgendwann beseitigen können. Der Körper schlaff, alle Muskelspannung entwichen, und doch wisperte die Stimme wie ein Versprechen für die Unendlichkeit, und das war es auch wirklich geworden: eine unendliche Liebesgeschichte. Die Stimme hatte es versprochen, und sie hielt, was sie versprach. Immer – ob zu Lebzeiten oder im Tod.

Marseille, Europort-Containerhafen, im Oktober

Margeaux lehnte sich zurück in den Fahrersitz und blickte interessiert auf ihren Beifahrer. Paul Bacron war angespannt, das konnte sie auch ohne großes Wissen über Körpersprache sehen. Seine Hände huschten immer wieder über seine Oberschenkel, rieben am Hals entlang oder zupften am Ohr. Sein Atem ging unregelmäßig. Die Augen waren weit geöffnet, und ihr geübter Blick nahm die vergrößerten Pupillen und die erhöhte Blinzelfrequenz wahr. Sein cooles Verhalten war also nur aufgesetzt.

Die Ampel schaltete auf Grün, und Margeaux fuhr wieder an und konzentrierte sich auf den dichten Verkehr in Marseille. Sie begleitete den Polizisten heute zum dritten Mal, und das heutige Treffen war von besonderer Bedeutung, die beiden anderen Male war er quasi tiefenentspannt gewesen und hatte die aktuellen Songs im Radio mitgesungen und mit den Beinen im Takt gewippt. Heute war davon keine Spur zu erkennen. Entnervt hatte er sogar das Radio ausgeschaltet, und im Auto herrschte eine angespannte Stille.

Der Oktober war in diesem Jahr ausgesprochen mild, und die Sonne prangte zwar tief stehend, aber noch immer wärmend, als wäre es Sommer, am Himmel.

Sie klappte die Sonnenblende herab, atmete tief ein und bat ihn: »Sag mir bitte noch einmal die wichtigsten Aspekte für den heutigen Einsatz und was du von mir erwartest.«

Diese Technik führte oft zum Erfolg: den Stress zu minimieren, indem man das Gehirn dazu brachte, den rational planenden Bereich im präfrontalen Kortex zu aktivieren.

Seine Stimme klang gepresst, als er den Ablauf des bevorstehenden Treffens mit dem Waffenhändler erneut skizzierte. »Wir treffen diesmal ja keinen der kleinen Handlanger, sondern den wichtigsten Entscheider. Im Regelfall wird er von einer Art Privatarmee beschützt. Meist hat er zwei Mann direkt bei sich, und der Rest hält sich diskret im Hintergrund.« Sein Atem ging noch immer schnell, und er leckte sich rasch die Lippen. »Und diesmal lautet der Deal: nur diese beiden, keine Armee!«

»Was ist heute noch anders?«, erkundigte sich Margeaux und gab ihrer Stimme einen leichten Klang. »Du wirkst extrem angespannt und so nervös, dass es auffällig ist und du die Mission am Ende noch gefährdest!«, setzte sie nach.

Paul klopfte gegen das Seitenfenster und wandte sich ihr dann zu. »Begreifst du nicht, was heute anders ist?«, erklärte er aufgebracht. »Wenn das Gespräch heute klappt, dann stehen wir kurz vor dem Durchbruch. Ich habe so lange darauf hingearbeitet, dass man mir genügend vertraut, um einen Termin mit Faik zu bekommen. Ich hab so viel Scheiße dafür anfassen müssen, dass ich manchmal nicht mehr weiß, wer ich bin. Und wenn das heute gelingt, dann bekomme ich vielleicht mein Leben zurück.«

Seine Augenbrauen schoben sich nach unten, und die Innenseiten zogen sich zusammen. Er presste die Lippen aufeinander, und der Ärger war ihm deutlich anzusehen. Und doch flackerte auch die typische Mimik für Angst durch sein Gesicht, als die Augenbrauen für einen Sekundenbruchteil die dafür unverkennbare S-Form annahmen.

Margeaux umfasste das Lenkrad und fuhr den Wagen geschickt zum Treffpunkt. »Du hast doch mich«, sagte sie selbstbewusst, »ich passe schon auf dich auf!«

»Genau das befürchte ich!«, schob Bacron mit einem schiefen Grinsen nach. »Du passt auf mich auf, aber unterm Strich musst du auf uns beide achten, Margeaux. Das hier ist wirklich kein Spiel!«, machte er mit ernstem Gesicht deutlich.

Sie nickte wissend. Situationen wie diese waren durchaus nichts Neues für sie, denn sie hatte als Kommissarin der Mordkommission in Stuttgart mit ihrem Kollegen Frank Kaiser in vielen gefährlichen Situationen ermittelt. Der Fall rund um den gewieften, kaltblütigen Serienmörder Martin Angerer, den die Presse »Schächter« getauft hatte, hatte sehr viel Aufsehen erregt und war sicher einer der umfassendsten in ihrer Karriere gewesen. Mit der OK – also der Organisierten Kriminalität – hatte sie tatsächlich noch nicht so viele Erfahrungen sammeln können, insofern war diese Situation hier mit dem verdeckten Ermittler Paul Bacron alias Pascal Lingerot eine Art Premiere für sie.

Der Treffpunkt war erreicht, und Margeaux fragte sich wieder einmal, ob es ein Handbuch gab, in dem die Bösewichte dieser Welt nachlesen konnten, wo man sich am besten für zwielichtige Geschäfte verabredete. Containerhäfen kamen auf jeden Fall darin vor, dessen war sie sich sicher.

Langsam fuhr sie die Reihen entlang, um die Bezeichnungen lesen zu können und richtig abzubiegen.

Kurze Zeit später hatten sie den Platz gefunden, und sie parkte das Fahrzeug. Noch war niemand zu sehen, aber sowohl Paul als auch sie waren sich sicher, dass der Strippenzieher der Prostitution, des Drogen- und des illegalen Waffenhandels und noch vieler anderer krimineller Geschäfte bereits in der Nähe war.

Der Ort war wirklich gut gewählt: Die Container standen verschachtelt und mehrere Meter hoch in Reih und Glied. Die »Straße« vor C265 war von außen nicht einsehbar, und um diese Uhrzeit war kein Mensch zu sehen. Das geschäftige Treiben war für heute beendet. Während sie sich umsahen, kam eine schwarze Limousine um die Ecke.

Auch das stand hundertprozentig in dem Verbrecherhandbuch: »Nur eine edle schwarze Limousine mit getönten Fenstern kommt für einen Kriminellen gehobenen Niveaus infrage.«Margeaux musste trotz der gefährlichen Situation, in der sie sich befanden, schmunzeln.

Barbentane im September

Die überraschende Ankündigung von Matze und Elodie hatte alle fröhlich gestimmt. Dass gerade das junge Computergenie der Erste aus ihren Reihen sein würde, der in den Ehehafen einlief, war auch nicht wirklich zu erwarten gewesen. Der ausgefuchste Hacker hatte sich schon letztes Jahr in die außergewöhnliche Schwester von Thierry Baile, Margeaux’ Freund, verliebt. Dem Bäcker und Patissier aus Barbentane war es anfangs nicht ganz recht gewesen, denn er wusste ja ein wenig darüber Bescheid, was Matze so trieb, und wollte seine zärtlich geliebte jüngere Schwester gern vor allem Übel und Unheil bewahren. Doch wie konnte er das verbieten? Auch er war Teil einiger gefährlicher Aktionen gewesen, seitdem er und Margeaux ganz offiziell ein Paar geworden waren. Vor einigen Wochen hatte es sogar kurz so ausgesehen, als würden sie es nicht schaffen zusammenzubleiben, obwohl er bereits einen Ring hatte anfertigen lassen. Margeaux war sich nicht mehr sicher gewesen: nicht mehr sicher, ob sie in der Provence leben wollte und ob sie eine einfache Privatermittlerin sein konnte. Ihr ehemaliger Kollege bei der Stuttgarter Mordkommission, Frank Kaiser, hatte bei ihren Überlegungen ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle gespielt.

Thierry seufzte auf, kurz war er versucht, den wunderschönen Ring aus der Schublade seines Schreibtisches zu holen, dann strich er aber nur langsam über den Griff der Schublade und ließ das Corpus Delicti, wo es war. Er hatte seiner schönen, klugen und mutigen Freundin vergeben, und doch spürte er diesen Stich in seinem Herzen: Er hatte um ihre Hand anhalten – ganz klassisch auf den Knien – und ihr dann den Ring überstreifen wollen. Die Goldschmiedin Isabelle Vanier hatte ein einzigartiges Stück geschaffen: Der Ring war aus vierzehnkarätigem Gold und bestand quasi aus fünf Schichten. Der äußere Rand war fein ziseliert mit kleinen, geschwungenen Ranken, dann kam eine Reihe glitzernder Diamanten. Die äußeren Ringe waren auf beiden Seiten gleich gehalten, und der mittlere, etwas breitere Teil bestand aus offenen, rankenförmigen Ziselierungen, die mal etwas massiver und mal sehr zart gestaltet waren. Jeder Ring war ein Unikat, das seiner Trägerin quasi auf den Leib »geschneidert« wurde. Er war stolz auf den Ring, denn der erste Entwurf war von ihm selbst gekommen. Der Ring war so, wie er Margeaux sah: stark und trotzdem zerbrechlich. Der Krebstod ihrer Mutter hatte sie damals vollkommen aus der Bahn geworfen, fast war sie daran zerbrochen. Doch ihr Vater hatte sie zurück in die Provence geholt.

Thierry lehnte sich sinnierend zurück, sog genüsslich den buttrig-süßen Duft ein, der die Räume seiner Bäckerei durchzog. Er liebte seine Arbeit, liebte es zu sehen, was er mit seinen Händen erschaffen konnte. Und er liebte die Blicke seiner Kunden, wenn sie noch im Laden in das Gebäck beißen mussten, angezogen von dem Geruch und der Optik: Genuss pur!

Das hatte auch dafür gesorgt, dass er Margeaux besser verstehen konnte: Etwas aufzugeben, was man von Herzen gern tat, konnte einen unglücklich machen. Leider liebte sie den Tod. Er schüttelte leicht den Kopf bei diesem theatralischen Gedanken. Sie liebte es, Verbrechen aufzuklären. Das war ihre Leidenschaft, so wie es die seine war zu backen und zu verzieren. Gleich würde er anfangen, die Torte für den großen Tag seiner Schwester zu planen, und dann, irgendwann, würde er seine eigene Hochzeit in Angriff nehmen.

Es klopfte an die Tür, und seine Mitarbeiterin kam herein und bat ihn um Unterstützung im Laden. Motiviert sprang er auf und folgte ihr in die Verkaufsräume.

Hameau les Bouisses im September

»Ich bringe euch gleich die Spiegeleier«, hörte Margeaux Hilde durch das geöffnete Küchenfenster rufen.

Ihre Stimme klang wieder recht normal. Sie schien sich von dem erlebten Schrecken, dass auf sie geschossen worden war und sie nur knapp dem Tode entronnen war, wirklich wieder erholt zu haben. Anfangs war sie wie ein Roboter gewesen: abgehackte Bewegungen, leerer Blick und ständige Geschäftigkeit. Dann hatte sie eines Tages im Vorratsraum eine Tüte Kichererbsenmehl entdeckt und war in Tränen ausgebrochen. Margeaux hatte sie dort gefunden, in eine Ecke gekauert, die Tüte in der Hand und mit vor Weinen zuckenden Schultern. Das Weinen an sich war lautlos gewesen, und Margeaux hatte sich zu ihr gesetzt, wortlos und so nah, dass ihre Schulter Hildes Schulter berührt hatte, und sonst nichts getan. Sie wusste, wie man sich nach einem Schock fühlte, und war behutsam vorgegangen. Hilde war viel mehr für sie als nur eine Haushälterin und bedeutete ihr sehr viel.

Realistisch gesehen hatte Hilde sie aufgezogen. Hilde und Aimé waren immer weitaus präsentere Eltern gewesen als ihre eigenen. Marie-Louise, Margeaux’ Mutter, war nach dem Tod ihres Vaters damit beschäftigt gewesen, das elterliche Unternehmen weltweit zu führen, und später war die Medizinerin ihrem Herzen gefolgt und hatte als Ärztin im Ausland für »Ärzte ohne Grenzen« gearbeitet. Julien, Margeaux’ Vater, Inhaber des beliebten Bistrorants »Chez Louise« in Avignon, hatte seine Lehr- und Wanderjahre in den unterschiedlichsten Städten bei begnadeten Lehrern wie Bocuse oder Witzigmann verbracht.

Ihre Eltern waren ihre Eltern geblieben, hatten einander auf ihre Weise inniglich geliebt – und auch das kleine Mädchen. Es hatte nur irgendwie keinen Platz in ihrem Lebensentwurf, also kümmerten sich Hilde und Aimé und Marie-Louises exaltierte Mutter Annabelle um Margeaux. Die Großmutter schleppte die Kleine in Opern und zu Soirees, und die beiden Franzosen sorgten für Margeaux’ Bodenhaftung. Margeaux war ein cleverer Wildfang, und irgendwie war es dann auch kein Wunder, dass sie sich Aimé als Vorbild nahm und Polizistin wurde. Der Flic, so die volkstümliche französische Bezeichnung für einen Polizisten, hatte ihren Blick auf Gerechtigkeit geprägt.

Als Deutsch-Französin entschied sie sich für die Polizeischule und eine Karriere in Deutschland und wurde zum Star der Stuttgarter Mordkommission. Ihre Eltern waren anfangs nicht so begeistert von der Berufswahl ihrer Tochter, doch schließlich akzeptierten sie es, denn sie hatten ihr beide vorgelebt, wie es war, einer Berufung zu folgen. Der drahtige Dorfpolizist Aimé hatte mit stolzgeschwellter Brust bei Margeaux’ Vereidigung gesessen, und Hilde hatte ihm sogar ein Taschentuch reichen müssen, so gerührt war er gewesen, dass Margeaux diesen eingeschlagenen Weg begeistert und zielstrebig gehen wollte.

Margeaux beugte sich über den Tisch und flüsterte Frank verschwörerisch zu: »Ich denke, es liegt auch ein bisschen an dir, dass es ihr wieder gut geht. Sie mag dich einfach sehr, und da du jeden Happen, den sie dir kredenzt, anschaust, als wäre es das Leckerste auf der Welt, blüht sie geradezu auf.«

»Ich muss mich dazu kein bisschen verstellen«, konterte Frank, »alles, was sie zubereitet, ist oberlecker, und ich werde bald nicht mehr in meine Klamotten passen.« Er klopfte sich bestätigend auf den durchtrainierten Bauch, an dem kein Gramm Fett zu viel zu sehen war.

Sie hatten gerade ein straffes Training hinter sich und waren nun bereit für das üppige späte Frühstück. Margeaux grinste. Wenn sie zusammen waren, verbrachten sie viel Zeit mit Sport. Sie joggten durch die Campagne, schwammen und trainierten in der umgebauten Scheune Martial Arts im Zweikampf oder hämmerten auf den Boxsack ein. Sie waren beide in Topform. Frank hatte seinen kompletten Urlaub genommen und fühlte sich in der Provence auf dem abgelegenen Weiler wohler denn je.

Hilde kam schwer beladen aus der Küche gerauscht und stolperte fast über den wuseligen Dackel, der ihr auf Schritt und Tritt folgte, in der Hoffnung, dass etwas für ihn abfallen könnte.

»Willi, Schluss jetzt«, maßregelte sie ihn mit milder Strenge und stellte das Tablett auf dem Tisch »in der stillen Ecke« ab. Der Platz unter der Mimose hatte seinen Namen bekommen, weil es dort auch bei tosendem Mistral windstill blieb.

Sie lächelte die beiden am Tisch an, und Franks Blick wandte sich, wie magisch angezogen, den Köstlichkeiten zu. Von wegen Spiegeleier. Kunstwerke waren das: Das saftige Gelb der Eier – die frei laufenden Hühner der Nachbarn Camille und Benjamin fraßen, was die Natur ihnen bot – war auf den Punkt gegart und cremig-flüssig, während das leuchtend schimmernde Eiweiß sogar eine knusprige Kante hatte. Auf dem Eigelb sah er das Fleur de Sel, den Spritzer Zitronensaft, und über dem Weiß verteilte sich ein Schuss Olivenöl. Diese Kombination war mehr als köstlich, und er liebte den Geschmack. Dazu gab es sahnig aussehende Butter, frisches Baguette, Croissants und Marmelade, die Hilde aus den Aprikosen im Cabanon machte und mit Mandelblättchen und einem Hauch Mandelaroma verfeinerte. Ein Stück Reblochon-Käse verströmte seinen kräftigen Duft und vervollständigte die Mahlzeit, die eigentlich fast schon ein Mittagessen darstellte, obwohl Hilde dies gewiss nicht so einfach akzeptieren würde.

Margeaux verteilte die Teller mit den Eiern, und die fürsorgliche Haushälterin stellte die restlichen Lebensmittel auf den Tisch. Selbstverständlich hatte sie erneut frisch duftenden Kaffee zubereitet, sie schwor auf langsames Filtern mit nicht zu heißem Wasser, und stellte die Tassen vor den beiden ab.

»Das sieht wundervoll aus«, meldete sich Frank zu Wort.

Hilde legte ihm tätschelnd die Hand auf die Schulter. »Das ist wirklich nichts, Frank, und das weißt du auch.«

»Dieses Nichts ist das beste Frühstück der Welt«, bekräftigte Margeaux und nahm einen großen Schluck des belebenden braunen Gebräus zu sich.

Hilde lächelte stolz, griff das Tablett und ging zurück zum Haus. Der clevere Dackel machte es sich nun unter dem Tisch gemütlich. Bestimmt würde er hier auf seine Kosten kommen.

»Jetzt müssen wir aber langsam mal reden«, nuschelte Frank mit vollem Mund.

»Du hast mich ganz schön neugierig gemacht«, gab Margeaux zu, »aber zuerst sollten wir vor allem die Eier essen, und dann wenden wir uns den ernsten Themen zu.« Sie teilte ein großes Stück Eiweiß ab, butterte eine Scheibe Baguette und schob sich die Kombination genüsslich in den Mund.

Als sie vor einigen Wochen bei Frank in Deutschland gewesen war, um ihre innere Verwirrung zu klären, ob sie den Ex-Kollegen und Freund doch mehr als geschwisterlich liebte, hatte sie eine Box unter seinem Bett gefunden, in der er seine über Jahre gesammelten Fakten zum unaufgeklärten Mord an seiner Mutter aufbewahrte. Nun hatte sich scheinbar etwas Neues ergeben. Etwas, das er am liebsten mit ihr persönlich teilen und nicht am Telefon besprechen wollte.

Sie war gespannt.

Barbentane im September

Aimé strich sich über die Stirn und versuchte so, den Kopfschmerz zu besänftigen. Wenn er Arbeiten im Büro zu erledigen hatte, bekam er oft stechende Schmerzen von einer Schläfe zur anderen. Er lehnte sich zurück, ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, um seine Augen dadurch zu entspannen, goss sich dann ein Glas Wasser ein, nippte daran, suchte seine Lesebrille in der Schublade und wandte sich wieder der Tastatur zu. Er war froh, wieder vollumfänglich im Dienst zu sein, denn nach der Bauer-Sache hatte sein Chef doch ein wenig gezögert, ihn wieder arbeiten zu lassen. Aber Hilde hatte sich für die Umstände recht rasch erholt, und damit war auch er wieder ganz der Alte.

Er hatte Hilde nicht bedrängt und sie in ihrem eigenen Tempo alles verarbeiten lassen, war sich aber schmerzlich bewusst geworden, was er ohne sie wäre. Sie hatten sich vor vielen Jahrzehnten in Oberschlesien kennengelernt, als er zu einer Art Studienreise mit einigen Freunden dort gewesen war. Obwohl die Situation damals durch die Grenze zu den Ostblockstaaten wirklich kompliziert gewesen war, war sie ihm, als sie bemerkt hatte, dass sie schwanger war, nach Frankreich gefolgt. Das war nicht nur abenteuerlich und mutig gewesen, sondern auch sehr gefährlich. Ihr Bruder hatte ihr dabei geholfen, und die Eltern hatten ihr die wortlose Flucht erst kürzlich verziehen.

Er würde den Tag nie vergessen, als sie erschöpft durch den Eingang der Gendarmerie gestolpert und in seine Arme gefallen war. Der kleine Pierre hatte einige Monate später das Licht der Welt erblickt, und das hatte sogar seine Mutter milde gestimmt, die alles, was auch nur entfernt deutsch gerochen hatte, gehasst hatte.

Hilde und er hatten glückliche und schwere Zeiten miteinander durchgestanden und teilten ihr Leben als gleichwertige Partner. Sie war wie seine zweite Hälfte. Vervollständigte ihn. Machte aus ihm das, was er war. Wer also wäre er ohne sie?

Diese Erkenntnis hatte ihn blockiert, und alle, die ihn kannten, hatten das bemerkt. Viele Gespräche mit Margeaux, die nach dem Tod ihrer Mutter und der darauffolgenden Depression noch lebensklüger geworden war, hatten die Blockade gelöst, und auch der Polizeipsychologe hatte seinen Beitrag dazu geleistet.

Der Bericht über einen Autodiebstahl langweilte ihn. Er war lieber draußen auf der Straße als am Schreibtisch. Er gehörte gern zum Fußvolk und »sein« Dorf war ihm wichtig. Er hackte die letzten Worte in die Tastatur, klickte das Speicher-Symbol mit der Maus und loggte sich aus.

Er würde jetzt erst mal eine Tasse Kaffee bei Thierry trinken und dann seine übliche Runde machen. Er mochte den Bäcker sehr und war froh, dass sich die Situation zwischen Margeaux und dem gut aussehenden Mann geklärt hatte.

Stuttgart, Mordkommission, im September

»Nehmen Sie den Mann endlich an die kurze Leine!«

Werner Walter fuhr sich erregt durch das gepflegte Haar, die Worte des Staatsanwalts gingen ihm gewaltig gegen den Strich, und doch musste er sich gut mit diesem Widerling stellen. Die Staatsanwaltschaft war nun einmal ein elementarer Teil des deutschen Rechtssystems und ein partnerschaftliches Verhältnis somit unumgänglich. Er zwang sich zu einem Lächeln, und seine Rhetoriktrainerin wäre stolz auf ihn gewesen, denn seine Stimme hatte einen freundlichen und verbindlichen Klang, als er seinen Standpunkt klarmachte. »Wir werden uns in unserer Arbeit zukünftig vor allem auf die aktuellen Fälle fokussieren, und damit sind selbstverständlich auch klare Arbeitsanweisungen an meine Mitarbeiter verbunden.«

»Das will ich hoffen«, blaffte der Staatsanwalt, »es gibt spezielle Abteilungen in Deutschland für die Cold Cases, und Ihre gehört nicht dazu!« Der Mann benutzte den amerikanischen Begriff für nicht aufgeklärte länger zurückliegende Straftaten.

Walter machte nun seinem Spitznamen als Ausrufezeichenchef alle Ehre. »Ich kenne meine Befugnisse sehr gut!!!« Er hatte es satt, sich von diesem Typen auf dem Schlips herumtrampeln zu lassen. »Und ich weiß, dass Sie die Ihren hier massiv überschreiten!!!« Er schloss erneut mit den für ihn typischen vermehrten Ausrufezeichen.

Es folgten noch einige Floskeln, aber beide Männer hatten ihre Position verdeutlicht und damit versucht klarzumachen, wer das Bein zum Pinkeln höher heben konnte.

Walter drückte den Ausknopf am Telefon und bedauerte es wieder einmal, dass er keinen Apparat mehr hatte, bei dem man den Hörer auf die Gabel schmettern konnte, denn das hätte er nun zu gern getan. Sein Job war mehr politisch als ermittelnd, und selbstverständlich war er bemüht, eine gute Figur dabei zu machen – das bedeutete eben auch, Ermittlungserfolge in das rechte Licht zu setzen und Misserfolge entsprechend zuzuordnen. Was aber ein absolutes No-Go für ihn darstellte, war eine Einmischung in seine Führungsverantwortung, denn das ließ ihn schwach und inkonsequent erscheinen. Im tiefsten Inneren teilte er die Auffassung des Staatsanwalts, aber er würde einen Teufel tun und das zugeben. Nichtsdestotrotz musste er sich den Mitarbeiter vorknöpfen und ihn zurückpfeifen, in der Hoffnung, dass der Mann es diesmal wirklich ernst nehmen würde. Andererseits war es aber auch überaus spannend wahrzunehmen, dass der Staatsanwalt wohl besondere Befindlichkeiten in Bezug auf den Cold Case zu haben schien. Vielleicht ließ sich daraus ein Gewinn schlagen?

Seufzend glättete er sein zerrauftes Haar und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu. »Kommt Zeit, kommt Rat«, murmelte er.

Stuttgart, Staatsanwaltschaft, im September

Staatsanwalt Beerschneider rieb sich das Kinn, er war sich nicht sicher, ob das Gespräch gerade zu seinen Gunsten ausgegangen war oder ob er nicht einen elementaren Fehler begangen hatte. Er blickte auf das Telefon, unschlüssig, ob er die Nummer wählen sollte, die ihm diesen Mist hier eingebrockt hatte. Für einen Sekundenbruchteil glitt seine Aufmerksamkeit dahin … in das verdunkelte Zimmer, in dem alles seinen Anfang genommen hatte. Dann straffte er sich, dachte ein paar erniedrigende Worte, die seinem bevorstehenden Gesprächspartner galten, um sich selbst in die richtige innere Haltung zu bringen, und drückte beherzt die Tasten.

Er hing am Haken, das war ihm nur zu klar bewusst, aber er würde nicht kleinlaut zu Kreuze kriechen.

Hameau les Bouisses im September

Margeaux lehnte sich zurück, satt und zufrieden. Der Tisch war leer. Nachdem sie aufgegessen hatten, hatten sie das leere Geschirr in die Küche gebracht, sich jeder mit einer Flasche Wasser bewaffnet und waren nach draußen zurückgekehrt.

»Was hast du heute noch zu erledigen?«, wollte Frank wissen.

»Ich habe Papa versprochen, das Chicorée-Rezept in Form zu bringen. Er möchte das Gericht unbedingt mit auf die Karte nehmen. Vegetarische Gerichte sind wohl gerade echt gefragt. Dann sollte ich meine Mails anschauen, damit ich bei den privaten Ermittlungsanfragen up to date bin«, zählte sie mit entspannter Miene auf. »Und heute Abend kommt Thierry zum Abendessen.«

»Klingt nach einer guten Planung, ohne stressig zu werden«, meinte Frank nickend und nestelte an seiner Unterlippe.

»Raus mit der Sprache!«, forderte Margeaux ihn nun energisch auf und beugte sich vor. »Du hast jetzt lange genug den Geheimnisvollen gespielt.«

»Du weißt, dass es mir nicht leichtfällt, über meine Mutter zu reden«, er machte eine längere Pause, »und alles, was ich da tue, ist ja auch nicht offiziell, das macht es irgendwie noch mal komplizierter.«

Margeaux nickte. »Du weißt ganz sicher, dass es Mord war, dass er nicht aufgeklärt und dass deine Mutter in diesem Zusammenhang verunglimpft wurde. Dir wurde zudem übel mitgespielt, was irgendwie im Nachhinein betrachtet so aussieht, als hätte man dich kaltstellen wollen … oder mundtot machen«, fügte sie noch interpretierend an.

»Gut zusammengefasst, Frau Ermittlerin«, versuchte sich Frank in einem leichten Ton, wurde dann aber sogleich wieder ernst, »wir wissen beide, dass das zum Himmel stinkt.«

Sie nickte bestätigend und ließ ihm schweigend Raum, seine Gedanken zu sortieren. Sie konnte das Emotionsfeuerwerk in seinem Gesicht gut beobachten, dazu brauchte sie noch nicht einmal ihre Fähigkeiten als Mimikexpertin zu aktivieren. Sie hatte sich in Amerika bei Paul Ekman weitergebildet, war in einem Sonderprogramm des FBI für ausländische Ermittler gewesen und hatte erst kürzlich die Mimikresonanz-Methode für sich entdeckt. In Kombination mit ihren erlernten Fähigkeiten war die Tatsache, wahrgenommene Gefühle zu verbalisieren, ein nicht mehr wegzudenkender Teil ihrer Arbeitsweise geworden. Ein winziges Zucken in Franks Oberlippe verriet ihr, dass er etwas als abstoßend empfand, und sie zügelte sich, ihn nicht sofort mit Fragen zu bombardieren.

»Nach unserem Gespräch kam mir die Idee, die Beweismittel noch einmal zu sichten. Das ist immer ein Akt, weil ich in Frankfurt so tun muss, als gäbe es neue Erkenntnisse. Diese Lügerei geht mir gegen den Strich. Warum muss ich lügen, um eine Straftat aufzuklären?« Er redete sich in Rage.

Sie konnte den Ärger sehen, der sich in ihm breitmachte. Die Augen wurden schmal, der Blick stechend, und zwischen den Brauen entstand eine Zornesfalte. Kurz war sie versucht, ihn mit einer Resonanzaussage zu beruhigen, doch dann entschied sie sich dagegen. Sein Ärger war angemessen, und es war wichtig, dass er ihm in diesem Zusammenhang Ausdruck verlieh.

»Wenn ich einen Hinweis hätte, mit wem meine Mutter sich getroffen hat, dann hätte ich einen Ansatzpunkt«, erklärte er mit harter Stimme, »und es könnte mir gelingen, einen Faden aufzunehmen. Sie war keine Prostituierte!« Er spuckte das Wort geradezu aus.

Margeaux schaltete sich ein. »Was sind die Fakten, Frank, und um welches Beweismittel geht es konkret?« Durch ihre rational bezogene Frage lenkte sie seine Aufmerksamkeit hin zu den Tatsachen.

»Sie war Sachbearbeiterin bei einer Frankfurter Privatbank, da hat sie kurz nach der Ausbildung bei der Sparkasse Hanau angefangen. Mein Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, bevor ich geboren wurde, und es gibt darüber so gut wie nichts zu finden. Sie waren noch nicht verheiratet, und ich war nicht geplant.« Sein Blick glitt in die Ferne, während er das gesammelte Wissen abrief. »Sie haben sich sehr geliebt, das hat sie mir immer wieder erzählt. Irgendwie hat sie in einem Anfall von Wut auf das Schicksal alle Bilder von ihm verbrannt, aber sie meinte, ich sähe ihm sehr ähnlich.«

Margeaux schaute ihn liebevoll an, beugte sich vor und legte kurz ihre Hand auf seine, dann ließ sie ihn weiterreden.

»Ich war noch so jung und kann mich an vieles einfach nicht mehr richtig erinnern, aber unsere Wohnung war gemütlich eingerichtet, und uns ging es finanziell gut. Meine Mutter verdiente wohl recht ordentlich, und ich glaube, sie verfügte über ein kleines Erbe. Ihr Vater hat sich ein paar Jahre nach dem Krieg das Leben genommen. Er kam mit dem Erlebten nicht zurecht, und meine Oma starb, als ich eingeschult wurde. Meine Mutter war ein Einzelkind und mein Vater ebenfalls. Seine Eltern waren beide schon tot, als sie sich kennenlernten. Das hat meine Eltern irgendwie zusammengeschweißt. Meine Mutter wurde dann Anfang der Achtzigerjahre befördert, und ich erinnere mich daran, dass sie danach gestresster war …« Er machte eine kurze Pause, öffnete die Wasserflasche und trank durstig einen großen Schluck. Dann fuhr er fort: »Sie blieb länger weg, und wenn sie nach Hause kam, brauchte sie immer Ruhe. Wir haben auch an den Wochenenden nicht mehr so viel unternommen wie vorher. Oft musste sie auch samstags in die Bank, und sonntags stand dann der Haushalt an. Aus meiner Sicht ist mit der Beförderung etwas anders geworden. Sie war nicht mehr so fröhlich, und oft nahm sie beim Abendessen meine Hand und drückte sie so fest, dass es wehtat.«

Margeaux sah den kleinen Jungen am Tisch sitzen, mit Schmerz im Gesicht, schweigsam und tapfer, um der Mutter die Möglichkeit zu bieten, etwas von ihrem Schmerz an ihn abzugeben. Sie hatte Bilder der hübschen Frau gesehen, und das vereinfachte die Visualisierung sehr. Mitgefühl mit dem Kind breitete sich in ihr aus, aber sie wusste, dass Frank genau das nicht wollte. Er tat sich immer schwer mit der Differenzierung von Mitleid und Mitgefühl, also unterdrückte sie es, und er redete weiter.

»Und da war noch etwas, an das ich mich erinnere: Ihre Augen waren irgendwie leblos. Ich kann es nicht anders beschreiben, so, als sei alles Leben und alle Freude aus ihnen gewichen. Nur ihre Liebe konnte ich immer sehen. Aber anders als früher. Es war, als würde ihr Herz dabei bluten, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Ich war noch so jung. ›Viertel vor zehn‹, so sagte sie immer scherzhaft.« Er verstummte und hing seinen Gedanken nach.

»Woran erinnerst du dich noch?«, fragte Margeaux mit sanfter Stimme.

»Ich erinnere mich an den Tag, an dem sie nicht mehr nach Hause kam«, sagte er, und seine Stimme wurde so leise und langsam, dass sie kaum noch zu verstehen war. »Sie kam nie später als zwanzig Uhr nach Hause, wenn ich am nächsten Tag zur Schule musste. Ich saß bis zweiundzwanzig Uhr neben dem Telefon, und ich hatte große Angst. Mir war klar, dass etwas nicht stimmt, sonst hätte sie Bescheid gesagt. Sie hat mich nie am Abend einfach so allein gelassen. Dann klingelte es an der Tür.« Franks Augen waren nun schreckgeweitet. »Ich wusste nicht, ob ich einfach so aufmachen durfte. Ich war ein kleiner Junge, einfach nur ein ängstlicher Junge, der vor Sorge um seine Mama verging.«

Eine lange Pause entstand.

In einem professionellen Verhörkontext hätte Margeaux eine Pause dieser Art nicht zugelassen und die Emotionalität der Situation genutzt, um mehr zu erfahren. Doch Frank war ihr Freund, er war ihr kriminalistischer Partner. Keinem Menschen hatte sie ihr Leben öfter anvertraut, und nur mit wenigen anderen Menschen hatte sie so viel Zeit zu zweit auf engstem Raum verbracht wie mit ihm. Endlose Stunden der Observation oder Fahrten zu Tatorten hatten ihnen diese Zeit beschert, und sie kannten einander in- und auswendig. Wenn er nun diese Zeit brauchte, um seine Gedanken und Gefühle zu sortieren, dann stand ihm das zu.

In seiner Wohnung in Stuttgart hatte er den Fall faktenbasiert kurz skizziert, doch diese Situation hier war vollkommen anders: Er durchlebte die Szenen wieder. Sie behielt ihn im Auge, um, falls nötig, zu helfen, aber mehr empfand sie im Moment als übergriffig.

»Als das Klingeln nicht endete und gegen die Tür geklopft wurde, wurden auch unsere Nachbarn aufmerksam, und unter uns wohnte eine ältere Dame, die manchmal nach mir schaute. Tante Maria habe ich sie genannt. Maria Schneider hieß sie, sie hatte einen Schlüssel und öffnete der Polizei die Tür. Ich hatte mich mittlerweile hinter dem Sofa versteckt, so bedrohlich empfand ich diese Situation. Tante Maria fand mich und zog mich in ihre Arme. In ihrem Gesicht konnte ich sehen, dass etwas Furchtbares passiert sein musste, aber eigentlich hatte ich es auch schon geahnt.«

Jetzt liefen ihm die Tränen die Wangen hinunter. Margeaux wischte sich die eigenen vom Gesicht und reichte ihm wortlos ein Taschentuch.

Frank putzte sich geräuschvoll die Nase. Diese Alltäglichkeit holte ihn wieder ins Hier und Jetzt zurück, und er lächelte schief. »Ich bin echt ein Weichei!«

»Du bist alles, aber gewiss kein Weichei«, konterte Margeaux, »ganz im Gegenteil, wenn du hierbei staubtrocken bleiben würdest, dann würde etwas mit dir nicht stimmen!«

Sie blickten einander verständnisvoll an.

»Und das war erst der Anfang meines Martyriums«, fügte Frank hinzu, »am nächsten Tag waren die Zeitungen voll von Lügen über meine Mutter. »›Ariane K. verkaufte ihren Körper und bezahlte mit dem Leben‹«, zitierte er, »das war noch eine der nettesten Schlagzeilen. Ich konnte nirgends mehr hin. In der Schule wurde ich verspottet und ausgegrenzt. Mit dem ›Hurensohn‹ wollte plötzlich niemand mehr etwas zu tun haben. Ich bin ausgeflippt. Aber so richtig. Sie haben mich in der miesesten Anstalt untergebracht, die sie finden konnten. Das war wie Strafvollzug. Wir waren Zöglinge, und emotionale Kälte gehörte zu unserem Alltag.« Er holte tief Luft und sagte: »Lass uns bitte ein Stück gehen, Margeaux, ich ertrage es nicht, im Sitzen darüber zu reden.«

»Du musst mir das nicht erzählen«, sagte Margeaux verständnisvoll.

»Ich will dir das aber erzählen«, begehrte Frank auf, »ich habe das noch nie jemandem so erzählt. Vor allem noch nie jemandem, der mir das glauben wird, was ich dort erlebt habe.«

Sie standen auf, und der Dackel kam unter dem Tisch hervor und blickte die beiden Menschen erwartungsfroh an. Frank beugte sich zu dem kleinen Fellbündel hinab und streichelte Willi. Sie beide hatten eine unfassbare Situation miteinander gemeistert, und er hatte den Hund danach noch mehr in sein Herz geschlossen. Zudem hatte die Berührung des wuscheligen Kerls eine beruhigende Wirkung auf ihn.

Sie holten die Leine, meldeten sich rasch bei Hilde ab und traten durch das große Tor auf den Weg vor dem Haus.

Süß schmeckt dem Menschen das Brot der Lüge, hernach aber füllt sich sein Mund mit Kieseln.

Sprüche 20,17

Wenn du nie vergisst, was geschehen ist, ist es dann Gottes Wille, oder liegt es daran, dass es Unrecht war und Unrecht bleibt? Auch wenn du die Geschichte so oft in einer anderen Version erzählt hast, dass sie beinahe süß und wahrhaftig klingt?

Du weißt, wie es wirklich war.

Du kennst alle Gefühle, die gesamte Bandbreite, und hast jede Phase erlebt und am ganzen Körper gespürt. Sie haben sich in dein Fleisch gefressen und es markiert. Eine Lüge wird eben nicht zur Wahrheit – egal wie oft man sie erzählt. Und Tote werden nie mehr lebendig, egal wie sehr man es sich wünscht.

Stuttgart, Killesberg, im September

Scheppernd schloss Stephan Beerschneider die Tür zu seinem schicken Apartment in bester Wohnlage auf, und eine Sekunde später hingen die beiden Mädchen an seinen Beinen, obwohl er ihnen bestimmt schon tausend Mal gesagt hatte, dass er das nicht mochte, solange er noch den Anzug trug. Es war eigentlich sein freier Tag, und die beiden waren daher nicht im Kindergarten, doch er hatte noch dringend ins Büro gemusst, um einige Unterschriften zu leisten und zu telefonieren.

Seine Frau kam mit geröteten Wangen aus der Küche. Sie hatte eine Schürze nachlässig umgebunden, die über und über mit Mehl bestäubt war, und wischte sich gerade die Hände an einem Abtrockentuch ab. Er vermutete, dass sie am Backen war, und er befürchtete zudem, dass sie etwas getrunken hatte, denn die Rötung ihrer Wangen war fleckig und ihr Blick unstet. Sie vermied den Blickkontakt, was seinen Verdacht bestätigte. Konzentriert rief sie die Kinder zu sich, und er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und roch den Wein, den sie wohl getrunken hatte.

»Ich ziehe mich um und bin sofort bei euch«, wandte er sich an seine Töchter.

Die Zwillingsmädchen jauchzten erfreut und gingen besänftigt mit der Mutter in die Küche. Seine Frau wusste, dass er wusste, dass sie trank. So, wie er wusste, dass auch sie von seinem »Problem«wusste, denn nur deshalb trank sie. Sie waren einmal ein glückliches und strahlendes Paar gewesen, hatten zur Stuttgarter High Society gehört und diese etwas heller strahlen lassen. Genau genommen gehörten sie noch immer dazu, aber wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, tauchten sie nirgendwo mehr auf. Sie hatten scheinbar nicht nur die Liebe zueinander verloren, sondern auch den Respekt voreinander. Doch das, was sie einte und aneinanderband, waren die Mädchen.

Sie hatten sich so sehr Kinder gewünscht, und als eine Fehlgeburt die andere gejagt hatte, waren sie sich langsam immer fremder geworden. Sie vergruben sich in Arbeit und bauten ihre Karrieren aus, planten ein Leben ohne Kinder, auch wenn das unmöglich zu sein schien. Es war nicht nur der innigste Wunsch seiner Frau gewesen, Mutter zu werden, auch er wollte nichts sehnlicher, als Vater zu sein. Daher fiel ihnen beiden der Schritt nicht leicht, sich ein Leben ohne Nachwuchs vorzustellen, und plötzlich war sie schwanger und bemerkte es noch nicht einmal. Erst in der zwölften Woche wurde die Zwillingsschwangerschaft festgestellt, und über die Freude dieser überraschenden Elternschaft fanden sie wieder zueinander. Doch das Glück währte nicht lange. War es seinem Job geschuldet gewesen, in dem er mit so viel Abschaum zu tun hatte? Oder hatte es daran gelegen, dass seine Frau nur noch für die Mädchen da gewesen war und ihn als Partner und Mann vollkommen vergessen hatte? Was hatte sie ursächlich auseinandergetrieben, wo sie doch nun alles hatten? Er konnte die Frage bis heute nicht klar beantworten.

Er betrat das Ankleidezimmer und hängte seinen Anzug ordentlich auf einen Kleiderbügel, dann schlüpfte er in eine bequeme Hose und ein buntes T-Shirt. Kurz betrachtete er sich im Spiegel: Er war ein massiger Mann, groß und mit einer Neigung zu Bauch und Doppelkinn. Sein Haar war kräftig, lockig und dunkel. Nur an den Schläfen wurde es von einigen silbernen Strähnen durchzogen. Seine Gesichtszüge waren markant, und auch wenn man ihnen den Lebensstil mittlerweile ansah, so war er doch noch immer ein beachtlicher Kerl. Er verließ den Ankleidebereich und machte die Mädchen in der Küche auf sich aufmerksam. Jetzt durften sie sich an seine Beine hängen, und er spielte fröhlich mit ihnen ihr Lieblingsspiel vom Riesen, der Zwerge verschleppte.

Im Augenwinkel sah er den Blick seiner Frau. Er sagte: Wir könnten so glücklich sein …

Das waren die Momente, in denen ihm dann doch bewusst wurde, dass es seine Schuld war. Daher vermied er den Blickkontakt mit ihr und ließ sich von den Mädchen ins Spielzimmer ziehen.

Frankfurt im Jahr 1983

»Hugo, hast du einen Moment Zeit für mich?« Ariane Kaiser betätigte die Gegensprechanlage, um mit ihrem Chef vorab zu klären, ob eine kurze Besprechung möglich war.

Die dreiunddreißigjährige Bankangestellte war adrett zurechtgemacht, ganz so, wie es sich für das Vorzimmer des Inhabers einer Privatbank gehörte: Sie trug ein dunkelblaues Kostüm mit Stiftrock und kurz geschnittenem Blazer, dazu eine hellblaue, taillierte Bluse und ein blau gemustertes Halstuch. Das lange blonde Haar hatte sie im Nacken zu einem strengen Knoten zusammengefasst, was ihre klaren Gesichtszüge besonders betonte. Sie war nur dezent geschminkt und machte einen attraktiven und gleichzeitig kompetenten Eindruck. Sie war keine eitle Person, wusste aber auch, dass sie etwas hermachte, denn sonst wäre sie gewiss nicht von der Position am Kundenkontaktpunkt in die oberste Etage befördert worden. Nur gute Arbeit zu leisten, reichte nicht aus, um auch angemessen zu repräsentieren. Sie war schon stolz gewesen, dass sie nach ihrer Ausbildung bei der Hanauer Sparkasse und ein paar Jahren mäßiger Berufserfahrung dort Anfang der Siebzigerjahre diesen begehrten Job ergattert hatte. Die Ehrmann Privatbank war ein sehr renommiertes Haus. Auch ihre ungeplante Schwangerschaft und ihren Status als alleinerziehende Mutter hatte ihr Arbeitgeber nicht nur toleriert, sondern man hatte sie sogar unterstützt und ihr nun auch einen Aufstieg ermöglicht, an den sie nicht einmal im Traum gedacht hatte.

Zu Hause war Frank, sie musste geregelte Arbeitszeiten haben, um ihren Sohn, den sie zärtlich liebte, angemessen zu versorgen, und dabei ging es ihr um wesentlich mehr als nur satt und sauber. Umso mehr fühlte sie sich geehrt, als ihr Chef ihr verdeutlichte, dass das alles völlig in Ordnung für ihn war.

»Gern, Ariane«, tönte es schnarrend durch die Anlage, »komm einfach so in zehn Minuten rein.«

Ariane überprüfte noch einmal den Sitz ihres Knotens, rückte das Halstuch zurecht und blätterte die Mappe mit den Unterlagen durch, die sie mit ihm besprechen wollte. Ein paar Dinge verstand sie einfach nicht, und es war ihr wichtig, ihren Job sehr gut zu machen, daher hoffte sie auf Aufklärung.

Bad Homburg im Jahr 1973

Marco Keppner drückte das Gaspedal auf und nieder. Er hatte keinen Gang eingelegt, und der Wagen machte röhrende Geräusche. Fachkundig lauschte er und nickte bestätigend. Alles hörte sich wieder nach einem runden, gesunden Sound an. Er hatte wirklich ein gutes Händchen für diese rasanten Schlitten. Und er liebte die Schrauberei an Autos und Motorrädern sehr. Das hatte er von seinem Vater geerbt.

Sein Vater, Heinz-Peter Keppner, war mit seiner Werkstatt in der Lage gewesen, der Familie ein gutes Leben zu ermöglichen. Und doch hatte er nach seiner Lehre in den Nachkriegsjahren erst einmal das Bedürfnis gehabt, aus Deutschland rauszukommen. Sein Vater war in den letzten Kriegstagen in Russland gefallen. »Als Kanonenfutter verheizt«, hatte seine Mutter immer verbittert gesagt. Er hatte sie nicht anders als mit zusammengekniffenen Lippen gekannt – verhärmt und freudlos. Also hatte er getan, was ein guter Sohn hatte tun müssen, und war nach der Hauptschule in die Lehre bei der einzigen Werkstatt weit und breit gegangen, hatte Geld nach Hause gebracht und war strebsam und fleißig gewesen. Sogar die Amerikaner waren dorthin gekommen, um ihre großen Wagen reparieren zu lassen. Sein Chef hatte einen legendären Ruf gehabt, aber er war auch ein unsäglicher Despot gewesen, und Heinz-Peter hatte irgendwann die Schnauze voll gehabt von Schroffheit und Strenge. Er hatte das Leben genießen wollen. Freude fühlen wollen. Also hatte er seine Tasche gepackt, das Motorrad getankt, das er sich vom Munde abgespart hatte – eine BMW R24 –, und sich einfach auf den Weg gen Süden gemacht. So war er eines Tages auf Sizilien gelandet und hatte sich nicht nur in das Leben dort, sondern auch in die temperamentvolle Maria verliebt.

1951 hatte ihre Liebe die Geburt des kleinen Marco gekrönt.

Doch dann war das Geld knapp geworden, und Maria hatte ihn nach Deutschland begleitet. Heinz-Peter hatte eine eigene Werkstatt aufgebaut, war erfolgreich und die Familie glücklich gewesen. 1967 war die Sizilianerin schwer erkrankt und hatte sich nicht mehr erholt, sodass Vater und Sohn sie ein Jahr später zu Grabe getragen hatten. Heinz-Peter war zwei Jahre später an gebrochenem Herzen verstorben. Ohne seine Maria hatte er nicht mehr sein wollen.

So kam es, dass Marco mit neunzehn eine eigene Autowerkstatt geerbt hatte und diese gewissenhaft zu führen begann.

Er war jung und fühlte sich schlau, stark und unbesiegbar.

Hameau les Bouisses im September

Margeaux schlug den Weg an der Sandsteinmauer ein. Sie begrenzte die zu Margeaux’ Grundstück gehörende Wiese, auf der Michel, der Nachbar, seine Pferde grasen ließ. Fleißige Hände hatten die mehr als fünfzig Meter lange Mauer aus unterschiedlich großen Steinen gebaut, und sie trotzte in ihrer schönen Schlichtheit der Zeit. Der Mörtel zwischen den Steinen war an manchen Stellen bröselig, und hier und da fehlte ein Stein, aber die Mauer blieb stabil, wehrte den stärksten Mistral ab und schützte vor ungebetenen Blicken. Der Feigenbaum gegenüber der Mauer trug reife Früchte. Sie pflückte zwei weiche, duftende, reichte eine Frank und biss herzhaft in die saftige Süße. Sie konnte die Menschen nicht verstehen, die die Schale nicht mochten, und kaute genießerisch. Frank tat es ihr nach und gab ein wohliges Geräusch von sich, dann marschierten sie weiter. Willi sauste mit fliegenden Ohren voraus, versäumte es aber nicht, sich immer wieder zu vergewissern, dass seine Menschen ihm auch folgten.

Es dauerte einen Moment, bis Frank wieder zu sprechen begann.

»Wenn ich darüber nachdenke, dann ist das alles wie in einem schlechten Film. So, als könnte es keine erlebte Realität sein.«

Der Schmerz in seinem Gesicht war deutlich zu sehen: Die Augenbraueninnenseiten hatte er hochgezogen, in der typischen Dreiecksform der Trauer. Die Augen ein wenig zusammengekniffen und die Oberlippe angehoben. Auch der Wangenbereich hob sich etwas an. Das waren die Kernbewegungen für Schmerz.

»Es tut weh, darüber zu reden …«, griff Margeaux auf, was sie wahrgenommen hatte.

»Die Erinnerung bereitet mir nicht nur psychischen, sondern auch physischen Schmerz«, gab er zu, »aber es ist wirklich gut, wenn ich mir das mal von der Seele rede, und du bist einfühlsam genug, um zu verstehen, was passiert ist, aber auch hart genug, um es zu verkraften.«

Er schaute ihr dabei direkt in die Augen, um sich zu vergewissern, dass dem auch wirklich so war. Sie hielt seinem Blick stand und forderte ihn mit einem leichten Nicken zum Weiterreden auf.

»Sie war also tot. Ermordet und wie ein Stück Müll weggeworfen. An die Beerdigung kann ich mich nur noch schemenhaft erinnern. Ich wollte ins Grab springen, aber sie haben mich nicht gelassen. Ich habe Tante Maria angefleht, dass ich in meinem Zuhause bleiben darf, ich würde auch immer lieb und brav sein, und es war unbegreiflich für mich, dass sie Nein sagte.« Er schluckte schwer. »Die Fürsorge nahm mich mit. Was mit unseren Möbeln und ihren Sachen passiert ist, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich haben sich die Nachbarn darum gekloppt.« Er presste kurz verachtend den Mundwinkel ein. »Ich hingegen war nicht so einfach zu verteilen. Niemand wollte die Verantwortung für mich übernehmen, und nachdem ich in der Schule ausgerastet war und meine Klassenkameraden und die Lehrerin in Angst und Schrecken versetzt hatte, ein paar in die Tafel fliegende Stühle spielten dabei eine nicht unerhebliche Rolle, noch viel weniger. Worte wie ›schwer erziehbar‹ standen im Raum, logisch für das Kind einer ›Prostituierten‹.«

Er machte eine Pause, und sie blickten beide zu Willi, der gerade eine Zigalle zu erhaschen versuchte. Sie mussten lächeln.

Dann fuhr Frank fort: »Also war der nächste folgerichtige Schritt ein Heim, eine Art Besserungsanstalt, weil ich mich ja nicht benehmen konnte. Weil der Zehnjährige, dessen Mutter ermordet worden war, sein Leben nicht mehr verstand und unendliche Angst hatte. Tante Maria hatte mich zum Abschied in die Arme genommen, und das war für viele Jahre das letzte Mal gewesen, dass mich jemand umarmt hatte. Alle folgenden Berührungen waren mit Schmerz verbunden, resultierten aus Prügeln von den älteren Jungs und Züchtigungen durch die Betreuer. Wer gar nicht zu bändigen war, wurde in eine fensterlose Kammer gesperrt. Freundlicherweise gab es sogar einen Eimer dadrin, damit man seine Notdurft angemessen verrichten konnte …« Sarkasmus stahl sich in seine Stimme. »Den Gestank werde ich niemals vergessen: Angstschweiß, Urin und Kot. Wirklich eine Bombenmischung. Ich habe viel Zeit in der Kammer verbracht. Anfangs dachte ich, ich sterbe dort, aber dann wurde mir irgendwann klar, dass der Weg hinein zwar schmerzhaft war, aber drin war ich sicher. Das klingt bestimmt verrückt.«

»Nein, das klingt einleuchtend«, sagte Margeaux und versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben und das geschundene Kind vor ihrem inneren Auge zu verscheuchen, »es war sogar klug durchdacht. Auch wenn ich wahrscheinlich keine Vorstellung davon habe, was passieren musste, um in die Kammer gesperrt zu werden.«

Sie dachte kurz an ihre eigene Kindheit: die Freiheit, die sie mit Pierre genossen hatte, der ein paar Jahre älter als sie war und immer auf sie wie auf eine echte Schwester geachtet hatte. Die Opernabende mit ihrer Großmutter in Paris und die schicken Hotellounges, in denen sie ihre Limo getrunken und an leckeren Häppchen geknabbert hatte, bis ihr die Augen vor Müdigkeit zugefallen waren. Während ihr heute bester Freund in einer Kammer ohne Fenster in einen Blecheimer gepinkelt hatte. Sie schloss kurz die Augen, atmete tief ein und aus und war bereit für die Fortführung dieser Horrorgeschichte.

Tarascon im September

Aimé hatte sich nach dem Kaffee bei Thierry in den Wagen gesetzt und war nach Tarascon gefahren, um Gilbert Brenot einen Besuch abzustatten. Er verging vor Langeweile und hoffte, dass Brenot etwas Spannendes zu berichten hatte. Die letzten drei Mordfälle in der Region, in die auch Margeaux involviert gewesen war, hatten die Männer mehr als nur kollegial verbunden.

Er klopfte mit dem Fingerknöchel an Brenots Türrahmen, die Tür zum Büro des Commandant der Gendarmerie stand offen. Der markige Mann saß an seinem Schreibtisch über einige Akten gebeugt und blickte erfreut auf, als er Aimé erkannte.

»Vigne, mein Lieber«, begrüßte er ihn und erhob sich, »ich hoffe, es ist niemand tot?«

»Keine Panik, Gilbert«, wiegelte Aimé ab, und die Männer reichten sich die Hand, »ich komme einfach so. Kein Blut, keine Toten in Hotels.« Sie grinsten sich kurz verständigend an. »Aber das kann einen, trotz des ganzen Adrenalins, schon ganz schön verderben«, gab der Dorfpolizist seine Misere zu.