Frau, komm! - Ingo von Münch - E-Book

Frau, komm! E-Book

Ingo von Münch

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Beschreibung

Zu den schlimmsten Verbrechen im Zweiten Weltkrieg gehören die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen durch sowjetische Soldaten 1944/45. Viele dieser Frauen und Mädchen wurden nicht ein Mal, sondern viele Male sexuell mißbraucht. Weder Kinder noch Greisinnen blieben verschont. Verläßlichen Schätzungen zufolge wurden rund zwei Millionen Frauen und Mädchen Opfer jener Vergewaltigungen. Das ungeheure Ausmaß dieser Verbrechen und der durch sie verursachten menschlichen Leiden hat jahrzehntelang keine angemessene öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Erst in neuerer Zeit werden diese Ereignisse häufiger erwähnt, allerdings fast immer nur als Teil einer Schilderung von Flucht, Vertreibung und Zwangsarbeit. Demgegenüber befasst sich das vorliegende Buch ausschließlich mit den Vergewaltigungen und hier unter anderem mit den Fragen, wie und warum es zu diesen Exzessen gekommen ist, warum Widerstand zwecklos war und was mit den Kindern geschah, die Opfer oder "nur" Zeuge der sexuellen Gewalttaten waren. Erlebnisberichte von Opfern und Tätern sind eine wesentliche, weil authentische Grundlage dieser Darstellung.

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INGO VON MÜNCH

„Frau, komm!“

Ingo von Münch

„Frau, komm!“

Die Massenvergewaltigungendeutscher Frauen und Mädchen1944/45

Umschlaggestaltung: DSR – Digitalstudio Rypka/Thomas Hofer, DoblUmschlagfoto Vorderseite: Ullstein-Bilderdienst

Bildnachweis: Ecotext-Verlag (25, 93), Ullstein-Bilderdienst (13, 75, 105, 129, 141, 159, 175, 185), AKG (47)

Wir haben uns bemüht, bei den hier verwendeten Bildern die Rechteinhaber ausfindig zu machen. Falls es dessen ungeachtet Bildrechte geben sollte, die wir nicht recherchieren konnten, bitten wir um Nachricht an den Verlag. Berechtigte Ansprüche werden im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

Bibliografische Information Der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Auf Wunsch senden wir Ihnen gerne kostenlos unser Verlagsverzeichnis zu:Ares Verlag GmbHHofgasse 5, Postfach 438A-8011 GrazTel.: +43 (0)316/82 16 36Fax: +43 (0)316/83 56 12E-Mail: [email protected]

ISBN 978-3-902475-78-7

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

© Copyright by Ares Verlag, Graz 2009

Layout: Ecotext-Verlag, Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, 1010 WienGesamtherstellung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Inhalt

Prolog: Bericht einer Augenzeugin

Vorwort

Einführung

I. Tatsachen

II. Darstellungsdefizite

III. Anonyma

IV. Stumme Opfer, schweigende Täter

V. Gewalt

VI. Erklärungen

VII. Offiziere

VIII. Widerstand zwecklos

IX. Kinder

X. Sich-Erinnern und Erinnern

Epilog: Bericht eines Opfers

Literaturverzeichnis

Abkürzungen

Namenregister

Prolog: Bericht einer Augenzeugin

Friederike Scharwies, Perwissen

Verschiedene Leidensgenossen konnten einige Brocken Russisch, so wussten wir, daß unser Treck nach Scharkow (Rußland) bestimmt ist. Am 7. Februar 1945 marschierten wir los … Sehr viele stürzten sich auf die am Wegesrand umgekippten Wagen, um etwas Essbares zu ergattern. …

Auf dieser Strecke sah ich viele Frauen und Mädchen mit entblößtem Unterkörper tot liegen, einige über der Wagendeichsel. Einen jeden von uns beschlich ein unheimliches Grauen, dieser entmenschten Wahnsinnstat … Auf großem Umwege erreichten wir Perwissen.

Auch hier dasselbe Bild! Nachts wurde nur nach Mädchen und jungen Frauen Jagd gemacht … Ein Haus weiter von uns wurden Bekannte … erschossen.

Russische Soldaten stürzten immer wieder ins Zimmer und rissen die Töchter raus, welche sie versteckt hielten. Die jüngste elfjährige Tochter klammerte sich an ihre Eltern, als wieder neue Horden einbrachen. Das Kind schrie: „Würg mich tot, Mutti, schnell, sie schleppen mich wieder raus.“ Die Eltern nahmen es in die Mitte, die Mutter legte schnell ein großes Umschlagtuch um ihr Kind, so daß es etwas gedeckt ist, schon waren die Unholde im Zimmer, rissen die beiden älteren Mädels, 16 und 18 Jahre, unter dem Sofa an den Beinen hervor, als der eine auch schon das Kind entdeckte und es von den Eltern loszureißen suchte. „Es ist doch noch ein Kind“, bettelte der Vater. Im übrigen war dieser ein Offiz., anscheinend dauerte es ihm zu lange, er zog seine Pistole und schoß den Dambrowski wie einen tollen Hund nieder, ein Herzschuß hatte ihm ein schnelles Ende bereitet, dann schoß er auf die Mutter, es war ein Armstreifschuß, der zweite Schuß ging im Hals! Nun schleppten zwei Männer das Kind raus. Nach einer halben Stunde kam das Kind wieder zurück, blutüberlaufen am ganzen Unterkörper. Die Unterwäsche zerrissen. Sie stürzte sich auf ihre sterbende Mutter, mir klingen noch heute die Schreie jenes Kindes in den Ohren. Nach zwei Stunden tat ihre Mutter ihre Augen für immer zu. Schon kamen wieder neue Soldaten und schleppten dieselben Mädels mit, ich habe sie dann nicht mehr wieder gesehen. Es ist möglich, daß sie das gleiche Schicksal vieler jener Tage ereilt hat, Abschied für immer von dieser Erde. Oder in einem Treck nach Rußland …

Walter Kempowski: Das Echolot. Fuga furiosa. Ein kollektives Tagebuch. Winter 1945. 6. Februar–14. Februar 1945, München 2004, S. 162–164

Vorwort

„Warum schreiben Sie an diesem Buch?“ Diese Frage ist mir mehr als einmal gestellt worden. Es gab hierfür zwei Beweggründe: einen sachlichen und einen persönlichen.

Der sachliche Beweggrund ergibt sich unmittelbar aus dem Thema. Die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45 gehören zu den schlimmsten Verbrechen, die im Zweiten Weltkrieg begangen worden sind. Dennoch haben sie bisher – jedenfalls in einer breiten Öffentlichkeit – noch nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die ihnen gebührt. Viele der Opfer fühlen sich allein gelassen. Sie können mit niemandem über ihre schrecklichen Erlebnisse sprechen, oder ihr individuelles Schicksal wird als Teil eines angeblichen „Kollektiverlebnisses“ oder „Kollektivschicksals“ entpersönlicht. Bei meinen Recherchen habe ich überdies festgestellt, dass in nicht wenigen Flüchtlingsoder Vertriebenenfamilien die Frage nach einer etwaigen Vergewaltigung einer Familienangehörigen unausgesprochen vorhanden ist, aber gerade nicht beantwortet wird: Hoffen, dass dies nicht geschehen ist, Schweigen darüber, Nicht-Nachfragen oder Verdrängen bestimmen die Gefühle der Angehörigen; meist sind es Kinder von Müttern, die nach damaligen örtlichen und zeitlichen Umständen möglicherweise oder wahrscheinlich oder sogar gewiss eine solche seelische und körperliche Misshandlung erlitten haben.

Der persönliche Beweggrund meiner Beschäftigung mit dem Thema der Massenvergewaltigungen entstand zunächst fast zufällig: Während des Krieges war ich für einige Wochen Schüler einer einklassigen Dorfschule in der Mark Brandenburg. Viele Jahre später erfuhr ich, dass eine meiner damaligen Schulkameradinnen beim Einmarsch der sowjetischen Truppen in das kleine Dorf von russischen Soldaten vergewaltigt worden war. Die selber davon verschonte jüngere Schwester des zur Tatzeit 17-jährigen Opfers erzählte mir, dass ihre Mutter sich ihr Gesicht mit Marmelade und Streuseln darauf beschmiert hatte, um abstoßend zu wirken, dabei nicht ahnend, dass die Soldaten sich statt ihrer der Tochter bemächtigen würden, dass diese in einen Raum im Oberschoss gezerrt wurde, während die Eltern und Geschwister in einem Raum im Erdgeschoss eingesperrt wurden, wo sie Schüsse aus dem Obergeschoss hörten – die Soldaten hatten sich den „Spaß“ gemacht, in die Decke zu schießen, um das Opfer und dessen Familie zu erschrecken. Das Opfer, inzwischen eine ältere Frau, reagierte auf vorsichtige Fragen ihres ehemaligen Mitschülers zurückhaltend, ja abweisend.

Ein zweiter Zufall wollte es, dass ich zur gleichen Zeit die Bekanntschaft mit Gabi Köpp machte, die ebenfalls, als damals 15-jähriges Mädchen, 1945 von russischen Soldaten in einem Dorf in der Nähe von Schneidemühl vergewaltigt worden war. Gabi Köpp reagierte auf das ihr widerfahrene Leid völlig anders; sie schwieg nicht, sondern sie hat jene Geschehnisse zunächst in einem persönlichen Tagebuch niedergeschrieben und später in ihrem (leider vergriffenen) Buch „Meine Geschichte. Bericht über eine 1945 erlebte Flucht aus der Grenzmark Posen-Westpreußen“ erwähnt.

Das vorliegende Buch stammt nicht aus der Feder eines Psychoanalytikers oder eines Historikers, obgleich diese zu dem Thema viel zu sagen hätten, sondern von einem Juristen. Da es sich bei den Massenvergewaltigungen 1944/45 unzweifelhaft um Kriegsverbrechen handelte, sollte der Völkerrechtler sich dieses Themas annehmen. Für den männlichen Autor stellt sich schließlich die Frage, ob und wie er sich einfühlsam genug und in adäquater Sprache einem Thema nähern kann, das den intimsten Bereich der weiblichen Opfer berührt. Die Lösung dieser heiklen Aufgabe habe ich darin gesehen, möglichst viele authentische Berichte von Opfern oder Augenzeugen in ihrem Wortlaut zu zitieren. Einzelne Teile dieses Buches sind deshalb eine Art Collage.

Im Verlauf der Arbeiten an diesem Buch habe ich viele Gespräche über dessen Gegenstand geführt. Allen Gesprächsteilnehmern danke ich für vielfältige Anregungen und Informationen. Mein besonderer Dank gebührt Nina Radtke und Friederike Ramcke, die – einer jüngeren Generation angehörend – mich immer wieder mit Zuspruch und Interesse motivierten und mir wichtige Hinweise gegeben haben.

Hamburg, Herbst 2009

Ingo von Münch

Einführung

„Frau, komm!“ lautete Ende 1944/Anfang 1945 der unmissverständliche und keinen Widerspruch duldende Befehl russischer Soldaten an diejenigen von ihnen gewollten deutschen Frauen und Mädchen, denen damit Vergewaltigung bevorstand. Die Formulierung „denen damit Vergewaltigung bevorstand“, nicht: „eine Vergewaltigung bevorstand“, ist hier bewusst gewählt; denn in ungezählten Fällen wurden die Frauen und Mädchen beim Einmarsch der sowjetischen Truppen nicht von einem russischen Soldaten einmal, sondern mehrmals vergewaltigt und in ungezählten Fällen nicht nur von einem Soldaten, sondern von mehreren. Eine Flüchtlingsfrau aus Danzig schildert in ihrem Erlebnisbericht über die Einnahme Danzigs durch die Rote Armee den Exodus von Flüchtlingen nach Langfuhr so:

Wenn wir aber dachten, etwas Ruhe zu finden, so irrten wir uns. In Gruppen von fünf bis sechs Russen kamen die Soldaten und nahmen uns unser bißchen Essen und was ihnen sonst noch gefiel, und dann hieß es wieder: „Frau komm!“ Wer nicht gleich mitging, wurde grausam geschlagen und letzten Endes doch gezwungen mitzugehen, meistens im Treppenflur oder auf der Treppe oder auch in den oberen zerstörten Stockwerken wurden die Frauen mißbraucht, tierisch die Brüste zerbissen und furchtbar gequält, gleich immer von vielen hintereinander.1

„Am Sonntagmorgen Fortsetzung von Plünderung und Vergewaltigung. ‚Frau, komm!‘ – wer nicht Folge leistete, wurde erschossen“ – so beschreibt ein Pfarrer aus Lauenburg in Pommern die Besetzung dieser Stadt.2 Uhren und Frauen waren Objekte unaufhörlichen Verlangens. Einem neunjährigen Mädchen prägten sich beim Einmarsch der sowjetischen Truppen in einen Vorort von Berlin die Rufe „Uri, Uri! Frau, komm!“ als die häufigsten aus russischem Mund gehörten Worte ein.3 Das Aufstöbern einer sich in einem Dorf bei Neustrelitz in Pommern versteckt haltenden Gruppe von Flüchtlingen und die daraufhin erfolgte Vergewaltigung einer jungen Frau nahm ein damals zehnjähriges Mädchen so wahr:

In der Türöffnung stand der erste Russe. Alle schwiegen und harrten der Dinge, die jetzt passieren würden. Es begann damit, dass er erstmal seine Soldatenmütze abnahm und die oberen Knöpfe seiner Uniform öffnete. Dann schrie er laut in den Raum: „Frau, komm’ her“, und als sich niemand in der Runde erhob, schrie er fast kreischend: „Sofort Frau, komm, dawei!“ Die anwesenden Frauen versuchten, sich ängstlich weiter in die Ecke zu drücken, um sich hinter irgendwelchen Gegenständen in Sicherheit zu bringen. Damit war der Soldat keineswegs einverstanden und schnappte sich die ihm am nächsten sitzende Frau und schleppte sie in eine leere Bettstelle. Jetzt warf er sich über sie und es geschah das, wie alle um mich herum raunten, sie wurde vergewaltigt …4

Über Vergewaltigungen in einer Kirche in Lichtenhagen bei Königsberg ist zu lesen:

Überall waren huschende Gestalten zu sehen, Taschenlampen blitzten auf, „Frau, komm mit“, ertönte es immer wieder. Frauen wurden gewaltsam aus den Bänken gezerrt und ins Dunkel verschleppt, auf den Chor oder auf den Glockenturm. Und alles spielte sich gespenstisch leise ab, niemand wagte laut zu schreien … wir wagten kaum zu flüstern, um niemand auf uns aufmerksam zu machen … Das Grauen schlich auf lautlosen Sohlen durch die Kirche …, immer wieder hörte ich ein barsches „Komm mit!“.5

Der russische Schriftsteller Anatoli Streljanyi zitiert aus einem Gespräch mit einem anderen russischen Schriftsteller, der im Krieg in Deutschland war:

Ich erinnere mich jetzt auch oft daran. „Frau, komm!“ bedeutete, sich am Feind zu rächen. Abends erzählten wir uns: Ich habe mich heute dreimal gerächt, und du?6

Der Befehl „Frau, komm!“ führte bei den so angesprochenen Frauen und Mädchen zu Angst und Schrecken. Die Journalistin Margret Boveri (Tochter eines Deutschen und einer US-Amerikanerin) erinnert sich an 1945 in Berlin mit dem Satz: „, Frau, komm mit‘ – ein Schlachtruf, der uns alle erbeben macht …“7 In Christian Krockows „Die Stunde der Frauen“, einem Bericht aus Pommern, ist zu lesen:

Deutsche Frauen und Mädchen als „Freiwild“ für Rotarmisten: „missbraucht“, „gequält“ und „zutiefst gedemütigt“ (Ingeborg Grabow)

Die Männer, die nun ins Zimmer drängen, schauen kurz in die Runde. Dann weist einer auf Marie: „Frau, komm!“ Sie kreischt auf, schlägt die Hände vors Gesicht. Vergebens. Schon wird sie hochgerissen, schon hinausgezerrt. Und gewiß nicht nur Marie ist betroffen. Das Schreien von Frauen gellt vielstimmig durchs Haus. Wie lange wohl? Irgendwann wird dieses Schreien schwächer, dann stumm. Irgendwann taumelt Marie ins Zimmer zurück; die Kleider hängen ihr in Fetzen vom Leib.8

Eine Frau aus Potsdam, die mit ansehen musste, wie ein betrunkener russischer Soldat eine Wöchnerin packte, schreibt in ihrem Tagebuch noch einige Zeit nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen: „‚Frau, komm mit!‘ Dieses grauenhafte Wort, vor dem sich noch heute jeder entsetzt.“9 Das „Frau, komm!“ hat sich tief in die Erinnerung der Betroffenen an die schlimmen Geschehnisse jener Zeit eingegraben. Die im Januar 1945 als 15-Jährige in einem Dorf in Westpreußen von russischen Soldaten mehrere Male vergewaltigte Gabi Köpp spricht deshalb das aus, was vermutlich alle ihre Leidensgenossinnen noch heute empfinden: „Und die herausgestoßenen gierigen Befehle ‚Frau, Frau – jung’ Frau, dawai‘ (was „komm“ heißt) werde ich nie vergessen.“10

Hinsichtlich der Zahl der 1944/45 von sowjetischen Soldaten vergewaltigten deutschen Frauen und Mädchen11 sind zwar weder in Deutschland noch (man muss dazu sagen: erst recht nicht) in der damaligen Sowjetunion statistische Erhebungen durchgeführt worden. Es gibt jedoch aufgrund von Hochrechnungen verlässliche Schätzungen. Die niedrigste besagt, dass insgesamt ca. 1,4 Millionen deutsche Frauen und Mädchen von russischen Soldaten vergewaltigt wurden.12 Eine andere Zahlenangabe nennt ebenfalls 1,4 Millionen, dies aber nur für die Gebiete jenseits von Oder und Neiße, und zusätzlich 500.000 im Gebiet der späteren sowjetischen Besatzungszone, zusammen also 1,9 Millionen.13 Wieder eine andere Zahl geht von insgesamt 2 Millionen Vergewaltigten aus.14

Jedoch kann es letztlich dahingestellt bleiben, ob „nur“ 1,4 oder 1,9 oder 2 Millionen Frauen und Mädchen 1944/45 von russischen Soldaten vergewaltigt worden sind. Schon jede Zahl über Hunderttausend oder gar über einer Million ist, da es sich ja hier stets um Einzelschicksale handelt, unvorstellbar hoch. Zwar sind auch in früheren Kriegen Frauen oft Opfer von sexueller Gewalt fremder Soldaten geworden. Aus neuerer Zeit sind z. B. die Vergewaltigungen chinesischer Frauen durch japanische Soldaten in Nanking 1937 zu erwähnen; die Vergewaltigung von Frauen in den besetzten Gebieten im Zweiten Weltkrieg durch deutsche Soldaten auf der einen Seite und durch französische und amerikanische Soldaten auf der anderen Seite15; die Vergewaltigung muslimischer Frauen durch serbische Soldaten im Bosnien-Krieg (hier mit der Besonderheit ethnischer „Säuberung“) und Vergewaltigungen in verschiedenen Bürgerkriegen in Afrika. Alle diese genannten Beispiele (weitere könnten noch hinzugefügt werden) sind schlimme Fälle sexueller Gewalt gegen Frauen. Aber nie zuvor sind in einem einzigen Land und innerhalb eines so kurzen Zeitraumes so viele Frauen und Mädchen von fremden Soldaten missbraucht worden wie 1944/45 nach dem Einmarsch der Roten Armee in Deutschland. So gesehen waren die Massenvergewaltigungen16 deutscher Frauen und Mädchen schon vom zahlenmäßigen Ausmaß her gesehen beispiellos. Erschreckend war auch die Brutalität, mit der die Frauen und Mädchen missbraucht worden sind. Viele der Opfer wurden, wie bereits erwähnt, nicht ein Mal, sondern mehrere Male und nicht von einem, sondern von mehreren Soldaten vergewaltigt. Kinder und Greisinnen wurden nicht geschont. Beten und Bitten, Flehen und Weinen halfen nicht. Widerstand war zwecklos: Ehemänner, die ihre Frauen schützen wollten, Väter und Mütter, die sich vor ihre Töchter stellten, wurden kurzerhand erschossen. Nicht selten erfolgten die Vergewaltigungen vor den Augen der Angehörigen.

Man hätte annehmen können, dass das Ausmaß der Leiden der Opfer und das Ausmaß der Verbrechen der Täter zu einer besonders intensiven Befassung mit den Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen geführt hätte. Dies ist jedoch bis heute nicht der Fall. Norman N. Naimark hat noch in seinem 1997 erschienenen Buch „Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949“ festgestellt, dass die von russischen Soldaten begangenen Vergewaltigungen weder in der Memoirenliteratur noch in der Geschichtsschreibung eine angemessene Behandlung erfahren haben.17 Zum Schweigen der Ortschroniken schreibt Günter de Bruyn:

Über die Leiden der Landbevölkerung unter fremder Besatzung sind in Ortschroniken, die über den Siebenjährigen Krieg und die napoleonische Zeit berichten, viele Details festgehalten, doch über die ungleich schlimmeren Vorkommnisse des Jahres 1945 schweigt man sich, von Ausnahmen abgesehen, in den Darstellungen ostdeutscher Stadt- und Dorfgeschichten aus. Die Tabuisierung aus DDR-Zeiten wirkt hier anscheinend weiter, und das Wissen um die deutschen Verbrechen in Rußland läßt das Schweigen über russische Verbrechen an Deutschen moralisch erforderlich erscheinen, als rechtfertige die eine die andere Tat. Da nur wenige Lehrer oder Pastoren, die sich als Zeitchronisten verstanden, den Mut aufbrachten, die Eroberung und Besetzung ihres Ortes durch die Rote Armee im Detail zu beschreiben, weiß man zwar durch mündliche Berichte, daß so gut wie immer nach dem Abflauen der Kämpfe die Plünderungen, Vergewaltigungen, Verhaftungen und auch Morde begannen, aber Einzelheiten sind nur in seltenen Fällen bekannt und dokumentiert.18

Die von Günter de Bruyn hinsichtlich der schweigenden Stadt- und Ortschroniken in der ehemaligen DDR gemachte Bemerkung darf allerdings nicht missverstanden oder verallgemeinert werden; denn es wäre nicht richtig, wenn behauptet würde, das das Thema der Massenvergewaltigung völligem Schweigen anheimgefallen sei. Vielmehr gibt es nicht wenige Schilderungen von Opfern selbst und von Darstellungen anderer über jene Geschehnisse, allerdings zumeist nur als Teil von Berichten über Flucht und Vertreibung. Die noch immer ausführlichste Informationsquelle ist die von der im Jahre 1951 von der Bundesregierung eingesetzten unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission veröffentlichte Dokumentation „Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße“19, die zahlreiche Erlebnisberichte von Opfern und Zeugen enthält. Zumeist kurze Auszüge aus Erlebnisberichten hat Walter Kempowski in seinem „Ein kollektives Tagebuch“ genannten Werk „Das Echolot“ in mehreren Bänden zusammengestellt.20 Dieses große Werk ist nicht zuletzt auch deshalb wichtig, weil dem Autor zutreffend bescheinigt worden ist: „ihm liegt der erregte Gestus der auftrumpfenden Abrechnung fern“.21 Eindringliche Schilderungen finden sich auch bei Günter Böddeker, „Die Flüchtlinge. Die Vertreibung der Deutschen im Osten“,22 und bei Hubertus Knabe, „Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Deutschland.“23 Wichtig, weil aus unmittelbarem Erleben geschriebene Informationsquellen sind schließlich die verschiedenen Erlebnisberichte, Tagebücher und Sammelbände, in denen Vergewaltigungsopfer oder Augenzeugen ihre Erinnerungen festhalten. Zu nennen sind hier z. B. die Schilderungen von Anneliese Kreutz, „Das große Sterben in Königsberg 1945–47“24, von Katharina Elliger, „Und tief in der Seele das Ferne. Die Geschichte einer Vertreibung aus Schlesien“25, von Ingrid Hesse-Werner, „Als Pommern brannte“26, von Renate Meinhof, „Das Tagebuch der Maria Meinhof. April 1945 bis März 1946 in Pommern. Eine Spurensuche“27, von Ingeborg Jacobs, „Freiwild. Das Schicksal deutscher Frauen 1945“28, der von Brigitte Neary herausgegebene Band über „Frauen und Vertreibung. Zeitzeuginnen berichten“29 und die in dem von Roland Thimme herausgegebenen Band „Rote Fahnen über Potsdam 1933–1989. Lebenswege und Tagebücher“30 veröffentlichten Aufzeichnungen von Frauen aus Potsdam, insbesondere aber auch das Buch von Anonyma, „Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945“.31 Allen diesen Veröffentlichungen ist jedoch gemein, dass die Erwähnung von Vergewaltigungen nur einen Ausschnitt aus dem jeweils behandelten umfassenderen Thema – meist: Flucht, Besetzung, Vertreibung – darstellt. Eine Ausnahme bildet insoweit das von Helke Sander und Barbara Johr herausgegebene bahnbrechende Buch „BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigung, Kinder“32, das auf der Grundlage eines gleichnamigen Dokumentarfilms von Helke Sander entstanden ist und sich fast ausschließlich mit dem Thema der Massenvergewaltigungen in Deutschland in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegswochen befasst, sowie neuestens die im Oktober 2008 vom ZDF gesendete Dokumentation über das Schicksal deutscher Frauen in Deutschland 1945 und das Sachbuch von Ingeborg Jacobs „Freiwild – Das Schicksal deutscher Frauen 1945“.

Interessant ist im vorliegenden Zusammenhang, dass Helke Sander sich bei dem aus dem Jahr 1992 stammenden Film und Buch gefragt hat, warum das Thema „nahezu fünfzig Jahre lang kein Thema war“.33 Helke Sander spricht damit unübersehbare Darstellungsdefizite an. Gemessen an der Flut der bereits vorhandenen und immer noch weiter neu publizierten Literatur über deutsche Kriegsverbrechen kann jedenfalls die monographische Behandlung der beim Einmarsch der sowjetischen Truppen 1944/45 und danach von diesen begangenen Massenvergewaltigungen nur als spärlich bezeichnet werden. Was sind die Gründe für dieses Schweigen?

Die nächste Nacht, als wir in einer Ortschaft, die voll von Russen war, verbringen mußten, war furchtbar für uns Frauen und Mädchen gleich jeden Alters. Was sich hier abgespielt hat, kann nur der erfassen, der Gleiches erlebt hat.

– mit dieser Aussage wird in der Dokumentation der Wissenschaftlichen Kommission eine Flüchtlingsfrau aus Königsberg zitiert.34 In der Tat könnten die Opfer der Vergewaltigungen selber am genauesten über die Geschehnisse und ihre Empfindungen Auskunft geben. Aber die meisten Opfer schweigen. Über eine am eigenen Leib erlittene Vergewaltigung sprach man (= Frau) nicht oder nur höchst ungern oder, wenn überhaupt, dann nur in Andeutungen, dies, obgleich eine Vergewaltigung keine Schande für die missbrauchte Frau ist, sondern einzig und allein für den Vergewaltiger-Mann. Die eigenen Angehörigen der Opfer wollten davon meistens nichts wissen – der Ehemann schon gar nicht35, und die Kinder waren dafür oft noch zu klein. In den Lebenserinnerungen von Hildegard Knef ist nachzulesen, wie ihr die Mutter ihres Freundes in Berlin-Dahlem über sich und eine andere bei dem Gespräch anwesende Frau berichtet: „Wir sind vergewaltigt worden“, worauf die andere Frau flüstert: „Sagen Sie doch das nicht vor dem Kind.“36 Als die Kinder älter wurden, mochten sie etwas ahnen, wagten aber vielleicht nicht, danach zu fragen, sei es aus Feinfühligkeit, um ihre Mutter nicht zu verletzen, sei es, um eine auch für sie (die Kinder) eventuell bittere Wahrheit nicht zu erfahren und dann mit sich herumtragen zu müssen. Es konnte aber auch sein, dass ein Kind über die Erlebnisse seiner Mutter beim Einmarsch der Russen etwas wissen wollte, die Mutter aber dahingehende Fragen abblockte, vielleicht um sich nicht wieder an die schlimmen Erlebnisse erinnern zu müssen oder um das Kind nicht mit der mütterlichen Leidensgeschichte zu belasten oder aus welchen Gründen auch immer. Günter Grass hat in seinem autobiographischen Erlebnisbuch „Beim Häuten der Zwiebel“37 das Herantasten-Wollen eines Kindes an das Schicksal seiner (vergewaltigten) Mutter und seiner (ebenfalls vergewaltigten) Schwester beim Einmarsch der sowjetischen Truppen in Danzig und danach eindrucksvoll und sensibel geschildert.

Nach dem Tod der Mutter mögen Kinder sich zuweilen gefragt haben, warum sie bei diesem Thema still blieben. Alexandra Senfft schreibt dazu in ihrem Buch „Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte“, allerdings in einem anderen Zusammenhang (ihr Großvater, Hans Ludin, war 1946 in der Tschechoslowakei hingerichtet worden), sie hätte

ihre Mutter befragen können, das habe ich aber nicht. Ihr Kummer war so dominant, dass ich nicht in ihm wühlen wollte, weiß der Teufel, welche heftigen emotionalen Wellen das erzeugt hätte. Heute bin ich fassungslos, dass ich mit ihr nie über die damalige Zeit gesprochen habe, dass ich nie gefragt habe, wie sie vom Tod ihres Vaters erfahren und diesen Schock erlebt hat. Es tut mir weh, dass ich sie mit diesen Erfahrungen so alleingelassen habe.38

Es gab aber auch Fälle, in denen eine von russischen Soldaten missbrauchte Tochter mit ihrer Mutter darüber sprechen wollte, die Mutter aber kategorisch diesen Wunsch ablehnte – ein Schock, den z. B. Gabi Köpp nie verwunden hat. Für die Opfer von Vergewaltigungen blieben deshalb oft nur enge Freundinnen oder Leidensgefährtinnen als Gesprächspartnerinnen übrig.

War also von den Opfern kein besonders großer Publizitätsdrang zu erwarten, so gilt dies erst recht für die Täter. Zum Schweigen, das über die von sowjetischen Soldaten begangenen Massenvergewaltigungen im Land der Täter herrscht, hat der britische Historiker Antony Beevor festgestellt:

In der Sowjetunion wurde das Thema so hartnäckig verdrängt, dass Kriegsveteranen sich noch heute weigern zuzugeben, was beim Sturm auf deutsches Gebiet wirklich geschah. In der Regel räumen sie ein, von einzelnen Exzessen gehört zu haben, tun das Problem aber als unvermeidliche Begleiterscheinung des Krieges ab. Nur wenige bekennen, dass sie solche Szenen selbst erlebt haben. Die kleine Hand voll, die offen dazu steht, verspürt meist keine Gewissensbisse.39

Beispiele und Beweise dafür sind die Sprüche, die von russischen Kriegsteilnehmern zur Vergewaltigung deutscher Frauen geklopft wurden, wie:

Sie haben alle für uns die Röcke gehoben und sich hingelegt. (Komsomolchef einer Panzerkompanie)40

Unsere Jungens waren sexuell so ausgehungert, dass sie oft über alte Frauen von 60, 70 oder gar 80 Jahren herfielen – für viele dieser Großmütter eine nicht unangenehme Überraschung. (sowjetischer Major)41

Man braucht sie nicht zu überreden, einfach den Nagant (= Revolver, d. Verf.) angesetzt, erledigst das Geschäft und gehst weiter. (Brief eines Frontsoldaten an seine Angehörigen)42

Wer sich zierte oder gar wehrte,

habe doch nur besondere Lust auf einen Mann gehabt.43

Wir befinden uns weit in Ostpreußen, wo wir die Preußen ausräuchern, so daß die Federn nur so fliegen. Unsere Jungens haben bereits alle deutschen Frauen ausprobiert. (Feldpostbrief)44

Von diesen flapsigen – oder sollte man besser sagen: unmenschlichen – Sprüchen im Kasino-Ton heben sich die nachdenklichen und selbstkritischen literarischen Werke von Lew Kopelew und Alexander Solschenizyn weit ab. Eindrucksvoller und ergreifender als in Solschenizyns „Ostpreußische Nächte“45 kann die Stimmung nach der vielmaligen Vergewaltigung einer Frau kaum beschrieben werden, und dies nur in wenigen Zeilen. Ausführlich und detailliert schildert Andrzej Szczypiorski in seinem „Selbstportrait mit Frau“46 die besonders brutale Vergewaltigung von zwei deutschen Frauen, bei der die eine von ehemaligen KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern so lange missbraucht wird, bis sie daran stirbt. Über die Grenzen der Darstellung von Gewalt kann man gewiss streiten; aber Solschenizyn und Szczypiorski haben gezeigt, dass das heikle Thema Vergewaltigung literarisch darstellbar ist, ohne indiskret oder pornographisch zu werden. Größere Schwierigkeiten bereitet dieses Thema dagegen der bildenden Kunst. Zwar sind in Kriegen begangene Grausamkeiten oft in Werken der bildenden Kunst thematisiert worden (die Frage, ob man den Schrecken darstellen kann, hat z. B. Alfred Hrdlicka erst kürzlich mit Nachdruck bejaht: „Es war immer das Wesen der Kunst, sich den großen Tragödien der Menschheit oder aber auch den kleinen, individuellen Katastrophen zu widmen“47; aber auffallenderweise sind keine Gemälde oder Skulpturen von internationalem Rang bekannt, die die Massenvergewaltigungen von 1944/45 zum Gegenstand haben.

Gleiches galt bis Herbst 2008 für das Medium Spielfilm; die Verfilmung des Tagebuchs der Anonyma „Eine Frau in Berlin“ ist der erste Spielfilm, der sich – mehr als sechzig Jahre nach jenen Ereignissen – mit diesem Thema befasst (Titel „Anonyma. Eine Frau in Berlin“). Bedauerlicherweise erreicht die Verfilmung in keiner Weise die Eindringlichkeit der Tagebuchvorlage, sondern gleitet mit der Verzuckerung des Stoffes durch eine aufgesetzte – im Tagebuch der Anonyma so nicht enthaltene – Liebesgeschichte zwischen dem Opfer einer Vergewaltigung und einem russischen Offizier auf das Niveau von melodramatischem Kitsch ab. Der diesem Film dominierende Wunsch nach einer Liebesgeschichte und das angestrengte Bemühen um Einklang mit den Geboten der Political Correctness haben offensichtlich den Stift beim Drehbuch und den Taktstock bei der Regie geführt. Die grausige Realität der Massenvergewaltigungen bleibt ausgeblendet. Ein Gespräch unter vergewaltigten Frauen über dieses Thema wird in der Filmschnulze zu einem Gekicher wie über Erlebnisse in einer Tanzstunde. Das gepflegte Gesicht der schönen Nina Hoss als Hauptdarstellerin in modisch blauem Mantel vermittelt den Eindruck, dass die „Anonyma“ nicht in Luftschutzkellern unter Angst und Hunger gelitten hat, sondern dass sie direkt aus einem Wellness-Center kommt. Zu Recht ist der Spielfilm „Anonyma“ von der Filmkritik überwiegend negativ aufgenommen worden.48 Positiv ist allerdings anzumerken, dass durch die Verfilmung des Tagebuchs der Anonyma das Thema der Vergewaltigungen deutscher Frauen eine größere Aufmerksamkeit als vorher erfahren hat – dies auch im Ausland, wie ein ganzseitiger Artikel darüber in der französischen Zeitung „Le Monde“ vom 21./22. Dezember 2008 zeigt.49

In Dokumentarfilmen sind Vergewaltigungsopfer zu Wort gekommen50, meist in Kurzinterviews, aber über das eigentliche Geschehen gibt es offenbar keine Filmaufnahmen; unter den damals gegebenen Umständen hätten solche Aufnahmen nur von russischen Armeefotografen gemacht werden können. Diesbezügliches Filmmaterial ist aber bisher nicht bekannt. Auch wenn Vergewaltigungen nicht selten vor vielen Augen stattfanden, etwa in einem Straßengraben, so ist doch davon auszugehen, dass in den allermeisten Fällen Fotografen und Filmberichterstatter der Sowjetarmee jedenfalls nicht zugegen waren. Vergewaltigungen selbst oder auch „nur“ die missbrauchten Opfer waren sicherlich auch kein gewünschtes Motiv: Die Vergewaltigungen passten nicht in das Bild des Siegers. Vergewaltigungen deutscher Frauen waren – so gesehen – für die Sowjets kein „bedeutender Augenblick“. Deshalb überrascht es nicht, dass in dem unter dem Titel „Der bedeutende Augenblick“ veröffentlichten Fotokatalog des wohl bekanntesten russischen Armeefotografen Jewgeni Chaldej51 das Wort Vergewaltigung fehlt. Das von ihm aufgenommene und in dem Bildband veröffentlichte Foto „Tote Frau am Halleschen Ufer, Berlin 1945“ sagt über das Schicksal dieser Frau vor ihrem Tod nichts – man kann insoweit nur Vermutungen anstellen.

Keine Vermutungen muss man dagegen bei der Betrachtung der bekannten Fotos der Opfer von Nemmersdorf (Ostpreußen)52 anstellen: Die darauf abgebildeten toten Frauen und Mädchen mit z.T. entblößtem Unterleib sind, wie von einer internationalen Ärztekommission bei der Untersuchung der Opfer festgestellt worden ist, vor ihrer Tötung durch russische Soldaten vergewaltigt worden. Nemmersdorf war der erste von sowjetischen Truppen auf deutschem Gebiet besetzte Ort und zugleich der Ort, an dem im Oktober 1944 die Orgie der Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen begann53, eine Orgie, die sich später in zahlreichen anderen Städten, Ortschaften und Dörfern fortsetzte (besonders gründlich dokumentiert sind die Verbrechen in Metgethen, einem Vorort von Königsberg54), aber auch in einzeln gelegenen Häusern, Gehöften, Scheunen, Ställen, Wäldern, auf Feldern, in Straßengräben und auf Lastwagen. Die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45 lassen sich deshalb – anders als die Massenvergewaltigung chinesischer Frauen und Mädchen durch japanische Soldaten in Nanking 1937 – nicht an einem bestimmten Ort des Verbrechens, wie Auschwitz, Babi Jar, Buchenwald, Dresden, Hiroshima, Katyn, Lidice, Oradour oder Srebrenica (um nur einige wenige von vielen zu nennen55), festmachen.56 Die Vergewaltigungen 1944/45 erfolgten vielmehr „flächendeckend“ (im buchstäblichen Sinne des Wortes), was die Darstellung dieser Gewalttaten offenbar erschwert oder sogar zur Nicht-Erwähnung führt.57

Die bisher genannten Gründe für die Defizite der Darstellung der Massenvergewaltigungen, nämlich das Schweigen der Opfer und der Täter, die Zurückhaltung bei der Darstellung von Vergewaltigungen überhaupt in Kunst und Literatur, das Fehlen von dokumentarischen Filmaufnahmen und die mangelnde Anbindung der Geschehnisse an einen bestimmten Ort, sind jedoch nicht die einzige Erklärung für diese Darstellungsdefizite. Vielmehr kommen einige in der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte wurzelnde deutsche Besonderheiten hinzu.

Nemmersdorf, Oktober 1944: Präludium für eine Welle von Gewaltexzessen der Roten Armee an deutschen Männern, Frauen und Kindern, die Opfer einer Rache wurden, „die nicht zu stillen war“ (Günter Böddeker)

Vorab ist hier die Bezeichnung des deutschen Volkes als „das Volk der Täter“ zu nennen. Wer diese unzählig oft gebrauchte Formel – inzwischen schon ein Stereotyp – für angemessen und richtig hält, kann sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass es neben den Tätern eben auch Opfer gab. Die Opfer der Massenvergewaltigungen von 1944/45 – Frauen und Mädchen, nicht wenige von ihnen im Kindesalter – waren jedenfalls keine Täter, da sie an NS-Verbrechen nicht mitgewirkt hatten. Weil diese Tatsache unbestreitbar ist, stört die Erwähnung oder gar eine Darstellung der Massenvergewaltigung deutscher Frauen und Mädchen das Bild vom (deutschen) „Volk der Täter“. Die Verweigerung des Opfer-Seins der 1944/45 vergewaltigten deutschen Frauen und Mädchen wird überdeutlich, wenn deren Erlebnisberichte als „Propaganda“ bezeichnet werden und das Wort Opfer sogar in Anführungszeichen gesetzt wird. So ist eine in den USA erschienene Veröffentlichung zur Vergewaltigung deutscher Frauen durch Besatzungssoldaten58 gelobt worden als „faszinierende Untersuchung über den Gebrauch von Berichten deutscher Frauen, die von sowjetischen Truppen vergewaltigt wurden, als kulturelle Propaganda für die Selbstdarstellung der Deutschen als ‚Opfer‘ des Zweiten Weltkriegs“.59 Gegen Helke Sanders Dokumentarfilm wurde als Hauptvorwurf erhoben, dass er

die Ereignisse der Massenvergewaltigungen aus dem historischen Kontext reißen würde und so neuerlich die Deutschen, hier besonders die deutschen Frauen, viktimisieren würde, statt die Ereignisse vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus zu entfalten.60

„Viktimisieren“ bedeutet, jemanden zum Verbrechensopfer zu erklären – aber waren denn die (häufig besonders brutal) vergewaltigten Frauen und Mädchen keine Opfer von Verbrechen? Der Vorwurf, diese Frauen und Mädchen würden unpassenderweise „viktimisiert“, ist deshalb unverständlich. Was den von der Kritik an Helke Sander vermissten „historischen Kontext“ betrifft, so steht jedes Geschehen selbstverständlich in einem historischen Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Jede seriöse Befassung mit einem Thema wird daher, wenn dies zur Erhellung des Sachverhaltes oder zur Begründung eines Urteils notwendig oder auch nur dienlich ist, den Kontext des Ereignisses berücksichtigen. Aber der Kontext darf nicht zu einer Pflichtübung erklärt werden, vor allem dann nicht, wenn ein geschildertes Geschehen unabhängig vom Kontext einen eigenen Gehalt besitzt und/oder eine eigene Dynamik entfaltet. Und schon gar nicht sollte der eingeforderte Kontext dazu gebraucht oder missbraucht werden, um die an Deutschen begangenen Verbrechen, wie z. B. die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen, in einem milderen Licht erscheinen zu lassen.

Unübersehbar ist ohnehin eine Tendenz, die Darstellung von Kriegsverbrechen der anderen Seite, also im Fall der Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen durch russische Soldaten, dem Vorwurf oder zumindest dem Verdacht einer damit verbundenen oder gar beabsichtigten Relativierung der von deutscher Seite begangenen Kriegsverbrechen auszusetzen. Helke Sander berichtet dazu, dass sie sich im Zusammenhang mit ihrem Dokumentarfilm mit massiven Vorwürfen konfrontiert sah,

wie ‚revisionistisch‘, ‚revanchistisch‘, ‚antisemitisch‘ und ‚binär feministisch‘ zu sein, und obwohl zu vielen Seminaren, Kongressen, Diskussionen, Symposien über den Film eingeladen, wurde mir von den Co-ReferentInnen bisweilen nicht einmal mehr die Hand gegeben.61

Wer das Textbuch des Films gelesen hat, kann diese Vorwürfe nur als absolut unbegründet beurteilen. Ganz und gar unverständlich ist der Verdacht des „Antisemitismus“ – es sei denn, dass schon die bloße Erwähnung des Namens Ilja Ehrenburg oder ein Zitat aus seinen Flugblättern unter das Verdikt des Antisemitismus fällt. Abstruses Beispiel eines solchen Antisemitismusvorwurfes ist die Äußerung des Schriftstellers Erich Kuby:

Jeder kennt jemanden, der vergewaltigt wurde oder der seinerseits jemanden kennt, dem dies widerfuhr. Auf solcher Basis ließ sich der Mythos aufbauen, die Einheiten zweier sowjetischer Heeresgruppen seien kollektiv über die Berliner Frauen hergefallen, und zwar – damit die Sache ihre deutsche antisemitische Note erhielt – auf Befehl eines in Moskau sitzenden jüdischen Literaten.62

Dazu ist festzustellen: Flugblätter und Zeitungsartikel aus der Feder von Ilja Ehrenburg sind zu Recht häufig zitiert worden, aber nie als „Befehl eines in Moskau sitzenden jüdischen Literaten“.

Jede Schilderung oder auch nur Erwähnung von an Deutschen begangenen Kriegsverbrechen muss schließlich den Vorwurf vergegenwärtigen, es solle eine „Aufrechnung“ stattfinden, gemeint ist damit eine Gegenrechnung der Opfer der deutschen Seite gegen die Opfer der anderen Seite – eine Gegenrechnung, die den Deutschen nicht zustehe.63 Eine solche Aufrechnung vorzunehmen, wäre in der Tat abwegig. Menschliches Leid ist individuelles Leid und entzieht sich deshalb von vornherein Rechenspielen, etwa nach dem Motto: „Ihr“ habt x Frauen und Mädchen vergewaltigt, „wir“ haben ebenfalls x Frauen vergewaltigt – macht zusammen null, hebt sich also gegenseitig auf.

Die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45 waren keine auf dem Papier stehende Aufrechnung, sondern eine grausame reale Abrechnung. Dementsprechend werden die vergewaltigten Frauen und Mädchen als Opfer der Rache für Hitlers Angriff auf die Sowjetunion und dort begangene Kriegsverbrechen bezeichnet.64 Zu dieser Erklärung, nämlich dass die Vergewaltigungen aus Rache erfolgt seien, hat Helke Sander kritisch angemerkt:

Meines Erachtens wird immer sehr vorschnell behauptet, dass die Frauen Opfer der Rache für deutsche Verbrechen wurden. Aus dem Blick gerät dabei, dass Frauen immer wieder und überall Opfer von Sexualverbrechen werden, auch wenn ihre Männer, Brüder oder Väter keine anderen Länder überfallen. Es ist die einfachste aller Erklärungen, die hauptsächlich dazu dient, Männer zu entlasten.65

Dieser feministische Ansatz mag aus der Sicht der Autorin Helke Sander verständlich sein; und richtig ist auch, dass jede Vergewaltigung, gleichgültig wo, wann und von wem sie begangen wurde, immer eine gewalttätige geschlechtsspezifische Handlung eines Mannes gegen eine Frau darstellt. Jedoch lassen die Einzelvergewaltigungen in Friedenszeiten sich gewiss nicht mit den Massenvergewaltigungen von 1944/45 gleichsetzen, bei denen nicht nur politisch-psychologische Kriegführung durch Flugblätter und Frontzeitschriften, sondern eben auch Rache und Vergeltung für Handlungen der deutschen Besatzungsmacht in der Sowjetunion zwar nicht der einzige, aber doch ein wesentlicher Beweggrund waren. Wenn Vergewaltigungsopfer es wagten, sich über die erlittenen Misshandlungen zu beschweren, erhielten sie – wenn überhaupt – die Antwort, die Frauen und Schwestern der russischen Soldaten seien von den Deutschen viel schlimmer behandelt worden.66 Exemplarisch kann dafür die Äußerung eines Vergewaltigers zitiert werden, der sich gegenüber einem Offizier, der ihm Vorhaltungen machte, damit rechtfertigte, seine Schwester sei von den Deutschen vergewaltigt worden.67 Solche Erklärungsversuche (Entschuldigungsversuche? Rechtfertigungsversuche?) führen zu der Frage, ob die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen durch russische Soldaten eine Parallele in entsprechenden Vergewaltigungen russischer Frauen und Mädchen durch deutsche Soldaten hatten.

Ausgangspunkt diesbezüglicher Erörterungen muss die Feststellung sein: Dass es auch Vergewaltigungen russischer Frauen durch deutsche Soldaten gegeben hat, kann ernstlich nicht angezweifelt werden. Dies folgt schon daraus, dass bereits zu Beginn des Angriffskriegs gegen die Sowjetunion mehr als drei Millionen deutsche Soldaten auf dem Boden der Sowjetunion standen (später waren es fast fünf Millionen68) und dass die Besetzung sowjetrussischen Gebietes bis zum Rückzug der letzten deutschen Truppen aus der Sowjetunion mehr als drei Jahre angedauert hatte. Es widerspräche jeder Lebenserfahrung (in diesem Fall: jeder Kriegserfahrung), wenn man behaupten wollte, es seien in dieser langen Zeit und bei einer so starken Präsenz deutscher Besatzungstruppen keine Vergewaltigungen russischer Frauen durch deutsche Soldaten vorgekommen. Tatsächlich hat es – wie sich u. a. aus russischen Archivunterlagen69, aber auch aus Berichten deutscher Stellen70 ergibt – solche Vergewaltigungen gegeben. Allerdings waren nicht alle sexuellen Beziehungen zugleich sexuelle Gewalttaten. So wird in einem mit dem Vermerk „Streng geheim“ versehenen Sonderbericht des Leiters der NKWD-Verwaltung des Stalingrader Gebietes „Über das Verhalten der Jugendlichen in den besetzten Bezirken des Stalingrader Gebietes“ im Abschnitt „Das Benehmen der Jugendlichen im Hinterland des Gegners“ festgestellt:

Die meisten Jugendlichen weiblichen Geschlechts liebten deutsche Soldaten und Offiziere und wohnten mit ihnen zusammen. Es gab sogar offizielle Eheschließungen.71

Fünfunddreißig Komsomolzen aus dem Woroschilowsker Bezirk waren Mitglieder der konterrevolutionären Organisation ‚NTSNP‘, und sieben Komsomolzen waren Mitglieder der konterrevolutionären Jugendorganisation. Zirka dreißig Mädchen wohnten mit den deutschen Soldaten und Offizieren zusammen.72

Der NKWD-Bericht kommt in seinen „Schlussfolgerungen“ u.a. zu folgenden Erklärungen:

1. Das Benehmen der meisten Jugendlichen, die im Hinterland des Feindes verblieben sind, war negativ. Einige beschritten sogar den Weg des Verrats. Das negative Verhalten der Jugendlichen zeigt sich in der mangelnden ideologischen Standhaftigkeit, in der Beteiligung und Mitarbeit in den Verwaltungsorganen der Besatzer, in intimen und anderen Beziehungen zu den Offizieren und Soldaten des Gegners. 2. Die festen Beziehungen der meisten weiblichen Jugendlichen zu den Soldaten und Offizieren des Gegners basieren zu einem großen Teil auf dem Einfluß und der Haltung der profaschistisch gesinnten und moralisch zersetzten Elemente unter den Erwachsenen … 73

Nach alledem kann die Frage nur sein, in welchem Umfang deutsche Soldaten tatsächlich russische Frauen und Mädchen vergewaltigt haben und ob solche Vergewaltigungen durch die deutsche Militärgerichtsbarkeit geahndet worden sind.

Was die zahlenmäßige Größenordnung der Vergewaltigung russischer Frauen durch deutsche Soldaten betrifft, so ist nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Forschungsstand nur eines sicher, nämlich dass es darüber keine gesicherten Erkenntnisse gibt. Das bisher gründlichste Werk zum Thema „Wehrmacht und sexuelle Gewalt“, nämlich die von der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern als Dissertation unter diesem Titel und dem Untertitel „Sexualverbrechen der deutschen Wehrmacht vor deutschen Kriegsgerichten 1939–1945“ angenommene und preisgekrönte Arbeit von Birgit Beck kommt zu dem Ergebnis, es sei „derzeit keine Schätzung über die Anzahl der stattgefundenen Sexualverbrechen (gemeint ist: deutscher Soldaten, d. Verf.) möglich“.74 Zugleich gelangt Birgit Beck jedoch aufgrund der vorhandenen Literatur und der von ihr ausgewerteten Quellen zu der im vorliegenden Zusammenhang wichtigen Feststellung, dass „Ereignisse wie in Nanking oder in Berlin für die Wehrmacht nicht belegt“ sind.75 Konkret und eindeutig bedeutet dies, dass es keine – den Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen durch russische Soldaten 1944/45 vergleichbaren – Massenvergewaltigungen durch deutsche Soldaten gegeben hat, übrigens auch keine so genannten systematischen Vergewaltigungen76, die entweder Terror verbreiten sollten oder, wie im Bosnien-Krieg von serbischer Seite, mit dem Ziel der „ethnischen Säuberung“ in Zusammenhang standen. Zum Verhalten der deutschen Soldaten bei der Einquartierung im Osten sind noch die folgenden Informationen aus russischen Quellen erwähnenswert: In dem bereits mehrmals zitierten Sonderbericht des NKWD über die Beziehungen der Jugendlichen in den besetzten Bezirken des Stalingrader Gebietes wird als Hauptursache des (aus sowjetischer Sicht) „negativen Verhaltens“ der Jugendlichen „mangelnde Standfestigkeit, Schwanken und Zweifel an der Rückkehr und dem Sieg der Roten Armee“ genannt:

Dieses Zweifeln und die mangelnde Standfestigkeit wurden den Jugendlichen durch folgende Umstände eingeflößt: a) eine zu lange Besatzungszeit in den Bezirken Stalingrads, die am Don liegen, b) die gute technische Ausrüstung und die mustergültige Disziplin der deutschen Wehrmacht …77

Und der ebenfalls bereits erwähnte russische Schriftsteller Anatoli Streljanyi schreibt in seinen „Beobachtungen zum Tag des Sieges“:

Im gleichen Sommer lernte ich einen alten hohen Parteiwürdenträger kennen … Es stellte sich heraus, daß seine Frau im Jahr 1943 in derselben Gegend gelebt hatte wie meine Familie. „Stellen Sie sich eine arme ukrainische Hütte vor“, sagte er, ohne zu wissen, wie leicht mir das fiel. „Mit drei weiblichen Bewohnern, einer fünfunddreißigjährigen Frau mit ihren zwei Töchtern, eine dreizehn, die andere fünfzehn Jahre alt. Den ganzen Winter waren drei deutsche Offiziere bei ihnen einquartiert, drei gesunde Männer. Und keiner hat die Mädchen angerührt.“78

Die Tatsache, dass es keine von deutschen Soldaten in Russland begangenen Massenvergewaltigungen wie die von russischen Soldaten in Deutschland gegeben hat, lässt sich mit fünf Gründen – spiegelbildlich zur umgekehrten Situation auf der russischen Seite 1941/45 – erklären:

1. Obwohl die deutsche Wehrmacht in den ersten Kriegsmonaten im Osten große militärische Erfolge erzielt hatte, fühlten die einfachen Soldaten („der Landser“) keinen Rausch des Siegers. Schon der steckengebliebene Vormarsch auf Moskau und der verlustreiche erste Kriegswinter 1941/42 konnten keine Triumphgefühle aufkommen lassen. Die Kapitulation der Reste der 6. Armee in Stalingrad und die von zunächst hohen Erwartungen begleitete, aber verlorene Schlacht bei Kursk im Sommer 1943 beendeten jede Siegesstimmung. Zu Alkoholexzessen fehlte der Anlass, mochten in Einzelfällen seitens der Täter auch Vergewaltigungen in alkoholisiertem Zustand begangen worden sein.

2. Als Erklärung für die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen durch russische Soldaten 1944/45 werden deren Gefühle der Rache, Wut und Vergeltung für die Verwüstung ihrer Heimat und für die Leiden der russischen Bevölkerung unter der deutschen Besatzung79 genannt – Gefühle, welche die russischen Soldaten auch unter dem Einfluss der Ehrenburgschen Traktate stark bewegten. Deutschland war für die russischen Soldaten der Aggressor gewesen; nicht zuletzt sollten die deutschen Frauen dafür büßen. Im Unterschied zu den Gefühlen der russischen Soldaten bestand für die deutschen Soldaten in Russland – selbst unter dem Eindruck der NS-Propaganda gegen den „Bolschewismus“ – kein Anlass zu Gefühlen der Rache und der Vergeltung gegenüber den russischen Frauen; denn die deutsche Zivilbevölkerung in der Heimat war zur Zeit der deutschen Besetzung russischen Gebietes zwar schon Ziel heftiger Luftangriffe der Westalliierten gewesen, war aber mit russischen Truppen noch nicht in Berührung gekommen und hatte deshalb selbst noch keine Gewalttaten durch russische Soldaten erlebt. Und: Weder die heute häufig gebrauchte Formel vom „Vernichtungskrieg“ noch die vom „Rassekrieg“80 oder vom „Weltanschauungskrieg“ nötigte oder animierte deutsche Soldaten zur Vergewaltigung russischer Frauen.

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