Frauen brauchen Männer (und umgekehrt) - Raphael Bonelli - E-Book

Frauen brauchen Männer (und umgekehrt) E-Book

Raphael Bonelli

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Beschreibung

Warum alle gewinnen, wenn Männer männlich und Frauen weiblich sind

Weshalb gerät das moderne Beziehungsleben zwischen den Geschlechtern so häufig in eine Schieflage? Der Wiener Psychiater und Neurowissenschaftler Raphael M. Bonelli taucht ein in das Seelenleben von Mann und Frau und beleuchtet dort besonders das Unbewusste und Verdrängte, und wie dies die heutigen Paarbeziehungen beeinflusst: offene Beziehungen, die doch nicht ganz so offen sind, Männer auf der Suche nach ihrer weiblichen Seite, geschlechtslose Freundschaft, die sich als recht geschlechtlich entpuppt, Karrierefrauen mit paradoxen Heimchen-am-Herd-Sehnsüchten.

Bonelli erzählt ebenso unterhaltsam wie einfühlsam Fallgeschichten aus seiner eigenen therapeutischen Praxis, fernab von Klischees und Ideologien. Er identifiziert vier unbewusste Liebestöter und analysiert, wie moderne Männlichkeit und Weiblichkeit miteinander harmonieren können. Als erfahrener Paartherapeut zeigt er, wie der Eros wiederbelebt werden kann: Wer das jeweilige Talent zur Männlichkeit oder zur Weiblichkeit nicht verkümmern lässt, sondern entfaltet, findet zurück zu einer glücklichen und funktionierenden Paarbeziehung auf Augenhöhe.

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Seitenzahl: 450

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Das Buch

Warum alle gewinnen, wenn Männer männlich und Frauen weiblich sind.

Ist die Beziehung zwischen den Geschlechtern in eine Schieflage geraten? Brauchen Männer und Frauen sich noch gegenseitig? Der Wiener Psychiater und Neurowissenschaftler Raphael M. Bonelli taucht ein in das moderne Seelenleben von Mann und Frau und beleuchtet dort besonders das Unbewusste und Verdrängte. Unterhaltsam und einfühlsam erzählt er Fallgeschichten aus seiner eigenen therapeutischen Praxis, identifiziert vier Liebestöter und analysiert, wie moderne Männlichkeit und Weiblichkeit miteinander harmonieren können. Seine Botschaft: Beides sind Talente, die man zum Nutzen der Liebesbeziehung entfalten oder zu ihrem Schaden verkümmern lassen kann.

Der Autor

Raphael M. Bonelli, geboren 1968, ist Neurowissenschaftler an der Sigmund Freud Universität Wien sowie Psychiater und systemischer Psychotherapeut in eigener Praxis. Forschungsaufenthalte an der Harvard University, der University of California (Los Angeles) und der Duke University mit zahlreichen Publikationen im Bereich der Gehirnforschung und Habilitation im Fach Neuropsychiatrie.

Raphael M. Bonelli

Frauen brauchen Männer (und umgekehrt)

Couchgeschichten eines Wiener Psychiaters

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht möglich gewesen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber.Copyright © 2018 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt, Münchenunter Verwendung eines Bildes von Monkey Business Images

Umschlagmotiv: © LoveDesignShop / shutterstock.com / Bild Nr. 189140756

Redaktion: Markus Reder

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-21363-3V004

www.koesel.de

Inhalt

Abschnitt I: Der unbewusste Eros

1 Was Shades of Grey offenbart

2 Die Abgründe der Seele

3 Der somatische Eros: Die Schöne und das Biest

4 Der emotionale Eros: Der junge Mann und das Meer

5 Der kognitive Eros: Auf Augenhöhe

Abschnitt II: Was den Eros belebt

6 Die Verdrängung im Wandel der Zeit

7 Die Synthese: Sex UND Gender!

8 Das männliche Unbewusste

9 Das weibliche Unbewusste

10 Gegensätze ziehen sich an: Ergänzung und Harmonie

Abschnitt III: Die Rettung des Eros

11 Liebestöter #1: Beratungsresistente Männlichkeit

12 Liebestöter #2: Verdrängte Männlichkeit

13 Liebestöter #3: Beratungsresistente Weiblichkeit

14 Liebestöter #4: Verdrängte Weiblichkeit

15 Es lebe der Eros!

Anhang

Gewidmet meiner Frau Victoria

… weil sie mich zu einem besseren Menschen gemacht hat.

Abschnitt I Der unbewusste Eros

1 Was Shades of Grey offenbart

Psychiater haben eine faszinierende Perspektive auf den Menschen. Sie blicken auch ganz anders auf die Partnerschaft zwischen Mann und Frau als das strenge, fordernde und oft urteilende Auge der Öffentlichkeit. Moderne therapeutische Beziehungen sind nicht nur verständnisvoll und geduldig, sondern auch staunend, neugierig, mitunter augenzwinkernd und humorvoll – jedenfalls niemals verurteilend oder wertend. In diesem angenehmen Klima kommt viel Unausgesprochenes zum Vorschein, das man öffentlich nicht zu bekennen wagte. Welcher Nervenarzt hat noch nie den Satz gehört: »Das habe ich noch niemandem erzählt …«? Sigmund Freud hat auf diese Weise viel von seinen Patienten gelernt und auf seinen akribisch recherchierten und penibel beschriebenen (anonymisierten) Patientengeschichten seine gesamte Lehre aufgebaut. Festes Wissen der Psychiatrie ist jedenfalls: Die äußere Fassade der Menschen entspricht nicht unbedingt ihrem Inneren, die Menschen ticken tief drinnen nicht immer so, wie es von ihnen gesellschaftlich erwartet wird.

Freud konnte aber auch ein Lied davon singen, dass das öffentliche Aussprechen dieser Diskrepanz einem Tabubruch gleicht und zu massiven Anfeindungen führen kann: Die Gesellschaft fühlt sich auf den Schlips getreten. Freuds hartnäckige Aufdeckung des seelischen Innenlebens gegen den Widerstand der Sittlichkeitsvorstellungen des 19. Jahrhunderts hat ihren festen Platz in der Geschichte. Das Unbewusste bricht sich gerade dort eine Bahn, wo es vom intellektuellen Überbau – nach Freud das Über-Ich – besonders massiv bedrängt wird. Auf der Couch wird das recht schnell offenbar. Mit unbändiger Kraft entledigt sich das geknechtete Es des moralinbeengten Korsetts. Der Psychiater kommt oft erst fünf vor Zwölf ins Spiel, wenn die Fassade schon bröckelt und Wasser durch die Ritzen und Schlitze der künstlich angelegten Staumauer spritzt. Nehmen wir zum Beispiel Frau Ü.:

Fall 1: Der Arsch mit dem Sex-Appeal

Frau Denise Ü. ist seit zehn Jahren mit dem gleichaltrigen Büroangestellten Michael zusammen. »Er ist ein sehr guter Mensch. Aber ich begehre ihn nicht mehr. Wir haben eine freundschaftliche Basis, aber ich will nicht mehr. Seit Monaten haben wir keinen Sex. Vor zehn Jahren war alles anders. Aber da waren wir auch 22. Wir haben keine Kinder – das habe ich immer hinausgezögert.«

Dann wird sie leiser: »Ich habe seit zwei Jahren eine Affäre mit meinem Ex-Freund Klaus. Der ist verheiratet und hat zwei Kinder, drei und fünf Jahre alt. Wir verstehen uns gar nicht, aber es gibt eine immense körperliche Anziehung: Er braucht mich nur anzufassen, und ich bin erregt. Was er alles mit mir macht, ist schlichtweg atemberaubend. Er hat mich total in der Hand.

Ich habe meinem Lebensgefährten gesagt, dass ich eine Auszeit brauche. Deswegen ist er vor drei Wochen zu seiner Schwester gezogen. Michael tut mir sehr leid. Er liebt mich sehr und ist zu allem bereit. Es fehlt mir, Dinge mit ihm gemeinsam zu unternehmen.

Mit Klaus streite ich oft. Er ist ein richtiger Macho und seine Frau schluckt alles runter. Ich lasse mir das nicht gefallen. Wir haben deswegen schon öfter Schluss gemacht. Meine zwei besten Freundinnen habe ich eingeweiht: sie raten mir dringend von Klaus ab. Er ist ein Arsch – aber er hat Sex-Appeal. Leider …

Michael hingegen ist sehr wertschätzend. Ich kann mich nach zehn Jahren nicht beklagen. Aber er ist leider zu wenig männlich. Er kann nicht auf den Tisch hauen. Vielleicht brauche ich das. In unserer Partnerschaft bin ich die Dominante – ich sag, wo es langgeht. Das ist furchtbar.

Seit zwei Tagen bin ich jetzt wieder von Klaus getrennt. Er ist nach zwei Wochen mit mir wieder zu seiner Frau zurückgegangen, angeblich weil seine Kinder fragen, wann er wiederkommt. Er sagt, er braucht noch Zeit. Er hat mich schon so verletzt: wie er mit mir redet, wie er mit mir umgeht. Das ist respektlos. Er ist ein unglaublich negativer und unglücklicher Mensch. Er unternimmt nie etwas mit seiner Frau, ist immer alleine unterwegs.

Mit Michael habe ich im Grunde ein Superleben, es fehlt uns nur mehr ein Kind. Viele Freunde beneiden uns wegen unserer harmonischen Beziehung.«

Erstaunlich, dass Frau Ü. von Klaus nicht lassen kann, obwohl er sie so schlecht behandelt. Ihre irrationale, völlig unvernünftige Handlungsweise ist ihr durchaus bewusst. Trotzdem ändert sie es nicht. Wir Menschen sind so. Häufig finden Psychiater Menschen in Beziehungen vor, die ihnen nicht guttun. Der einzige Schutz vor vollständigem Kontrollverlust ist für Denise, dass sie im Grunde in einer glücklichen Partnerschaft lebt. Ihre Bauchgefühle, mit denen es sie zu Klaus hinzieht, stehen im krassen Gegensatz zur Einsicht ihrer Vernunft, dass der fremde Mann kein guter ist. Frau Ü. widersetzt sich zwar Klaus’ Grobheit scheinbar und streitet viel mit ihm, aber es zieht sie dann doch magnetisch zum Aggressor zurück. Ihr Lebensgefährte Michael ist nach ihrer Beschreibung ein guter Mensch und idealer Partner … wenn er ihr nicht ein wenig fad und vor allem zu wenig männlich wäre.

Psychiater haben – wenn sie ihr Handwerk verstehen – die Fähigkeit, das Unbewusste unter kontrollierten Bedingungen freizulegen. Dann betrachten sie gemeinsam mit dem Klienten diese Urkräfte behutsam, manchmal schmunzelnd, manchmal kopfschüttelnd staunend, von allen Seiten. Ohne, dass dabei Schaden entsteht. Das hat Denise jetzt vor sich. In der geschützten Umgebung der Therapie kann der Patient seine reflexive Kraft einsetzen, um die lange verdrängten, nunmehr bewusst gewordenen Impulse, Triebe und Intuitionen zu analysieren und zu bewerten – und dann eine freie Entscheidung zu treffen.

Verdrängung und gesellschaftliche Moralisierung hingegen machen immer unfrei. Bei diesem Prozess ist die »therapeutische Abstinenz« – also die betonte Zurückhaltung der eigenen Weltanschauung des Therapeuten oder gar eines moralischen Zeigefingers – von eminenter Wichtigkeit für den Therapieerfolg. Denn jegliches Moralisieren macht das Fenster zum Unbewussten wieder zu, und das Über-Ich mit seinen langweiligen 0815-Weisheiten und seinem stromlinienförmigen Mitläufertum gewinnt wieder Überhand.

Christian Grey und das kollektive Unbewusste

Wenn lange Unterdrücktes auf der Therapiecouch das Licht der Welt erblickt, ist das ein klein wenig wie eine Geburt. Manchmal vollzieht sie sich auch in aller Öffentlichkeit. Das kann dann vonstatten gehen, wenn Menschen sich unbeobachtet fühlen und keine Maßregelung befürchten müssen. Ein gutes Beispiel ist der Büchermarkt. Es gibt scheinbar nichts Harmloseres als den Kauf eines Buches. Aber durch den Run auf gewisse Titel gibt die Gesellschaft auch Auskunft über ihr kollektives Unbewusstes (wie der Freud-Schüler Carl Gustav Jung es nannte), in der Regel wider Willen. Die Spiegel-Bestsellerliste ist so zweifelsohne ein Fenster ins geheimnisvolle Innere, an dem Freud seine Freude gehabt hätte.

Ein besonderes Zeitgeistphänomen ist hier der Roman Shades of Grey der britischen Angestellten Erika Leonard alias E. L. James. In der 1200-Seiten-Trilogie macht ein 27-jähriger narzisstischer Millionär namens Christian Grey mit der 21-jährigen Literaturstudentin Anastasia Steele buchstäblich, was er will. Seitenlang wird die junge Frau gefesselt und ausgepeitscht, es werden ihr die Augen verbunden, die Kontrolle und Souveränität über sich und ihren Körper entzogen. Herr Grey ist nämlich ein sexueller Sadist, egoistisch, rücksichtslos, frauenfeindlich und machistisch bis zum Anschlag. Frau Steele findet es irgendwie toll, wenn er so grob und »männlich« mit ihr umspringt und sie sich – pointiert formuliert – unterwerfen »darf«. Die Story erinnert entfernt an die Spielchen, die Denise und Klaus so treiben. Im Roman kommt hinzu, dass Herr Grey eine atemberaubend schöne Wohnung in einem imposanten Wolkenkratzer hat, ein paar Helikopter und Flugzeuge besitzt und mächtiger Gebieter über ein großes Firmen-Imperium ist. Sicher auch ganz nett. Der Roman ist aus mehreren Gründen nicht bemerkenswert, aber sein wirtschaftlicher Erfolg ist es dafür umso mehr: Weltweit wurden mehr als 125 Millionen Exemplare verkauft.

Die Dimensionen der Rezeption waren natürlich sehr schnell Objekt akribischer wissenschaftlicher Studien. So waren die Leser der Trilogie nach Forschungsergebnissen der Psychologin Amy Bonomi von der Michigan State University überraschenderweise nicht sexistische, alte, frustrierte weiße Männer mit hässlichem Äußeren und schmutzigen Fantasien, sondern großteils – junge Frauen! Diese Wirklichkeit wurde zwar irgendwie öffentlich rezipiert, aber im Kontext unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussion kaum interpretiert: Was finden moderne Frauen des 21. Jahrhunderts eigentlich daran, wenn chauvinistische Männer mit ihnen tun, was sie (nämlich die Männer!) wollen? Noch dazu, wenn es »angry white men« sind, wie sie der US-amerikanische Soziologe Michael Kimmel so treffend beschreibt!

Die US-Presse erfand für den Roman den klingenden Begriff »Mommy porn – Fantasie-Exzesse von Frauen für Frauen geschrieben«. Aber die psychoanalytisch bedeutsame Frage wird damit erst recht zugespitzt statt entschärft: Wieso schreiben Frauen (!) für Frauen eigentlich solche Erniedrigungen, und was ist daran für das Opfer bitteschön auch noch erregend? Die israelische Kultursoziologin Eva Illouz meint, der Verkaufserfolg sei auf die detailverliebte Beschreibung männlicher Dominanz und weiblicher Unterwerfung gegründet. Sie vermutet, dass moderne Beziehungen von Unsicherheit der Geschlechtsidentitäten geprägt sind und das Buch ein Weg zur »Restabilisierung von Geschlechterrollen« sei. Diese Fährte sollten wir aufnehmen.

Das Time-Magazine erklärte E. L. James 2012 jedenfalls zu einer der 100 einflussreichsten Personen der Welt. In der Tat könnte sie eine geheimnisvolle Seite der weiblichen Seele aufgedeckt haben: immer noch besser ein narzisstischer, machistischer Sadist als ein überempfindliches Weichei. Hauptsache er ist reich, mächtig und berühmt. Simone de Beauvoir würde sich im Grab umdrehen. Oder auch nicht: Der reale Jean-Paul Sartre war im Grunde nicht viel besser als der fiktive Christian Grey, wie man in den Memoiren eines getäuschten Mädchens anschaulich nachlesen kann. Wenn man sich aber durch die ganzen 1200 Seiten von Shades of Grey quält, dann erfährt man, dass die Geschichte am Ende doch nur ein biederes Aschenputtelmärchen ist: Das seelengute, naive, jungfräuliche (wirklich!) arme Mädchen vom Lande heilt durch ihre selbstlose, aufopferungsvolle Liebe den verwunschenen Prinzen – der natürlich in der Kindheit ganz gemein von den bösen, bösen Eltern traumatisiert wurde und gar nichts dafür kann. Der Prinz wird durch ihre Hingabe entzückend lieb zu ihr, und am Ende heiraten sie natürlich. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Fall 2: Was Frauen wollen

Die 31-jährige Tanja A. berichtet über ihre Partnerschaft: »Ich hatte früher mehr sexuelles Interesse als er. Das kann daran liegen, dass ich fünf Jahre jünger bin. Ich wollte täglich Sex, er nur ein- bis zweimal pro Woche. In der Zwischenzeit hat sich das auf zweimal pro Monat eingependelt. Das ist jetzt für mich o. k., wir sind ja schon acht Jahre zusammen. Der Sex ist, wenn er dann mal stattfindet, erfüllend und harmonisch. Er überrascht mich mit neuen Ideen, das mag ich sehr. Anfangs war er da sehr passiv und scheu, und ich war experimentierfreudig. Das hat ihn in Panik versetzt. Ich habe ihn überrollt. Jetzt habe ich ihm die Führung überlassen, weil er das braucht. Eigentlich war ich nur deswegen experimentierfreudig, weil er das nicht war.

Ich habe Shades of Grey gelesen und dann auch alle drei Teile FiftyShades of Grey gesehen: Das ist natürlich total super für eine Frau. Ein echter Frauentraum: dass er seine sexuellen Fantasien an mir auslebt. Nur an mir, nicht an anderen Frauen.

Ich brauche schon Führung. Ein Macho oder ein Möchtegern ist ein No-Go, aber wenn einer selbstbewusst und intelligent ist, das ist wahnsinnig attraktiv für mich. Das hat mein Freund an und für sich alles, aber er beklagt sich relativ häufig über seinen Chef, die Arbeitsbedingungen, die Kollegen und so weiter … Unter uns: sein Jammern ist verdammt unsexy.«

Die Millennials und ihr Liebesleben

Inzwischen ist nach den epochalen Entdeckungen Freuds ein langes Jahrhundert vergangen. Seine Erkenntnis, dass das Unbewusste sich auf lange Sicht den rigiden Moralvorstellungen einer Zeit entwindet, hat aber nichts an Brisanz verloren. Psychiater in Tuchfühlung mit dem Unbewussten sind deswegen vom Welterfolg von Shades of Grey weniger überrascht als der Mann und die Frau von der Straße, haben sie doch schon lange Fälle wie Denise Ü. oder Tanja A. in der Praxis, bei denen sich das Unbewusste in ähnlicher Weise offenbart. Die neue Generation der unter 40-Jährigen begibt sich häufiger in Psychotherapie als die Generationen davor. Man nennt sie die Millennials – zu deutsch »die Jahrtausender«. Sie wurden zwischen 1980 und 1999 geboren, waren um die Jahrtausendwende jung und sind mit 9 / 11 großgeworden – so wie die 68er um dieses magische Jahr ihre wilde Zeit hatten und mit dem Vietnamkrieg aufgewachsen sind.

Millennials sind – wie viele in diesem Buch beschriebene Patienten – emanzipiert, gelten als gut ausgebildet, oft mit Hochschulabschluss, und klettern mit großer Selbstverständlichkeit geschlechtsunabhängig die Karriereleiter hoch. Sie sind oft polyglott und jobben auf der ganzen Welt. Familie und Kinder haben sie statistisch gesehen weniger, überraschend viele sind partner- und kinderlos. Man sagt ihnen auch nach, dass sie narzisstisch und selbsteingenommen sind. Die Psychologin und wohl bekannteste Millennials-Forscherin Jean Twenge von der San Diego State University nennt sie gar die »Generation Me«. Ihr Bestseller über die Millennials trägt den programmatischen Titel Why Today’s Young Americans Are More Confident, Assertive, Entitled – and More Miserable Than Ever Before. Darin erklärt sie mithilfe überzeugender empirischer Studien, warum Millennials eben selbstbewusster, durchsetzungsfähiger und ehrgeiziger sind – aber auch unglücklicher als alle Generationen davor. Da hat Twenge recht:

Fall 3: Der Verzweifelte

Der Südtiroler Reinhard P., 34 Jahre alt, kommt zum Psychiater, weil er nicht mehr schlafen kann, einen ganz starken Herzschlag verspürt, keine Entscheidungen mehr treffen kann und insgesamt nicht mehr der Alte ist. Eine Hypnosetherapie zeigte auch nicht den Erfolg, den er sich davon erhofft hatte. Er sei acht Jahre lang ein äußerst erfolgreicher Geschäftsmann in London gewesen, berichtet er. Aus Liebe zu seiner Verlobten Sophie sei er vor einem halben Jahr nach Mailand gegangen. Keiner seiner Kollegen hätte diese Entscheidung verstanden. Dort nahm er einen relativ uninteressanten Job an, um mit Sophie eine Familie zu gründen und mehr Zeit für die Liebe zu haben.

Aber seine Verlobte sei im Moment in Frankfurt und mache keine Anstalten, nach Mailand zu ziehen, obwohl sie von dort stamme. »Seit ich bei der schrecklichen Mailänder Firma begonnen habe, führe ich kein Leben mehr. Ich habe mich aus rein emotionalen Gründen für diese Firma entschieden: ich wollte zur Familiengründung immer nach Mailand – in die Stadt von Sophie. Ich suche schon andere Jobs, habe aber Angst, Italien zu verlassen und damit Sophie zu verlieren. Beruflich habe ich die letzten zwei Monate ehrlich gesagt verschissen. Das ist es wert, wenn nur die Ehe klappen würde. Aber unsere Beziehung ist in der Krise.«

Mit Sophie sei er seit acht Jahren zusammen – und diese Beziehung sei leider immer eine Fernbeziehung gewesen. Seit zwei Jahren seien sie verlobt, in zehn Monaten wollten sie eigentlich heiraten. »Aber wir schieben seit zwei Jahren die Hochzeit vor uns her, weil wir warten wollen, bis alles passt. Aber es passt nie. Sophie ist ein Einzelkind, ehrgeizig und sie ›braucht‹ Karriere.Ihre Mutter ist geschieden seit Sophie ein kleines Kind war. Ihr Rat an ihre Tochter: Sei immer selbstständig, vertraue nie einem Mann. Das hat Sophie immer mehr verinnerlich – am Anfang unserer Beziehung war das noch nicht so. Meine Gefühle für sie sind in der Krise verschwunden – und das merkt sie.

Ich verrecke in Mailand, vor allem wenn ich alleine bin. Ich warte, aber Sophie gibt kein Signal zu kommen. Sie sagt, jetzt muss sie erst einmal Karriere machen. Wenn sie nicht kommt, muss ich weg aus Mailand, weil ich beruflich vor die Hunde gehe. Aber sie hilft mir nicht bei der Entscheidungsfindung. Es geht um den Ort meines nächsten Jobs – ich will in ihrer Nähe sein! Sie sagt immer nur: ›Das musst Du selber wissen, Du musst alleine entscheiden, das geht mich nichts an. Hör auf zu flennen!‹ Diese Kälte macht mich fertig! Wir müssen doch gemeinsam entscheiden, wo wir unsere Familie gründen!«

Irgendwo ist der Wurm drin zwischen Reinhard und Sophie, es ist für den Anfang nicht leicht zu benennen. Er zeigt jedenfalls wenig Entschlossenheit, sie viel. Reinhard wirkt wehleidig und es scheint, dass er ihr auf die Nerven geht mit seinem »Flennen«. Ihn wiederum stört offensichtlich, dass sie taff ist und ihr Ding durchzieht. Ja, Millennials sind in der Tat überproportional unglücklich. Insbesondere beim Thema Beziehung. Es scheint, als hätten Liebe, Eros und Erotik um die Jahrtausendwende einen Schwächeanfall erlitten. Partnerschaften sind brüchig geworden, die Eheschließungen haben sich seit den 1950er Jahren fast halbiert, die Scheidungen verdoppelt. Single-Haushalte boomen und die Partnerbörsen für anonyme Sexkontakte haben Hochbetrieb. Psychiater, Psychologen und Psychotherapeuten haben alle Hände voll zu tun, die Beziehungskisten der Millennials wieder notdürftig zusammenzuflicken. Das marode Liebesleben präsentiert sich dem Fachmann und der Fachfrau in einer bunten Vielfalt, die selbst schlaue Bücher nur mangelhaft abbilden. Da ist offensichtlich Sand im Getriebe.

Das Über-Ich der Millennials

Als Über-Ich bezeichnet Sigmund Freud jene psychische Struktur, in der soziale Normen, Werte, Gehorsam, Moral und das Gewissen angesiedelt sind. Es wird erst durch Erziehung mit Inhalten gefüllt und spiegelt damit die von außen an das Kind herangetragenen, verinnerlichten Werte der Gesellschaft, insbesondere der Eltern, wider. Dadurch ändert sich das Über-Ich von Generation zu Generation erheblich – je nachdem, welcher weltanschauliche Einfluss, welcher Zeitgeist gerade dominiert.

Durch die Herausbildung des Über-Ichs erwirbt der Mensch erst die Fähigkeit, sich gesellschaftlich angepasst zu verhalten und seine ursprünglichen Triebregungen zu kontrollieren – aber auch seine innere Wahrnehmung zu unterdrücken oder gar zu verdrängen. Ganz kleine Kinder haben noch kein Über-Ich ausgebildet – deswegen tun sie auch nicht, was ihre Eltern von ihnen erwarten. Das Über-Ich ist bei Freud auch Träger des sogenannten »Ichideals«, welches das Ich zu seinem Streben anreizt und mit dem es sich vergleicht. Schuldgefühle tauchen auf, wenn die Gebote und Verbote des Über-Ichs nicht befolgt werden. Das Ichideal sollte dem Menschen helfen, sich zu optimieren – wie etwa das Ideal der Kardinaltugenden (Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß), deren Wert die positive Psychologie so schön herausgearbeitet hat.

Aber es gibt auch abstruse Ichideale, die utopisch sind, weil sie dem Inneren des Menschen widersprechen. Nicht jeder ist etwa zum Nobelpreis berufen. Solche künstlichen Ichideale sind dann ein lebenslanger Fremdkörper in der Seele, Anlass zu ständigem schlechten Gewissen. Nicht jeder bringt die intellektuelle Kraft auf, die Vorgaben des gesellschaftlichen Über-Ichs kritisch zu hinterfragen. Gerade die unreflektierten Teile des Über-Ichs sinken Freud zufolge mit der Zeit als Ichideal ins Unbewusste ab. Dieses Ichideal ist so für die Vernunft nicht mehr zugänglich – und damit nicht mehr überprüfbar. Es beeinflusst von dort aus ohne kognitive Kontrolle Handlungen und Lebenskonzepte. Der Inhalt des Ichideals ist also für die psychische Gesundheit und ein gelungenes Leben essenziell.

Fall 4: Gefühle zulassen

Herr David S., ein 35-jähriger Bankangestellter, kommt zum Psychiater, weil er nicht aufhören kann zu weinen. Er weine zwei bis fünf Stunden pro Tag wegen seiner verkorksten Kindheit und hoffe, dass das irgendwann wieder aufhöre. Seine Freundin hätte das jahrelang sehr belastet. Sie habe ihn vor kurzem verlassen. Sie fand sein dauerndes Weinen äußerst unmännlich. Jetzt müsse er noch mehr weinen. An manchen Tagen würde er sich sogar in der Bank krankmelden. Am Anfang wäre das Weinen irgendwie schön und erleichternd gewesen, aber das sei es schon länger nicht mehr. Der Psychiater fragt, ob er nicht versuchen könne, sich in der Situation abzulenken, die Traurigkeit weiterzuwinken und seinen Geist auf Wesentlicheres zu fokussieren. Dass er die Emotion der Traurigkeit zwar bewusst wahrnehme, dazu aber mit der Vernunft Stellung beziehe und dann mit dem Herzen entscheide, dass er eigentlich schon genug getrauert habe.

Darauf der Patient: »Aber Herr Doktor! Ich habe Jahre gebraucht, um wieder weinen zu lernen. Ich hatte früher gar keinen Zugang zu meinen negativen Gefühlen, war immer gut drauf und habe nicht viel nachgedacht. Meine Mutter hat mir das Weinen verboten, hat gesagt, dass Buben nicht weinen dürfen. Deswegen habe ich jahrelang meine weiblichen Anteile weggeschoben! Aber mein Therapeut hat das als Wurzel all meiner Probleme entdeckt und gesagt, ich soll nicht ständig verdrängen, es muss alles raus und ich muss die Traurigkeit endlich zulassen. Wenn es genug ist, werde ich es spüren, denn dann hört das Weinen von selber auf. Das ist jetzt sieben Jahre her, und es kommt immer mehr Traurigkeit. Da muss ganz viel Unaufgearbeitetes in mir drinnen sein. Ich traue mich nicht, diese Traurigkeit zu verdrängen – ist das Verdrängen nicht ganz schändlich? Ich will jetzt nicht durch einen Fehler das alles kaputtmachen.«

David geht auf die Suche nach seinen weiblichen Anteilen und wird fündig. Jetzt weint er seit sieben Jahren (was übrigens auch nicht typisch für eine Frau wäre). Der frühere Therapeut hat ihm die Idee in den Kopf gesetzt, dass man einen Impuls zum Weinen immer befolgen muss und keinesfalls verdrängen darf. David verinnerlicht das mit seinem Über-Ich und korrigiert sein Ichideal in Richtung eines »authentischen« Ichs, das zu seiner Traurigkeit und zu seinen weiblichen Anteilen steht. Das Unterdrücken des Weinens wird von nun an vom Ichideal streng verboten und mit Schuldgefühlen belegt. Die mechanische Vorstellung, dass »alles« raus muss und dann die Tränen von selbst versiegen, wird in der modernen Psychotherapie nicht mehr geteilt. Die Folge davon ist, dass David täglich zwei bis fünf Stunden weint, was die Beziehung dermaßen belastet, dass seine Freundin ihn schlussendlich verlässt. Zweifellos sind das Probleme, die noch vor wenigen Jahrzehnten sehr wenige Paare aufzulösen hatten.

Das Über-Ich der Millennials wurde durch ein völlig anderes soziales Milieu gefüttert als das der Generationen davor. Soziologen benennen zwei Phänomene, die augenscheinlich starken Einfluss auf das Paarungsverhalten des homo sapiens haben. Der erste signifikante Einfluss ist die Beziehung der Geschlechter: Millennials erlebten von klein auf die Auflösung der stereotypen Rollen und das Verschwimmen der männlichen und weiblichen Geschlechtsidentität. Niemals in der Geschichte ist dem soziologischen Auseinanderklaffen der Geschlechter, dem »Gendergap«, gesellschaftlich so intensiv zu Leibe gerückt worden wie seit ihrer Geburt. Ganze Regierungsprogramme versuchen, Mann und Frau überall gleichzustellen und Unterschiede auszumerzen. Seit dem Vertrag von Amsterdam von 1997 ist Gender-Mainstreaming ein erklärtes Ziel der Europäischen Union. Girls’ Days und später auch Boys’ Days versuchen, eine Symmetrie der freien Berufswahl der Millennials zu erreichen. Vielerorts sind bereits Zuschreibungen wie Mars und Venus gesellschaftlich geächtet. Das ist beachtlich, denn sie basieren auf dem wohl erfolgreichsten Psycho-Buch der 1990er Jahre: John Grays Frauen sind anders. Männer auch. Die Ergebnisse dieser Gesellschaftspolitik können sich sehen lassen: Eine gute Ausbildung und entsprechende Karriere sind für junge Frauen so selbstverständlich, dass es ihnen vielfach gar nicht mehr der Rede wert ist.

Der zweite prägende Einfluss auf das kollektive Über-Ich der Millennials ist das Internet. Sie sind die erste Generation, die nicht nur mit, sondern sogar im Internet aufgewachsen ist. Das musste deren Sicht auf Partnerschaft und Sexualität verändern. Der bekannte Frankfurter Sexualforscher und Psychiater Volkmar Sigusch nennt das den Schritt von der »Paläosexualität« zu den »Neosexualitäten«, die unter anderem Internet-, Portal- und Asexualität umfassen. Nach seinem Dafürhalten ist »Sexualität nicht mehr die große Metapher des Rausches und der Revolution, sondern wird heute durch Medien und Kommerz weitgehend banalisiert.« Zu Deutsch: Der Sex ist des Eros beraubt worden. Denn Sex bleibt im Ich stecken, Eros hingegen meint das Du. Das beschrieb übrigens der irische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler C. S. Lewis bereits weit vor der Geburt der Millennials: »Geschlechtliches Verlangen ohne Eros will ›es‹, will die Sache an sich; Eros will die geliebte Person. Ohne Eros ist sexuelles Verlangen wie jedes andere Verlangen eine Tatsache, die uns selbst betrifft. Innerhalb des Eros hat es eher mit der geliebten Person zu tun.«

Die Millennials haben besseren und anonymeren Zugang zu allen sexuellen Informationen als die Generationen davor – inklusive eines breiten Angebots an Pornographie, die von ihnen auch signifikant mehr akzeptiert wird als von ihren Vorfahren. Apps wie Tinder und Online-Dating-Portale sollen die Partnersuche eigentlich leichter machen. Haben die Millennials deswegen dauernd hemmungslosen Sex, wie ängstliche Sittenwärter um die Jahrtausendwende befürchteten? Mitnichten!

Da sind unbewusste Liebestöter aktiv: In den Archives of Sexual Behavior konnte die oben erwähnte Jean Twenge 2017 zeigen, dass Millennials generell deutlich weniger sexuell aktiv sind als die Generation X oder gar die Babyboomer. Die Großelterngeneration, die 68er, die folgenreich die sexuelle Revolution durchgefochten haben, verstehen die Welt nicht mehr. Millennials haben laut dieser Untersuchung statistisch gesehen deutlich weniger Interesse an einer Partnerschaft. Und wenn sie in einer Partnerschaft leben, dann haben sie deutlich weniger Lust auf Sex. Millennials haben insgesamt deutlich weniger Geschlechtsverkehr als die Gleichaltrigen vor zehn, zwanzig, dreißig und vierzig Jahren. Das gilt in besonderem Maße für diejenigen Millennials mit einem Hochschulabschluss. Ihre Partnerschaften sind noch weniger stabil als bei den Generationen davor. Sex ohne Eros entwickelt sich zum Rohrkrepierer. Für Millennial wird er zunehmend unattraktiv. Eine davon ist Leonie Y.: brillant, fokussiert, auf dem Weg zur Spitze.

Fall 5: Andere Interessen

Leonie Y., eine 20-jährige Medizinstudentin, kommt wegen selbstdiagnostiziertem »Perfektionismus« zum Psychiater. »Ich glaube, dass ich nur was wert bin, wenn ich leiste. Ich habe ein Buch über Perfektionismus gelesen: das bin ich! Ich hab auch in der Uni nur Einser und selten Zweier und habe in den zwölf Jahren Schule immer die Beurteilung ›ausgezeichneter Erfolg‹ bekommen. Ich war immer Klassenbeste. Ich habe geheult, wenn es mir bei einer Schularbeit schlecht gegangen ist und ich einen Zweier vermutet habe – meist war es dann eh ein Einser. Ich war für die meisten anderen die Überfrau, die immer Einser schreibt. Meine Mama ist auch Perfektionistin, von der habe ich das wahrscheinlich. Der Papa ist eher gemütlich. Mein Problem ist, dass ich vor Prüfungen so nervös werde, dass in den Tagen davor viele Teller und sonstige Gegenstände in meiner Wohnung zu Bruch gehen – bei meinen Wutanfällen. Im Moment kann ich darüber lachen … bis zur nächsten Prüfung. Manchmal habe ich Angst, dass ich komplett scheitern werde im Leben. Dann male ich mir aus, dass ich als drogensüchtige, obdachlose Prostituierte ende.«

Der Psychiater fragt das soziale Umfeld ab: »Ich bin Einzelkind und lebe in Salzburg in einer Eigentumswohnung in der Innenstadt, die mir meine Eltern zur Matura geschenkt haben. Männer interessieren mich überhaupt nicht. Ich war noch nie verliebt, habe noch nie sexuelle Lust oder erotische Anziehung verspürt. Das brauch ich nicht. Die Beziehung zu meinem Körper ist neutral: ich möchte etwas weniger Hintern und weniger Schenkel, aber im Grunde ist er o. k. Ich genieße es schon, wenn man mich bewundert und mir nachschaut, wenn ich mich hergerichtet habe, aber mir ist einerlei, ob das Männer oder Frauen sind.

Richtige Freunde habe ich nicht. Die engste Beziehung habe ich noch zu meinen Eltern in Wien. Wir telefonieren jeden Tag. Jetzt bin ich in Salzburg in der Gruppe der besten Studenten, aber ich ertrag es kaum, dass viele von denen besser sind als ich. Nicht unbedingt notenmäßig – aber die haben alle noch ein Sozialleben, auf das ich verzichtet habe. Ich merke, dass ich nichts zu erzählen habe außer den Prüfungsstoff. Ich weiß, das muss ich dringend ändern, sonst kann ich keinen beruflichen Erfolg haben.« Am Ende der Stunde wird vereinbart, dass sich Frau Y. sozial vernetzt, also dass sie Sozialkontakte zulässt.

Eine Woche später kommt sie schon mit einem Erfolg: der Professor hätte seine Studenten auf eine Vernissage eingeladen. Er sei nebenberuflich Maler und veranstalte regelmäßig Ausstellungen. »Ein Studienkollege namens Kevin wollte da auch hingehen, also sind wir gemeinsam hin. Nachher sind wir zusammen zurückgegangen, wir hatten zufällig die gleiche Richtung. Ich war hungrig, da sind wir dann in ein Lokal und haben gegessen und uns angeregt unterhalten. Es war angenehm: wir haben einen ähnlichen Humor. Er arbeitet bei McDonald’s, um sich das Studium zu finanzieren. Außerdem ist er praktizierender Christ – das ist mir ganz fremd, da gab es auch einigen Gesprächsstoff. Insgesamt waren wir knapp vier Stunden zusammen, da wir uns auch die Ausstellung gemeinsam angeschaut haben.« Der Psychiater wird neugierig. Ob sich da vielleicht etwas entwickeln könnte? Leonie winkt lachend ab.

Ganz aufgeregt kommt sie in die nächste Stunde. »Ich habe ein Problem.« Kunstpause. »Kevin steht auf mich.« Ganz verwirrt sitzt sie auf der Couch und schaut den Psychiater ratlos an. »Er läuft mir nach. Er wollte mit mir auf den Adventsmarkt – stellen Sie sich das vor! Ich habe vorgegeben, keine Zeit zu haben. Er hat mich stattdessen übermorgen zum Mittagessen eingeladen. Da habe ich zugesagt. Essen muss ich ohnehin, da verliere ich keine Zeit.« Der Psychiater meint, eine Essenseinladung sei noch kein sicheres Zeichen dieser »bedrohlichen« Konstellation. Aber da lässt sich Leonie nicht beirren. »Der steht auf mich. Das ist mir plötzlich sonnenklar! Aber ich will Single bleiben! Ich habe noch nie Gefühle für einen Mann gehabt. Ich verstehe gar nicht, was da zwischen Mann und Frau läuft. Ich habe das sogar im Internet recherchiert – ich verstehe es einfach nicht. Wenn ich eine Liebesszene im Kino sehe, dann finde ich das schon süß zwischen den beiden – aber nicht mich betreffend. Dieses Erotische verstehe ich nicht. Ich habe auch noch nie masturbiert. Alleine die Vorstellung finde ich ekelig.

In der achten, neunten Schulstufe haben die anderen Mädels schon herumgeknutscht mit irgendwelchen Jungs, es war die Rede vom ›ersten Mal‹; alle fingen an mit Liebesdingen. Ich war in einer Mädchenschule, müssen Sie wissen. Zwei Mädchen zerstritten sich, weil sie auf denselben Typen gestanden sind. Da habe ich mich gefragt: irgendwas ist bei mir anders. Bin ich vielleicht homosexuell? Aber ich habe schnell erkannt: Nein, das schon gar nicht.

In Deutsch haben wir einen Porno angeschaut, in der zehnten Schulstufe. Wenn zwei Menschen Sex haben, ist das für mich, wie wenn zwei Schimpansen oder zwei Hunde das machen. Im Biologie-Wahlfach, bei einer anderen Lehrerin, haben wir einen Film über Sex gesehen mit sehr expliziten Szenen: das berührt mich soviel wie zwei Menschen, die miteinander Eis essen oder Joggen gehen – ich steh halt nicht drauf.«

Die Patientin zeigt dem Psychiater ihre Whatsapp-Unterhaltung mit Kevin. Es stellt sich heraus, dass sie 55 Minuten nonstop mit ihm kommuniziert hat. »Ja, es war nett und ich hatte gerade Lernpause. Wieso nicht?

Ich will mein Leben nur nicht verkomplizieren. Hab genug zu tun an der Uni. Für eine Partnerschaft habe ich null Zeit und null Interesse. Das können Sie mir glauben. Wie kann der Kerl nur auf solche Gedanken kommen – ich habe nichts derartiges gesagt!« Der Psychiater gibt zu bedenken, dass sie Kevin doch Signale setzt, wenn sie sich so lange mit ihm beschäftigt. Vier Stunden beim Kennenlernen, dann eine Stunde Whatsapp, übermorgen ein Mittagessen … Leonie erschrickt.

Dann schreibt sie eine Whatsapp-Nachricht: »Lieber Kevin, ich möchte nur klarstellen, dass ich nicht an einer Partnerschaft mit Dir interessiert bin. Dieser Kontakt zwischen uns muss ein rein freundschaftlicher bleiben. MfG Leonie«

Leonie Y. ist momentan asexuell. Asexualität bedeutet die fehlende sexuelle Anziehung gegenüber anderen Menschen, ein stark vermindertes Interesse an sexueller Stimulation und ein schwaches Verlangen nach Geschlechtsverkehr. Ob sie ihre Triebe verdrängt oder diese einfach fehlen, ist schwer zu sagen. Ihr Ichideal ist jedenfalls von klein auf scheuklappenartig auf Leistung eingestellt. Leidensdruck hat sie keinen. Sie ist stark damit beschäftig, an ihrer zukünftigen Karriere zu basteln und hat aufgrund dieser Fokussierung keine Augen für andere Aspekte des Lebens. Das Lebenskonzept von Leonie Y. mag radikal und eigenwillig wirken: nach neuen Forschungen über die Millennials ist das nicht mehr ungewöhnlich. Asexualität gilt heute als eine sexuelle Orientierung und ist keine Krankheit mehr. Sigusch sieht darin ein Zeitphänomen. Asexualität ist auch im öffentlichen Bewusstsein stark im Kommen – wie das lawinenartige Anwachsen der diesbezüglichen Zeitschriftenartikel seit 2015 bestätigt.

Wie alle diese zeitgeistigen Phänomene – Shades of Grey, Auflösung der Geschlechterrollen, erosbefreiter Sex und sexuelles Desinteresse – mit Über-Ich, Ichideal und dem Unbewussten zusammenhängen, ist Thema dieses Buches. Beginnen wir damit, zu analysieren, was es mit diesem geheimnisvollen Unbewussten auf sich hat.

2 Die Abgründe der Seele

Sigmund Freud hat das Unbewusste zwar nicht selbst entdeckt, aber wie ein Höhlenforscher immer tiefere Gänge im Inneren ausgeleuchtet. Er gilt zu Recht als Pionier der Seele. Von neidenden Kollegen wurde ihm manchmal Widersprüchlichkeit in seiner Kartographie angekreidet. Das ist vielleicht manchmal zutreffend. Doch in Wirklichkeit hat er in seinen Schriften nur versucht, die unterirdischen Falten der Seele präzise abzubilden, ohne Rücksicht auf eigene, bereits publizierte theoretische Konstrukte. Er beschreibt das Leben, wie er es antrifft. Deswegen hat sich sein Konzept trotz mancher Holprigkeiten bis ins 21. Jahrhundert gehalten. Es lässt sich auch ausgezeichnet auf die aktuellen Probleme der Millennials anwenden.

Fall 6: Nicht so ganz gelungen

Der 30-jährige Musiker Helmut G. kommt zum Psychiater. »Das ist das erste Mal, dass ich so was mache – mit einem Seelenklempner. Mir geht es schlecht. Ich habe vor zwei Wochen meine zweite Trennung durchleben müssen. Mit Angelika war ich zwei Jahre zusammen, sie ist jetzt 36. Wir haben teilweise zusammengewohnt. Ich kann jetzt nicht mehr durchschlafen, wache um 3.00 Uhr auf und bin hellwach. Keine Chance, wieder einzuschlafen. Appetit habe ich auch nicht mehr – ich muss mich zum Essen zwingen.

Angelika hat einen 16-jährigen Sohn. Ihre Partnerschaften sind immer schiefgegangen. Man kann mit ihr nicht reden. Sie hat stundenlang am Computer gespielt. In unserer Beziehung ist sie immer seltener mitgegangen, wenn ich Konzerte gegeben habe. Aber sie war wahnsinnig eifersüchtig, was meine Frauenkontakte betraf. Sie hat ständig mein Handy durchforstet, um Frauen in meinem Leben zu entdecken.

Der Auslöser des Schlussmachens war mein 30. Geburtstag. Eine Frau hat angerufen – eine ehemalige Kollegin. Ich habe sie am Handy weggedrückt, um Angelika keinen Grund für eine Szene zu geben. Aber wie das Leben so spielt, sie hat gesehen, dass ich einen Anruf verheimlichen will. Sie hat mich vor allen angeschrien, dass ich sie belogen und betrogen habe … Wenn ich auf der Straße Frauen nachgeschaut habe – das ist doch das normalste der Welt, das macht jeder Mann! – , dann ist sie gleich aggressiv geworden.

Der Sex ist zwischen uns auch immer weniger geworden. Sie war da sehr kompliziert. Und unangenehm war auch, dass ihr Bub gleich neben ihrem Schlafzimmer sein Zimmer hatte. Er hat an der Türe geklopft, wenn wir seinem Geschmack nach zu laut waren. Das steigert nicht unbedingt die Erotik … Sie konnte wirklich nett sein – das ist aber immer weniger geworden. Ich habe sie finanziell unterstützt – ich weiß gar nicht, wie sie jetzt weitermacht. Na, vielleicht hat sie eh schon den Nächsten? Sie konnte aber auch sehr aggressiv sein – einmal hat sie mich sogar geschlagen! Ich durfte danach nicht einmal sagen, dass ich Schmerzen habe. Ich war früher oft alleine: das mag ich nicht. Deswegen lass ich mir viel gefallen. Das Problem war – glaub ich – , dass wir nie richtig über unsere Beziehung gesprochen haben.«

Helmut und Angelika haben wohl nicht so richtig harmoniert. Schwer zu sagen, wer daran mehr Anteil hatte. Gott sei Dank muss ein Psychiater nicht Richter sein. Viel von diesen Konflikten war für beide offensichtlich nicht wirklich aussprechbar. Es lag unausgesprochen zwischen ihnen. Diese unausgesprochenen Liebestöter, denen wir auf der Spur sind, sind bei den meisten Paaren im Unbewussten beheimatet. Freud beschreibt das Unbewusste 1916 in der Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse: »Es ist der dunkle, unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit. Wir nähern uns dem Es mit Vergleichen, nennen es ein Chaos, einen Kessel voll brodelnder Erregungen.« Wenn Freud selbst Vergleiche empfiehlt, dann verwenden wir zum besseren Verständnis das weltbekannte Bild der dunklen Mienen von Moria aus J. R. R. Tolkiens Herr der Ringe: ein prachtvolles, riesiges Grottensystem, bestehend aus Stollen, Schmieden, Gängen, Hallen und einer ganzen Stadt unter den drei mächtigen Bergen. Gefährlich und unheimlich. Tief unten ruht vielleicht ein unermesslicher Schatz, aber vielleicht auch das namenlose Grauen. Wer weiß?

Das Bewusstsein: der Hobbit im Hirn

Um das Unbewusste zu verstehen, müssen wir beim Bewussten beginnen. Denn Ersteres ist ja die bloße Negation von Letzterem. Das Bewusstsein gleicht einer Theaterbühne. Der international renommierte Kognitionswissenschaftler Michael Posner von der University of Oregon nannte es 1980 den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit (spotlight of attention). Diese treffende Analogie ist in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen: Der Mensch richtet einen hellen Lichtkegel auf gewisse Punkte seines Interesses. Diejenigen, die derart beleuchtet werden, betreten damit die Bühne des Bewusstseins. Alles rundherum bleibt im Dunkeln. Das Bild kommt ursprünglich aus der Philosophiegeschichte: Schon der französische Philosoph René Descartes formulierte, dass das Gehirn Bewusstsein erzeugt, indem es gewisse Informationen auswählt und auf einer inneren Leinwand abbildet, wo sie von einem »Homunculus«, so eine Art kleiner Hobbit (eine Metapher für die Seele), betrachtet werden.

Das Gehirn führt ständig eine Vielzahl von emotionalen und kognitiven Operationen durch, doch wir haben stets nur zu einem Bruchteil dieser Vorgänge bewussten Zugang – auf der Bühne des Theaters. Der große Rest läuft hinter der Bühne ab, unbewusst, hinter den Türen von Durin, wo das riesige Reich des Es, des Unbewussten beginnt.

Es umfasst drei Gebiete: gleich hinter der Bühne, »backstage« (1) das Vorbewusste, dahinter weitflächig und großräumig angelegt (2) das Unbewusste im engeren Sinn und schließlich, ganz tief unten und streng abgeriegelt (3) das Verdrängte (siehe Abbildung 1).

Hinter der Bühne: das Vorbewusste

Das Vorbewusste ist der Teil des Wahrnehmens und Wissens über sich, den der Mensch zwar momentan nicht präsent hat, den er sich aber jederzeit bewusst machen kann. Während man etwa liest, könnte man auch problemlos die sensorischen Empfindungen des Sitzens und die Hintergrundgeräusche wahrnehmen. Diese werden normalerweise aber ausgeblendet, weil man sich dann besser auf das Wesentliche konzentrieren kann. Was wesentlich ist, bestimmt der Mensch. Bei bestimmten psychischen Krankheiten (etwa der Manie) funktioniert diese Ausblendung (durch das Frontalhirn) nicht: dann ist man von jeder Kleinigkeit ablenkbar. Das Prinzip des Tinnitus ist zum Teil auch darauf zurückzuführen: Ohrgeräusche sind zwar bei vielen Menschen da, aber sie beginnen sie erst dann wahrzunehmen, wenn sie darauf angesprochen werden (wenn also die Aufmerksamkeit dorthin gelenkt wird). Wichtig, damit etwas im Vorbewusstsein bleiben kann, ist die emotionale Neutralität. Je mehr mich der Tinnitus stört, umso mehr werde ich ihn bewusst wahrnehmen. Die eigene Geschlechtlichkeit ist in der Regel 95 Prozent des Tages vorbewusst. Das schließt durchaus nicht aus, dass diese Geschlechtlichkeit in Begegnungen mit dem anderen Geschlecht jederzeit blitzartig aktualisiert und einsetzen werden kann: bewusst oder unbewusst.

Der Blick des Bewusstseins fällt hauptsächlich dann auf die vorbewussten Bereiche, wenn diese Schwierigkeiten machen. Unser rechtes Bein ist uns normalerweise vorbewusst, wenn es aber beim Skifahren bricht, ist es plötzlich schmerzhaft bewusst. Genauso ist das mit der Psyche, die sich etwa bei Liebeskummer ins Rampenlicht drängt und die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dann kann man im schlimmsten Fall nicht einmal mehr arbeiten, weil das Restbewusstsein für die gestellten Aufgaben nicht mehr ausreicht.

Das Unbewusste im engeren Sinn

Das Unbewusste im engeren Sinn (in der Folge nur »Unbewusstes« genannt) ist durch das Bewusstsein nur mehr mit großer Mühe erreichbar. Und das nur unvollständig. Nichtsdestotrotz – oder gerade deswegen – kann es Denken und Handeln des Menschen aus dem Untergrund stark beeinflussen. Umso mehr, je stärker es aus dem Verborgenen agiert. Das Unbewusste wird aus zwei Zuflüssen gespeist: dem inneren Lebensprinzip und dem Ichideal, bestehend aus von außen kommenden, verinnerlichten Ideen aus dem Bereich des Über-Ichs (siehe Kapitel 1). Das Lebensprinzip ist biologisch vorgegeben, das Ichideal ist gesellschaftsabhängig veränderlich.

Wenn das Ichideal dem Lebensprinzip – der inneren Wahrheit des Menschen – entspricht, führt das zu innerer Harmonie und Stimmigkeit. Wenn nicht, erzeugt die Widersprüchlichkeit eine seelische Disharmonie, mit der Freud viele Bücher gefüllt hat. So hat etwa der halbwüchsige Auto-Rowdy durch seine verhätschelnde Erziehung (von außen) das narzisstische Ichideal der eigenen Unverwundbarkeit verinnerlicht, das im Widerstreit mit seinem (angeborenen) Selbsterhaltungstrieb steht. Immer wieder hört man, dass letzterer unterlag.

Das biologisch angeborene Lebensprinzip ist auf Lebens-, Art- und Selbsterhaltung ausgelegt und äußert sich einerseits in Trieben und Instinkten (Selbsterhaltung), andererseits in einer leisen Intuition für den richtigen Umgang mit anderen (Arterhaltung): Jeder Mensch hat in sich ein Gefühl für Gerechtigkeit und ethisch gutes Handeln, das letztlich der Allgemeinheit (der Art) zugutekommt. Diese Intuition nannte der prominenteste aller Freudschüler Alfred Adler Gemeinschaftsgefühl; man könnte auch von Gewissen sprechen. Immanuel Kant bezeichnete es als »das moralische Gesetz in mir«, welches das Gemüt des großen Philosophen »mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht erfüllt, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt«. Je nach persönlicher Entscheidung ist dem Menschen die Selbst- oder die Arterhaltung wichtiger: hier spricht man von der je persönlichen ethischen Grundhaltung.

Fall 7: Keine ganz so gute Idee

Der 25-jährige Thomas Z. kommt zum Psychiater, weil seine gleichaltrige Freundin Nicole ihn unerwartet verlassen hat. Sie waren bereits acht Jahre zusammen. »Sie ist extra wegen mir nach St. Pölten gekommen. Irgendwann kam mir der Gedanke: war es das? Gibt es noch mehr? Der Gedanke hat mich zunehmend belastet. Ich hatte Angst, irgendetwas zu verpassen und irgendwann am Lebensende etwas zu bereuen. Dann habe ich das Konzept der offenen Beziehung entdeckt. Ein Jahr lang habe ich darüber nachgedacht und das Gespräch mit Nicole vorbereitet. Sie war irritiert, fand im ersten Moment aber eine einseitige Öffnung o. k. Sie selbst wollte keine Erfahrungen sammeln. Wenig später fand sie es doch nicht o. k. Ich habe sie dann ein Jahr lang bearbeitet, habe ihr immer neue Gründe genannt, warum das für unsere Beziehung super wäre.

Sie hat mich schlussendlich vor die Entscheidung gestellt: monogam oder gar nicht. Das habe ich wohl oder übel akzeptiert, aber sie hat mir nicht geglaubt. Daraufhin hat sie Schluss gemacht. Die Vorstellung, dass ich was mit anderen Frauen habe, konnte sie nur dann ertragen, wenn wir getrennt sind.

Langfristig wollte ich mit diesem Vorschlag eine Stabilisierung der Beziehung. Das Gegenteil habe ich erreicht. Ich bin traurig, dass sie weg ist. Ich will sie zurück. Aber sie will jetzt keine Paartherapie mehr. Ich liebe sie, sie liebt mich nicht mehr. Absurd: Ich hätte es eh nie gemacht. Aber der Druck wäre weg gewesen: ich hätte können, wenn ich gewollt hätte. Mir drängt sich jetzt ständig der Gedanke auf, was wäre gewesen, wenn ich ihr das nicht gesagt hätte? Aber es wäre nicht ehrlich gewesen, denn ich denke so! Die romantische Seite in mir will, dass wir wieder zusammenkommen. Ich suche eine langfristige Beziehung, in der ich glücklich bin. Jetzt kann ich es ausleben, habe aber null Lust: ich denke nur an Nici. Ich überlege, wie ich später die Dinge rückblickend betrachte.«

Nächste Woche kommt Herr Z. wieder: »Ich vermisse Nicole! Es geht mir nicht gut. Langsam beiße ich mir in den Arsch, was ich da von ihr verlangt habe. Ich habe das Gefühl, dass ich ohne sie nichts erreichen kann. Ich habe einen Fehler gemacht. Aber ich soll nicht um sie kämpfen.« Der Psychiater fragt, warum er das nicht soll. »Weil ich das im Internet in den Foren gelesen habe: man soll um den Partner nie kämpfen. Es ist absolut unmöglich und undenkbar, dass sie in meine Wohnung zurückkommt. Das war zwar lange unser Ziel – aber dort waren wir nur unglücklich. Vielleicht aber auch wegen meines Ansinnens? Bevor wir dort vor drei Jahren eingezogen sind, ist es in meinen Kopf geschossen: jetzt wird es ernst. Die erste gemeinsame Wohnung! Ist das die Frau, mit der ich das machen will? Vielleicht sollte es eine andere sein?

Ich habe ihr den Vorschlag mit der offenen Beziehung aus Angst gemacht. Ich hatte Angst, dass es vielleicht genau deswegen auseinandergeht, weil ich noch mit keiner anderen Frau geschlafen habe … Aber vielleicht war das nicht die Angst, sondern ich habe mir das nur eingebildet, weil es besser klingt.«

Thomas Z. hat ein vielschichtiges inneres Dilemma. Einerseits eine langjährige, glückliche Partnerschaft. Dann die aufkommende Lust auf Sex mit anderen Frauen (körperlicher Trieb). Außerdem ein schlechtes Gewissen deswegen, weil er in sich spürt, dass das für Nicole nicht so super wäre – und auch seinen eigenen Grundsätzen widersprechen würde. Es stellt sich die Frage nach seiner ethischen Grundhaltung. Dieser Konflikt ist fast zur Gänze unbewusst. Dann taucht als Folge des unbewussten Konfliktes eine bewusste Angst auf: die Angst, etwas zu versäumen. Und irgendwann kommt die »erlösende Idee« von außen: offene Beziehung! Diese Vorstellung wird euphorisch willkommen geheißen und unkritisch zum Ichideal verinnerlicht. Sie macht argumentationsmächtig das innere Gewissen mundtot und redet sich sogar ein, dass Fremdgehen in Wirklichkeit ein Dienst an der Beziehung sei. Dass also Sex mit anderen Frauen letztlich Nicole zugutekomme und Thomas selbst ein guter Mensch mit blütenreinem Gewissen bleibe: reiner Selbstbetrug!

Jetzt geht es Thomas darum, auch Nicole dieses Ichideal aufs Auge zu drücken. Das gelingt zuerst teilweise (sie übernimmt seinen Vorschlag, weil sie liebt und vertraut) – wobei sie gleich auf das eigene Fremdgehen verzichtet. Dann geht sie aber in sich und spürt: Mein Mann schläft mit einer anderen Frau. Das geht gar nicht! Wenn er das macht, muss ich gehen. Dann tut es weniger weh. Sie übernimmt seinen Selbstbetrug nicht und die Beziehung scheitert. Innerhalb des Unbewussten (in dem Fall von Thomas) können Selbsterhaltung und Arterhaltung, also Triebe und Gemeinschaftsgefühl, oder auch Lust und Gewissen in einen inneren Konflikt geraten, der nur auf höherer Ebene – also bewusst – gelöst werden kann.

Die Gesamtheit der überdauernden, genetisch vermittelten Eigenschaften eines Menschen bezeichnet man in der Naturwissenschaft als Konstitution (lat. Zusammensetzung). Zu Recht schwingt bei diesem Begriff die Bedeutung einer unabänderlichen, unmanipulierbaren Verfassung mit. An ihr messen sich die von der Gesellschaft verinnerlichten Ideen im Ichideal. Die menschliche Konstitution entfaltet sich dreidimensional: (1) Soma bezeichnet den Leib, (2) Thymos heißt auf griechisch Lebenskraft und ist ein Ausdruck für die Gemütsanlage des Menschen und (3) Noos (oft auch Nous oder Nus) ist die Fähigkeit, etwas geistig zu erfassen. Thymos und Noos werden häufig unter dem Begriff »Psyche« zusammengefasst. Diese drei Dimensionen bilden ein unteilbares Ganzes und gehen fließend ineinander über: Körperlichkeit, Emotionalität und Kognition. Alle drei stehen im Dienst des Lebensprinzips und sind so grundsätzlich auf das Leben hingeordnet. Die Konstitution gleicht einem Eisberg: nur der allerkleinste Teil ragt ins Bewusstsein hinaus, ein etwas größerer Teil befindet sich im Vorbewussten, aber der überwiegende Teil ist im Unbewussten lokalisiert.

Abbildung 1: Schematische Darstellung des Unbewussten

In der psychiatrischen Diagnostik unterscheidet man gerne zwischen Thymopsyche (etwa Stimmung und Befindlichkeit) und Noopsyche (etwa Orientierung, Denkstruktur). Beide Funktionen sind somatisch im Gehirn lokalisiert. Die dreidimensionale Konstitution ist sozusagen die Verfassung der Lebens-, Art- und Selbsterhaltung. Übereinstimmung mit ihr wird unbewusst als stimmig wahrgenommen, ohne dass es bewusst erklärt werden könnte: der Mensch hat deswegen ein gewisses, aber durchaus fehlbares Gespür für die Wahrheit. Das ist die Intuition. Die Konstitution hat über ihre Triebe, Instinkte und Intuitionen eine wichtige evolutionsbiologische Funktion: Wäre jedes Kind auf dieser Welt die ausschließliche Folge einer bewussten, rationalen Entscheidung, wären wir schon lange ausgestorben. Die menschliche Konstitution ist also niemals asexuell – und damit das Unbewusste auch nicht.

Soma beeinflusst Thymos und Noos: Wer Grippe hat (ein körperlicher Zustand), fühlt sich mies (Emotion) und kann sich nicht mehr gut konzentrieren (Kognition). Eine Patientin, sie war Ärztin, vergoss in der Therapie ausnahmslos dann heftige Tränen (Thymos), wenn sie übermüdet (Soma) direkt aus dem Nachtdienst kam. Es war ihr unmöglich, das zu kontrollieren. Das nennt man affektive Inkontinenz, durch Schlafmangel ausgelöst. Ein weiteres Beispiel ist das prämenstruelle Syndrom: Auch hier hat die somatische Dimension offensichtlich einen erheblichen Einfluss auf die Thymopsyche. Das Pankreaskarzinom – der Krebs der Bauchspeicheldrüse – als somatische Erkrankung verursacht wiederum in der Regel eine Depression (Thymos), bevor der Patient ein bewusstes Wissen von der Erkrankung hat. Soma wirkt nicht nur auf Thymos, auch auf Noos: Ein gesunder Geist (Noos) steckt in einem gesunden Körper (Soma) – Mens sanaincorpore sano – wie der Lateiner sagt. Sport tut der Gesamtpsyche gut.

Und umgekehrt: Es ist kein Geheimnis, dass im Sport ein starkes Selbstbewusstsein (Kognition) die körperliche Leistungsfähigkeit steigern kann. Die meisten Spitzensportler greifen heute deswegen auf einen Mentaltrainer zurück. Auch Thymos hat einen enormen Einfluss auf die körperliche Gesundheit, wie wir aus der Psychosomatik wissen. Diese enge Verschaltung ist schon lange bekannt und hat bereits vor 2500 Jahren die Philosophen als Leib-Seele-Problem beschäftigt.

Der Psychiater und Genetiker Robert Cloninger von der Washington University in St. Louis nennt die angeborene emotional-kognitive Konstitution Temperament. Dieses ist in ganz spezifischen Gehirnarealen lokalisiert und genetisch determiniert – also im Soma verankert. So prägt die Körperlichkeit unbewusst Emotionalität und Kognition.

Die somatische Dimension ist also für die Thymo- und Noopsyche grundlegend. So wirkt natürlich auch ein männlicher oder weiblicher Körper spezifisch auf Emotion und Kognition. Es hat zweifellos prägenden Einfluss auf das Unbewusste, einmal im Monat die Regelblutung zu bekommen und die potentielle Möglichkeit zu haben, ein Kind unter dem eigenen Herzen tragen zu können oder nicht (Soma). Ob das im Vorbewussten lokalisiert ist (also abrufbar bleibt) oder tiefer rutscht, hängt von der einzelnen Person ab. Es ist für das Unbewusste einer Frau ebenfalls von großer Bedeutung, körperlich im Durchschnitt schwächer zu sein (also weniger Muskelkraft aufzuweisen) als die andere Hälfte der Menschheit. Und noch relevanter ist es, sich gleichzeitig von eben dieser anderen, stärkeren und aggressiveren Hälfte begehrt zu wissen. Vergewaltigungen und sexuelle Belästigungen sind bekanntlich nicht mittig verteilt. Die #MeToo-Kampagne in den Jahren 2017 / 18 hat das ins kollektive Bewusstsein der Gesellschaft zurückgeholt. Eine Frau, die des Nachts schön hergerichtet und attraktiv gekleidet alleine durch eine dunkle Gasse geht, fühlt sich anders als ein Mann in der gleichen Situation. Das muss ihr in dem Moment nicht alles bewusst sein – ihr Unbewusstes wittert intuitiv die potentielle Gefährdung, wenn sie feste Schritte hört. Die Entwicklung von Frauenparkplätzen ist diesem unterschiedlichen Empfinden geschuldet – absolut zu Recht! Das Unbewusste ist also nie geschlechtslos und nimmt als Mann oder Frau seine Umgebung wahr.

Abbildung 2: Der innere Konflikt zwischen Ichideal und Lebensprinzip

Der Kerker der Seele: das Verdrängte

Wenn das Über-Ich dem Ich ein (Ich-)Ideal aufs Auge drückt, das nicht zur inneren Wahrheit der Person passt, dann sickert dieser Inhalt zwar ins Unbewusste ab, verursacht dort aber eine unauflösbare Disharmonie (siehe Abbildung 2): Eine verinnerlichte Lüge ist unverdaulich. Der Mensch ist dadurch nicht mehr eins mit sich selbst, ist zerrissen, ambivalent, hat zwei Seelen in der Brust. Ein unbewusstes Schmerzgefühl ist die Folge. Man fühlt sich unwohl – ohne zu wissen warum. Der Mensch ist nicht im Gleichgewicht, nicht im Frieden mit sich selbst: und das, ohne zu wissen, wie ihm geschieht, ohne bewussten Zugriff auf den Konflikt! Aus dieser inneren Zerrissenheit kommt es zur Verdrängung, die scheinbar (!) den inneren Frieden wiederherstellt.

Ein Beispiel: Sickert unbemerkt die Überzeugung ein, nur ein hochbegabtes Kind sei ein gutes Kind und lasse auf anständige, tüchtige Eltern schließen, führt das meist zur Disharmonie, wenn man seinen eigenen Nachwuchs objektiv betrachtet. Erst wenn man diesen innerlich zum Hochbegabten erklärt, legt sich der seelische Sturm und man kann wieder ruhig schlafen. Dramatischer und klinisch relevanter ist das Beispiel eines magersüchtigen Mädchens, das abstruse Ideen über Körperideale verinnerlicht und dadurch seine somatische Konstitution verdrängt: Sie hält sich noch immer für dick, obwohl sie nur mehr ein Strich in der Landschaft ist.

Diese andauernde schmerzhafte Disharmonie lässt sich nicht vergleichen mit einer kurzfristigen innerkonstitutionellen Meinungsverschiedenheit zwischen Trieb und Arterhaltung (Gewissen), etwa wenn der leckere Kuchen jemand anderem gehört. Letzterer Konflikt wird im Alltag nämlich meist sekundenschnell durch die eigene ethische Grundhaltung mit Triebverzicht gelöst – kann theoretisch aber auch zur Verdrängung (etwa der Besitzverhältnisse) führen. Fall 7, das Beispiel von Thomas und Nicole, von dem vorhin die Rede war, wäre auch hier einzuordnen.

Die Lehre von der Verdrängung ist in der Psychoanalyse von zentraler Bedeutung. Durch sie werden tabuisierte, unerwünschte und bedrohliche Tatsachen und Vorstellungen von der bewussten Wahrnehmung des Menschen ausgeschlossen und in die tiefste Kammer des Unbewussten abgedrängt – in der psychoanalytischen Sprache also abgewehrt. Deswegen spricht die Tiefenpsychologie hier von Abwehrmechanismus. Aber was genau sind unerwünschte Tatsachen und Vorstellungen, die Angst machen? Das definiert letztlich das Über-Ich, das stark von der Gesellschaft geprägt und beeinflusst ist. Das Über-Ich legt fest, was sein darf und was nicht. Das gehetzte Ich fügt sich und übernimmt die von außen kommenden Ideen ins Ichideal, wenn es diese intellektuell nicht als unstimmig und falsch entlarven kann.

Freud beschreibt meisterhaft, dass das Verdrängte keinesfalls zurück in das grelle Licht des Bewusstseins treten darf: »Wenn man in der Therapie versucht, diese verdrängenden Regungen bewusst zu machen, bekommt man die … Kräfte als Widerstand zu spüren.« In der Tat: Die Konfrontation mit vom Ichideal geächteten Tatsachen provoziert Widerstand, der von paralogischen Erklärungsversuchen bis zur massiven Abwehraggression reicht. Je größer die Angst vor der Erkenntnis, umso aggressiver die Abwehr. Der innere Scheinfrieden soll um jeden Preis erhalten bleiben!

Verdrängt kann prinzipiell alles werden: einerseits persönlich, aber auch kollektiv. Sowohl Bewusstes als auch Vorbewusstes und natürlich Unbewusstes kann in Ungnade geraten und der damnatio memoriae,