Männlicher Narzissmus - Raphael Bonelli - E-Book

Männlicher Narzissmus E-Book

Raphael Bonelli

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  • Herausgeber: Kösel
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Männliche Narzissten sind Menschen, die mit ihrem Selbstbewusstsein und Charme beeindrucken, doch ihr Charisma wärmt nicht. Ihre Geltungssucht ist ein Gefängnis, aus dem sie nicht ausbrechen können. Das zeigt sich besonders in der Liebe, die der Narzisst nur als Eigenliebe kennt.

Auf der Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse und illustriert durch aufschlussreiche Fallgeschichten aus dem Praxisalltag, untersucht der Psychiater und Psychotherapeut Raphael M. Bonelli die inneren Fesseln des narzisstischen Mannes: das überzogene Selbstwertgefühl, die missglückenden Beziehungen und die fehlende Selbsttranszendenz. Und er zeigt Wege in die Freiheit. Denn es ist auch für Narzissten möglich, Empathie zu entwickeln, gesunde Männlichkeit und letztlich auch echte Liebe zu erfahren.

Dieses Psychogramm des selbstverliebten Mannes ist eine erhellende Lektüre für alle, die sich für das Phänomen Narzissmus interessieren und wissen wollen, wie die Befreiung von den Fesseln der Selbstzentriertheit gelingen kann.

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Seitenzahl: 390

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Über das Buch:

Männliche Narzissten sind Menschen, die mit ihrem Selbstbewusstsein und Charme beeindrucken, doch ihr Charisma wärmt nicht. Ihre Geltungssucht ist ein Gefängnis, aus dem sie nicht ausbrechen können. Das zeigt sich besonders in der Liebe, die der Narzisst nur als Eigenliebe kennt.

Auf der Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse und illustriert durch aufschlussreiche Fallgeschichten aus dem Praxisalltag, untersucht der Psychiater und Psychotherapeut Raphael M. Bonelli die inneren Fesseln des narzisstischen Mannes: das überzogene Selbstwertgefühl, die missglückenden Beziehungen und die fehlende Selbsttranszendenz. Und er zeigt Wege in die Freiheit. Denn es ist auch für Narzissten möglich, Empathie zu entwickeln, gesunde Männlichkeit und letztlich auch echte Liebe zu erfahren.

Eine erhellende Lektüre für alle, die ihre narzisstischen Anteile loswerden wollen oder mit selbstverliebten Zeitgenossen zu tun haben.

Über den Autor:

Univ.-Doz. Dr. Dr. Raphael M. Bonelli, geboren 1968, ist Neurowissenschaftler an der Sigmund Freud Universität Wien so- wie Psychiater und systemischer Psychotherapeut in eigener Praxis. Forschungsaufenthalte an der Harvard-Universität, der University of California (Los Angeles) und der Duke University mit zahlreichen Publikationen im Bereich der Gehirnforschung und Habilitation im Fach Neuropsychiatrie.

www.bonelli.info

Raphael M. Bonelli

Männlicher Narzissmus

Das Drama der Liebe, die um sich selbst kreistKösel

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Copyright © 2017 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Umschlagmotiv: gettyimages/Fotosearch

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-18086-7V005

www.koesel.de

Gewidmet meiner Frau Victoria in Dankbarkeit

Einführung Das Problem des Jedermann

Narzissmus ist in aller Munde. Keine psychiatrische Diagnose wird so gern einem unliebsamen Zeitgenossen unterschoben wie diese, sei es dem Chef, einem Kollegen oder dem eigenen Ehemann. Allerdings – so muss man mit Schmunzeln konstatieren – sind das alles Fremdeinschätzungen. Die Selbstdiagnose ist in freier Wildbahn rar gesät.

Jeder Mann trägt narzisstische Anteile in sich. Der eine mehr, der andere weniger. Natürlich gilt das auch für Frauen, aber die sind nicht Thema dieses Buches. Gleich der Spitze des Eisberges sind die narzisstischen Anteile manchmal an einer libidinösen Selbstgefälligkeit wahrnehmbar, an einer unbändigen Freude an sich selbst. Im Gegensatz zur Leichtigkeit sanguinischer Fröhlichkeit wirkt diese Begeisterung aber nicht so ansteckend, sondern aus der Nähe eher kalt. Doch meistens bleiben die narzisstischen Charaktereigenschaften hinter einer Fassade der Freundlichkeit und des Mitgefühls verschämt versteckt. Sie blühen nur bei der manifesten Persönlichkeitsstörung – die früher Psychopathie genannt wurde – ungebremst und schamlos zu voller Blüte auf.

Dieselben Symptome, die die aufgeblühte Persönlichkeitsstörung auszeichnen, sind also auch mikroskopisch – und oft durchaus auch makroskopisch – in Herrn Jedermann vorhanden. Wie im Theaterstück Hugo von Hofmannsthals schleichen sich in Jedermanns Dasein fast unbemerkt alltägliche Rücksichtslosigkeiten und menschliche Unschärfen ein, die er für nebensächliche Bagatellen und unwesentliche Kollateralschäden des angenehmen Lebens hält. Die »guten Taten« hingegen werden von ihm – im Theaterstück wie in Realität – chronisch vernachlässigt und sind deswegen rollstuhlpflichtig gebrechlich. Die Geschichte geht bei Hofmannsthal gerade noch gut aus – aber nicht ohne die narzisstische Krise, eine schockierende Selbsterkenntnis und konsekutive Abwendung vom Egotrip.

Das diagnostische und therapeutische Ansprechen der narzisstischen Anteile muss man als Arzt des Herrn Jedermann meist sehr schonend vorbereiten und wohlwollend umschreiben, um nicht eine massive Kränkung hervorzurufen. Denn für viele schwingt mit dieser Krankheitsbezeichnung eine moralische Beurteilung mit, die dem Mediziner nicht zusteht und die er auch gar nicht intendiert. Dieses Buch verwendet die definierte narzisstische Persönlichkeitsstörung als Vorführmodell, um den alltäglichen Narzissmus des Herrn Jedermann besser zu verstehen. Dabei dienen seine spektakulären Symptome als Lupe für den mickrigen Narzissmus des kleinen Mannes. Dieses Buch versucht, das Thema verständlich, praxisbezogen und wissenschaftlich aufzubereiten.

Verständlich

Es ist geschrieben worden, um verstanden zu werden. Es möchte auf das Aneinanderreihen von Fachtermini und komplizierten Schachtelsätzen verzichten – und nimmt bewusst in Kauf, damit angreifbar zu sein. Denn über Narzissmus sind schon viele Bücher verfasst worden, die wegen ihres undurchdringlichen Jargons etwas kompliziert zu lesen sind. In einem 766 Seiten umfassenden Fachbuch über Narzissmus etwa stößt man pausenlos auf Sätze wie diesen: »Im Gegensatz zur Hypochondrie reflektiere die Schizophrenie (›Paraphrenie‹ entstammt Freuds Bemühen, einen Begriff zu prägen, der Schizophrenie und Paranoia umschließt) das Extrem eines solchen Zurückziehens der Objektlibido auf das Ich – parallel zum extremen Rückzug der Objektlibido auf Objekte der Fantasie – auf dem Weg der ›Introversion‹ bei den Psychoneurosen (die anderen Aktualneurosen reflektieren eine eingeschränktere Zurücknahme der Objektlibido).« Das ist natürlich hochinteressant, aber wahrlich kein Lesevergnügen!

Praxisbezogen

Die Narzissmusdiskussion ist bis heute stark theorielastig: Die konkreten Erscheinungsformen, Symptome und Probleme von Narzissten im Alltag sind für die Diskutanten oft nur insofern von Interesse, als sie ihre Theorie bestätigen. So wird das reale Phänomen allzu oft auf das Bett des Prokrustes gelegt, und ihm wird so lange Gewalt angetan, es wird verzerrt oder abgehackt, bis es in das in die Jahre gekommene erstarrte Erklärungsmuster passt. Aus diesem Grund bringt das Buch frisches Blut und beschreibt 36 lebendige Fallvignetten von realen Patienten aus dem 21. Jahrhundert – die natürlich anonymisiert und biografisch so verändert sind, dass ein Erkennen unmöglich ist. Damit soll ganz ungeschminkt und authentisch dargestellt werden, was in solchen Männern wirklich vorgeht, wie sie tatsächlich denken und fühlen. Deswegen ist auch die Grundstruktur dieses Buches stark an den psychiatrischen Phänomenen orientiert: Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Fifth Edition (DSM-5) der US-amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft aus dem Jahr 2013 gibt da ein gutes Gerüst.

Wissenschaftlich

Die Narzissmusbegriff ist wie gesagt meistens theorieschwanger: Es ist vielen Autoren wichtiger, was ein psychiatrischer Promi vor hundert Jahren gesagt hat, als die verstaubte Theorie an die Forschungsergebnisse der letzten zwanzig Jahre anzupassen. Der Schritt von der eminence-based medicine (»Was hat eine Autorität zu dem Thema gesagt?«) hin zur evidence-based medicine (»Was zeigen die wissenschaftliche Fakten?«), der der Medizin in den letzten fünfzehn Jahren unheimlichen Aufschwung gegeben hat, ist gerade bei diesem Thema noch nicht hinreichend geglückt. In diesem Buch sind die Befunde von professionell konzipierten empirisch-wissenschaftlichen Studien mindestens ebenso gewichtig wie die Meinungen der Pioniere der psychiatrischen Frühzeit. Beide Seiten kommen zu Wort – und das führt häufig zu einer fruchtbaren Symphonie. Manchmal können sich die beiden Gesichtspunkte auch mal kräftig in die Haare geraten; und das macht gar nichts.

Die Wissenschaft hat aber neben dem naturwissenschaftlichen auch noch den geisteswissenschaftlichen Lungenflügel. Der wurde interessanterweise lange vernachlässigt. Gerade den grauen Eminenzen der Psychiatrie war die philosophische Tradition der letzten 2400 Jahre herzlich egal, weil sich Freud und seine Freunde als reine Naturwissenschaftler verstanden. In Freuds Werken findet sich kaum ein Verweis auf Platon oder Aristoteles, in dem seiner Schüler schon gar nicht. Dieses Buch füllt die Lücke, angereichert mit religionswissenschaftlichen Aspekten von Persönlichkeiten wie Laotse, Konfuzius & Co.

Ein häufiges Vorurteil

Dem männlichen Narzissten wird oft unbewusste Angst unterstellt, die sich in Minderwertigkeitskomplexen, einem fehlenden Selbstwertgefühl und mangelnder Eigenliebe ausdrücken soll. »Bist du so klein, dass du dich so groß machen musst?« ist ein häufig anzutreffendes Bonmot, das den angeblich Pseudoselbstsicheren von seinem Thron holen soll. Nur: Das wirkt beim Narzissten gar nicht. Denn diese Unterstellungen sind zwar weit verbreitet und ob seiner Paradoxie durchaus witzig – aber schlicht und einfach falsch.

Als Psychiater sieht man ständig, dass die Angst viele Menschen in der Hand hat und ihre Handlungen bestimmt – ganz besonders den Perfektionisten. Dieser kreist angstvoll um sich selbst, er ist sehr darauf bedacht, was die Leute über ihn sagen, hat ständig Angst, nicht beachtet, nicht wertgeschätzt oder nicht geliebt zu werden. Der Narzisst als solcher kennt im Gegensatz zum Perfektionisten diese Angst nicht. Überhaupt nicht. Das ist der große Unterschied. Der Narzisst kreist eben nicht angstvoll um sich selbst – sondern er kreist verliebt um sich selbst.

Der narzisstische Mann glaubt auch gar nicht – wie der Perfektionist –, dass er etwas Besonderes sein muss, damit ihn die anderen lieben, wertschätzen und annehmen. Nein, er ist völlig davon überzeugt, dass er etwas Besonderes ist und dass es deswegen auch ganz natürlich, legitim und stimmig ist, wenn ihn die anderen lieben, wertschätzen – und bewundern. Natürlich kann ein Narzisst auch mal Angst haben, so wie er auch Warzen haben kann oder Mitesser. Dann hat er zwei unabhängige Probleme: eben Läuse und Flöhe. Zwischen den beiden besteht aber jeweils kein kausaler Zusammenhang. Narzissmus als Phänomen hat nichts mit Angst, Warzen oder Mitessern zu tun.

Nein, der männliche Narzisst hat bei Gott kein Problem mit der Angst. Dafür hat er ein größeres Problem mit der Liebe.

Die falsche Liebe

Dies ist ein Buch über die Liebe. Genauer gesagt über die männliche Liebesfähigkeit. Der Narzisst Oscar Wilde meinte einmal in Bezug auf sein eigenes Leben: »Eigenliebe ist der Beginn einer lebenslangen Romanze.« Diese einsame Romanze hatte in seinem Fall leider auch kein Happy End. Der traurige Held dieses Buches ist der Mann, der von den Fesseln des Narzissmus an sich selbst gebunden ist. Er liebt, aber leider als Rohrkrepierer: Er kommt über sich selbst nicht hinaus.

Sigmund Freud schreibt in seiner wichtigsten Abhandlung über die narzisstische Liebe: »Man liebt nach dem narzisstischen Typus: (a) was man selbst ist (sich selbst); (b) was man selbst war; (c) was man selbst sein möchte; (d) die Person, die ein Teil des eigenen Selbst war.« Damit meint er: Alles rund um das Ich wird von der narzisstischen Brille libidinös verklärt. Schon im griechischen Mythos ist der begehrte Jüngling Narziss daran zugrunde gegangen, dass er als Mann die weibliche Liebe nicht erwidern konnte, sondern sich selbst – beziehungsweise sein Spiegelbild – zum Objekt seiner Liebe erwählt hatte.

Im Gegensatz dazu wie auch zum Leben des Oscar Wilde hat dieses Buch aber ein Happy End: Nachdem im ersten Teil der Narzissmus vorgestellt wird und der zweite Teil Dimensionen seiner Unfreiheit aufzeigt, weist der dritte Teil den Weg aus dem inneren Gefängnis, in dem wir uns alle bis zu einem gewissen Grad befinden.

Teil I Der gefesselte Mann

Kapitel 1 Narcissus auf der Couch

In der griechischen Mythologie – vom römischen Dichter Ovid in den Metamorphosen anschaulich überliefert – wird der kleine Narkissos (lateinisch Narcissus) in eine recht problematische Broken-Home-Situation hineingezeugt: Der Flussgott Kephissos tat der schönen Wassernymphe Leiriope Gewalt an, indem er sie mit seinen Mäandern umfloss – und zog anschließend befriedigt weiter. Die Ängste der alleinerziehenden Mutter steigerten sich, als sie mit einem bedrohlichen Horoskop konfrontiert wurde: Ihr Spross lebe nur so lange, wie er sich selbst nicht erkenne. Sie will alles richtig machen und umhegt, verhätschelt und lobt ihren Sohn über den Klee. Der Kleine entwickelt eine ausgesprochene Schönheit, eine tolle Ausstrahlung und ganz viel Selbstwertgefühl. Er mag sich selbst, und die anderen mögen ihn erst recht. Die Mädchen schwärmen für ihn, die Burschen suchen seine Freundschaft, selbst die Götter finden an ihm Gefallen. »Er aber zeigte sich unberührbar und hartherzig, ließ niemanden zu sich heran und widerstand jeder Annäherung.« Dann nähert sich die süße Nymphe Echo. »Als sie Narcissus ihre Liebe gestand, wies er sie mit den Worten ›Eher will ich sterben als dir gehören‹ schroff zurück.« Die Arme verging vor Liebeskummer, wurde menschenscheu, vereinsamte und entwickelte noch dazu eine Essstörung. »Abgemagert zu Haut und Knochen, schied sie schließlich dahin. Nur ihre Stimme – das Echo – blieb erhalten.« Narcissus wird daraufhin verflucht, dass es ihm auch mal so ergehen solle: niemals bekommen, was er liebe. – Und dann kommt’s faustdick für den Schönling:

Eines Tages wollte er, von der Jagd und der Hitze ermüdet, seinen Durst an einer köstlichen Quelle im Wald stillen. Als er sich aber über das Wasser beugt, erblickt er das Antlitz eines attraktiven Jünglings. Hypnotisiert von diesem Bild starrt er in die melancholischen Augen, bewundert die Haarpracht, die zarten Wangen und die edle Stirn. Er ist wie von Sinnen, entzückt und bezaubert, kann von diesem Anblick nicht genug bekommen und vermag es einfach nicht, sich vom Blick in das spiegelnde Wasser zu lösen. Er ist rettungslos verknallt. Auf dem Boden liegend versucht er, sich dem begehrten Gesicht zu nähern, den Hals zu umfassen und sich mit dem Ebenbild zu vereinen. Aber es gelingt ihm nicht. Qualvoll schreit er seinen Schmerz, seine brennende Sehnsucht, seine unerfüllte Liebe hinaus in die Wälder. Voll unerfüllter Sehnsucht und Liebesschmerz beugt er sich tiefer und tiefer über den Quell. Er kommt dem Bild nahe, erreicht es aber nie. Schließlich verliert er in seiner Gier vollends die Selbstkontrolle, stürzt ins Wasser und ertrinkt.

In anderen Versionen wiederum verzerrt ein herabfallendes Blatt das Spiegelbild, worauf Narcissus durch die vermeintliche Erkenntnis, hässlich zu sein, stirbt. Wieder anderen Quellen zufolge erkennt Narcissus die Unerfüllbarkeit seiner Liebe, ohne dass es ihm etwas nützte: Er verzehrt sich und verschmachtet vor seinem Ebenbild bis zum Tod. Wie auch immer: Die Sache geht fatal aus für den hübschen jungen Mann.

Im Kontext der Psychiatrie wurde der Name des Narkissos oder Narcissus erstmals im Jahr 1898 vom skandalumwitterten britischen Sexualforscher Havelock Ellis als Bezeichnung für eine autoerotische Störung verwendet. Er beschreibt »a tendency for the sexual emotions to be lost and almost entirely absorbed in self admiration« als »Narcissus-like«. Also übersetzt in etwa die sexuelle Regung, die sich in der Selbstbewunderung erschöpft. Da hat er Ovid ja schon recht freizügig interpretiert. Die Idee greift ein Jahr später der – ebenfalls durchaus umstrittene – deutsche Psychiater Paul Näcke auf und gebraucht in der Übersetzung erstmals den Begriff »Narzissmus«.

Näcke versteht Narzissmus als erotische »Selbstverliebtheit« und »schwerste Form des Autoerotismus«. Narzissmus liegt für ihn vor, wenn jemand ausschließlich durch den Anblick des eigenen Körpers in sexuelle Erregung gelangt. Sigmund Freud übernimmt den Begriff in seiner legendären Abhandlung über Narzissmus mit entsprechender Quellenangabe: »Der Terminus Narzissmus entstammt der klinischen Deskription und ist von P. Näcke 1899 zur Bezeichnung jenes Verhaltens gewählt worden, bei welchem ein Individuum den eigenen Leib in ähnlicher Weise behandelt wie sonst den eines Sexualobjekts, ihn also mit sexuellem Wohlgefallen beschaut, streichelt, liebkost, bis es durch diese Vornahmen zur vollen Befriedigung gelangt.« Diese Steilvorlage wird zu einem zentralen Element in Freuds Lehre werden. Da der Sexualtrieb für ihn ohnehin fundamental ist, kann er vom Näcke’schen Konzept ganz schnell die Brücke zur generalisierten Eigenliebe schlagen.

Ein realer Jüngling aus dem 21. Jahrhundert, Alfred G., hat eine ähnliche Neigung wie die legendäre Figur aus der griechischen Mythologie, die Havelock Ellis, Paul Näcke und Sigmund Freud sicherlich brennend interessiert hätte.

Fall 1: Die Lovestory – Teil 1

Der 23-jährige Medizinstudent Alfred G. erzählt beim Psychiater über sein Verhältnis zum Spiegel. Er ist schon länger in Therapie und weiß, dass er eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hat. In der Übung versucht er, tief in sich hineinzublicken und damit sich selbst besser zu verstehen. Das gibt ihm die Freiheit, sich selbst auch anders zu orientieren. »Der Spiegel und ich? Eine Lovestory! Ich sehe mich selbst als den Hauptdarsteller eines Filmes. Ich stehe in der Früh auf, und da fällt bereits mein Blick auf mein Spiegelbild – vor meinem Bett habe ich einen großen Spiegel aufgestellt. Ich stelle mich nackt vor ihn und betrachte mich eingehend. Auf dem Weg ins Bad ist ein anderer Spiegel: Da werfe ich mir einen kurzen Blick zu, diesmal in Bewegung. Im Bad dann der nächste Spiegel. Meistens empfinde ich mein Gesicht als ganz makellos. Ich denke meistens, ich schaue echt gut aus. Dann wieder: O Gott, ich muss mehr trainieren, ich bin ja ein Spargeltarzan: nicht genug muskulös, Brille, Haare zu lang – wie ein Noob. Nach dem Anziehen, bevor ich auf die Uni gehe, werfe ich noch einen Blick in den Spiegel: Ich schaue cool aus! Das kann ich nämlich, mich richtig herrichten, dass die Farben passen.« Der Patient lächelt zufrieden in sich hinein.

»Mit dem Rad fahre ich etwa fünf Minuten zur Straßenbahn – da kontrolliere ich so zwei- bis dreimal, wie schneidig und sportlich ich in der Reflexion der geparkten Autos aussehe. Auf der Straße sehe ich mich in den Schaufenstern an, wie ich vorüberschreite. Ich möchte mich bewundern. In der Straßenbahn schaue ich in die Fensterscheiben und fühle mich erhaben. Ein narzisstisches Hochgefühl: Ich sitze im Wiesel, im noblen Vorortezug Wiens! Vor der Uni ist eine riesige verspiegelte Fläche: Da sehe ich mich auch immer eingehend an, wie ich auf das Gebäude zuschreite.«

Der junge Mann unterbricht nachdenklich: »Ich bin jetzt überrascht, das Ausmaß war mir nicht bewusst. Na ja, weiter geht’s: Ehrlich gesagt, mach ich mit dem Handy viele Selfies, die ich dann auf Facebook poste. Und kontrolliere alle paar Minuten, wie viele ›Likes‹ ich bekomme. Ich bekomme viele, weil ich dort viele ›Friends‹ habe – die meisten kenne ich gar nicht. Wenn ich Fotos von mir sehe, haben die immer eine große Anziehungskraft auf mich, sie beeindrucken mich sehr stark. Der Spiegel in meinem Zimmer hat übrigens auch eine erotische Dimension: Da läuft auch mein Liebesleben ab – ich mit mir. Mehr brauchen wir nicht.« Herr G. erschrickt aufrichtig über seinen inneren Zustand und ist tief betroffen vom Ausmaß seiner Gier nach dem Spiegel. Er nimmt sich vor, diese Neigung in Zukunft nicht mehr so exzessiv zu befriedigen.

Alfred G. ist in einer Therapiesituation, in der er seinem Psychiater unter Verschwiegenheitspflicht verschämt seine innersten Fantasien kundtut. Er öffnet sich in einer vertrauten Umgebung aus therapeutischen Gründen und würde wahrscheinlich niemals irgendjemand anderem von seiner Beziehung zum Spiegel erzählen. Doch Narzissmus bleibt nicht immer innendrin. Facebook ist als Bühne für narzisstische Selbstdarstellung die Versuchung des kleinen Mannes. Personen der Öffentlichkeit hingegen – besonders wenn sie durch eine kritiklose Umgebung aufgeputscht sind – können ihre natürlichen Hemmungen völlig verlieren. Dabei ist die Suche bei den Helden des modernen Gladiatorenspiels, den Fußballgöttern, besonders ergiebig.

Die Welt zu seinen Füßen

Der Weltfußballer der Jahre 2008, 2013 und 2014 Cristiano Ronaldo hat zurzeit immensen sportlichen Erfolg und genießt reges mediales Interesse. Der Rummel um seine Person verführt ihn dazu, seine Psyche völlig ungebremst öffentlich zu zelebrieren. Seine Interviews, in denen er kein Blatt vor den Mund nimmt, sind Legende und strotzen nur so vor Selbstwertgefühl. Ronaldo spielt nach dem wahrscheinlich teuersten Transfer der Fußballgeschichte seit 2009 bei dem spanischen Traditionsclub Real Madrid. Angesprochen auf diese astronomische Summe äußerte er sich folgendermaßen: »Natürlich kann der Verein 94 Millionen Euro für mich bezahlen. Ich denke, ich bin noch mehr wert.«

Die perfekte Inszenierung seines Lebens in Spielfilmlänge finanzierte er selbst mit Millionenbeträgen. Dass ein Jahr zuvor ein Film über seinen direkten Konkurrenten Lionel Messi – Schlüsselspieler des Erzfeindes FC Barcelona und Weltfußballer 2015 – ein großer Erfolg wurde, ist sicher kein Zufall. Den Film über sich selbst nannte Ronaldo bezeichnenderweise »The World at his feet« – also tatsächlich: die Welt zu seinen Füßen.

Ronaldo ist bekannt dafür, dass er den Rasen so frisch gestriegelt betritt, als würde er sich auf einem Laufsteg einer Modeshow präsentieren. Keiner weiß, wie lange er vor dem Spiegel steht – aber er schaut so aus, als ob diese Tätigkeit beträchtliche Zeit in Anspruch nimmt. Kaum sind die Kameras auf ihn gerichtet, schlägt er sein Pfauenrad; vor dem Anpfiff wird noch ein letztes Mal der Sitz der Hose überprüft und die Strümpfe werden in die rechte Position gezupft. Seine Selbsteinschätzung ist legendär – und belustigt, empört oder begeistert die Fußballfans: »Wenn mich jemand als den Besten der Welt bezeichnen würde, würde mich das nicht überraschen.«

Vor der Ausführung eines Freistoßes pflegt er sich überzogen breitbeinig vor den Ball zu stellen, um seine selbstbewusste Männlichkeit zu demonstrieren. Mit dieser auffällig-kindlichen Geste der phallischen Dominanz scheint er ungeteilte Aufmerksamkeit des gesamten Publikums im Stadion erwirken zu wollen. Diese Inszenierung geht vielen mörderisch auf den Keks, vor allem den Gegenspielern. Das wiederum lässt Ronaldo kalt: »Ich liebe es, den Hass in den Augen der Leute zu sehen. Das macht mir nichts aus. Es gibt viele, die mich hassen … aber mehr, die mich lieben. Ich fühle mich nur dann schlecht, wenn ich schlecht spiele. Glücklicherweise passiert das selten. Vielleicht hassen sie mich, weil ich zu gut bin!«

Ronaldos Antwort auf die Frage, warum auch die Fans ihn auspfeifen: »Die Leute beneiden mich, weil ich gut aussehe, reich bin und ein großartiger Spieler. Es gibt keine andere Erklärung.« Schon mit 22 Jahren publizierte Ronaldo das Buch Moments über die Höhepunkte seiner bisherigen Karriere. Mit 28 Jahren eröffnete Ronaldo in seiner Heimatstadt Funchal sein eigenes Museum. In dem selbst finanzierten Spielfilm über sich selbst wird auch sein Berater Jorge Mendes bildlich vorgestellt; Ronaldos Stimme wird dazu aus dem Off eingeblendet, wie er seinen Berater generös lobt: »Er ist der Beste; er ist der ›Cristiano Ronaldo‹ der Berater.«

Mit 25 Jahren wurde Ronaldo Vater eines Sohnes, höchstwahrscheinlich aus einer künstlichen Befruchtung – und hat natürlich das alleinige Sorgerecht. Über die Identität der Leihmutter und Eispenderin ist nichts bekannt. Seine leibliche Mutter darf der Sohn jedenfalls nie kennenlernen. Das stellte der Fußballer in seinem eigenen Dokumentarfilm klar: »Irgendwann werde ich ihm das erklären. Ich bin sicher, er versteht es.« Zur Zeit der Zeugung bis nach der Geburt war Ronaldo übrigens mit dem russischen Model Irina Shayk liiert. Klatschspalten zufolge sei sie völlig geschockt gewesen, als sie vom heimlichen Sohn ihres Freundes aus den Medien erfuhr, und habe stundenlang geweint. Diese Beziehung ist in der Zwischenzeit zerbrochen. Der Name des Sohnes? Cristiano Ronaldo jr. natürlich. »Ich wollte schon immer einen Sohn haben, damit er mein Nachfolger werden kann.«

Cristiano jr. verbringt viel Zeit mit seinem Vater im Fitnessstudio: Papa Ronaldo veröffentlicht Selfies, auf denen beide oben ohne zu sehen sind und der Fünfjährige schon ganz die Macho-Posen seines Vaters einnimmt. Von der inneren Logik des Narzissmus her müsste es Ronaldo eigentlich am liebsten gewesen sein, wenn sein Sohn sein eigener Klon wäre – also nicht die Hälfte des Erbgutes aus »minderwertigem« Material stammte.

Aus diesem dynastisch-narzisstischen Grund hätte nämlich der römische Diktator Caligula gerne seine Schwester Drusilla geschwängert – die aber zu dessen Bestürzung mit 22 Jahren vorzeitig starb. Nach ihrem Tod erhob er sie zur Göttin. Sich selbst übrigens bei der Gelegenheit auch gleich.

Die männliche Psyche – Nature or Nurture?

Der Pfau – das Männchen, wohlgemerkt! – trägt ein Prachtkleid aus 150 langen Federn. Wenn er einem Weibchen von Interesse begegnet, schlägt er sein imposantes Rad und dreht sich selbstbewusst um die eigene Achse, um die Damenwelt zu beeindrucken. Der Pfau ist ein recht polygames Vogelvieh. Er wedelt wild mit seinem Federfächer, schaut das Objekt der Begierde hypnotisierend an und lässt seine raschelnden Federn erotisch erzittern – bis dem schwachen Geschlecht ganz schwindlig ist. Wenn das Weibchen dann völlig verzückt ist und sich ihm ergeben annähert, kehrt er ihr stolz den Rücken zu. Das macht er so lange, bis die Henne ganz aufgibt und vor dem Hahn auf die Knie sinkt. Recht gnädig begattet er sie dann. Der Pfau scheint selbstverliebt – narzisstisch ist er aber nicht. Das ist allein der Gattung Homo sapiens vorbehalten.

Der eitle Pfau ist männlich, der selbstverliebte Gockel auch. Und tatsächlich tritt Narzissmus auch im menschlichen Gewande wesentlich häufiger bei den Herren der Schöpfung auf. Das ist heute gesichertes Wissen, kein stereotypes Vorurteil: Emily Grijalva und Mitarbeiter von der University of Buffalo haben 2015 in einer Metaanalyse die 355 bestehenden Narzissmus-Studien mit insgesamt 470.846 Probanden ausgewertet und finden einen eindeutigen, signifikanten Geschlechterunterschied über die Jahrzehnte – und in allen Altersklassen.

Der Narzissmus ist übrigens keine Ausnahme: Viele psychiatrische Störbilder sind zwischen den Geschlechtern asymmetrisch verteilt. Frauen leiden neunmal häufiger an Bulimie und Anorexie, dreimal häufiger an Angsterkrankungen und der Borderline-Störung und deutlich häufiger an Depressionen und Tranquilizersucht. Bei Männern hingegen wird neunmal häufiger das Asperger-Syndrom und Autismus diagnostiziert, dreimal häufiger eine Störung der Geschlechtsidentität, eine antisoziale Persönlichkeit oder Opiatesucht, doppelt so häufig Narzissmus ebenso wie Sexualstörungen und Alkoholismus. In jeder Altersklasse weisen zudem deutlich mehr Männer als Frauen aggressive Verhaltensstörungen auf.

Der deutsche Evolutionsbiologe Axel Meyer von der Universität Konstanz fasste 2015 die Studienlage der psychischen Geschlechterunterschiede folgendermaßen zusammen: Frauen verfügen statistisch gesehen über umfangreicheres Vokabular, besseres sprachliches Ausdrucksvermögen, mehr Empathie, schnellere Auffassungsgabe, besseres Vorstellungsvermögen, bessere Gefühlserkennung, höhere soziale Sensibilität und eine bessere Feinmotorik. Männer haben eine ausgeprägtere Aggressivität, bessere visuell-räumliche Fähigkeiten, mehr Durchsetzungskraft, können besser systematisieren, besser 3-D-Rotationen/mentale Rotationen nachvollziehen. Besser Landkarten lesen, besser eine Form in einem größeren Design finden. Schützenhilfe bekommt er 2016 von Ulrich Kutschera, weltweit anerkannter Physiologe und Visiting Scientist an der Stanford University in den USA.

Dabei – und das ist wichtig, um dümmlichen Stereotypen vorzubeugen – schneiden sich hier zwei Gauß’sche Verteilungskurven: So haben etwa (nur) zwei Drittel aller Männer eine bessere räumliche Orientierung als die durchschnittliche Frau. Also gibt es durchaus Frauen, die sich räumlich besser orientieren können, körperlich größer sind und mehr Gewicht heben können als der durchschnittliche Mann. Aber eben nicht besonders viele.

Wenn wir also sehen, dass nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen Männer weniger empathisch sind, mehr zur Aggression neigen, mehr Durchsetzungskraft haben, eine schlechtere Gefühlserkennung und eine niedrigere soziale Sensibilität aufweisen, zudem aktiver, kompetitiver, selbstbewusster sind und weitaus mehr Verbrechen verüben als Frauen, so haben wir schon einen starken Nährboden für den Narzissmus abgebildet. Deswegen wundert es nicht, wenn doppelt so viele Männer wie Frauen sich darin verfangen.

Aber männlicher und weiblicher Narzissmus unterscheiden sich nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ: Christiano Ronaldo und Caligula sind in all ihrem narzisstischen Tun typisch Mann – man kann sich schwer vorstellen, dass eine Frau auf diese Weise agiert. In der Tat hat narzisstisches Denken und Agieren bei den Geschlechtern unterschiedliche klinische Erscheinungsbilder. Die Psychologin Bärbel Wardetzki hat in ihrem bekannten Buch den weiblichen Narzissmus streng vom männlichen abgegrenzt. Für sie führt die überzogene Selbstliebe bei Frauen zu einem »Hunger nach Anerkennung«, der diese häufig in eine Essstörung – ganz besonders die Bulimie – treibt. Ganz anders ist da die männliche Psyche, bei der die überzogene Selbstliebe auf eine völlig andere psychische Grundstruktur stößt.

Die Genetik der Psyche

In der »Psychologie« der Antike – also den Persönlichkeitstypologien – ist der Narzissmus als solcher nicht zu finden. Empedokles etwa ordnete bereits im fünften vorchristlichen Jahrhundert das Wesen der Menschen den Naturelementen Erde, Wasser, Luft und Feuer zu; Hippokrates unterschied die vier bekannten Säfte; Aristoteles beobachtete beim Menschen leichtes, kaltes, heißes und schweres Blut; Galen von Pergamon entwickelte die vier Temperamente Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker und Phlegmatiker, die Paracelsus später ablehnt, Immanuel Kant aber wieder aus der Versenkung holt – all das wird dem Narzissmus überraschend wenig gerecht.

Alle vier Temperamente können nämlich narzisstische Züge tragen – oder auch nicht. Es gibt narzisstische und nichtnarzisstische Choleriker, wie es auch narzisstische und nichtnarzisstische Sanguiniker, narzisstische und nichtnarzisstische Melancholiker und sogar narzisstische und nichtnarzisstische Phlegmatiker gibt. Narzisstische Phänomene, wie wir sie heute kennen, wurden in der Antike eher in der Philosophie behandelt – aber unter ganz anderem Namen.

Fall 2: Der Choleriker

Die 58-jährige Eva L. glaubt sich mit einem Narzissten verheiratet. Sie beklagt sich: »Mein Mann ist ein fürchterlicher Narzisst. Ich halte ihn nicht mehr aus. Ich habe bereits eine richtige Aversion gegen ihn entwickelt. Schon seine Gegenwart bereitet mir Unwohlsein. Ich bin vor vielen Jahren ausgezogen, aber wir treffen uns noch, wenn wir die Kinder und Enkel sehen. Seine cholerischen Anfälle kann man gar nicht aushalten. Ein Wunder, wie lange ich das ertragen habe.«

Der Psychiater fragt Frau L., ob ihr Mann sich der Wirkung seiner Anfälle bewusst ist. Ob er Verständnis für sie aufbringe, Empathie besitze.

»Doch, doch. Er weiß, dass er Choleriker ist, und entschuldigtsich dann auch immer sehr zerknirscht und glaubwürdig. Aber schon bei nächster Gelegenheit fällt er wieder ins alte Muster.«

Der Arzt gibt zu bedenken, dass es kein narzisstisches Muster ist, sich zerknirscht zu entschuldigen.

Frau L. versteht: »Ja, es ist irgendwie paradox: Er trägt mich auf Händen und entschuldigt sich immer. Er will immer mit mir beisammen sein. Er liebt mich abgöttisch, schaut keine andere Frau an, war mir sicherlich ein Leben lang treu, beschenkt mich überreich, ich kann mir bei ihm alles erlauben. Die Leute staunen immer, was er sich alles von mir gefallen lässt. Weil er sonst so eine starke Persönlichkeit ist. Aber ich kann wegen meiner Antipathie nicht anders. Die hat sich wegen all dieser Verletzungen entwickelt …«

Die Ehe wäre bis vor fünfzehn Jahren hervorragend gewesen, abgesehen von den cholerischen Anfällen, aber die hätte sie aufgrund seiner nachträglichen ehrlichen Entschuldigungen gut wegstecken können. »Und dann begann die Antipathie, genau im Jahr 2000.«

Der Psychiater fragt sie, was im Jahr 2000 alles vorgefallen sei. Ob sie sich da außer den cholerischen Anfällen noch an andere Ereignisse erinnern könne.

Frau L. zögert merklich. Dann beginnt sie: »Nun, jetzt muss ich wohl ehrlich sein. Da hatte ich eine kleine Affäre mit einem Kollegen. Meine erste und einzige in meinem Leben. Wir haben uns hauptsächlich über meinen Mann unterhalten, und da ist mir erst aufgegangen, wie arg mein Mann mich behandelt. Der Kollege hat immer betont, wie narzisstisch mein Mann sei. Danach begann die Antipathie. Ich habe da noch nie einen Zusammenhang gesehen … Glauben Sie, dass das was damit zu tun hat?« Sehr nachdenklich verlässt Frau S. nach der Stunde die Praxis.

Eine Woche später berichtet Frau L., dass sich ihre Antipathie gegen ihren Ehemann erstaunlicherweise deutlich verringert habe. Sie habe sich bis jetzt immer nur als Opfer gesehen, und plötzlich sei ihr ihr eigener Anteil bewusst geworden. Jetzt sei sie aktiv auf ihn zugegangen, und die Antipathie sei geschmolzen wie Schnee in der Sonne.

In ihrer Antipathie – die sich auf ihr schlechtes Gewissen gründete – hatte Frau L. unbewusst zur gängigen Abwertungsdiagnose gegriffen, vom Nebenbuhler befeuert. Das hielt sich wesentlich länger als die Affäre. Herr L. besitzt zweifellos ein cholerisches Temperament, aber entgegen der Einschätzung seiner Gattin ohne narzisstische Tönung. Sonst würde er nicht nach jedem Anfall um Entschuldigung bitten und seiner Frau alles durchgehen lassen.

»Temperament« nennt man bis heute die Neigung zu bestimmten charakteristischen Reaktionsweisen, die durch neuronale Synapsenbildung und Netzwerke programmiert, also in gewisser Weise determiniert sind. Das Temperament sucht man sich nicht aus, man bekommt es in die Wiege gelegt. Narzissmus ist ein Phänomen, dem nicht diese basalgenetische Ebene zugrunde liegt.

Sigmund Freud hat ab 1909 das Thema Narzissmus in die Mitte der Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie gestellt. Zu dieser Zeit konnte die Systematische Psychologie das Phänomen des Narzissmus allerdings noch nicht richtig verorten. Und das sollte noch lange dauern: Das zweiachsige Koordinatensystem des Freud-Gegners Hans Jürgen Eysenck mit den Achsen »extravertiert–introvertiert« versus »stabil–instabil« erfasst narzisstisches Denken und Handeln nur sehr unzureichend. Ein Narzisst kann sowohl extravertiert als auch introvertiert sein, sowohl stabil wie auch instabil.

Auch die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten und bis heute gängigen »Big Five« der Persönlichkeitspsychologie (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit) stellen diesbezüglich noch keinen Durchbruch dar. Ein Narzisst kann offen sein für neue Erfahrungen oder überhaupt nicht, gewissenhaft oder schlampig, neurotisch-ängstlich oder völlig gelassen, äußerlich verträglich oder eher unverdaulich. Auch wenn der klassische Narzisst eher extravertiert und dafür weniger verträglich und kaum neurotisch-ängstlich ist, können doch die »Big Five« den Narzissmus einer Person nicht dingfest machen.

Ein Amerikaner knackt den Jackpot

Erst die Systematik des Genetikers und Psychiaters Robert Cloninger erlaubt eine stimmige Zuordnung der Persönlichkeitsstörungen in der Psychologie – und damit auch des Narzissmus’. Der prominente US-Wissenschaftler von der Washington University in St. Louis ist Mitglied der amerikanischen Akademie der Wissenschaften und war 2009 Preisträger des Judd Marmor Award der American Psychiatric Association für die Verbesserung des biopsychosozialen Modells.

Cloninger hat in den Achtziger- und Neunzigerjahren aus seinem immensen Datenpool zuerst die »vier Dimensionen des Temperaments« herausgerechnet, wobei er Persönlichkeitsmerkmale und genetische Kennziffern seiner Probanden verwendete: Schadensvermeidung (Harm Avoidance), Neugierde (Novelty Seeking), Abhängigkeit von Belohnung (Reward Dependence) und Beständigkeit (Persistence). Damit deckt er das klassische Kleeblatt Choleriker, Sanguiniker, Melancholiker und Phlegmatiker ab. Der Fortschritt dieser Arbeit bestand in der genetischen und neurobiologischen Absicherung der Typologien.

Psychopathisches Verhalten wie Narzissmus war damit allerdings noch immer nicht erklärt. Schadensvermeidung, Neugierde, Abhängigkeit von Belohnung und Beständigkeit sind lauter Eigenschaften, die den landläufigen »selbstverliebten Gockel« nicht eindeutig beschreiben. Offensichtlich läuft bei ihm etwas anderes schief: Ob er neugierig oder offen für neue Erfahrungen ist, ändert an seiner Selbstverliebtheit gar nichts. Cloninger stellte im Rahmen seiner späteren Forschungen an Psychopathien dann auch genau das fest: dass Patienten mit Persönlichkeitsstörungen sich in den vier Dimensionen des Temperaments rein rechnerisch nicht von Normalpersonen unterscheiden. Das bedeutet, dass die alten Persönlichkeitstests noch nicht krank von gesund unterscheiden können, unfrei von frei, reife Persönlichkeiten von unreifen.

Im Rahmen seiner Zuordnung der Eigenschaften zu neuroanatomischen Strukturen fand der Wissenschaftler heraus, dass die »vier Dimensionen des Temperaments« in erster Linie die phylogenetisch ältesten Hirnareale abbilden, nämlich das kortikostriatale und das limbische System. Deshalb erarbeitete er mit seinem Forschungsteam zusätzlich Eigenschaften der phylogenetisch jüngeren Hirnareale, nämlich des frontalen, temporalen und parietalen Neokortex. Die Ausprägung dieser Hirngebiete erst unterscheidet den Menschen vom Affen. Die dort lokalisierten Eigenschaften nannte Cloninger, im Gegensatz zum Temperament, die »drei Dimensionen des Charakters«: Selbstkontrolle (Self-Directedness), Kooperationsfähigkeit (Cooperativeness) und Selbsttranszendenz (Self-Transcendence). Sie machen den Menschen zu dem, was er ist.

Die Dimension der Selbstkontrolle unterscheidet »verlässlich« und »sachlich« von »beschuldigend« und »planlos«, die Kooperationsfähigkeit kennzeichnet Eigenschaften wie »tolerant«, »hilfsbereit«, »teamfähig« im Gegensatz zu »voreingenommen« und »rachsüchtig«, während Selbsttranszendenz bei Cloninger »selbstvergessen« und »spirituell« im Kontrast zu »selbstbezüglich«, »ichhaft« und »materialistisch« meint. Das Schlüsselwort zu diesem Konzept ist »Ordnung«: Die Selbstkontrolle entspringt einer inneren Ordnung, die Kooperationsfähigkeit ist die Ordnung in den Beziehungen, und die Selbsttranszendenz entspricht der Einordnung in ein kosmisches Ganzes. Und damit konnte Cloninger nun die Spreu von Weizen trennen: Ganz klar konnte er mithilfe dieser Kriterien erstmals Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung aus einer Normalpopulation herausfiltern.

Cloninger spricht immer von den Persönlichkeitsstörungen im Allgemeinen, nie vom Narzissmus im Konkreten. Aber scannen wir nun den »selbstverliebten Gockel« und den »eitlen Pfau« probehalber auf die »drei Dimensionen des Charakters«: Es klappt! In der Tat kippen Narzissten viel eher in die Fremdbeschuldigung, statt selbstlos-sachlich und verlässlich zu sein. In Beziehungen neigen sie außerdem dazu, rachsüchtig zu agieren und weniger teamfähig und weniger hilfsbereit zu sein. Und drittens ist Narzissmus sicherlich eher selbstbezüglich als selbstvergessen.

An Cloningers Konzept bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass narzisstische Verhaltensweisen mit dem erworbenen »Charakter« zusammenhängen und weniger mit dem angeborenen »Temperament«. Man wird also nicht als Narzisst geboren, sondern dazu gemacht, könnte man in Abwandlung des wohl berühmtesten Zitates von Simone de Beauvoir pointiert zusammenfassen.

Fall 3: Weil ich ich bin

Horst D. erzählt über seine geheimen Fantasien, die er im Rahmen seiner Behandlung entdeckt hat. Es handelt sich wieder um eine psychotherapeutische Übung, bei der der Patient aus seinem Inneren Bedürfnisse ins Bewusstsein holt und erstmals ausformuliert. Im Moment der Übung ist sich der Patient völlig bewusst, dass seine Fantasien den Realitätsbezug verloren haben. Aber erst das mutige Aussprechen gibt ihm die Gelegenheit, sich auch dagegen zu entscheiden.

»Ich sehe mich als den bedeutendsten Menschen auf Erden. Ohne jede Leistung: weil ich ich bin. Das ist objektiv erkennbar, und jeder soll das anerkennen. Die, die mich nicht kennen, haben das Gefühl, dass es den einen besonderen Menschen gibt – aber sie kennen ihn nicht. Die haben keine Ahnung, was ihnen entgeht. Ganz ehrlich? Ich denke mir, dass die Papst-Franziskus-Bilder in der Kirche mit meinen ausgetauscht werden sollen. Dass ich viel interessanter bin. Ich verstehe den Hype um diesen Typen nicht. Die Heiligenbilder gehören übermalt. In jeder Kirche soll ein Bild von mir hängen – ein großes. Eine Fernsehbotschaft wäre angebracht: Horsti eröffnet den Tag. So etwa 20 Minuten lang: was ich mir gerade so denke. Meine Erkenntnisse. Das ist für alle interessant, weil es von mir ist. Es gibt nichts, was ich mehr liebe als mich. Johannes Paul II. und Mutter Teresa: Die kommen alle nicht an mich heran. Daniel Libeskind, Marcel Hirscher, Jürgen Habermas – keine Chance gegen meine Exzellenz. Kardinal Schönborn und Kanzler Faymann: never! Meine Professoren sind nicht gut genug für mein Talent. Meine Mitstudenten sind alle nichts wert. In meiner Familie: Die können sich glücklich schätzen, dass sie mich haben. Da bin ich der Heilige unter lauter Sündern. Vom Wert her bin ich auf jeden Fall viel höher als die anderen Familienmitglieder. Einer, der mich als Durchschnitt einschätzt, ist ein Narzisst.«

Nach der Übung ist der Patient aufgewühlt, beschämt, aber vor allem sehr erleichtert.

Die drei narzisstischen Fesseln

Narzissmus hat in allen drei Dimensionen des Charakters erhebliche Defizite: die Selbstidealisierung, die Abwertung der anderen und die völlige Unfähigkeit zur Selbsttranszendenz. Diese drei Stricke fesseln den Narzissten an sich selbst und werden in den drei Kapiteln von Teil II näher besprochen.

Die erste Fessel, die Selbstidealisierung, ist eine pfauenartige Selbsterhöhung, die sich aus einer gesteigerten Selbstliebe entwickelt und klinisch in einem überzogenen Selbstwertgefühl wahrnehmbar wird. Deswegen ist in diesem Zusammenhang in der psychiatrischen Fachliteratur häufig vom »grandiosen Selbstbild« oder »Grandiosität« die Rede: Der Narzisst blendet alles Nichtgrandiose an sich selbst aus, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Dazu gehören vor allem persönliches Scheitern, seine Fehler und Schuld. Weil er aber das Negative ausblendet, neigt er zur Beratungsresistenz.

Die zweite Fessel, die Abwertung der anderen, folgt aus der ersten Fessel. Abgewertet wird jeder, aber besonders jemand, der an der Grandiosität kratzen könnte. Der andere ist oft nur eine Sprosse des Narzissten auf dem Weg zum Erfolg. Der Narzisst sieht sich letztlich nicht auf gleicher Augenhöhe mit seinem Nächsten. Er nimmt die bedingungslose Liebe, die Menschen ihm schenken, als selbstverständlich – ohne dass er den Impuls verspürt, die Liebe zu erwidern.

Die dritte Fessel knüpft sich aus den ersten beiden: Die Asymmetrie zwischen sich selbst und dem Du ist das Markenzeichen des Narzissten, das Selbsttranszendenz unmöglich macht. Man könnte das Selbstimmanenz nennen: Der Mensch bleibt in sich selbst stecken (das lateinische Wort immanere bedeutet »darin bleiben« – im Gegensatz zu transcendere für »übersteigen«). Er bleibt in sich, dreht sich nur um sich selbst, ist unfähig oder unwillig, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken und etwa die klassischen Transzendentalen wie das Schöne, Wahre und Gute wahrzunehmen.

Die narzisstische Trias – Selbstidealisierung, Fremdabwertung und Selbstimmanenz – bremst den Mann aus und verhindert seine menschliche Entfaltung.

Fall 4: Der Überflieger – Teil 1

Der 23-jährige Mathematikstudent Oskar von D. kommt in die psychiatrische Praxis. Er ist betont gepflegt gekleidet, ein klein wenig steif, wirkt aber sehr selbstsicher und souverän in den Umgangsformen. Er hat ein diskretes affektiert-nasales Österreichisch im Zungenschlag und stechend blaue Augen.

»Sie wollen wissen, wie ich auf Sie komme? Ich stelle mir seit Längerem die ontologische Sinnfrage und will das im Zusammenhang meiner Studienwahl mit einem Psychiater diskutieren. Ihr Vorgänger, Herr D., hat nicht einmal gewusst, was ›Ontologie‹ bedeutet, er konnte mir philosophisch nicht folgen und hat überhaupt mein Problem nicht verstanden – daraufhin bin ich gezwungen gewesen, den Psychiater zu wechseln. Ich habe Ihren Lebenslauf auf Ihrer Homepage gelesen und erwarte mir einen philosophisch ebenbürtigen Gesprächspartner.«

Nachdenklich wirft der Psychiater die Frage ein, ob ein Arzt unbedingt philosophisch gebildet sein muss, um seinem philosophischen Patienten helfen zu können.

Aber Herr von D. ist sich da recht sicher: »Na, er muss zumindest intellektuell ebenbürtig sein. Wissen Sie, wenn ich seine Antworten alle bereits vorhersehen kann, langweilt mich das irgendwann. Herr D. konnte mich einfach nie überraschen. Dann habe ich mir gedacht: Da ist es mir schade um meine Lebenszeit. Ich bin ja in der glücklichen Lage, mir meine Gesprächspartner aussuchen zu können.« Dann kommt er auf sich zu sprechen: »Ich bin zwar erst 23 Jahre alt, aber habe schon sehr tiefe philosophische Erkenntnisse – die andere ein Leben lang nicht haben. Aber auch die großen Philosophen hatten sie nicht so früh wie ich.« Im Grunde, fährt er fort, hätte er das große Problem im Sinne von Albert Camus gelöst: Es gibt keinen Sinn im Leben. »Nach dieser Erkenntnis kann ich durchstarten: jetzt kann’s wirklich losgehen.« Zwei sehr banale und praktische Probleme hätte er aber noch zu lösen, bevor es wirklich losgehe, und das wolle er mit professioneller Hilfe angehen: Erstens habe er Angst vor Ejaculatio praecox. Und er wisse nicht, was er nun studieren solle, da er bereits die ontologische Frage gelöst habe.

Für Österreicher ist es sehr unüblich, sich jemandem mit »von« im Namen vorzustellen, auch für Aristokraten. Denn die Adelstitel sind nach dem Ersten Weltkrieg abgeschafft worden. Der Psychiater spricht den Patienten fragend darauf an.

»Ja, das ist, weil mein Vater Deutscher ist. Dort wird der Titel nach wie vor geführt. Und wir legen Wert auf unsere Familientradition.«

Wenn man auf Menschen wie Oskar von D. trifft, können Emotionen hochkommen. Das ist durchaus typisch und normal für die Begegnung mit Narzissten und wird in der Psychoanalyse »Gegenübertragung« genannt. Meistens ist es ein Gefühl der Ablehnung, der Abwehr und Antipathie, mit der Narzissten konfrontiert sind. So etwas passiert natürlich auch Therapeuten, und das kann die Therapie erschweren. Besonders wenn der Narzisst nicht gerade auf Menschenfang aus ist, kann er sein grandioses Selbstbild durchaus so weit heraushängen lassen, dass er einem kräftig unsympathisch ist. Freud, der dieses Phänomen erstmals beschrieb, sah die Gegenübertragung als störenden Einfluss, den der Therapeut sich bewusst machen und beseitigen müsse. Klar: Wenn der Patient merkt, was der Arzt an Ablehnung empfindet, wird er sich nicht gerade willkommen fühlen.

Die moderne Psychoanalyse sieht im Gegensatz zu Freud die Gefühle des Therapeuten gegenüber dem Patienten auch als »Resonanzboden«, durch den er Informationen über den Patienten gewinnt. In der Tat kann man die schnellsten Narzissmusdiagnosen mit dem trainierten Bauchgefühl stellen. Noch bevor der Kopf die ganzen Symptome gescannt und mit den klassischen Kriterien verglichen hat, spürt der Bauch die libidinöse Selbstverliebtheit des Betroffenen und oft auch die damit verbundene Fremdabwertung.

Da der Therapeut allerdings durch das Setting (die eigenen Praxisräume, die Tatsache, dass er als Experte aufgesucht wurde …) relativ sicher ist, ist die Gegenübertragung im Vergleich zur freien Wildbahn sehr abgeschwächt. Sie ist in der Therapiesituation von der Neugier überlagert, was der Patient so mitbringt und in welche Richtung sich die Therapie entwickelt. Denn immerhin kommt der Narzisst zum Therapeuten mit einem konkreten Wunsch: Das lässt ihn die Beziehung viel besser aushalten.

Abgesehen vom diagnostischen Bauchgefühl, das sich vielleicht schon gemeldet hat, sieht man bei Herrn von D. sofort die Abwertung des ersten Psychiaters, bei der man die Warnung durchhören kann, dass Psychiater bei ihm durchfallen können. Nur Anfänger freuen sich über die despektierliche Beschreibung eines vorangegangenen Kollegen durch den Patienten und betonen eifrig, dass sie das selbst viel besser machen werden. Damit ist man nämlich auf die Manipulation des Patienten schon hereingefallen. Der Patient wünscht sich zwar Bestätigung und Bewunderung, doch es würde ihm nicht helfen, wenn man sie ihm als Therapeut unkritisch gäbe.

Fall 4: Der Überflieger – Teil 2

Oskar von D. schildert, dass er – abgesehen vom bisherigen Psychiater – seit einem Jahr in klassischer orthodoxer Psychoanalyse sei, bei der er drei- bis viermal pro Woche auf der Couch liege und die 63-jährige Analytikerin für ihn unsichtbar hinter ihm sei. Die Analytikerin erachte er aber nicht für kompetent und zuständig, um die beiden oben angeführten Aufträge zu bearbeiten.

Herr von D. sinninert über sein Mathematikstudium, bei dem er schon ein paar Prüfungen gemacht hätte, aber streng nach dem Lehrplan doch hintan sei: »Ich konnte nach meiner Antwort auf die Sinnfrage keine blöden Formeln mehr lernen. Die Frage, die sich mir stellt, ist, was ich mit meinem großen Talent anfangen soll: Medizin studieren und Psychiater werden oder Psychologie studieren?« Er beschreibt sich selbst: »Ich habe eine hohe Selbstreflexion und bereits sechs oder sieben Bücher über Psychologie gelesen.« Auch Philosophie passe gut in seine Lebensgeschichte. »Ich will eine Nische finden, die zu mir passt – in der ich mich selbst verwirklichen kann. Ach ja, ich war auch im österreichischen Jugendskiteam und könnte ein erfolgreicher Skilehrer werden.« Durch seine Erkenntnis »Das Leben hat keinen Sinn« habe er eine viel größere Freiheit als andere und größere Unabhängigkeit.

Eine seiner Erkenntnisse aus der Analyse ist sein Wunsch, von der Analytikerin und auch von seinem Psychiater bewundert und beneidet zu werden. Der Psychiater fragt ihn, wie diese Bewunderung ausschauen könnte.

Er: »Der Herr von D. weiß mit 23 schon so viel über das Leben, er weiß ziemlich viel, schaut gut aus und will alles haben.« Bei der Psychoanalytikerin hätten sich in der letzten Zeit immer mehr Spannungen aufgebaut: »Es ist mir ehrlich gesagt auf den Arsch gegangen, wenn sie mich nicht bewundert hat.«

In der Folge geht der Psychiater mit dem Patienten systematisch die neun gängigen Narzissmuskriterien (siehe unten) durch, und Herr von D. hält in der Selbsteinschätzung sieben davon für absolut zutreffend. Oskar nimmt das gelassen, ja sogar erfreut auf: »Narzissmus – ja, das passt wirklich gut! Im Fußball bin ich auch ein Fan von Cristiano Ronaldo – der Messi hat bei Weitem nicht so eine Aura und ist für mich echt uninteressant.«

Was sind das für Kriterien, die der Psychiater in der Therapiestunde mit Oskar durchgesprochen hatte? In der Einleitung wurden sie schon erwähnt. Die amerikanische psychiatrische Klassifikation (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Fifth Edition [DSM-5]) aus dem Jahr 2013 weist die narzisstische Persönlichkeitsstörung mit neun verschiedenen Symptomen aus (siehe Anhang). Die sind international gebräuchlich, praxisnah und phänomenologisch angelegt – also nicht theorielastig – und geben einen sehr guten Überblick.

Da ist einmal (1) ein grandioses Verständnis der eigenen Wichtigkeit, das der Narzisst a priori hat. Er strotzt nur so von Selbstwertgefühl, das keiner Begründung bedarf. Er übertreibt einerseits den Wert seiner Leistungen und Talente und erwartet aber andererseits, auch ohne entsprechende Leistungen als überlegen anerkannt zu werden. Hier haben wir wie gesagt einen deutlichen Unterschied zu Perfektionisten, also den Menschen, die immer auf ihre Leistung Bezug nehmen und sich als Leistungsträger definieren. Herr von D. erfüllt diesen Punkt ohne Zweifel. Allerdings weist er schon auf seine persönliche Leistung hin: Der Kernsatz »Ich bin zwar erst 23 Jahre alt, aber habe schon sehr tiefe philosophische Erkenntnisse – die andere ein Leben lang nicht haben« sagt sehr viel über sein Selbstbild, über das ungeschminkte Phänomen der Selbstidealisierung. Oskar von D. ist ehrlich begeistert von seiner Erkenntnis.

Narzissten sind außerdem (2) stark eingenommen von Fantasien ihres grenzenlosen Erfolgs oder Fantasien ihrer grenzenlosen Macht, Fantasien ihrer grenzenlosen Brillanz, Fantasien ihrer grenzenlosen Schönheit oder Fantasien idealer Liebe. Das offenbaren sie nicht jedem, aber doch kommt das in Gesprächen und im Zusammenleben immer wieder durch. Bei Oskar von D. kann man sich das gut vorstellen, und in der Tat hat er diesen Punkt bestätigt.

Der Narzisst glaubt (3) von sich, »besonders« und einzigartig zu sein, nur von anderen besonderen oder hochgestellten Menschen oder ganz außergewöhnlichen Institutionen verstanden zu werden und ausschließlich mit diesen verkehren zu können. Auch diesen Punkt kann man zwanglos dem Mathematikstudenten zuordnen.

Der Narzisst (4) benötigt exzessive Bewunderung wie die Luft zum Atmen, was auf Herrn von D. explizit zutrifft: Er wünscht sich das von seiner Analytikerin und von seinem Psychiater und reagiert wütend, wenn ihm die Bewunderung nicht zuteilwird.

Der Narzisst legt (5) ein erstaunliches Anspruchsdenken an den Tag. So erwartet er, dass er automatisch eine besonders günstige Behandlung erfährt und andere auf seine Erwartungen selbstverständlich und ohne Diskussion eingehen werden. Das war bei Oskar in dieser Episode nicht wahrnehmbar, würde aber gut zu ihm passen.

Er (6) nutzt andere aus, um seine eigenen Ziele zu erreichen, ist berechnend und in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbeuterisch. Zwar wird er oft hoch gefeiert, da er mit seinem Charisma aus der Ferne glänzt. Er ist aber letztlich menschenverachtend, sieht seine Partnerin oder sonstige Beziehungsperson nur als eine Sprosse und ist nicht zur Selbstlosigkeit fähig, weshalb sich später viele von ihm abwenden. Diesen Punkt hat Oskar verneint.