Frauen und Kinder zuerst - Alina Grabowski - E-Book

Frauen und Kinder zuerst E-Book

Alina Grabowski

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Beschreibung

 Ein totes Mädchen und zehn Frauen, von denen jede einzelne schuldig ist   Nashquitten: ein verschlafenes, etwas heruntergekommenes Küstenstädtchen in Massachusetts. Als Lucy, ein junges Mädchen, am Rande einer Party mit tödlichem Ausgang in einen leeren Pool stürzt, steht das Kleinstadtleben still. Auf den kurzen Moment der Ruhe folgt eine seltsame Betriebsamkeit. Denn das tragische Ereignis wirft die Frage auf, was zuvor hinter den Türen und Gardinen von Nashquitten geschehen ist. Plötzlich stehen die Menschen, die Lucy kannten, in einem neuen, grellen Licht. Und während einige trauernd versuchen, Lucys Tod zu begreifen, beginnen andere fieberhaft, ihre kleinen, dunklen Geheimnisse noch tiefer zu vergraben.  

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Seitenzahl: 486

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Alina Grabowski

Frauen und Kinder zuerst

Roman

Aus dem Englischen von Eva Kemper

Atlantik

»Es heißt nur aus einem Grund ›Frauen und Kinder zuerst‹ – man will sehen, ob die Rettungsboote stark genug sind.«

 

Jean Kerr

VORHER

Jane

Am letzten Samstag im Mai ertrinke ich im Schlaf. Es passiert schnell. Ich stehe am Strand, und als ich ins Wasser schaue, streckt mein Spiegelbild eine zittrige Hand aus und zieht mich hinab. Allerdings ist es weniger ein Ziehen als vielmehr ein wütender Ruck, als wäre mein Arm ein wippender Pferdeschwanz, und plötzlich drückt mich meine eigene Hand von oben in den Sand. Ich will schreien, aber meine Worte lösen sich auf in einen Strom aus Blasen. Ich bin noch nicht so weit, will ich sagen. Aber dann wird alles schwarz.

Ich dachte, in Träumen dürfte man nicht sterben?

Als ich die Augen öffne, sehe ich, dass ich das Fenster neben meinem Bett offen gelassen habe, weil ich manchmal bescheuert bin. Der Regen strömt so heftig herein, dass meine nasse Bettwäsche wie Seetang an meiner Brust klebt, als ich mich aufsetze. Wäre ich nicht wissenschaftlich veranlagt, könnte der Traum mir zusammen mit der Dusche im Bett wie ein schlechtes Omen erscheinen. Aber ich bin eine nicht abergläubische Atheistin, deswegen stört es mich nicht.

Wenn ich das Fenster zumachen will, muss ich mit der Faust laut gegen das Glas schlagen, also schleiche ich zu Moms Zimmer am Ende des Flurs und sehe nach, ob sie noch im Bett liegt. Durch den schmalen Schlitz zwischen der Wand und der Tür sehe ich sie: Sie schläft nicht, aber sie liegt in Unterwäsche auf ihrer Decke und streicht sich mit einem nicht angezündeten Joint aus der Apotheke übers Kinn. In letzter Zeit läuft sie oft halb nackt durchs Haus, was ich nicht besonders toll finde. Sie sagt, ihr wäre heiß, sie würde verglühen, richtig brennen, aber nichts hilft – weder gefrorene Erbsen auf der Stirn noch ein Bad in Eiswasser oder die klebrige Salbe, die ich bei Walgreens gekauft habe und die nach künstlicher Minze riecht. Was ist, wenn das alles nur in meinem Kopf ist?, hat sie eines Tages gefragt, nachdem ein Arzt vorgeschlagen hat, sie soll zweimal täglich Tabletten nehmen, um die Hitzewallungen zu verhindern. Ist es nicht, sagte ich. Aber selbst wenn, dann wäre es immer noch echt.

So leise wie möglich schließe ich die Tür, aber als sie zuklickt, höre ich das Federn der Matratze. »Jane?«, fragt Mom. »Ist etwas passiert?« Da bin ich schon halb in meinem Zimmer, wo der Regen so schnell und heftig hereingeweht wird, dass meine Bettdecke quatscht, als ich mich in der Jogginghose darauf knie und mit einem festen Schlag das Fenster schließe.

Draußen riecht es nach Seetang und Krabbenschalen, was bedeutet, dass die Straße überflutet ist. Der Schneesturm im Januar hat Risse in einen Teil der Ufermauer gesprengt, aber das interessiert niemanden, weil es auf unserer Seite des Strands passiert ist, wo tatsächlich Leute leben, und nicht auf der anderen Seite mit den »Sommerhäusern«. Manchmal wate ich barfuß durch das strömende Wasser und versuche, mit unserem Küchensieb Sanddollars oder Pfeilschwanzkrebse zu fangen (wenn ich sie auf meinem Fensterbrett trockne, kann ich sie den Souvenirläden am Hafen verkaufen), und der ein oder andere Nachbar beobachtet mich von seiner Veranda aus. Dann nickt er aggressiv und sagt etwas wie: »Und das finden die so in Ordnung?«, nur sagt keiner, was er mit die oder das meint.

Es ist früh, sieben Uhr, und es ist noch niemand auf. Unter der Markise mit Fernbedienung, mit der Mom ihr Auto vor den Elementen schützt, weil wir keine richtige Garage haben, sondern nur eine Einfahrt, die wir im Sommer als Terrasse nutzen, setze ich mich auf mein Fahrrad. Ich binde Plastiktüten um den Sattel und meinen Kopf, auch wenn meine Haare blöd aussehen, egal was ich mache, weil ich von irischen Bauern mit dichten Locken abstamme, die zu viel Kohlenhydrate gegessen haben. Als ich gerade auf die Straße fahren will, höre ich, wie unsere Nachbarin die Seitentür öffnet. Sie ist vor sechs Monaten eingezogen, kurz vor dem Schneesturm. Wir haben uns nicht vorgestellt, auch keinen Kuchen vorbeigebracht oder ihr einen Zettel in den Briefkasten geworfen, was wohl heißt, dass wir unfreundlich sind. Sie ist schwanger – war sie von Anfang an –, aber ich habe drüben nie einen Mann gesehen. Heute trägt sie ein Schlafshirt in Übergröße und, soweit ich es erkennen kann, keine Hose. Ihre Beine sind sehnig und sehen aus, als hätte sie ein schmales Becken, das ein Baby nicht so einfach durchlassen wird. Ich werde nie Kinder bekommen, weil ich nicht gern unnötige Schmerzen ertrage.

Sie reibt ihren großen Bauch unter dem großen Shirt und schaut auf die Straße. »Muss was Besonderes sein«, sagt sie, und ich sehe mich tatsächlich um, wer so früh noch auf ihrer Veranda ist, weil sie doch garantiert nicht mit mir spricht.

»Was?«

»Der Junge muss was Besonderes sein, wenn du dich bei dem Unwetter aufs Fahrrad setzt.« Durch den Regen klebt das Shirt an ihrem Bauch, und ich kann ihren nach außen gestülpten Nabel als spitzen Knubbel sehen. Wir schauen einem Stück Holz nach, das die Straße hinuntertreibt, und ich wünschte, ich könnte mich daran festhalten und mich von diesem Gespräch wegziehen lassen. »Was hält deine Mom von ihm?«

»Ich fahre zur Arbeit«, erkläre ich und zupfe am Kragen meines Poloshirts von Village Market.

»Das ist doch schön.« Sie faltet die Hände unter ihrem Bauch, als könnte er ohne ihre Finger als Sicherheitsnetz abfallen. »Angeblich können wir Frauen heutzutage ja alles haben.«

Darauf fällt mir keine Antwort ein, aber das macht nichts, denn sie zieht mit ihrem großen Zeh die Tür auf und schlüpft wieder ins Haus.

 

Niemand ist auf der Straße, abgesehen von magersüchtigen Müttern auf dem Weg zum Fitnesstraining, sonnenverbrannten alten Männern, die zum Jachthafen wollen, und mir. Unsere Nachbarin hat recht damit, dass ich jemand Besonderes sehen werde, aber es ist kein Junge.

Einer der alten Männer fährt sein Fenster herunter, um sich zu unterhalten, als wir an einer Ampel neben den Salzwiesen stehen. Verwilderte Rohrkolben ragen schwer vom Regen in unsere Fahrbahn, und ich muss die Augen zusammenkneifen, damit kein Wasser hineintropft. »Was für ein Junge überlässt denn seine Freundin sich selbst bei diesem Wetter?«, fragt er. Seine Lippen, auf denen kleine Stückchen Kautabak zittern, bewegen sich weiter, als er schon nicht mehr spricht.

Ich versuche, mich an den Ton zu erinnern, den ich früher bei den Angelfreunden meines Vaters angeschlagen habe. »Die Art Junge, die nicht mithalten kann.«

Er lacht sehr darüber und schlägt mit seinen Wurstfingern aufs Lenkrad. Männer lieben es, wenn man sich über andere Männer lustig macht. Sie finden, es sorge dafür, dass »sie nicht übermütig werden«, was sie offenbar nicht allein schaffen.

»Bleib so pfiffig, junge Dame«, sagt er, bevor die Ampel umspringt und er losfährt. Mit kleinen, geröteten Augen beobachtet er mich in seinem Seitenspiegel, und ich strample extra schnell, um ihn zu überholen, einfach, weil ich es kann. Der Wind treibt mir den Regen scharf gegen die Wangen, meine durchnässten Socken klatschen wie tote Fische gegen meine Knöchel, und mir fällt wieder ein, wie sehr ich es früher geliebt habe, schnell zu sein. Wenn ich etwas will, verdränge ich jeden Gedanken daran, dass es unmöglich sein könnte. Dadurch habe ich so viele Rennen gewonnen. Die anderen Mädchen sind auf etwas Dummes wie Hoffnung zugelaufen. Ich lief auf das Unvermeidliche zu.

Die Straße wird zu einer Brücke, die gewölbt über die Bucht führt und dann zum glatten Asphalt der Main Street abfällt, der Straße zwischen den Anlegestellen und den bonbonfarbenen Markisen der Läden. Ich rase im niedrigsten Gang durch den Hafen, über mir kreischen die Möwen, die Läden neben mir verschwimmen, und unter mir spritzt das Wasser aus den Pfützen. Weil ich keine Regenjacke trage, rinnt mir das Wasser unters Shirt und macht meinen BH nass, was sich anfühlt, als hätte ich einen Eisbeutel um die Rippen geschnallt. Warum mache ich das eigentlich?, denke ich, als wüsste ich es nicht längst.

Es regnet noch heftiger, und ich halte den Kopf gesenkt, bis ich die Route 5A erreiche, den einzigen Highway, der durch die Stadt führt. Aus Gründen, die meine Mutter »eindeutig irre« nennt, steht an der Kreuzung mit der Main Street nur ein Stoppschild statt einer Ampel. In der Schule nennen alle sie die Mörderauffahrt, was die Eltern gern erwähnen, wenn wieder einmal jemand stirbt und sie einen Kommentar an den Mariner schicken. Ihre Artikel sind alle gleich: Das Problem mit den Kindern heutzutage, denn wenn man auf der 5A stirbt, war man wahrscheinlich betrunken oder wurde von einem Betrunkenen angefahren, was die Autoren immer wieder zum gleichen Schluss kommen lässt, entweder liegt es an schlechter Erziehung oder an nicht genug Kirche. Ich weiß nicht, warum sie nicht mal einen von uns fragen. Die Antwort ist einfach: Die Welt fühlt sich groß und grenzenlos an, wenn man betrunken in einem schnellen Auto sitzt, und klein und erstickend überall da, wo sie einen im Blick haben.

Am Straßenrand stehen so viele weiße Fähnchen, dass sie von Weitem wie Wildblumen auf einem Feld aussehen. Früher wurde mir immer schlecht, wenn ich an ihnen vorbeifuhr, einmal musste ich mich tatsächlich übergeben – ich bin nicht mal abgestiegen, ich habe nur schneller gestrampelt, den Kopf zur Seite gedreht und den Mund aufgemacht. Aber letztes Jahr gab es irgendeinen Jahrestag zum ersten Fähnchen, und plötzlich fingen die Leute an, sich mit ihnen zu fotografieren. Meistens Kinder aus der Schule, aber auch ein paar Fremde. Es waren so viele, dass sie auf die Straße traten, die Autos ignorierten, die auf die linke Fahrspur ausweichen mussten, und auch mich auf meinem Fahrrad ignorierten, bis ich so nah kam, dass sie Pass auf! riefen. Sie waren beschäftigt. Sie schrieben lange Bildunterschriften über Kindheit und Engel und die Vergänglichkeit des Lebens, sie markierten all ihre Freunde, sie markierten ihre Freunde noch einmal, weil sie jemanden vergessen hatten, sie sahen traurig aus, sie sahen aus, als hätten sie Verstopfung, weil sie nicht wussten, wie man traurig aussieht, sie nahmen sich gegenseitig in den Arm, weil das hier das echte Leben war, weil sie erwachsen wurden, weil sie sich fragten, wie es sein würde, wenn sie starben, ob man sagen würde, sie seien witzig oder nett oder klug oder hübsch oder heiß gewesen. Sie dachten nicht daran, dass niemand irgendetwas über sie sagen würde, zumindest nicht lang. Wenn man sich an einer Stelle fotografiert, an der ein Kind gestorben ist, kommt man nicht zurück und macht es noch mal.

Wenn ich an den Fähnchen vorbeifahre, so wie jetzt, schaue ich nirgendwo anders hin als geradeaus in die Ferne.

Meine Kreuzung kommt schnell näher. Wasser spritzt an meine Waden, als ich mich nach rechts lehne, und dann lasse ich mich den Hügel hinunterrollen zu Sandpiper Coffee Roasters. Das einzige Auto auf ihrem Parkplatz ist ein weißer Jeep mit einem angeknibbelten Aufkleber auf dem Kotflügel, auf dem steht MILF: Mann, ich liebe Frösche. Wegen des zerfetzten Aufklebers weiß ich, dass es Olivia Cushing gehört, weil ich im letzten Herbst gesehen habe, dass ihre Mom, die zufällig unsere Direktorin ist, auf dem Schulparkplatz versucht hat, ihn mit einer Rasierklinge abzukratzen. Ich fahre an dem großen Seitenfenster des Ladens vorbei und entdecke Olivia in der Ecknische, das Gesicht platt auf dem Tisch, die langen Haare umgeben ihren Kopf wie eine dunkle Pfütze. Sie ist ein Tornado – eines dieser Mädchen, die nicht nur sich selbst Probleme einbrocken, sondern allen um sie herum. Ich halte nichts davon, andere Leute in den eigenen Mist mit reinzuziehen.

Weil es keinen Fahrradständer gibt, kette ich mein Rad an einen Telefonmast, wo der Hinterreifen in ein vollgeregnetes Schlagloch eintaucht. Über dem Sandpiper sind auf drei Etagen Wohnungen, vor denen rostige Feuertreppen im Zickzack wie aufeinandergestapelte Zs bis zum Boden führen. Rob wohnt hier, der neue Mathelehrer meiner Schule. Er hat letztes Jahr in Amherst seinen Abschluss gemacht, aber nichtan der UMass-Amherst, wie Direktorin Cushing extra klargestellt hat. Auf der Feuertreppe ist nie jemand, weil vom ersten Absatz offenbar dauerhaft ein Schild herunterhängt, auf dem VORSICHT REPARATURARBEITEN steht.

Auf vom Regen rutschigen Stufen laufe ich die Treppe so schnell hinauf, dass sie unter mir schwankt wie ein Bootsanleger. Früher war ich Kurzstreckenläuferin, aber dann wurde ich eines Morgens wach und verstand nicht, warum ich meinen Wecker immer auf fünf Uhr stellte, nur um zu versuchen, schneller im Kreis zu laufen als die anderen dünnen weißen Mädchen, die ein Erfolgserlebnis brauchten. Das Leben ist zu kurz für sinnlose Erfahrungen, habe ich unserer Teamkapitänin gesagt, was im Rückblick vielleicht etwas zu direkt war. Herrje, sagte sie. Die werden dich da draußen fertigmachen, Jane.

Ich habe immer noch keine Ahnung, was sie damit meinte.

Robs Wohnung ist im dritten Stock, dem obersten des Gebäudes. Es ist beängstigend, so weit oben zu sein nur mit einem dünnen Metallgeländer hinter sich, aber ein bisschen Nervenkitzel mag ich. So war ich schon als Kind – ich habe die Zehen über den Rand des Bahnsteigs geschoben, mich über Felsvorsprünge gebeugt, solche Sachen. Es gibt einem ein Gefühl von Macht, so kurz vor einer schlechten Entscheidung zu stehen und sie dann nicht zu treffen.

Rob taucht gleich auf, als ich an sein Fenster klopfe. Seine Haare liegen heute gut, was sie öfter tun, seit ich ihm erklärt habe, dass man seine Locken nicht bürsten soll, sondern nur mit den Fingern kämmen, damit sie ihre Form bewahren. Er streckt mir seine Hand entgegen, aber statt sie zu ergreifen, schiebe ich ungelenk ein Bein durchs Fenster und recke die Zehen, bis sie den Boden berühren. »Mein Gott, bist du nass«, sagt er, als ich endlich ins Zimmer stolpere. Er beugt sich über meine Schulter, um den Kopf aus dem Fenster zu strecken. »Ich wusste gar nicht, dass es regnet.«

»Du Glücklicher.« Ich binde meine Schuhe auf, bringe sie ins Bad und lehne sie kopfüber an die Heizung. Meine Socken hänge ich auf die Stange des Duschvorhangs, wo von ihren Spitzen Wasser in die Wanne tropft. Er hat weder Waschmaschine noch Trockner hier, es gibt nur Gemeinschaftsgeräte im Keller, die alle im Haus benutzen. Ich knote die Plastiktüte auf, die während der Fahrt von meinem Kopf auf meine Schultern gerutscht ist wie der traurigste Schal der Welt. »Du hast keinen Fön, oder?«

Er bringt mir Kaffee in einem der Pappbecher von Starbucks, die er neben seiner Mikrowelle aufbewahrt. Spülen kann er nicht ausstehen. »Leider nein. Ich könnte dir aber einen besorgen, wenn du willst.« Er kommt ins Bad und öffnet das Schränkchen unter dem Waschbecken, als könnte sich da ein Fön verstecken. Tut er nicht.

Ich bereue es unglaublich, dass ich Rob erzählt habe, wir hätten kein Geld. Wahrscheinlich stellt er sich vor, wir würden im Keller der Episkopalkirche leben, wo sie die Suppenküche und den Spritzentausch betreiben. »Ich habe einen Fön«, stelle ich klar. »Nur hier nicht.«

»Sei nicht beleidigt«, sagt er, dabei bin ich nicht beleidigt, ich rede nur. Beleidigend ist höchstens die Aufmachung, die er für die Nachhilfe trägt, ein derart zerknittertes grünes Shirt, dass es wie eine Erbse aussieht, die zu lange in der Mikrowelle war. Er hat schöne Arme, weil er im College gerudert ist, aber seine langen Ärmel verbergen sie komplett. Für mich ist es wahrscheinlich besser, wenn er schlunzig aussieht. Rob gibt Nachhilfe bei Große Erwartungen, in dem Einkaufszentrum gegenüber vom Village Market, wo ich arbeite. Ich werde richtig eifersüchtig, wenn ich mir vorstelle, wie er Bethany oder Amy oder wem auch immer gegenübersitzt und sie daran erinnert, ihre Brüche zu kürzen, beide Seiten zu multiplizieren, die Lösung zu überschlagen. Es ist sexy, wenn jemand Sachen erklärt, die man nicht versteht.

Ich rieche, dass etwas anbrennt. Er isst seinen Toast so schwarz, dass seine Zunge davon dunkel wird, und er hört nie, wenn ich ihm sage, dass man von verbranntem Essen Krebs kriegt. »Willst du Frühstück machen oder Brandstiftung begehen?«, frage ich.

Er knallt die Tür zu, im Schränkchen fällt etwas um, das ich nicht sehen kann. »Willst du mir sagen, dass mein Toast fertig ist, oder bloß ein Arschloch sein?«

»Herrje, das war ein Witz.« Ich konzentriere mich darauf, ein loses Stückchen von meinem Fingernagel abzuknibbeln, damit ich ihn nicht ansehen muss. Bei Blickkontakt werden seine Launen oft schlimmer.

»Tut mir leid, wenn ich das Leben nicht als einen großen beschissenen Witz betrachte.«

Er stampft aus dem Bad, damit ich auch ja weiß, dass er wütend ist. Ich versuche, es mir nicht zu Herzen zu nehmen. Für einen Lehrer ist Rob echt sensibel.

Von der nassen Kleidung wird meine Haut kalt und juckt, deshalb ziehe ich meine Arbeitsuniform und die Unterwäsche aus und hänge sie über den Rand des Waschbeckens, wohin ein Sonnenstrahl durchs Fenster fällt. Ich sehe hässlich aus im Spiegel. Mein Körper ist ein langes Rechteck, weder Hüften noch Brust, nur über Knochen gespannte Haut, aber nicht wie bei einem Model, sondern wie bei einem unterernährten Teenager, der jeden Ego-Shooter durchgespielt hat. Ich frage mich, ob ich hier wäre, wenn ich hübsch wäre. Es ist schwerer, etwas zu verstecken, das alle wollen.

Im Badezimmerschrank, unter einem Regal mit Bodyspray und Salben vom Arzt, finde ich ein Handtuch. Es ist dünn und schlammfarben und riecht muffig, aber wenigstens kann ich mir etwas Trockenes um die Brust wickeln. Ich halte es mit einer Hand zusammen und nehme mit der anderen den Kaffee.

Rob ist immer noch in der Küche, obwohl er den Toast nur mit Butter bestreichen und auf einen Teller legen muss.

»Alles in Ordnung?«, rufe ich den Flur hinunter.

»Alles gut. Warum sollte nicht alles gut sein?«, ruft er zurück.

Wenn er meint. Ich gehe in sein Schlafzimmer, setze mich auf die Bettkante und stütze den Kaffeebecher auf meinem nackten Knie ab, damit ich seine Hitze durch den Pappboden spüren kann. Rob kommt mit seinem Toast auf einem Teller nach, in seinem Kragen steckt eine Serviette wie bei einem kleinen Kind. An der Tür bleibt er stehen. »Was hast du da an?«, fragt er.

»Ein Handtuch.«

»Klugscheißer«, sagt er, aber jetzt lächelt er. Unsere Blicke treffen sich, und ich schaue nicht weg, obwohl mir eigentlich nicht ganz wohl dabei ist. Bei Rob ist alles ein Experiment. Ich lerne, was mir gefällt und was nicht, und ich kann sicher sein, dass er im Gegensatz zu den Jungs in der Schule keinem Menschen etwas davon erzählt.

»Liebst du mich?«, frage ich. Nicht, weil ich glaube, er würde Ja sagen. Sondern weil ich hören will, was er stattdessen sagt.

Sein Gesichtsausdruck verändert sich. Er schmeißt seinen Teller auf die Kommode und zieht mit dem Rücken zu mir die Schubladen auf. »Hier.« Mit dem Gesicht immer noch zur Wand wirft er ein Flanellhemd und Boxershorts aufs Bett. »Zieh das an.«

»Ich habe dich was gefragt.« Die Knöpfe an seinem Hemd sind auf der anderen Seite, es ist nicht einfach, sie zu schließen. Die Boxershorts kann ich leichter anziehen, aber sie sind nicht so weich, wie ich gedacht habe – der steife Stoff erinnert mich an ein Krankenhaushemd.

Die Sehnen unter seinen Ellbogen spannen sich an, als er die Fäuste ballt. »Spiel nicht mit mir, Jane.«

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

Er dreht sich um und atmet so schwer durch die Nase aus, dass ich den Luftzug im Nacken spüre. »Das ist nicht die Highschool. Das hier ist das echte Leben.« Dazu sage ich nichts. Er kniet sich vor mich und nimmt mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. »In Ordnung?«

»In Ordnung«, sage ich. Ein Tropfen fällt von meinen Haaren auf sein Handgelenk. Als ich spreche, spüre ich den Druck seiner Finger am Kiefer.

Er legt seinen Daumen auf meine Lippen, und ich öffne den Mund. Seine Haut schmeckt salzig. Ich könnte zubeißen.

Wir wissen beide, dass ich es nicht tun werde.

 

Als ich auf den Parkplatz vom Market einbiege, ist er leer bis auf zwei schief geparkte Autos und eine Schar zeternder Seemöwen. Der Regen hat endlich nachgelassen, ich stelle mich auf die Pedale und hebe das Gesicht der schwachen Sonne entgegen. Am Ende hat Rob meine Kleidung in den Wäschekeller gebracht und sie getrocknet, jetzt liegt mein Kragen noch warm an meinem Hals und riecht nach Jasmin von den Trocknertüchern, die er in Großpackungen kauft und in seiner Wohnung verteilt, um die Mäuse fernzuhalten. Manchmal vergesse ich, wie glücklich einen Kleinigkeiten machen können.

Mitarbeiter nehmen den Hintereingang neben der Betonrampe, an der die Lieferwagen ausladen. Ich kette mein Fahrrad an das verrostete Gatter für die Einkaufswagen neben dem Müllcontainer, noch aus der Zeit, als der Market ein inhabergeführtes Geschäft mit Apotheke war und halb so groß wie heute. Ich habe gehört, dass die ursprünglichen Besitzer verkauft haben, nachdem ihr Sohn in der Spätschicht eine Überdosis genommen hat – sie haben ihn im Kühlraum neben den Kisten mit dem abgepackten Fleisch gefunden. Ob das mit der Überdosis stimmt, kann ich nicht sagen. Ich weiß nicht mehr, wer mir die Geschichte erzählt hat oder was er damit bei mir auslösen wollte.

Ich gehe hinein und sehe im Hinterzimmer Erics Fleecejacke an der Garderobe. Wenn ich so etwas wie einen Feind habe, ist er es, weil er zu groß ist und schlecht arbeitet. Ich überlege kurz, ihm die alten Twinkies aus dem Wagen mit den abgelaufenen Lebensmitteln in die Taschen zu stopfen, bevor ich meine Stempelkarte durch den Schlitz im Plastikkasten an der Wand ziehe.

»Hallo, Stolperfalle«, sagt Eric, als ich durch die Schwingtür den Feinkostladen betrete. So nennt er mich, seit ich die Fliesen vor der Käsetheke gewischt habe und eine Frau in mittleren Jahren ins Rutschen gekommen ist wie auf einer Eisfläche. Ihr ist nichts passiert, sie hat sich beim Sturz nur das Handgelenk geprellt (und dabei hatte ich nicht nur ein VORSICHT-NASS-Schild aufgestellt, sondern gleich zwei), aber unser Filialleiter Ricky hat trotzdem eine richtige Panikattacke bekommen.

Ich sage nicht mal Hallo, ich gehe einfach zur Spüle und wasche mir die Hände. Eric ist auch im zweiten Highschooljahr, aber er geht zur Beacon Prep, an die man geschickt wird, wenn man reich, männlich und von öffentlichen Schulen eingeschüchtert ist. Er arbeitet nur hier im Laden, weil sein Vater im Ort einen Hummerhandel besitzt und will, dass Eric das Geschäft »von der Pike auf« lernt. Sein Vater bildet sich etwas darauf ein, dass er ein Selfmademan ist, was offenbar heißt, ein Geschäft zu besitzen, das seit Jahrzehnten von Vater zu Sohn vererbt wird. Als ich Eric gefragt habe, warum er nicht für seinen Vater arbeitet, hat er die Nase gerümpft und gefragt, ob ich schon mal ein Hummerboot gerochen hätte.

»Hast du nach der Temperatur von den Sandwiches geguckt?«, frage ich.

»Nein.«

»Hast du die Sandwiches überhaupt rausgeholt?«

Er lehnt sich gegen die Zutatentheke, öffnet eine Schachtel mit Gummihandschuhen und dehnt einen, bis er reißt. »Nein.«

»Hast du irgendwas gemacht?«

»Jedes Mal dieselben Fragen.« Er schnalzt mit der Zunge. »Du bist total berechenbar, weißt du das?«

Ich nehme ein Tuch aus dem Schrank über der Theke, gehe herum und wische sie von der Kundenseite ab. Als ich verschmierten, eingetrockneten Krautsalat wegreiben will, fällt ein Schatten auf das ausgestellte Fleisch in der Theke.

»Eric?«, fragt unser Filialleiter. Noch in der Hocke drehe ich mich um. Ricky reibt sich so fest die Hände, dass kleine Stückchen gerollter Haut auf das gesprenkelte Linoleum rieseln. Vor Kurzem hat er uns erzählt, dass er angefangen hat, Prozac zu nehmen, aber nicht glaubt, dass es wirkt.

Ich widme mich wieder dem Krautsalat. Durch die von Fingerabdrücken verschmierte Abdeckung kann ich Eric von der Hüfte abwärts sehen: glänzender Ledergürtel und ausgebeulte Taschen mit einem Vape Pen und dem Schlüssel vom Mercedes seiner Mom. »Was?«, fragt er.

»Ich würde gern unter vier Augen mit dir sprechen.«

Seine Khakihose knittert am Oberschenkel, als Eric einen Schritt nach vorn macht. »Kriege ich jetzt Ärger? Ich wollte gerade die Sandwiches rauslegen.«

»Nein, nein, nichts dergleichen. Geh schon mal vor in mein Büro.«

Erics Hände über dem eingeschweißten glasierten Schinken zittern. Die Truhe ist von meinem Atem beschlagen, und ich wische sie mit dem Ellbogen sauber. Auf der anderen Seite ballt er die Hand zur Faust, nur den Mittelfinger hält er gerade und tippt damit einmal gegen das Glas, direkt über meiner Nase.

»Na bitte«, sagt Ricky, als Eric den Feinkostbereich verlässt. Dann wendet er seine Aufmerksamkeit mir zu. Meine Knie knacken, als ich aufstehe. Ricky sieht sich zu allen Seiten um, als wollte er mir etwas Verbotenes erzählen. »Eric kommt heute nicht zurück, in Ordnung?«

»Feuerst du ihn?« Als ich mir das vorstelle, verspüre ich das gleiche kribbelige, befriedigende Gefühl wie früher, wenn ich beim Rennen ein anderes Mädchen überholt habe.

Ricky wirkt entsetzt, aber das passiert schnell. »Nein, nein. Es ist was rein Persönliches.«

»Ist alles in Ordnung?«

Aus den Lautsprechern kommt »You’re So Vain«. Ricky hebt den Kopf und hält eine Hand hoch, als wollte er bei seinem Leben schwören. Er liebt es, mehr zu wissen als andere. »Das kann ich wirklich nicht sagen.«

 

Nach der Arbeit fahre ich mit dem Rad zum Strand und rauche bei den Gezeitentümpeln. Hier ist einer der wenigen Orte, an denen ich ungestört allein sein kann. Früher bin ich in die Bibliothek gegangen, aber dann ist mir eines Abends eine Frau gefolgt, als ich mein Fahrrad holen wollte. Ich habe das Klatschen ihrer Flipflops auf dem Gehweg gehört, als ich mich hinkniete, um mein Schloss zu öffnen, und dann ihren feuchten Atem hinter mir. Du solltest im Dunkeln nicht allein draußen sein, sagte sie, als ich aufschaute. Ihr Pferdeschwanz war so straff gebunden, dass es aussah, als würde ein Teil ihrer Stirn mit nach hinten gezogen.

Bin ich ständig, sagte ich.

Und was hält deine Mutter davon? Ein Windstoß fuhr über den Parkplatz, und sie steckte die Hände in die Kängurutasche ihres roten Sweatshirts. Auf der Brust stand in hässlichen Blockbuchstaben Vorstand Elternausschuss.

Ihr ist das egal, antwortete ich ihr.

Vielleicht sagt sie, dass es ihr egal ist, aber das ist es nicht.

Doch, wirklich. Es ist ihr egal. Ich stellte die richtige Kombination ein, und das Schloss öffnete sich. Kann ich jetzt gehen?

Du erinnerst mich an meine Tochter. Die Frau bewegte die Hände in der Tasche – es sah aus, als würde sich ein Eichhörnchen darin winden. Sie findet, dass ich schlechte Ratschläge gebe.

Ich kenne Ihre Tochter nicht. Ich schwang ein Bein über den Sattel und stand da, die Fersen vom Boden gehoben.

Nein, sagte die Frau und schaute über meine Schulter. Wahrscheinlich nicht. Dann starrte sie zum Mond hinauf, der als verschwommene Sichel über den Bäumen hing, und ich radelte los. Pass auf, dass dir nichts passiert, rief sie mir nach, als könnte ich das kontrollieren oder als könnte sie das, indem sie es sagte.

Ich ziehe meine Turnschuhe und Socken aus, tauche die Zehen ins Wasser und beschreibe im sandigen Tümpel Kreise, bis ein Strudel entsteht. Die Oberfläche des wirbelnden Wassers, in dem sich der Rauch meiner Zigarette spiegelt, erinnert mich an das marmorierte Papier, das wir in der Grundschule im Kunstunterricht gemacht haben. Früher habe ich vor dem Training geraucht, ich habe mich hinter dem Footballschuppen versteckt und so viele Parliaments gequalmt, wie ich konnte, bevor jemand nach mir suchte. Nach ein paar Zigaretten bin ich schneller gelaufen – das war einfach so. Wenn ich danach leicht benommen und mit enger Brust meine Runden auf der Bahn drehte, stellte ich mir vor, wie mein Körper sich von innen heraus reinigte, er verbrannte, damit ich ihn wieder aufbauen konnte. Wenn ich schnell genug rannte, würde alles verglühen. Was hieß, dass ich neu sein konnte.

Ich bleibe nicht lange bei den Gezeitentümpeln. In einem der vermieteten Häuser am Strand feiert jemand Hochzeit, und beschwert sich lautstark über den Sand und den Geruch. Als ich an ihrer Veranda vorbeigehe, sehe ich, wie sich der Netzstoff des Rocks zwischen den Holzpfosten hindurchschiebt, und höre sie fragen, warum hier draußen irgend so ein Mädchen ihre Fotos ruiniert – weiß es nicht, dass hier quasi ein Privatgrundstück ist?

Auf dem Heimweg fahre ich durchs Drive-in der Apotheke und hole Moms Medizin. Wie jedes Mal beim Bezahlen halte ich den Atem an, weil ich immer noch Dads Karte benutze, die ich ihm letztes Jahr aus dem Portemonnaie geklaut habe, als er anfing, davon zu reden, in den Westen zu ziehen. Zu der Zeit hat er Mom auch gesagt, er hätte so viel Geld auf seinem medizinischen Sparkonto, dass sie sich überhaupt keine Sorgen machen müsste, solange er weg ist. Das ist ihre Schwachstelle. Wenn ihr jemand sagt, er hätte etwas Gutes getan, will sie ihm nur zu gern glauben.

Natürlich weiß er, dass ich die Karte habe, immerhin bezahle ich damit jeden Monat zwischen fünfhundert und tausend Dollar für Medikamente. Eine Möglichkeit ist, dass er aus schlechtem Gewissen nicht anruft und danach fragt, weil er sich kein einziges Mal bei uns gemeldet hat, seit er gegangen ist. Die andere Möglichkeit ist, dass er glaubt, er könnte das Geld irgendwann zurückzahlen, solche Sachen macht er sich nämlich vor. Höchstwahrscheinlich ist es eine Kombination aus beidem. Seine Schwachstelle ist sein Glaube, er könnte sich verändern, trotz überwältigender Beweise für das Gegenteil.

Als ich nach Hause komme, liegt Mom bei geschlossener Jalousie und ausgeschaltetem Licht in meinem Bett und liest eine Zeitschrift. Sie ist high, das weiß ich, weil sie nur dann ohne Erlaubnis in mein Zimmer geht. Normalerweise hält sie sich daran, zu fragen. Ich schalte das Licht ein.

»Ich sehe, du hast meine Giftmischung mitgebracht«, sagt sie und zeigt auf die Papiertüte mit ihren Tablettenröhrchen. »Wo warst du noch?«

Ich schleudere meine Turnschuhe von den Füßen, und sie prallen mit einem leisen, dumpfen Geräusch von der Wand ab. »Arbeit.«

»Arbeit, Arbeit, Arbeit.« Sie singt es leise, als wäre es eine Zeile aus einem Musical. »Du arbeitest zu viel, Schätzchen.«

»Ich arbeite gerade genug.« Auf ihrem Schoß steht ein Pappteller mit einem aufgewärmten Stück der Pizza, die wir letzte Woche bestellt haben, unter der Kruste hat sich orangefarbenes Öl gesammelt. »Schmier das bitte nicht auf meine Bettdecke.«

Sie reißt Mund und Augen auf und macht aus ihrem ganzen Gesicht ein erschrockenes O. Wenn sie bekifft ist, benimmt sie sich wie eine Pantomimin. »Das würde ich doch nie machen. Immerhin muss ich die Sachen ja auch waschen.« Sie hebt die Pizza an den Mund und beißt ab. Ihre Mundwinkel glänzen vom Fett, auf ihrem Kragen liegen Krümel. »Was hast du nach der Arbeit gemacht? Hattest du nicht um vier Feierabend?«

»Ich war in der Bibliothek.« Ich krabble neben ihr unter die Bettdecke. »Und was hast du so gemacht?«

»Ach, das Übliche.«

»Ist es schlimm?« Ich drehe mich auf die Seite und sehe sie an. Tagsüber raucht sie nur, wenn sie sich vor Schmerzen selbst das Becken brechen und ihr Gehirn durch die Ohren rausschütteln will. So beschreibt sie es, wenn sie witzig sein will. Wenn sie nicht witzig sein kann, macht sie die Badezimmertür hinter sich zu, legt sich nackt in die leere Wanne und lässt sich heißes Wasser über den Kopf und die Papierklammern laufen, die sie sich an den weichen Teil ihres Unterbauchs gesteckt hat. Akupunktur Marke Eigenbau.

»Hast du was gegessen?«, fragt sie.

»Brauchst du Advil?« Rezepte für Percocet oder OxyContin bekommt man nicht mehr so leicht, zumindest nicht in dieser Gegend. Und Moms Schmerzen haben keinen Auslöser, sagen die Ärzte, womit sie es sich bequem machen, weil Mom jedes Mal auf dieselben Stellen unter ihrem Nabel und am Hinterkopf zeigt, wenn sie gefragt wird. Was bedeutet, dass die Ärzte keinen Beweis für einen Auslöser sehen, weil man als Arzt offenbar alles anzweifelt, was ein Patient sagt, bis es durch einen Scan oder einen Test bewiesen ist.

»Ich kann dir ein Sandwich machen.« Sie isst die restliche Pizza und stellt den Teller auf den Teppich. »Das war das letzte Stück.«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Du musst was essen.«

»Werde ich schon.«

Sie schnalzt mit der Zunge.

»Später, Mom.« Ich schließe die Augen und drücke meine Daumen auf die Lider, bis ich knallrot sehe. »Lass mich einen Moment lang einfach hier liegen.«

Seufzend hebt sie ihre Zeitschrift auf, aber ich höre nicht, dass sie umblättert. Sie sieht mich an. »Meine süße, kleine Jane«, sagt sie leise. »Wann bist du so alt geworden?«

Dasselbe hat Dad gesagt, als er mich im März beim Training überrascht hat. Ich hatte gerade den Reißverschluss meiner Sporttasche zugezogen, da entdeckte ich ihn hinter dem Maschendrahtzaun, wo er mit Pusteblumen spielte, die er aus dem Boden gerissen hatte. Zum Glück redeten alle über den Abschlussball, deshalb achtete niemand auf mich, als ich ihnen zum Abschied winkte und zu ihm lief. Du siehst aus wie ein Pädophiler, sagte ich.

Ich freue mich auch, dich zu sehen.

Warst du zu Hause?

Nein, war er nicht, sagte sein Gesichtsausdruck, und nein, würde er auch nicht. Wie geht es deiner Mom?

Sie zählt die Tage, bis du zurückkommst, sagte ich, obwohl das nicht stimmte.

Im September, antwortete er. Das habe ich dir schon gesagt. Ich bin wieder da, bevor dein letztes Schuljahr anfängt.

Ja, klar.

Sag das nicht so.

Wir hielten uns beide an den Metallrauten des Zauns fest, den die Sonne auf etwa zweihundert Grad aufgeheizt hatte. Ich schloss mit mir die Wette ab, dass er eher loslassen würde als ich. Wie geht’s dem Nilpferd?

Nenn ihn nicht so, Jane.

Das ist mein Spitzname für Dads Bruder John, weil er ein echtes Großmaul ist. Dad ist überhaupt nur nach San Diego gezogen, um ihm zu helfen, irgendwelche Sicherheitssysteme zu verkaufen – John meinte, wegen des warmen Wetters und des »aktiven Lebensstils an der Westküste« gäbe es eine Menge schöner Tage, an denen Diebe in Häuser einbrechen, während die Bewohner unterwegs sind und surfen oder so.

Ich versuche, das Richtige zu machen, sagte er. Er ließ die Hand vom Zaun fallen.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass sich meine Teamkolleginnen umdrehten und zu uns herübersahen. Ich winkte ihnen mit ausladenden Bewegungen zu, so wie sie winkten, wenn ihre Freunde sie abholten, als wäre ich ein normales, fröhliches Mädchen ohne Probleme und mit einem optimistischen Blick auf meine Zukunft. Sie unterhielten sich weiter.

Hör mal. Ich spürte, wie die Sonne durch die Löcher in meinem Trikot drang und mir auf den Schultern brannte. Es geht mir langsam wirklich auf den Sack, dass du dich ständig beweisen musst.

Er sagte, das würde ich schon noch verstehen, wenn ich später eine eigene Familie hätte, um die ich mich kümmern muss.

Ich habe jetzt schon eine Familie, um die ich mich kümmern muss, sagte ich.

Darauf hat er mich dann gefragt, wann ich so alt geworden wäre, und auch, ob er mich nach Hause fahren könnte. Kann er, habe ich gesagt, denn hätte ich mich von einer der anderen Sportlerinnen mitnehmen lassen, hätte ich über blödsinnige Sachen reden müssen, zum Beispiel, ob Blasen als Sex zählt.

Ich bin bald wieder da, hat er gesagt, als er mich abgesetzt hat. Versprochen.

Er hat immer Versprechungen gemacht. Ich stand am Straßenrand und sah ihm nach, als er rückwärts auf die Straße setzte und losfuhr, weil er wissen sollte, dass ich ihm nachsah und dass ich nicht vergessen würde, was er gesagt hatte, auch, wenn er es sich einredete.

»Ich bin erst sechzehn«, sage ich zu Mom.

»Ich habe mich nie so alt gefühlt wie mit sechzehn.« Sie zieht die Decke bis zur Brust und rückt mit dem Kopf auf meinem Kissen so nah, dass sich unsere Nasen berühren. Ihr fallen die Augen zu.

»Soll ich das Licht ausmachen?«

»Ich kann nicht schlafen, wenn du nichts gegessen hast.«

»Ich gehe jetzt. Gibst du mir deinen Teller?« Beim Rausgehen schaue ich aufs Handy – halb acht. »Gute Nacht, Mom.«

»Gute Nacht, Schätzchen.« Ich schalte das Licht aus, und das Zimmer wird grau. Sie dreht sich auf den Bauch, ihre knochigen Schultern ragen unter den Laken auf wie Berggipfel. Plötzlich vermisse ich sie, obwohl sie doch direkt vor mir liegt.

Ich mache mir in der Küche ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade und gehe raus, um es im Vorgarten zu essen. Ein paar Straßen weiter feiern die Sommerleute eine Party, wahrscheinlich um die Saison einzuläuten. Sie nutzen unsere Straße mit zum Parken, wenn sie feiern – manchmal stecken sie uns sogar eine Warnung in den Briefkasten: Hallo Nachbarn, heute Abend könnte es ein bisschen laut werden! Jemand hat unsere Auffahrt mit einem weißen BMW blockiert, und ich gehe hin und drücke die Stirn gegen das Beifahrerfenster. In der Kunststoffablage hinter dem Schaltknüppel liegen teuer aussehende Lippenstifte. Ich versuche, die Tür zu öffnen, um zu sehen, ob sie wirklich so dumm sind, wie ich glaube, und sie schwingt lautlos gegen meine Hüfte. Ich beuge mich hinein, nehme einen der Lippenstifte und ziehe die goldene Kappe ab. Der wächserne Stift ist violett, wie die Trockenpflaumen, die wir im Market in großen Kisten verkaufen. Ich überlege, was ich schreiben könnte, etwas, das einem ewig nachhängt, eine Mischung aus Gemeinheit und Wahrheit mit Langzeitwirkung, wie damals, als meine Cousine meinte, ich wäre gar nicht so schlau, ich könnte den Leuten nur gut das Gefühl geben, dass sie etwas Dummes gesagt hatten. Aber am Ende schreibe ich nur HAUT AB in großen Blockbuchstaben auf die Motorhaube. Ich werfe den offenen Lippenstift auf den Sitz und hoffe, er schmilzt und verschmiert das Leder.

Als ich meinen Teller nehme und wieder ins Haus gehen will, wird der Partylärm lauter. Ich kann weder das Haus noch die Leute sehen, aber ich höre Gelächter und Gläserklirren. Ihre Musik dröhnt durch unser Viertel und übertönt die Wellen und den Wind.

 

Für den nächsten Tag sind Rob und ich verabredet, zum Strand in Rockpoint zu fahren, einer Stadt eine Stunde entfernt, in der uns niemand kennt. Ich warte in meinem Strandkleid am Fuß der Feuertreppe, in der Hand einen Picknickkorb mit Gurkensandwiches und einem Einmachglas mit selbst gemachter Limonade. Ich bin aufgeregt und gleichzeitig verlegen, wie jedes Mal, wenn ich mir bei irgendwas Mühe gebe. Die Gurkensandwiches sind vielleicht zu viel. Die Idee habe ich aus der Martha-Steward-Zeitschrift, die ich aus dem Laden geklaut habe und in der stand, »Tee-Sandwiches« wären das ideale Essen für den Strand.

Wir haben zwölf Uhr ausgemacht, aber ich warte eine Viertelstunde, und Rob taucht nicht auf. Dabei ist Rob immer pünktlich.

Ich lasse den Picknickkorb und mein Fahrrad auf dem Rasen zurück, steige zu seinem Fenster hoch und klopfe zweimal. Er kommt langsam ins Zimmer und zieht das Fenster und den Fliegengitterrahmen hoch, als würden sie fünf Millionen Pfund wiegen. »Bist du sauer auf mich?«, frage ich ihn durch den leeren Rahmen.

»Warum sollte ich sauer sein?«, fragt er von drinnen.

»Weiß ich nicht. Deshalb frage ich ja.«

Ich warte darauf, dass er sagt, er sei nicht sauer, dass er irgendetwas macht, um mich aufzumuntern, zum Beispiel sagt, ich sei schön. Mir hat noch nie jemand gesagt, ich sei schön. Mom hätte das vielleicht tun können, aber sie findet, das würde Mädchen die falschen Werte vermitteln, deshalb sagt sie mir lieber, ich sei scharfsinnig und zäh. Wer will denn scharfsinnig und zäh sein?

Rob sagt mir nicht, ich wäre schön. »Brauchst du was?«, fragt er stattdessen, und in keiner Welt würde ich zulassen, dass ich Ja sage.

Ein Windstoß durch den Gitterrost der Feuertreppe weht meinen Rock hoch, und ich streiche ihn mit den Händen nach unten. »Fahren wir noch zum Strand?«

»Scheiße.« Er schlägt mit den Fingerknöcheln gegen den Fensterrahmen.

»Du hast es vergessen.«

»Ich hatte zu tun.«

»Es ist Sonntag.«

Er saugt die Lippen ein, als ich das sage. Es zischt leicht, als würde Luft aus einem Ballon entweichen. »Verarschst du mich?« Ich habe keine Ahnung, wovon er redet, und sage es ihm. »Deine Freundinnen haben nichts gesagt?« Er schaut über meine Schulter, als könnte eine von ihnen unten stehen.

»Welche Freundinnen?«, frage ich, weil ich weiß, dass er Mitleid mit mir bekommt, und ich nicht zu den Leuten gehöre, die es hassen, bemitleidet zu werden. Mitleid ist eine der besten Möglichkeiten zu bekommen, was man will. Und ich will an den Strand.

Aber er hört nicht zu. Sein Blick geht an mir vorbei. »Jane?«

»Ja?«

»Du solltest echt dein Fahrrad abschließen.«

 

Sein Auto roch nach künstlichem Lavendel und abgestandenem Kaffee, und sein Rücksitz war mit zusammengedrückten Cola-Light-Dosen übersät. Ich überlegte, ob es ihn weniger anziehend machte, dass er so viel Cola Light trank, weil es mich an die Lyrikmädchen erinnerte, die sich zu Halloween als Sylvia Plath verkleideten und irgendwelche Kräuter in ihre selbstgedrehten Zigaretten krümelten. Tat es nicht, beschloss ich am Ende. Weil es etwas war, das nur ich über ihn wusste und niemand sonst.

Er fragte, ob es mir etwas ausmachen würde, wenn er unterwegs anhielt und tankte. Er fuhr mich nach Hause nach Kid2Kid, der Nachhilfegruppe der Mittelschule, bei der ich seit meinem ersten Highschooljahr mitmachte und deren Studienberater er seit Kurzem war. Ich hatte gewartet, bis alle anderen gegangen waren, bis nur noch wir zwei am Straßenrand saßen, und sagte ihm, meine Mom würde nicht auf meine Nachrichten reagieren. Er legte einen Finger an die Lippen und kniff die Augen zusammen, deshalb dachte ich, er würde mich gleich nach meinem Notfallkontakt fragen, oder ob einer meiner Nachbarn zu Hause sei. Aber dann sagte er, er könnte mich fahren, das wäre überhaupt kein Problem.

Während er an der Zapfsäule stand, steckte ich eine der Coladosen in meinen Rucksack. Erst später, als ich mir den Tag im Bett noch einmal vorerzählte, wurde mir klar, dass das nicht normal war. Mir fehlt dieses angeborene Gespür, das die meisten Menschen haben, diese Intuition, was akzeptabel ist und was nicht.

Im Bett nahm ich die Dose aus meiner Tasche und drückte sie an meine Lippen, bis sie gegen meine Schneidezähne klackte. Ich schloss die Augen und sah vor mir, wie sein langer, spitzer Finger die Lasche zurückzog, wie sich seine Lippen öffneten und an dem Metallrand saugten. Ich dachte, die Dose würde nach ihm schmecken, aber das tat sie nicht. Stattdessen schmeckte sie metallisch, wie ein Penny oder wie Blut.

Von diesem Tag an fuhr er mich immer nach Hause. Wir sprachen nicht darüber. Wir wussten es einfach beide.

Ende April küssten wir uns zum ersten Mal. Der Himmel war den ganzen Tag dunkel gewesen, jetzt rannen Regentropfen an seiner Windschutzscheibe hinab wie Schweißperlen. Warte mal, sagte ich kurz vor der Einfahrt zu Opal Point. Halt hier an.

Er parkte zwischen verblassten Linien bei der Betontreppe am Strand. Ich liebe das Meer, wenn es stürmt. Wir lehnten uns an die Ufermauer, die nach Jahren mit Hurricans und Schneestürmen und Hochwasser spröde und verwittert war, und beobachteten die Schaumkronen, die aussahen wie zu schnell eingegossene Limonade. Einen Moment lang dachte ich, das Aufflackern des Leuchtturms wäre ein entfernter Blitz, eine Möwe, die durch den Lichtschein flog. Dann donnerte es, und der Regen wurde stärker. Ich schloss die Augen und spürte, wie Rob meine Hand nahm. Ich war nicht sicher, ob es wirklich geschah, aber als ich die Augen öffnete, war es echt.

Die Windschutzscheibe war überströmt, wie beim Klarspülen in der Waschanlage. Die Kapuze meines Sweatshirts hatte sich vollgesaugt, die ersten Tropfen rannen meinen Rücken hinab. Ich zog Schuhe und Socken aus und wrang meinen Pferdeschwanz über der Fußmatte aus.

Du zitterst ja, sagte er. Auf seiner Nasenspitze bebte ein Regentropfen. Er langte auf den Rücksitz und kramte ein Badetuch hervor, das er mir um die Schultern legte. Es war mit Mädchen bedruckt, die mit Kokosnuss-BHs Hula tanzten.

Er stützte einen Ellbogen auf die Armlehne zwischen uns und legte den Kopf schief, als hätte er etwas nicht verstanden, das ich gesagt hatte. Er wartete, begriff ich.

Ich streckte eine Hand aus, legte sie zwischen seine Schultern und zog ihn zu mir. Die andere hob ich an sein Gesicht. Sein Kiefer zitterte unter meinem Daumen. Entspann dich, flüsterte ich. Ich legte ihm einen Finger auf die Lippen, die in der Mitte glatt waren und außen rissig wie Baumrinde. Dann drückte ich meine Lippen auf seine. Der einzige Kuss, der je von mir ausgegangen war.

Wir wichen gleichzeitig zurück, unser pfeifender Atem übertönte das leise Plätschern des Regens. Tja, sagte er schließlich. Und was jetzt?

 

Vor Robs Wohnung stehe ich auf der Rasenfläche bei den Müllcontainern und starre auf mein Fahrrad. Diesen Tag kann ich nur noch retten, indem ich ein bisschen Geld verdiene, also schwinge ich mein Bein über den Sattel und strample los zum Market. Das dürfte wohl das sein, was Ricky als Eigeninitiative bezeichnet.

Als ich mit ratternder Kette um die Ecke des Ladens biege, höre ich einen dumpfen Schlag. Hinter der Ecke steht Eric, leicht geduckt wie ein Boxer, einen Ellbogen spitz zurückgezogen. Ich klappe den Fahrradständer aus, als seine Faust die Backsteinwand trifft und über die rauen Fugen schabt.

»Was soll denn der Scheiß?«, frage ich hinter ihm. Er trägt sein Polohemd von der Arbeit, zwischen seinen Schulterblättern ist der Stoff feucht und dunkel vor Schweiß. Ich spüre den seltsamen Drang, ihn zu berühren.

Mit erhobener Faust wirbelt er herum. Seine Knöchel sind aufgeschrammt, von ihnen tropft Blut, das aussieht wie der Fleischsaft in den Roastbeefpackungen. Er atmet schnell. Mir wird klar, dass ich wahrscheinlich Angst haben sollte. »Warum trägst du Badesachen?«, fragt er.

Ich werfe einen Blick auf den grünen Bikini, der unter meinem Strandkleid hervorschaut, einem weißen Häkelkleid mit Quasten unten. »Das ist eine lange Geschichte.«

Mit einem Grummeln dreht er sich wieder zur Wand und zieht den Ellbogen zurück. »Warst du schon mal –«, fragt er und knallt die Faust gegen die Backsteine, »– total wütend und konntest damit nirgendwohin?« Wieder geht der Ellbogen nach hinten; die Faust saust vor.

Blut rinnt zu seinem Handgelenk, aber ich wende mich nicht ab. »Seit wann kann man mit Wut irgendwohin?«

Wenn seine Knöchel aufprallen, klingt es, als würden Zweige zersplittern. »Na ja, du weißt schon. Irgendjemand ist an der Wut schuld. Und du kannst sie an ihm auslassen.« Er legt eine kleine Pause ein und stemmt keuchend die Hände in die Hüften.

»Ich habe meine Wut noch nie an jemandem ausgelassen.«

Er hat sich vorgebeugt, aber jetzt schaut er zu mir hoch. »Echt nicht?«

»Echt nicht.«

»Und was machst du dann?«

»Keine Ahnung.« Ich zucke mit den Schultern. »Ich schlucke sie runter. Irgendwann wird sie zu Enttäuschung.«

Er schüttelt den Kopf, und Schweißtröpfchen fliegen von seiner Stirn. »Das kann nicht funktionieren.« Immer noch vornübergebeugt, winkt er mich zu sich. »Komm her.«

Ich mache zögerlich einen Schritt auf ihn zu.

»Komm her und schlag mich.« Er richtet sich auf und lässt die Schultern kreisen. Seine Wangen sind gerötet, die Härchen seiner Augenbrauen stehen in alle Richtungen ab.

»Das kann ich nicht.«

»Doch, kannst du.« Er stellt sich direkt vor mich, so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Nase spüre. »Du hasst mich, oder? So oft, wie ich in unserer Schicht einen Scheiß gemacht habe. Und ich habe dich Dreckstück genannt.«

Hitze steigt in mir auf, mein Hals wird ganz warm. »Wann hast du mich Dreckstück genannt?«

Er macht einen Schritt nach hinten und lehnt sich gegen die Wand, als wollte er sagen: Was willst du dagegen unternehmen? »Ach, ständig. Jedes Mal, wenn du so tust, als hättest du das Sagen. Nur weil in deinem Leben noch nie jemand auf dich gehört hat, heißt das nicht, dass du mich dazu zwingen kannst.«

Ich habe noch nie irgendwas geschlagen, nicht einmal ein Kissen. Die Sehnen in meinem Arm glühen wie eine Wunderkerze, und ein unsichtbares Band zieht meinen Ellbogen Richtung Schulterblatt. Die Luft in meiner Lunge knistert. Und dann entlädt sich plötzlich alles, wie das Schießpulver beim Feuerwerk. Ich sehe, wie meine geballte Faust sein Kinn trifft. Meine Knöchel gleiten in seinen feuchten Mund, rutschen über seine glatten, scharfen Schneidezähne und vorbei an seinem blassen Zahnfleisch. Danach ist meine Hand mit rötlichen Spuckefäden überzogen. Ich laufe im Kreis, fast auf der Stelle. Ich setze mich auf den Boden und lehne mich an die Wand. Die Sonne scheint immer noch.

Er hustet und spuckt ein bisschen Blut auf den Gehweg. Neben dem Riemen meiner Sandale sammelt es sich zu einer kleinen Pfütze. Er lässt sich neben mich plumpsen. Wir ringen beide mit aufgerissenen Mündern nach Luft. »Wie geht es deiner Hand?«, fragt er nach einer Weile. Ich lege sie schlapp auf sein Knie, weil ich keinen Teil von mir aufrecht halten kann. Meine Ellbogen ruhen auf meinen eigenen Knien, mein Oberkörper ist nach vorn gesackt.

Ich drehe den Kopf und sehe, wie er den Riss begutachtet, eine breite, rote Wunde. »Fass es an«, sage ich.

Er lacht auf.

»Mach ruhig.« Die Haut hat sich von den Fingerknöcheln zurückgerollt wie abgezogenes Klebeband. Ich drehe die Faust vor ihm.

Er sieht mich direkt an, als könnte ich zurückzucken. Das tue ich nicht. Als er mit einem Finger über die aufgerissene Haut fährt, brennt es wie ein Antiseptikum. Ein Fingernagel taucht in die Wunde, und ich zische durch zusammengebissene Zähne. Schließlich ist er fertig und legt seine Hand auf seinen Oberschenkel, mit meinem Blut unter seinen Nägeln. Er drückt den Kopf gegen die Mauer. »Ich habe dich nie ein Dreckstück genannt«, sagt er. »Und es war alles nicht so gemeint.«

»Ich weiß.«

»Ich dachte nur, es würde dir wehtun. Dich wütend machen.«

»Ich weiß.«

»In der Aufmachung kannst du nicht arbeiten gehen.«

»Ich weiß.« Meine Lider fühlen sich schwer und dick an. Ich lasse sie zufallen. »Scheiß auf Ricky.«

Eric lacht. »Ja, scheiß auf ihn. Scheiß auf alle, bis auf uns.«

 

Mom sitzt am Küchentisch, als ich nach Hause komme. »Wie war es am Strand?«, fragt sie. »Bist du nicht geschwommen?«

Ich berühre meine trockenen Haare. »Die Wellen waren zu stark.«

Sie nickt und schaut mit zusammengekniffenen Augen auf ihr Laptop, das mit voller Helligkeit vor ihr steht. Ein Eisbeutel ist gegen die Knöpfe ihrer Jeans gedrückt und lässt Schwitzwasser in ihren Schoß sickern. »Hast du das schon gesehen?«, fragt sie und kippt das Display, damit ich mitlesen kann.

Liebe Familien der Nashquitten High,

mit großer Trauer muss ich Ihnen berichten, dass an diesem Wochenende Lucy Anderson verstorben ist. Lucy war ein wichtiges Mitglied unserer Gemeinschaft, und unsere Gedanken sind nach diesem furchtbaren Verlust bei ihrer Familie. Morgen findet eine Versammlung statt, und allen Schülerinnen und Schülern, die in dieser Zeit Unterstützung brauchen, steht Ms Layla Owens als Ansprechpartnerin zur Verfügung.

Mit bekümmerten Grüßen

Janet Cushing, Direktorin

»Kanntest du sie?«, fragt Mom.

Meine Hände werden kalt und meine Fingerspitzen taub.

Ich kannte Lucy. Seit Anfang des Schuljahrs habe ich vor dem Lauftraining den Kunstraum aufgeräumt, damit Mrs Brown ihren Sohn rechtzeitig von der Vorschule abholen konnte. Sie hat mir dreißig Dollar die Woche gezahlt, und meist war Lucy da und hat gemalt. Aber ich hätte Lucy auch so gekannt. Alle kannten sie, weil sie vor ein paar Monaten im Schulbus einen Krampfanfall hatte und jemand sie dabei aufgenommen und das Video mit einem EDM-Song unterlegt hat, dessen Beat zu ihren Zuckungen passte. Unsere Teamkapitänin hat es uns eines Tages beim Stretching gezeigt. Ich hielt den Fuß eines anderen Mädchens in der Hand und drückte ihn in Richtung Hüfte, als uns das Handy vor die Nase gehalten wurde. Und, was sagt ihr?, fragte sie, als es vorbei war. Wir brummelten alle irgendwas Unverbindliches, weil nicht klar war, in welche Richtung wir getestet wurden. Dann ging sie im Kreis um uns herum und sah jeder Einzelnen in die Augen. Wenn ich jemals eine von euch dabei erwische, dass ihr diesen Scheiß teilt oder was Ähnliches aufnehmt, trete ich euch so fest in den Arsch, dass ihr nicht mal vor eurem Freund auf die Knie gehen könnt. Und das war ihr Ernst. Ich habe sie beim Bankdrücken gesehen, sie stemmt hundertzehn Kilo.

»Also, ich habe von ihr gehört«, antworte ich.

»Na ja, es tut mir leid, es ist bestimmt trotzdem schwierig«, sagt Mom. »Du bist ihr ja sicher mal auf dem Flur begegnet oder so.«

Ich ringe mir ein Nicken ab und versuche, mich auf das Gespräch zu konzentrieren. Aber in Gedanken fahre ich um die Ecke des Ladens und höre, wie Erics Faust die Mauer trifft, bevor ich es sehe. Es war ihretwegen, so viel ist jetzt klar. Waren die beiden zusammen? Ich habe nie gehört, dass Lucy einen Freund hatte, aber bei solchen Sachen bin ich auch nicht gerade auf dem Laufenden. Es macht einen doch für alle Zeiten fertig, wenn die Freundin in der Highschool plötzlich stirbt. Ich frage mich, was Rob tun würde, falls irgendwas passieren sollte. Ob er zu meiner Beerdigung kommen würde? »Haben sie nicht geschrieben, wie sie gestorben ist?«

»Vielleicht wissen sie es nicht.« Ihr Blick hängt immer noch am Bildschirm, und ihre Augen zittern, als sie die Worte noch einmal liest. »Was willst du zum Abendessen? In der Vorratskammer sind noch Makkaroni mit Käse. Und wir haben Tiefkühlpizza.«

»Ich mache die Makkaroni mit Käse.« Als ich die Tür der Vorratskammer öffne, höre ich, wie sie ihr Laptop zuklappt. Das Quietschen auf den Fliesen sagt mir, dass sie ihren Stuhl herumdreht.

»Jane?«

»Ja?« Ich ziehe an der dünnen Kette, die von der Decke hängt, und Licht flutet über unsere Kartons und Dosen, Tüten und Gläser. Wann ist alles so staubig geworden? Ich trete gegen eine gespannte Mausefalle in der Ecke, aber sie schnappt nicht zu.

»Du kannst mir alles erzählen, das weißt du, oder?«

Ich nehme die blaue Schachtel von Kraft vom zweiten Regalbrett. »Klar weiß ich das«, sage ich, bevor ich das Licht ausschalte. Ich achte darauf, dass ich lächle, bevor ich mich umdrehe.

 

Am Montag treffe ich bei Dunkin’ Donuts an der Main Street zufällig Eric. Es ist halb neun; wir sollten beide in der Schule sein. »Was machst du denn hier?«, fragt er. Er hat ein rotes, halb gefrorenes Getränk in der Hand und steht von seinem kleinen Tischchen am Fenster auf, um mir in der Schlange Gesellschaft zu leisten.

»Dasselbe wie du.« Die Frau vor mir geht mit ihrem Kaffee raus, und ich bestelle ein Dutzend Donuts und sage dem Verkäufer mit der braunen Schirmmütze, er soll sie aussuchen. Während er uns den Rücken zudreht, in einer Hand eine rosa Schachtel hält und mit der anderen vorsichtig die Donuts auswählt, saugt Eric geräuschvoll an seinem dicken orangefarbenen Strohhalm. »Was ist los?«, fragt er.

Ich streiche meine Haare glatt. »Was meinst du?«

»Du siehst scheiße aus.«

»Danke.« Der Verkäufer gibt mir meine Schachtel, und ich bezahle bar. Eric führt mich zurück zu seinem Tisch, aber als ich ihm einen Donut anbiete, lehnt er ab. »Das sind meine Kalorien für heute Morgen«, sagt er und zeigt auf sein Getränk. Ich klappe die Schachtel auf und entscheide mich für Erdbeerglasur. Der Donut hinterlässt ein fettiges O auf dem Wachspapier. »Du siehst auch scheiße aus«, sage ich zu Eric. »Woher kanntest du sie?«

Er blickt von seinem Daumennagel auf, unter dem er Dreck hervorgekratzt hat, fragt aber nicht, wen ich meine. »Sie war meine Cousine.«

»Es tut mir leid«, sage ich automatisch. Die vier dümmsten Silben der Welt.

Mit den Zähnen drückt er seinen Strohhalm zusammen. »Danke. Wir waren uns ziemlich nah.« Er zieht sein Handy aus der Tasche und tippt aufs Display. Sein Blick springt rauf und runter, als er scrollt. »Wirklich neue Bilder von uns habe ich gar nicht. Sie konnte es nicht ausstehen, fotografiert zu werden.«

Er legt sein Handy auf den Tisch und öffnet Instagram. Als er gerade auf seine markierten Fotos tippen will, sehe ich in seinem Feed ein Bild von ihr. »Was ist das?«, frage ich. Lucy in ihrem Schlafzimmer, mit dem Rücken zur Kamera steht sie am Fußende ihres Betts und versucht, ein dünnes grünes Trägerkleid anzuziehen. Der enge Stoff hat sich über ihrem Kopf verheddert, man sieht ihren weißen BH und ihren Slip, während sie mit beiden Händen nach dem Ausschnitt tastet. Ihre gebeugten Arme glänzen im matten Licht ihrer Schreibtischlampe, und neben ihrem Schmuckkästchen steht eine Bierflasche. Es fühlt sich schmutzig an, dieses Foto zu betrachten, als würde ich etwas sehen, das ich nicht sehen sollte. Dann wird mir klar, dass es am Winkel liegt. Der Blick geht von oben hinunter auf ihren Körper, wie bei einer Überwachungskamera. Darunter steht 20.5. 21:49:22.

»Warum habe ich das noch nie gesehen?«

Ich beuge mich vor, um auf den Namen des Users zu tippen, der es gepostet hat, lucystopsandshoots, aber Eric reißt das Handy weg. »Ihr Fotoaccount war privat.«

»Das sah gar nicht nach ihr aus.« Lucy hat lange, bauschige Kleider getragen, wie die Frauen im Einkaufszentrum, die einem Vitaminabos andrehen wollen. Und auf den Armen hatte sie vielleicht Zeichenkohle oder getrocknete Farbe, aber keinen Bodyglitter.

»Das war ein Projekt für ihre Bewerbungsmappe für die Kunstschule«, sagt Eric. Er steckt das Handy in seine Tasche und wirft mir einen Blick zu. »Und damit das klar ist, ich habe dir nichts gezeigt.«

Ich beiße von meinem Donut ab. »Ich weiß gar nicht, wovon du redest.«

Lucy arbeitete nach dem Unterricht im Kunstraum an einer Leinwand, die so groß war wie die Doppeltüren der Schule, und sie benutzte Meerwasser dafür. Was riecht hier so?, fragte ich eines Tages, und sie schaute auf, als hätte sie mich vorher gar nicht wahrgenommen.

Sie erklärte es mir, und ich fragte, ob ich das Bild sehen dürfe. Sie schien sich nicht ganz sicher zu sein, sagte aber trotzdem Ja. Sie hatte einen großen orangefarbenen Eimer von Home Depot, der voller Wasser war, aber auch voller Einsiedlerkrebse und Strandschnecken und ledrigem Seetang. Hast du das aus den Gezeitentümpeln?, fragte ich. Sie nickte.

Sie verdünnte Goldfarbe mit Wasser und träufelte sie auf die Leinwand, wo sie zu kleinen Pfützen zusammenfloss, wie das Blut in dem Mull, nachdem mir der Weisheitszahn gezogen worden war. Das Bild roch nach einem von der Sonne aufgeheizten Strand, nach Salz und Fäulnis, vor allem, wenn die Sonne durch das Fenster gegenüber fiel.

Was machst du mit dem Wasser, das übrig bleibt?, fragte ich einmal.

Ich schütte es zurück.

Jeden Tag?, fragte ich. Sie nickte. Kann ich mitkommen?

Sie fuhr mit dem Pinsel ein paarmal über ihre Hand, um die Farbe zu testen. Wenn du den Eimer trägst.

An einem Tag im Oktober, als der Herbst alles braun und raschelig machte, begleitete ich sie. Wir trugen beide Sweatshirts, und im Rinnstein am Strandparkplatz sammelte sich das erste Laub. Überall standen große Schilder mit der Aufschrift SCHWIMMEN VERBOTEN. Die Algenblüte hatte das Wasser vergiftet, die Wellen sahen aus wie das Blut in Blutkonservenbeuteln. Strandmöwen sind immer aggressiv, aber an diesem Tag kamen sie links und rechts von uns im Sturzflug an den Strand und schnappten sich den angespülten toten