Frauenhaus - Marlies Zollenkopf - E-Book

Frauenhaus E-Book

Marlies Zollenkopf

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Beschreibung

Bettinas Alltag ist bestimmt von ihrer Arbeit mit Frauen in einem Frauenhaus im Ruhrgebiet, deren schwierigen Familiensituationen und Bettinas unermüdlichem Einsatz bei Behördengängen, Terminen mit Rechtsanwälten und Jugendämtern. Außerdem ist sie gleichzeitig Schlichterin und Trösterin der dort lebenden Kinder. Schafft Bettina den Spagat zwischen Beruf und ihrer Familie? Welche Herausforderungen muss sie meistern, um allen gerecht zu werden?

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Frauenhaus

Marlies Zollenkopf

Frauenhaus

Marlies Zollenkopf

Erzählungen

Alle Rechte, insbesondere aufdigitale Vervielfältigung, vorbehalten.

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Das Buchcover darf zur Darstellung des Buchesunter Hinweis auf den Verlag jederzeit freiverwendet werden.

Eine anderweitige Vervielfältigung desCoverbildes ist nur mit Zustimmungdes Coverillustrators möglich.

Alle im Buch vorkommenden Personen, Schauplätze,Ereignisse und Handlungen sind frei erfunden.

Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personenoder Ereignissen sind rein zufällig.

www.net-verlag.de

Erste Auflage 2023

© Text: Marlies Zollenkopf

© net-Verlag, 09117 Chemnitz

© Coverbild: Detlev Bartsch,bearbeitet von Jihae Chung

Covergestaltung: net-Verlag

printed in the EU

ISBN 978-3-95720-381-6

eISBN 978-3-95720-382-3

Inhalt

1. Spätdienst – Nadja, Matilda

2. Kindheit in Paderborn

3. Anfang – Katarina

4. Opa Feldmann

5. Mary, Alina, Sofia

6. Mädchenschule

7. Studium

8. Erste Jahre – Fatma

9. Hassan

10. Hausbesuch – Hülya

11. Jobcenter - Sofìa

12. Matilda

13. Anerkennungsjahr

14. Stefka

15. Hassan

16. Sybille

17. Fachstelle Wohnen – Arbana, Hülya

18. Besuch bei den Eltern

19. Hava

20. Zarah, Arbana, Shirin

21. Reise in die Türkei

22. Laura

23. Georgien

24. Die Kollegin

25. Spielplatz

26. Einwohnermeldeamt - Arbana

27. Kinder

28. Felia

29. Streit

30. Karaman

31. Selma

32. Karoline

33. Mutter

34. Hausversammlung - Arbana

35. Susan

36. Frauen aus Afrika – Joan, Renate, Matilda, Kate

37. Inobhutnahme - Anke

38. Silvie

39. Elterngeldstelle – Dana, Hatice, Sandra

40. Matildas Reise

41. Oranje Huis

42. Anke, Nesrin, Danuta

43. Hassan

44. Nesrin, Sandra, Hatice

45. Selma

Über die Autorin

1. Spätdienst – Nadja, Matilda

Dienstags hatte Bettina Spätdienst im Frauenhaus, seit achtundzwanzig Jahren, immer am gleichen Tag. Manchmal konnte sie nicht glauben, dass so viel Zeit vergangen war.

Fast genauso lange war sie mit Hassan verheiratet, ihre beiden Töchter Laura und Selma wurden geboren.

Sie hatte unzählige Frauen betreut, war mit ihnen zum Jobcenter oder früher zum Sozialamt gefahren, hatte ihre Lebensgeschichten gehört, sie getröstet, hatte sie zur Entbindung in die Klinik begleitet oder zum Schwangerschaftsabbruch.

Wie viele Briefe hatte sie vorgelesen, erklärt und beantwortet? Wie viele Deutsch- und Integrationskurse beantragt? Schulden reguliert, Wohnungen gekündigt, Kindergartenplätze gesucht?

Bettina mochte ihre Arbeit, und sie mochte die Frauen. Aber die Strukturen der Einrichtung machten sie manchmal müde.

Die beiden Kolleginnen vom Frühdienst verabschiedeten sich am frühen Nachmittag. Bettina sah auf die Uhr. Drei Mal hatte sie in den letzten Tagen versucht, ihre jüngste Tochter Selma anzurufen, und sie nicht erreicht.

Jetzt hatte sie Glück. Selma war gleich am Telefon. »Mama«, rief sie, »ich wollte mich auch schon bei dir melden! Du glaubst nicht, wie spannend das Fotoprojekt hier im Flüchtlingsheim ist! Die Jungs arbeiten so toll mit, das kannst du dir nicht vorstellen. Ich komme in den nächsten Tagen zu Hause vorbei, versprochen. Ich habe dir und Papa ganz viel zu erzählen. Fotos bringe ich auch mit. Aber jetzt habe ich wirklich keine Zeit!«

»Bis bald, meine Kleine«, sagte Bettina, aber da hatte ihre Tochter schon aufgelegt.

Selma studierte Fotografie an der Folkwang-Universität in Essen, nachdem sie im Sommer ihr Biologiestudium in Bochum abgebrochen hatte. Gerade war sie mit einem Fotoprojekt in einer Flüchtlingsunterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge beschäftigt. Und wie immer war sie hellauf begeistert.

Kurz vor halb vier rief ein junger Mann aus einem türkischen Lebensmittelladen an. »Hier ist eine rumänische Frau, die weint. Sie spricht etwas Deutsch. Sie sagt, ihr Freund habe sie geschlagen und aus der Wohnung geworfen. Kann ich sie zu Ihnen bringen?«

Eine Frau, die von ihrem Partner geschlagen wurde und nicht weiß, wo sie bleiben kann, gehört in ein Frauenhaus. Aber eine Frau, die aus einem Land stammt, das zur Europäischen Union gehört, kann eigentlich nur in einem Frauenhaus aufgenommen werden, wenn sie arbeitet. Denn nur dann wird das Jobcenter die Unterbringungskosten bezahlen. Bettina fragte den jungen Mann: »Arbeitet die Frau?«

»Nein«, sagte er, »aber sie will arbeiten. Sie hat schon hier im Laden nach Arbeit gefragt. Bitte, kann ich die Frau zu Ihnen bringen? Sie kann doch bei der Kälte nicht auf der Straße schlafen!«

»Bringen Sie die Frau her«, sagte Bettina und nannte ihm die Adresse.

Sogleich rief sie in der Obdachlosenunterkunft der Inneren Mission an. Vielleicht gab es dort eine andere Form der Finanzierung.

»Nein«, sagte die Kollegin, »wir kennen das Problem. Es gibt kein Geld für diese Frauen.«

Zwanzig Minuten später stand der junge Mann mit einer Frau vor der Tür. Sie hatte verschiedene Plastiktaschen in der Hand und eine leuchtend rote Mütze auf dem Kopf. Ihr Gesicht war verweint.

Der junge Mann hielt Bettina einen Pappteller mit zwei Kuchenstücken entgegen. »Das ist für Sie und für die Frau. Sie heißt Nadja und hat bestimmt Hunger.«

Bettina nahm Nadja mit ins Büro.

»Ich arbeiten«, sagte Nadja immer wieder. Anscheinend hatte ihr der junge Mann schon gesagt, dass sie normalerweise hier nicht aufgenommen werden konnte.

»Hier ist ein Frauenhaus, hier können Sie heute schlafen, aber eine Arbeit kann ich Ihnen nicht besorgen«, antwortete Bettina.

»Nicht verstehen, arbeiten, working!«

Bettina kopierte den rumänischen Pass und eine nationale Krankenkassenkarte. Sie füllte einen Antrag für das Jobcenter aus, auf dem wichtige Angaben fehlten, und faxte alles ans Jobcenter. Dann zeigte sie Nadja ein kleines Eckzimmer. »Morgen«, sagte sie, »sprechen wir.«

»Morgen Arbeit?«

»Nein, nur sprechen«, antwortete Bettina und schloss die Tür.

Bettina wartete auf Matilda. Sie hatte Teewasser aufgesetzt und zwei Becher auf den Bürotisch gestellt. In der Zwischenzeit sah sie die Post durch. Auf Briefe, die im Frauenhaus ankamen, wenn die Frauen schon nicht mehr hier lebten, schrieb sie die neue Adresse und legte sie ins Postfach.

Dann klingelte das Telefon. »Ich habe eine Frage«, sagte die Anruferin, »meine Tante ist gestorben, und ich löse gerade ihre Wohnung auf. Ich möchte Ihnen Hausrat und Bettwäsche spenden. Können Sie so etwas gebrauchen?«

»Ja«, antwortet Bettina, »auf jeden Fall! Wenn Sie die Sachen in den nächsten Tagen vorbeibringen, freuen wir uns.«

Bettina sah auf die Uhr. Schon 17:15 Uhr. Matilda wollte um 17 Uhr bei ihr sein. Die Frau aus Nigeria hatte einen Brief von ihrer Baugesellschaft bekommen, den sie nicht verstand. Ab 18 Uhr putzte Matilda bei der Deutschen Bank um die Ecke. Die Zeit zum Brieflesen, Erklären und vielleicht Beantworten wurde knapp.

Getrappel von kleinen Füßen im Gang. Die Zwillinge Aylin und Ayse standen vor der Tür. Beide trugen rosa T-Shirts und rosa-weiß gepunktete Leggins. Sie hielten sich für alle Fälle an der Hand.

»Weißt du, wo unsere Mama ist?«, fragte Ayse (oder war es Aylin?).

»Kommt mit«, sagte Bettina, »vielleicht ist sie in der Waschküche.« Bettina nahm ihren Schlüssel vom Tisch und ging zur Treppe.

Aylin und Ayse hüpften hinterher.

Nermin, ihre Mutter, stopfte Wäsche in den Trockner. »Ah bu benim iki kiz!« Nermin lachte. »Könnt ihr nicht fünf Minuten allein bleiben?«

Es klingelte. Bettina schaute auf den Bildschirm der Gegensprechanlage. Tatsächlich, Matilda war eingetroffen. Sie lief die Treppe hinunter und öffnete die Haustür.

»Hello«, schnaubte Matilda, die seit 20 Jahren in Deutschland lebte. Dann folgte die Begrüßungsformel, die Bettina bei jedem Treffen mit Matilda hörte: »I am sorry, I am late!«

»Wie geht es dir?«, fragte Bettina.

»Pain«, antwortete Matilda »Pain in my back«, und sie legte ihr Gesicht in Falten. Die Perücke mit dem schwarz glänzenden Kunststoffhaar saß etwas schief auf dem Kopf.

Im Büro angekommen, packte Matilda gleich ihren Brief aus. Die HGW als Vermieterin hatte geschrieben. Die Betriebskostenendabrechnung musste beglichen werden.

Gab es ein englisches Wort für Betriebskostenendabrechnung? Als Matilda vor fünfzehn Jahren zum ersten Mal ins Frauenhaus kam, zusammengeschlagen von ihrem damaligen und seit Jahren verstorbenen deutschen Ehemann, sprach sie kein deutsches Wort. Ein paar Jahre später nahm sie an einem Deutschkurs teil, aber sie konnte sich die schwierigen Wörter in der fremden Sprache nicht merken.

Inzwischen ging das besser, sodass Matilda und Bettina seit einiger Zeit Deutsch miteinander sprachen.

Bettina versuchte nun, den Begriff zu erklären, aber auch damit konnte Matilda nichts anfangen. »Ich habe alles bezahlt, Treppenhauslicht, Müllabfuhr, Straßenfeger. Mein Mann zahlt gar nichts, warum er nicht zahlen?«

»Weil du den Mietvertrag unterschrieben hast«, antwortete Bettina. »Frag deinen Mann, er soll dir Geld geben. Du musst einfach 153 € nachzahlen.«

»Ha!«, rief Matilda »Dieser Mann gibt kein Geld, er versteht Deutschland nicht, denkt wie Afrika!« Matilda war zum vierten Mal verheiratet. Sie wohnte mit ihrem Mann in Eickel. Nach ihrem letzten Frauenhausaufenthalt vor drei Jahren war sie allein in eine kleine Hochhauswohnung gezogen. Damals arbeitete sie und arbeitet auch heute noch morgens von fünf Uhr bis um zehn Uhr im Hotel als Zimmermädchen und putzt abends die Büros der Deutschen Bank. Sie wünschte sich, dass jemand da wäre, wenn sie abends todmüde nach Hause käme. Vielleicht mit dem Essen auf sie warten würde, sonntags mit ihr in die African Church ginge und ihr abends den schmerzenden Rücken einriebe.

Als Matildas Vater vor drei Jahren mit 96 Jahren starb, reiste sie nach Lagos. Ihre Mutter stellte ihr John vor. Sechzig Jahre alt, wie sie, geschiedener Taxifahrer, mit drei erwachsenen Kindern, und seine Sprache war Igbo, genau wie Matildas. John wollte nach Deutschland, noch ein paar Jahre arbeiten und von dem Geld ein eigenes Taxi für sich und seinen ältesten Sohn kaufen. Matilda und John heirateten drei Tage später, und Matilda flog zunächst allein zurück.

Ein halbes Jahr später konnte John als Familienangehöriger nachkommen. Matilda war nicht mehr allein; John kochte auch das Abendessen, aber er war bald unzufrieden, weil er keine Arbeit fand. Wie sollte er Geld für sein Taxi sparen?

Matilda hatte sich eine finanzielle Entlastung durch die Heirat vorgestellt, nun musste sie für Johns Lebensunterhalt aufkommen. Es gab häufig Streit. Erst als der Mann eine Arbeit in einer Fleischfabrik fand, vertrugen sich die beiden besser. Sie teilten sich die Miete, die Stromkosten übernahm Matilda, denn John wollte nicht einsehen, warum er dafür bezahlen sollte. Und mit einer Betriebskostenendabrechnung wollte er schon gar nichts zu tun haben.

»Jetzt ich habe kein Geld«, meinte Matilda. »Ruf an, Bettina, ich zahle 20 €.«

Bettina wählte die Nummer der Baugesellschaft und ließ sich durchstellen. Ja, der Sachbearbeiter würde eine monatliche Ratenzahlung von 20 € akzeptieren. Glück gehabt.

Bettina füllte den Antwortbogen aus, ließ Matilda unterschreiben und steckte den Brief in einen Umschlag.

Matilda stand bereits an der Tür. Sie musste sich beeilen. Nächste oder übernächste Woche würde sie wiederkommen, mit einem Brief, einer unverständlichen Lohnabrechnung oder einem Kummer, den sie besprechen wollte.

Bettina schaltete den PC aus, schloss die Tür zum Kopierraum ab, löschte das Licht im Flur. Als sie die Treppe hinunterging, überlegte sie, ob sie heute Abend wohl einen Parkplatz in ihrer Straße finden würde.

2. Kindheit in Paderborn

Bettina wuchs mit ihrer kaum eineinhalb Jahre jüngeren Schwester Sonja am östlichen Stadtrand von Paderborn auf. Ihre Oma hatte das Fachwerkhäuschen, in dem die Familie lebte, in den 30er Jahren von einem kinderlosen Onkel geerbt.

Bettina, Sonja und die Eltern wohnten in den unteren Zimmern, die Großmutter lebte in zwei kleinen, schrägen Zimmern unter dem Dach.

Bettina hielt sich gern in Omas Wohnküche auf. Dort kämmte sie ihre Puppe Hildegard, die früher ihrer Mutter gehört hatte und die diese bei einem Bombenangriff in Wanne-Eickel gerettet hatte.

Sie zog Hildegard neue Kleider an, die Oma auf ihrer versenkbaren Nähmaschine nähte, und hörte der Oma zu, wenn sie Geschichten von früher erzählte. Manchmal sprach die Oma von ihrem Sohn, dem älteren Bruder des Vaters, der im Zweiten Weltkrieg auf der Krim gefallen war.

Auf dem Glastischchen unter dem Fenster stand ein Foto von einem Jungen mit dichten, blonden Locken und einem strahlenden Lächeln. »Da war mein Hans-Gerd 16 Jahre alt«, sagte die Oma, wenn Bettina das Foto in die Hand nahm. »Mit 18 Jahren lebte er nicht mehr.«

Bettina stellte sich manchmal vor, wie es wäre, wenn ihr Onkel aus Russland zurückgekommen wäre. Er würde dann hier, bei der Oma, wohnen und an verregneten Nachmittagen mit ihr und Sonja Mensch-ärgere-dich-nicht spielen.

Am liebsten mochte es Bettina, wenn die Oma den Schuhkarton mit den alten Fotografien, Zeitungsausschnitten, Schulzeugnissen und Totenbildchen aus dem Kleiderschrank holte. Dann betrachteten sie gemeinsam die Kinderfotos des Vaters und Hans-Gerds, das Hochzeitsfoto der Großeltern und die auf Pappe gezogenen Fotos der Urgroßeltern. Urgroßmutters Haare waren streng zurückgekämmt und im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden. Ihr Kleid hatte einen weißen, steifen Stehkragen, und um den Hals trug sie eine Kette mit einem schmalen Kreuz. Ernst und ohne Lächeln sah sie in die Kamera.

Der Urgroßvater wirkte sehr jung. Wie alt mochte er auf dem Foto sein? 20 Jahre vielleicht. Seine Locken waren kurzgeschnitten, ordentlich gescheitelt, und er lächelte wie ein Junge, der noch sein ganzes Leben vor sich hat. Er starb mit 39 Jahren.

»Nach andächtigem Empfang der heiligen Sakramente gab Bruder Johann sein Leben in die Hand des Schöpfers zurück«, stand auf seinem Totenbildchen.

Acht Kinder hatten die Urgroßeltern bekommen, von denen fünf bereits im ersten Lebensjahr starben, Großmutter war die Jüngste.

Bettinas Lieblingsfoto zeigte die Oma als junges Mädchen in einem weißen Sommerkleid. Sie lachte und rief dem Fotografen etwas zu.

»Das war beim Gemeindefest St. Liborius. Ein Jahr später habe ich dort deinen Großvater kennengelernt«, erzählte die Oma. Dann faltete sie die vergilbte Zeitung auseinander und zeigte Bettina den Zeitungsartikel vom Bombenangriff auf Paderborn, bei dem der Großvater ums Leben gekommen war. »Ich konnte nicht zu seiner Beerdigung gehen«, sagte die Großmutter. »Ich wollte nicht, dass er tot ist.«

Wenn Bettina Glück hatte, las ihr die Oma abends ein Märchen vor. Ihr Lieblingsmärchen war Brüderchen und Schwesterchen. Aber immer wieder hielt sich Bettina die Ohren zu, wenn die Oma zu der Stelle kam, an der Brüderchen ein Wolf geworden wäre, hätte es aus der verbotenen Quelle getrunken, oder als die böse Stiefmutter Schwesterchen in der glühend heißen Badekammer einsperrte.

Die Oma schüttelte den Kopf. »Warum möchtest du gerade dieses Märchen hören, wenn es dir so viel Angst macht?«, fragte sie dann immer.

In der Straße, in der sie lebten, gab es große Gärten hinter den Häusern. Hier wuchsen und reiften Kartoffeln, Salat, Erbsen, Porree und Zwiebeln. Es gab Johannis- und Stachelbeersträucher, Himbeeren und Rhabarber. Bettina und Sonja durchstreiften den eigenen Garten und die Gärten der Nachbarn. Nebenan wohnte Opa Korte. Die Mädchen hörten ihn schon von weitem, wenn er auf seinen Acker arbeitete. Er litt unter Asthma und atmete pfeifend aus. Manchmal zog er zwei Möhren aus dem Boden, wischte sie im Gras ab und gab sie Bettina und Sonja.

Die steckten sie gleich in den Mund. Es störte sie nicht, dass es etwas zwischen den Zähnen knirschte.

Ein paar Häuser weiter lebten zwei ledige, ältere Schwestern. Eine arbeitete, angetan mit großer Kittelschürze und Kopftuch, im Garten, die andere, Luise, war für das Haus zuständig.

Manchmal klopften Bettina und Sonja an die hintere Tür.

»Woher wusstet ihr, dass ich Plätzchen gebacken habe?«, fragte Luise. »Setzt euch auf die Küchenbank! Gleich sind sie kalt, und dann dürft ihr euch eins aussuchen.«

Zwölf Uhr mittags, beim Agnus-dei-Läuten, mussten die Mädchen zum Essen zu Hause sein. Die Oma hatte Kartoffeln und Gemüse aus dem Garten geholt, die Mutter kochte.

Bettina und Sonja wuschen sich die Hände und setzten sich auf die Eckbank. Manchmal, wenn das Essen noch nicht fertig war, schnitt ihnen die Mutter einen schmalen Streifen fetten, weißen Speck ab, den die Mädchen auslutschten.

Hinter dem Haus gab es den Schuppen mit der Waschküche und dem Hühnerstall. Zehn Hühner und ein Hahn fanden dort Platz. Morgens fütterte die Oma die Hühner mit getrockneten Maiskörnern und Fischmehl.

Bettina und Sonja waren der Meinung, das könne auf keinen Fall für den Tag reichen und halfen später mit Löwenzahn und Regenwürmern nach.

Im Frühjahr brütete eine Glucke Küken aus. Die Mädchen nahmen die piepsenden Küken aus ihrem Käfig und streichelten vorsichtig die weichen Federn. Beim Hühnerschlachten wollten Bettina und Sonja auf keinen Fall zusehen. Das erledigte sowieso Opa Korte, denn ihr Vater war dazu nicht in der Lage.

War ein Huhn erst geschlachtet, begann Omas Arbeit, die man mit Interesse verfolgte. Großmutter band sich die dunkle Hühner-Rupf-Schürze um, packte das Huhn an den Beinen und rupfte die Federn aus, die in den alten Zinkeimer fielen. Dann hielt sie das Huhn vorsichtig über eine Gasflamme und brannte so die Federansätze ab.

Zum Ausnehmen ging es in die Küche. Oma breitete ein altes Geschirrtuch auf dem Küchentisch aus, während sich Bettina und Sonja auf die Eckbank knieten, damit sie besser sehen konnten. Oma förderte die Innereien zu Tage und legte sie sorgfältig nebeneinander: Leber, Magen, Nieren und die Eierstöcke mit den halbfertigen Eiern.

Bettina und Sonja waren jedes Mal fasziniert.

Ein Huhn wurde oft geschlachtet, wenn Mutters Eltern am Wochenende aus Wanne-Eickel zu Besuch kamen. Dann hatten Sonja und Bettina zwei Großmütter im Haus. Auch Mutters Mutter band sich kurz nach ihrem Eintreffen eine Schürze um und half in der Küche.

Samstagnachmittags wurde ein Ungetüm von Küchenmaschine ausgepackt. Die Oma aus Wanne-Eickel stellte Schüsseln und Messbecher auf den Tisch und machte sich an die Arbeit. Sie backte einen Rosinen- oder Marmorkuchen und einen Tortenboden, den sie später mit Obst belegte. Von dem Rosinenkuchen gab es sonntags, nach dem Besuch der Heiligen Messe, ein kleines Stück.

Vor ihrer Heirat war Oma Köchin in einem Kloster der Vinzentinerinnen. Sie entschied immer, was und wie etwas gekocht wurde, auch wenn sie zu Besuch war.

Abends saß sie dann unter der Leselampe, stopfte Stümpfe und nähte abgerissene Knöpfe an.

Sonntagmorgens stand sie schon früh am Herd, briet das Huhn, schnitt eine Gurke in dünne Scheiben für den Gurkensalat und schlug Eischnee, den sie unter den Vanillepudding hob.

Sie schimpfte, wenn Bettina und Sonja ihre weißen Sonntagskniestrümpfe beim Spielen schmutzig gemacht hatten, und nicht nur die Mutter, sondern auch Bettina und Sonja waren froh, wenn sich die Großeltern nachmittags, nach dem Kaffeetrinken, auf dem Weg zum Bahnhof machten.

Bettina und Sonja hatten viel Platz zum Spielen. Im Sommer gab es den Garten, Hühnerställe, Schuppen, Gartenhäuschen. Im Winter war der Dachboden ihr Reich. Ganz in der hinteren Ecke stand ein wuchtiger, alter Kleiderschrank, dessen Türen beim Öffnen knarrten. Unter dem Dachfenster gab es eine Chaiselongue und einen wackligen Tisch. Natürlich war es kalt hier oben, aber mit einem dicken Pullover und Wollstrümpfen ließ es sich aushalten.

Im Kleiderschrank hingen Mäntel, Kleider und Blusen der verstorbenen Urgroßmutter. Bettina und Sonja liebten es, sich zu verkleiden. Manchmal stritten sie sich, wer den Witwenhut, einen schwarzen Filzhut mit einem kleinen Schleier, tragen durfte. Oder die schwarze Bügelhandtasche und den Muff aus gefärbtem Kaninchenfell.

Hatten die Mädchen genug vom Verkleiden, zogen sie den wackligen Tisch vor die Chaiselongue und spielten Schule. Bettina war die Lehrerin und Sonja ihre einzige Schülerin. Malen und Biblische Geschichte standen auf dem Stundenplan. Gerechnet wurde nur ganz kurz, denn das konnte die Lehrerin selbst nicht.

Nach einiger Zeit meldete sich Sonja und fragte: »Kann ich jetzt mal Lehrerin sein?«

»Nein«, antwortete Bettina. »Das geht nicht, weil ich das schon bin!«

Im letzten Winter, bevor Bettina in die Schule kam, gingen die Mädchen in den katholischen Kindergarten neben der Kirche, weil die Mutter ins Krankenhaus musste. Nach einigen Tagen war sie blass und erschöpft zurück. Sie schlief viel, und der Vater sagte, die Mädchen sollten leise sein und sich nicht zanken.

Erst viele Jahre später erfuhr Bettina, dass die Mutter eine Fehlgeburt gehabt hatte.

Der Kindergarten gefiel Bettina nicht besonders. Sie war es gewöhnt, allein mit Sonja unterwegs zu sein. Die vielen anderen Kinder machten ihr Angst. Die beliebten Kreisspiele verstand sie nicht. Besonders unheimlich war ihr das Spiel Der Plumpsack geht herum: »Wer sich umdreht oder lacht, kriegt den Buckel blau gemacht …«

Bettina stand stocksteif da und hoffte, nicht um den Kreis laufen zu müssen.

Am liebsten saß sie an einem der Kindertische, fädelte Glasperlen auf eine Schnur, malte oder klebte buntes Papier auf den Zeichenblock.

In der Adventszeit sang Fräulein Martin, die Kindergärtnerin, jeden Morgen mit ihrer Gruppe, oder sie las ein Weihnachtsgedicht vor. Einige der Gedichte konnte Bettina bald auswendig, und so suchte Fräulein Martin sie aus, bei der Weihnachtsfeier mit den Eltern das Gedicht Von draus vom Walde komm ich her vorzutragen.

Jeden Abend übte Bettina das Gedicht mit dem Vater. Aber als sie bei der Weihnachtsfeier all die Eltern und Kinder vor sich sah, fiel ihr kein Wort mehr ein.

Sie begann zu weinen, woraufhin sie der Vater zu seinem Platz holte. »Schade«, sagte er. »Du konntest das Gedicht doch so gut«, und Bettina hörte die Enttäuschung in seiner Stimme.

3. Anfang – Katarina

Bettina arbeitete in einem Frauenhaus unter freier Trägerschaft. In diesem Haus gab es eine Leiterin: Ingrid. Anders als in den autonomen Frauenhäusern war das vom Träger vorgeschrieben.

Am Anfang versuchten die Mitarbeiterinnen, Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Alles wurde in endlosen Teamsitzungen gemeinsam geklärt und besprochen. Es wurde geraucht und Kaffee in großen Mengen getrunken.

Die Kolleginnen arbeiteten rund um die Uhr, von acht Uhr morgens der Frühdienst, bis zweiundzwanzig Uhr der Spätdienst.

Dann kam die Nachtbereitschaft, und es gab wieder eine Besprechung.

Gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig war endlich Feierabend. Aber dann zog es die zwei oder drei Kolleginnen vom Spätdienst keineswegs nach Hause, sondern in die Kneipe. Dort gab es nun Gelegenheit, bei Bier, Wein und Zigaretten zur nächtlichen Fallbesprechung überzugehen. Beruf und Privatleben vermischten sich. Kolleginnen freundeten sich an, feierten zusammen und fuhren miteinander in den Urlaub.

Eigentlich hörte die Arbeit nie auf. Oft telefonierte man abends miteinander, um sich gegenseitig auszutauschen.

Es gab Wochenendbereitschaften, zu Hause am Telefon, vierzehn Stunden lang, und viele Überstunden. Wer konnte schon nach Hause gehen, wenn sich gerade dramatische Dinge ereigneten?

Bettina und ihre Kolleginnen begleiteten die Frauen zu allen Terminen: zum Sozialamt, zur Meldestelle, zum Gericht, zur Ausländerbehörde, in die Schulen der Kinder, zu Ärzten, zur Familienkasse und zum Jugendamt. Ein Großteil der Frauen hätte die Wege allein bewältigen können. Sie konnten es vor dem Frauenhausaufenthalt, und sie konnten es auch danach.

Parteilichkeit war damals ein wichtiger Grundsatz. Wie oft war Frauen nicht geglaubt worden, wenn sie über das Verhalten ihrer Männer sprachen? Außerdem war es peinlich, eine Frau zu sein, die von ihrem Mann geschlagen worden war.

Peinlichkeit leistet aber auch dem Schwarz-Weiß-Denken Vorschub: böser, schuldiger Täter, armes Opfer.

Es dauerte einige Jahre, bis den Mitarbeiterinnen des Frauenhauses klar wurde, dass es immer zwei Seiten gibt und die Frauen im Frauenhaus Verantwortung für ihr Leben übernehmen müssten.

Parteilich mit den Frauen zu sein, hieß damals, in Bettinas erster Frauenhauszeit, auf die Wünsche der Frauen eingehen, sie erfüllen, auch wenn die rechtliche Grundlage fraglich war. Bettina erinnerte sich, wie sie zusammen mit zwei Kolleginnen und einer Bewohnerin deren Wohnung ausräumte. Waschmaschine, Trockner, Gefrierschrank, und Spülmaschine, es wurde mitgenommen, was im VW Bulli Platz fand.

Später stellte sich heraus, dass keines der eingepackten Geräte der Frau gehörte. Der Mann, bei dem sie gewohnt hatte, konnte belegen, dass alles sein Eigentum war. Er klagte auf Herausgabe und erhielt alle Teile zurück.

Bettina erinnerte sich an das große Engagement der ersten Zeit im Frauenhaus. Voller Einsatz für die Bewohnerinnen, sich für sie stark machen, bis an die eigenen Grenzen gehen und auch darüber hinweg.

Katarina war eine der ersten Frauen, für die Bettina im Frauenhaus als Bezugsbetreuerin zuständig war. Sie kam aus einem Land, das damals noch Jugoslawien hieß.

Als sie mit ihrem acht Wochen alten Sohn Helmut ins Frauenhaus kam, sprach sie kaum Deutsch. Sie war klein, schmal und wirkte sehr hilflos. Schon nach ein paar Tagen war für Bettina klar, sie würde diese junge Frau beschützen.

Katarina lebte seit eineinhalb Jahren in Deutschland. Ihren Mann, einen deutschen Gemüsegroßhändler, hatte sie an der Adriaküste kennengelernt, als er dort Urlaub machte. Er war 20 Jahre älter als sie, hatte bereits erwachsene Kinder und fuhr einen BMW. Der Mann, Helmut, war großzügig. Er schenkte Katarina eine goldene Kette und brachte ihrer Mutter am Sonntagnachmittag Blumen, als er die Familie besuchte.

Katarina verliebte sich in den gutaussehenden Mann und war glücklich, als er sie fragte, ob sie seine Frau werden wolle.

Helmut fuhr zurück nach Essen, um die Papiere für die Hochzeit zu besorgen.

Katarina packte Tischdecken und Bettwäsche, die sie jahrelang bestickt hatte, in Holzkisten. Sie freute sich auf das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

In Belgrad hatte sie eine Fachschule für Kosmetik besucht, und nun arbeitete sie seit drei Jahren in einer Hautklinik in ihrer Heimatstadt Ohrid. Sie wohnte bei ihren Eltern und lieh sich manchmal am Wochenende das Auto ihres Bruders aus, um ans Meer zu fahren. Es ging ihr gut.

Aber in Deutschland würde sie vielleicht einen eigenen Kosmetiksalon eröffnen und vielleicht ihr eigenes Auto fahren.

Katarina schickte fast täglich einen verliebten, zärtlichen Brief nach Essen, und als sie vier Wochen später im Rathaus von Ohrid heiratete, sah sie in ihrem weißen Kleid sehr schön aus.

Auf einem Autobahnrastplatz kurz hinter der österreichischen Grenze schlug Helmut ihr zum ersten Mal ins Gesicht. Katarina hatte einen Kaffee bestellt, ohne ihn zu fragen. Sie weinte bei der Weiterfahrt, aber sie nahm sich vor, ihn nicht wieder aufzuregen.

In den nächsten Wochen gab sich Katarina viel Mühe, eine gute Ehefrau zu sein. Sie kochte jeden Tag aufwendige Gerichte, die Wohnung war blitzblank geputzt, und auf die Frühstücksserviette schrieb sie mit Lippenstift Ich liebe dich.

Helmut hatte gleich erklärt, dass er nicht wünsche, dass seine Frau arbeite. Einen Deutschkurs brauche sie nicht, er verstehe schon, was sie meine.

Katarina biss die Zähne zusammen und versuchte, mit ihrer Enttäuschung fertigzuwerden. An die Eltern und den Bruder schrieb sie fröhliche Ansichtskarten und ihren ehemaligen Kolleginnen in der Klinik Fotos von ihrem Haus und dem großen Garten.

Helmut ging selten mit Katarina aus und wollte nicht, dass sie allein unterwegs war. »Du kannst freitags Auto fahren, wenn wir einkaufen«, meinte ihr Mann.

Nur einmal nahm Katarina ungefragt das Auto. Es regnete, Helmut schlief im Wohnzimmer, und sie wollte Hackfleisch für das Abendessen einkaufen. Als sie zurückkam, erwartete ihr Mann sie bereits vor der Haustür. Er zog sie ins Badezimmer, schlug ihr mit der Faust und mit der flachen Hand ins Gesicht.

Katharina stolperte und fiel gegen die Badewanne. Ihre Hand schmerzte, sie konnte sie nicht mehr bewegen, aus Nase und Mund floss Blut, das linke Auge begann zuzuschwellen.

Katarina wurde dünn und spitz; im September blieb zum ersten Mal ihre Periode aus. Sie hoffte so sehr, schwanger zu sein. Dann wären sie eine richtige Familie, und Helmut würde die Mutter seines Kindes nicht mehr schlagen.

Vier Wochen später gelang es ihr, unter einem Vorwand einen Arzt aufzusuchen, und der bestätigte ihr, sie würde tatsächlich ein Kind bekommen.

Helmut freute sich nicht, er schimpfte und brüllte, er habe genug mit zwei Kindern aus seiner ersten Ehe, für die er wahrscheinlich bis an sein Lebensende Unterhalt zahlen müsse.

Katarina weinte, litt schrecklich unter Übelkeitsanfällen und gab sich keine Mühe mehr, eine perfekte Hausfrau zu sein.

Der Mann schlug Katarina nachts, wenn er nach Hause kam und kein Essen vorbereitet war. Er schlug ihr ins Gesicht und ließ erst von ihr ab, wenn die Nase blutete.

Im Frühjahr wurde der kleine Helmut geboren, gesund und 3500 Gramm schwer. Katarina hatte eine Kaiserschnittentbindung, Helmut lag quer in ihrem Bauch. Sie wurde zwei Wochen nach der Geburt aus der Klinik entlassen.

Als in der gleichen Nacht ihr Mann auf ihr lag und im Nebenzimmer das Baby schrie, wusste Katarina, dass sie weggehen würde.

Eine Nachbarin brachte Katarina ins Frauenhaus, Klein-Helmut in der Tragetasche und einen Koffer in der Hand.

Es gab noch eine weitere jugoslawische Frau im Frauenhaus, Anna aus Zagreb. Katarina konnte zu ihr ins Zimmer ziehen.

Wenn Bettina mit Katarina sprach, saß Anna dabei, strickte an einem Pullover für ihre Tochter und übersetzte das Gespräch. Und sie blieb bei Helmut, wenn Bettina mit Katarina zum Sozialamt oder zur Ausländerbehörde ging.

Endlich konnte Katarina ihren Eltern das ganze Unglück schreiben, woraufhin ihr Vater aus Jugoslawien telegrafierte: »Komm nach Hause, wir warten auf dich.«

Das tat Katarina gut, aber nie würde sie zurückgehen, zu groß war die Schmach.

Bettina und Katarina tranken zusammen Kaffee, und Bettina hörte Katarina Vokabeln ab, die diese ordentlich in eine dicke Schreibkladde geschrieben hatte.

Mit der Zeit wurden Gespräche ohne Anna möglich. Wenn Katarina Kaffee kochte, versuchte Bettina unterdessen, Helmut mit der Flasche Fencheltee einzuflößen. Er schlief in ihrem Arm ein, Bettinas Daumen mit seinen winzigen Fingern umklammernd.

In ihrer Angst hatte Katarina nur wenig Kleidung eingepackt, als sie von zu Hause weggegangen war. Gemeinsam mit einer Rechtsanwältin überlegte Bettina, per einstweiliger Anordnung, Bekleidung für Katarina und Klein-Helmut von ihrem Mann einzufordern. Das konnte allerdings Wochen dauern, daher entschloss sich Bettina, an einem Nachmittag mit Katarina in ihre Wohnung zu gehen, um das Notwendigste einzupacken.

Sie telefonierte mit dem zuständigen Polizeirevier. Ein Streifenwagen würde kommen, wenn Helmut Schwierigkeiten machte, aber begleiten könne man sie nicht.

Klein-Helmut schlief bereits bei Anna, Bettina wählte Helmuts Telefonnummer, um sicher zu sein, dass er nicht im Hause wäre. Helmut war nicht da.

Das Garagentor war weit geöffnet, die Garage leer, als Bettina und Katarina die Gartentür öffneten.

Als Katarina die Wohnungstür aufschloss, zitterten ihre Hände. Im Kinderzimmer stopfte sie Strampelhosen, Jäckchen und Babywäsche in die Reisetasche, holte einen neuen Karton mit Windeln aus dem Regal. Im Korridor hatte sie gerade Sandalen aus dem Schuhschrank genommen, als Helmut in der Wohnungstür stand.

Katarina schrie auf, klammerte sich an Bettina und rannte direkt darauf die Treppe hinunter auf die Straße.

Helmut packte Bettina, griff ihr von hinten in die Haare und schlug ihr ins Gesicht. »Raus!«, schrie er dabei. »Ihr verdammten Weiber, ich werde euch anzeigen!« Er stieß Bettina aus der Wohnungstür hinaus; dabei knallte ihr Kopf gegen die Flurwand. Bettina lief zum Auto, ihr Kopf schmerzte unerträglich, sie zitterte am ganzen Körper.

Katarina weinte während der Fahrt zurück zum Frauenhaus. Sie streichelte Bettinas Arm und murmelte: »Verzeihung, Verzeihung.«

Eine Kollegin brachte Bettina in die Unfallklinik. Die Verletzungen waren zum Glück nur leicht, aber sie hatte eine Vorstellung davon bekommen, was Katarina mit ihrem Mann erlebt hatte. Bettina würde nie wieder eine Frau ohne Polizeischutz in ihre Wohnung begleiten. Sie erstattete Anzeige wegen Körperverletzung.

Bettina dachte zusammen mit Katarina über deren Zukunftsperspektiven nach. Katarinas Aufenthaltsstatus war unsicher, aber sie wollte auf jeden Fall versuchen, in Deutschland zu bleiben. Zu sehr schämte sie sich, nach einer kurzen, gescheiterten Ehe mit einem Kind in ihre Heimat zurückzugehen.

Katarina war still in den nächsten Tagen. Fast hatte Bettina das Gefühl, sie ginge ihr aus dem Weg.

Als Bettina am nächsten Montag zum Dienst kam, war Katarina nicht mehr da. Ein Mann im BMW hätte sie abgeholt, erzählten die Frauen. Ihr Zimmer hatte sie aufgeräumt hinterlassen, ihre Sachen mitgenommen.

Für Bettina war klar, Helmut musste sie gezwungen haben, nach Hause zurückzukehren. Vielleicht wollte er sie nach Jugoslawien bringen, um sie los zu sein.

Aber warum hatte Katarina sich zwingen lassen? Er konnte sie nicht mit Gewalt in sein Auto gezerrt haben, dagegen sprach das aufgeräumte Zimmer. Nie würde eine Frau freiwillig zu einem Mann zurückgehen, der sie derartig misshandelt hatte! Wirklich nicht?

Bettina schlief schlecht, konnte sich nicht auf die Arbeit konzentrieren, war für ihre Freunde nicht ansprechbar. Sie musste herausbekommen, was mit Katarina passiert war.

Sie rief bei ihr zu Hause an und legte gleich wieder auf, als Helmut sich meldete. War Katarina wirklich zu Hause? Warum versuchte sie nicht, ein Zeichen zu geben?

Schließlich gelang es Bettina, die Polizei zu überzeugen, unter einem Vorwand bei Katarina vorbeizuschauen.

Sie wartete gespannt und aufgeregt auf den Rückruf, und als der Beamte ihr am Telefon sagte, der jungen Frau und dem Baby ginge es gut, konnte sie es kaum fassen. Katarina war freiwillig und ohne Druck bei ihrem Mann!

Warum hatte sie nie gesagt, dass er ihr trotz allem etwas bedeutete, dass sie einen neuen Anfang mit ihm probieren wollte? Oder hatte Bettina ihr keine Möglichkeiten gegeben, so etwas auszusprechen?

Bettina sah Katarina im Winter vor dem Amtsgericht wieder. Sie war hochschwanger und trug den kleinen Helmut auf dem Arm. Ihr Mann hielt ihre Hand. Der Richter erklärte Katarina, dass ihr Mann wegen Körperverletzung angeklagt sei und sie, als Ehefrau, nicht gegen ihn aussagen müsse.

Aber Katarina sagte aus. Gegen ihren Willen sei sie im Frauenhaus festgehalten worden, sie wollte nur ein paar Tage bleiben, weil sie eifersüchtig gewesen sei. Bettina habe sie überredet, mit ihr in die Wohnung zu gehen, um Bekleidung zu holen. Ihr Mann sei nicht zu Hause gewesen, aber Bettina wäre im Treppenhaus gestolpert und hingefallen.

Jetzt sei sie sehr glücklich, in ein paar Wochen käme ihr zweites Kind zur Welt.

Katarina sah blass aus, während Helmut fest ihre Hand umklammerte.

Das Gericht glaubte Katarina nicht und verurteilte Helmut zu einer Geldstrafe.

Die Zeit mit Katarina lag nun viele Jahre zurück, und mit den Jahren änderte sich Bettinas Einstellung zu ihrer Arbeit. Frauen, die ins Frauenhaus kamen, waren sehr unterschiedlich. Sie mussten mindestens achtzehn Jahre sein, waren sie jünger, war die Jugendhilfe für sie zuständig. Nach oben hin gab es keine Grenzen. Manche waren sechzig Jahre alt und manchmal sogar noch älter.

Manche hatten nur eine Sonderschule besucht, andere einen Hauptschulabschluss gemacht; viele waren nie berufstätig gewesen, andere hatten normal gearbeitet. In einigen, ganz wenigen Fällen waren es sogar Frauen, die die Universität besucht hatten.

Viele hatten einen Migrationshintergrund, kamen aus der Türkei in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, aus Russland in den 90er Jahren, als Russlanddeutsche. Danach kamen sie aus Polen, Bulgarien und Rumänien, als Arbeiterinnen. Sie kamen auch aus Lateinamerika, Asien und Afrika.

Sie erlebten den Bürgerkrieg in Syrien, Eritrea und Somalia und flohen übers Mittelmeer. Oder sie ließen Armut und Ausweglosigkeit in Westafrika hinter sich.

Etliche verkauften sich als Prostituierte aus dem Baltikum in billigen Bordellen.

Alle diese Frauen lebten unter einem Dach, und jede hatte eine andere Geschichte.

Junge Frauen, deren Familien aus islamisch geprägten Ländern stammten, wollten sich nicht mehr von ihren Eltern bevormunden lassen, endlich wollten sie frei leben, wie ihre Freundinnen, aber schon nach ein paar Tagen litten sie unter Heimweh.

Frauen aus der Türkei, dem Libanon oder dem Irak wurden von ihren Großfamilien verfolgt. Sie hatten Angst, dass sie gefunden würden und dann Schlimmes mit ihnen passieren könnte.

Es gab Frauen, die waren schon drei oder vier Mal im Frauenhaus, wegen desselben Mannes – oder wegen eines anderen. Manchmal hatten Frauen auch keinen Mann, keine Beziehung. Sie waren von einer Zwangsräumung bedroht, wussten nicht, wo sie mit ihren Kindern leben könnten. Auch dann wurden sie im Frauenhaus aufgenommen.

Bettina war schon lange der Meinung, dass mit unterschiedlichen Frauen auch unterschiedlich gearbeitet werden müsse. Eine Frau, die Angst hat und sich von ihrem Mann oder ihrer Familie bedroht fühlt, braucht Schutz und Anonymität, zumindest eine Zeitlang. Dann ist es vielleicht richtig, die Stadt zu verlassen. Manchmal gibt es eine Annäherung in der Paarbeziehung, und es wird vorsichtig Kontakt aufgenommen. In beiden Fällen braucht die Frau Unterstützung.

4. Opa Feldmann

Unten, in Bettinas Elternhaus in Paderborn, mit dem Fenster zur Straße, wohnte Opa Feldmann. Die Kinder nannten ihn Opa, genau wie Opa Korte, den Nachbarn, obwohl sie mit beiden nicht verwandt waren. Opa Feldmann war vor vielen Jahren mit Frau und drei Kindern eingezogen, weil er bei der Reichsbahn in Paderborn eine Stelle bekommen hatte. Vorher hatte die Familie in Borchen gewohnt.

Das Zimmer zur Straße hin war die Küche, geschlafen wurde in den kleinen Kammern, oben neben dem Trockenboden.

Jetzt lebte Bettinas Oma in den beiden Stübchen, und Opa Feldmanns Leben spielte sich in seiner Küche ab.

Wenn es regnete und ihnen langweilig war, klopften Bettina und Sonja an seine Tür.

»Kommt rein, ihr Mäuse!«, rief Opa Feldmann.

»Wir sind aber Katzen«, piepste Sonja zurück.