Freetown - Otto de Kat - E-Book

Freetown E-Book

Otto de Kat

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Beschreibung

Ishmael ist einfach verschwunden. Maria ist unabhängig, unkonventionell und ohne Angst. Sie versucht eine Erklärung für das Verschwinden von Ishmael zu finden, den Flüchtling aus Sierra Leone, der als Zeitungsjunge an ihre Tür kam und sieben Jahre lang blieb. Er war wie ein Sohn für sie. Vincent ist Psychologe. Maria und er hatten einmal eine intensive Liebesbeziehung; seit dem Bruch lebt er in einer Art Nebel. Als Maria ihn um Hilfe bittet, ist er bereit. In den folgenden Begegnungen verschwindet Ishmael mehr und mehr im Hintergrund. Vincent und Maria werden ihre verlorene Liebe nicht zurückgewinnen. Doch allmählich treten an die Stelle des Kummers über den verschwundenen Jungen die alten Geschichten und Erinnerungen.

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Seitenzahl: 154

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Inhalt

[Cover]

Titel

Teil 1

1. Maria

2. Vincent

3. Maria

4. Vincent

5. Maria

6. Vincent

7. Maria

8. Maria

9. Vincent

10. Maria

11. Maria

12. Vincent

13. Maria und Vincent

14. Vincent und Maria

15. Maria

16. Vincent

17. Vincent und Maria

Teil 2

1. Maria

2. Maria und Elizabeth

3. Maria

4. Vincent

5. Maria

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

Freetown

1

1Maria

»Er war ein Fula. War, denn ich habe ihn lange nicht mehr gesehen, ich weiß nicht, ob er noch lebt, oder wo. Er ist einfach verschwunden.

Er war eine Art Sohn. Ein schönes Wort ist das doch, Sohn, darin steckt Verlangen. Sobald ich es ausspreche, sehe ich ihn über unseren Weg gehen, einen Helm auf dem Kopf. Es regnete, es war kurz vor Weihnachten. Ja, ich gebe zu, es klingt ziemlich sentimental.

Als ich die Tür öffnete, stand er mit einer Karte in der Hand vor mir, als würde er darauf warten, wegrationalisiert zu werden – das personifizierte Zaudern, keine Spur von Überzeugung. Er reichte mir die Karte schweigend.

Die Zeitung Trouw wünscht Ihnen schöne Feiertage und ein glückliches neues Jahr.

Ich konnte kaum etwas von ihm sehen, es war dunkel, das Visier seines Helms war ihm halb vor die Augen gerutscht. Die schwarze Jacke und Hose machten den Anblick auch nicht fröhlicher. Ein glückliches neues Jahr, was für eine trübsinnige Art, es zu wünschen.

Ich fragte ihn, ob er nicht den Helm abnehmen wollte, dann könnten wir uns besser unterhalten. Er tat es, und nun sah ich sein Gesicht. Klein und schwarz, verschlossen, mit Augen, die nicht mich ansahen, kurzes, krauses Haar.

»Jeden Tag so früh auf, dann ist bestimmt noch kaum jemand unterwegs, oder?« Etwas in der Art habe ich gesagt, mit dem Reden klappte es bei diesem ersten Mal noch nicht so richtig. Er nickte nur und lächelte ein bisschen, ein ganz kleines bisschen. Im Regen sah es eher wie Weinen aus. Ich gab ihm einen Zehner und dankte ihm fürs Zeitungbringen.

Er wollte gehen, hielt ein wenig ratlos den Geldschein in den Fingern, friemelte ihn in eine Jackentasche und griff dann mit beiden Händen nach meiner Hand. Ich sagte, dass er wiederkommen sollte, falls er einmal keine Arbeit hätte. Vielleicht könnte ich ihm helfen. Warum ich das sagte, habe ich mich oft gefragt.

Dass kein Tag vergeht, an dem ich ihn nicht vermisse, das hat damals angefangen. Ein dunkelhäutiger Junge, Helmträger, der am Rand eines Dschungels aufgewachsen ist und den es in einen Vorort von zeitunglesenden Wohlstandsbürgern verschlagen hat. Natürlich schaute er mich nicht an. Was er um sich herum sah, war schon ungewohnt genug.

Der Klang seiner Stimme, als ich ihn nach seinem Namen fragte.

Ishmael. Leicht nasal ausgesprochen, in der Tonhöhe eines anderen Kontinents.

»Kommen Sie ruhig wieder, wenn Sie etwas brauchen«, sagte ich zu ihm. Was war das für ein verrückter Einfall? Wer fordert einen völlig unbekannten Jungen dazu auf? War es aus einem plötzlichen Impuls heraus, aus einer seltsamen Verlegenheit?

Aber ich meinte es wirklich so, da besteht nicht der geringste Zweifel. Die Wörter überrumpelten mich selbst, das gebe ich zu. Trotzdem war es keine impulsive Reaktion, ich weiß genau, dass sie ausdrückten, was ich empfand.

Später habe ich gedacht, dass es mit der Jahreszeit zusammenhing. Weihnachten, ein fröhliches neues Jahr vor der Tür. Alles unter Kontrolle, jedes Jahr besser als das vorige.

Das ist jetzt fast acht Jahre her. Acht, und sieben davon glücklich. Na ja, nicht ununterbrochen, das gibt es nicht. Aber ich sage glücklich, weil es mir jetzt so vorkommt, denn es waren die Jahre mit Ishmael, und wenn ich an Ishmael denke, ist es so, als würde jemand eine Lampe in mir einschalten.

Es ist ganz lieb von dir, Vincent, dass du mich treffen und mir zuhören wolltest. Und eine sehr gute Idee, hier auf dem Deich spazieren zu gehen. Dabei spricht es sich viel leichter und freier. Ich hatte schon befürchtet, dass du mich zu Hause in deinem Sprechzimmer empfangen würdest und dass ich dann plötzlich nicht mehr wissen würde, was ich sagen soll. Aber so mit dir zu gehen, das hilft mir, meine Gedanken zu ordnen.

Ist es in Ordnung, wenn ich von Ishmael erzähle? Ich habe mich regelrecht festgefahren. Ich suche einen Ausweg, ich möchte die Geschichte mit Ishmael verstehen. Vielleicht wirst du schlau aus dem, was ich dir erzählen will, du hast dich auf anderer Leute Geschichten spezialisiert. Ich hoffe, dass du mir vielleicht erklären kannst, warum er verschwunden ist.

Ich wohne in einem Haus, das ziemlich weit von der Straße entfernt steht. Du kennst es nicht. Vor sechs Jahren sind Maarten und ich umgezogen, wahrscheinlich weißt du nicht einmal das. Dreißig Kilometer stromaufwärts, und man ist in einer völlig anderen Gegend, bei einer anderen Stadt, in der man seine Einkäufe erledigt, und fast nichts erinnert an den früheren Wohnort.

Man muss durch eine kleine Allee, mit mehr Gras als Kies, Bäume und Sträucher auf beiden Seiten. Der Garten ist reichlich groß, das hat mir mein Rücken schon vor Jahren gesagt. Ich habe das Gärtnern aufgegeben, den Garten von unserem vorigen Haus hatte ich noch gepflegt, aber dieser ist abschreckend, gegen den kommt man nicht an.

Ishmael setzte den Helm wieder auf, schloss das Visier und ging langsam durch den Regen. Er hatte sein Moped an den Zaun gelehnt, ich sah ihn aufsteigen. Ich war ein Stück hinter ihm hergegangen, mit aufgespanntem Schirm, und blickte ihm nach. Er fuhr eine enge Kurve und verschwand außer Sicht. Natürlich sehe ich ihn nie wieder, dachte ich. Seltsamerweise stimmte mich das ein bisschen traurig.

Aber dann tauchte er nach einer etwas weiteren Kurve, drei Monate später, wieder auf. Es war kalt, Ende März, der Winter war vorbei, aber der Frühling hatte noch nicht richtig angefangen. Eine tote Zeit, in der alles wartet.

Ich war im Schuppen beschäftigt, stapelte gerade Anfeuerholz auf, als ich ihn am Anfang des Kieswegs stehen sah. Er bewegte sich nicht, anscheinend traute er sich nicht, ungefragt den Garten zu betreten. Ich winkte ihm zu, damit er näher kam, aber er rührte sich nicht vom Fleck, deshalb ging ich zu ihm. Er ließ sich dann zögernd zum Haus mitnehmen. Mir wurde plötzlich bewusst, wie beeindruckend es aussah, das wellige Gartengelände ringsum, die Baumreihen, Hecken, Rhododendren, keine Nachbarn zu sehen, eine Bastion von Wohlstand. Da klopfte man lieber nicht unangekündigt an.

Er habe doch wiederkommen sollen, erklärte er in gebrochenem Englisch. Das hatte er also behalten. Ich glaube, es war kein einziges niederländisches Wort dabei. Das Verrückte ist, dass man in so einer Situation selbst zu stammeln anfängt und nach Worten sucht. Wir verständigten uns quasi mit Händen und Füßen. Wer uns von Weitem gesehen hätte, der hätte gedacht, wir wären zwei Taubstumme.

Die Zeitung hatte ihn entlassen, er hatte einmal verschlafen. Ich hätte am liebsten gleich unser Abo gekündigt.

Manchmal bin ich früh auf. Um sechs Uhr raschelt und knistert draußen eine ganz andere Welt. Ich muss gestehen, dass ich öfter nach ihm Ausschau gehalten hatte, seit er an unsere Tür gekommen war. Als ich dann vor dem Zaun einen älteren Mann absteigen sah, hatte ich mich gefragt, wo Ishmael sein mochte, ob er vielleicht krank war oder ob man ihm einen anderen Bezirk zugeteilt hatte.

Ich fragte ihn, wo er wohnte. Bei einer afghanischen Familie in der Stadt, aber da musste er plötzlich weg. Die Afghanen hatten seinen Koffer einfach vor die Wohnungstür gestellt. Warum, wusste er nicht, er hatte nichts Unrechtes getan, hatte manchmal sogar auf die Kinder aufgepasst und die Miete im Voraus bezahlt. Und nun hatte er nichts mehr.

Natürlich hat er das nicht genau so ausgedrückt, aber ich konnte es mir zusammenreimen. Er sagte gerade so viel, wie nötig war, um es zu verstehen. Später ist mir öfter aufgefallen, dass er sich mit unklaren, halb verschluckten, abgebrochenen Sätzen verständigen konnte. Er forderte mich unabsichtlich dazu heraus, mich in seine Ausdrucksweise hineinzudenken und das Fehlende zu ergänzen. Und fast immer klappte das.

Die Tür stand offen, und ich bat ihn ins Haus. Durch die Diele in mein Zimmer, mein ganz gewöhnliches Zimmer voll angesammelter Vergangenheit. Sachen aus sechzig Jahren, dazu hundert Jahre Geerbtes, Gemälde, eine Uhr, Fotos aus der Vorkriegszeit. Was der Mensch eben so mitschleppt. Du kennst das auch, Vin, ich kann mich noch an fast alles in deinem Zimmer erinnern. Wir können zusammen einen Laden aufmachen, den nennen wir dann ›Mitgeschleppt‹.

Ishmael setzte sich nicht, er blieb mitten im Zimmer stehen, verdattert, oder benommen, das kann auch sein. Ich hatte gar keinen Plan, ich hatte ihn ins Haus geholt, ohne darüber nachzudenken. Und was nun?

Das Schweigen wurde greifbar.

Irgendwann habe ich mir eingeredet, dass er so still war, weil er sich bei mir wohlfühlte, dass ihm die Ruhe angenehm war. Später wusste ich, dass ich da völlig falsch lag. Er hat mir einmal anvertraut, was ihm durch den Kopf ging, als er zum ersten Mal in unserem Haus stand. Er wäre gern möglichst schnell wieder verschwunden. Was wollte ich eigentlich von ihm? Er hätte besser einen Freund angerufen, bei dem er übernachten konnte. Er wollte mir für meine freundlichen Worte danken, aber er musste weg. Und plötzlich war er ganz benommen und hatte das Gefühl, dass er jeden Moment umfallen konnte.

Er fragte, ob er sich setzen dürfte und ob ich vielleicht einen Schluck Wasser für ihn hätte, danach würde er sich wieder auf den Weg machen.

Er sah aus, als hätte er seit Tagen nichts gegessen. Ich sagte, dass er sich schnell hinsetzen sollte, ich würde Wasser holen. Er war kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte, ein zerbrechlicher Junge in der Sofaecke.

So wie ich mich jetzt bei dir fühle, zerbrechlich, klein, weinerlich. Entschuldige.

Sieh mich doch nicht so an. Manchmal weiß ich einfach nicht mehr, was ich sagen soll, du brauchst nicht alles zu wissen, und du darfst mich auf keinen Fall drängen. Ach nein, das klingt gar nicht nett, so meine ich es nicht. Es gibt nur einen, der so zuhören und dem ich alles anvertrauen kann. Du sollst mich sogar drängen. Du darfst alles wissen.

Ja, ich habe ihm Wasser gebracht. Er nahm das Glas vorsichtig an und trank es in einem Zug aus. Und dann sagte er »vielen Dank«, mit dieser unglaublichen Stimme, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Kennst du vielleicht eine Methode, mit der man diese Dinge wieder loswird, eine Stimme, Gesten, ein Gesicht, Augen?

Nein, ich meine nicht reden, reden ist so oft nur ein Vor-sich-her-Schieben, oder ein Produzieren von Geräuschen, um die Stille nicht zu hören. Nein, etwas, das wirklich helfen würde. Alles aufschreiben? Aber ich will auch wieder kein Drama daraus machen, obwohl es jetzt ganz danach aussieht. Wie kann ich unbeschwert weitermachen, wie lassen sich die Jahre mit Ishmael in das Gesamtbild einfügen, wie lässt sich das Glück, das ich empfunden habe, möglichst einfach bewahren? Ist es nicht seltsam, dass unser sogenanntes Glück im Nachhinein etwas Bitteres bekommt? Vielleicht begreifst du das, ich nicht.

Ich fragte ihn nach seinem Nachnamen.

Bah, sagte er. Bah? Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass er so hieß. Seitdem schreibe ich den Namen ohne Nebengedanken, oder vielmehr schrieb, denn ich schreibe ihm nicht mehr. Ich weiß einfach nicht, wo er jetzt lebt, und Briefe ließ er am liebsten ungeöffnet. Er hatte nicht viel für unsere Sprache übrig. Dabei habe ich mir wirklich Mühe gegeben. Jahrelang haben wir zusammengesessen und Wörter und Sätze gebildet. Lesen ging einigermaßen, aber beim Schreiben gab es kaum Fortschritte. Ein paar Großbuchstaben, sein Name, ganz wenige Wörter: ›Bis morgen‹.

Ich schweife ab, wo war ich stehen geblieben? Er saß da, und ich war zum Fenster gegangen und schaute hinaus, auf die kahlen Eichen und die immergrünen Stechpalmensträucher. Als wäre in ihnen eine Antwort zu finden.

Sie können ruhig erst einmal bei uns wohnen, sagte ich.

Ein Satz aus einem Roman. Niemand sagt das einfach so. Ich schon, eine Eingebung, ich hatte ja nicht mal mit Maarten darüber gesprochen, allerdings war er dann völlig einverstanden.

Aber Ishmael schüttelte den Kopf. Nein, nein, er habe einen Freund, Sheppard, bei dem könne er bleiben. Deswegen sei er auch nicht gekommen, er habe seine Arbeit verloren, und ich habe gesagt, dass ich ihm vielleicht helfen könne. In Bruchstücken Flüchtlingssprache.

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was er gelernt hatte oder gern machen würde, und natürlich konnte ich ihm nicht einfach schnell zu irgendeiner Stelle verhelfen.

Trotzdem sagte ich, ich würde schon etwas finden, ich müsse darüber nachdenken, ich würde es mit meinem Mann besprechen.

Mit meinem Mann besprechen, eigentlich doch eine biedere Ausrede. Wer das sagt, mit meinem Mann besprechen, oder mit meiner Frau, der sucht meistens nach einem Vorwand, um etwas aufzuschieben und am Ende doch nichts zu tun.

Zum ersten Mal schaute er mich an, ungläubig, nein, eher verwundert. Oder war es der Blick eines Menschen, der alles nimmt, wie es kommt, weil er alles zurücklassen musste?

Ach, ich rede sinnloses Zeug, wie soll man wissen, was ein Blick bedeutet. Über einen Blick aus fremden Augen, die man nie zuvor gesehen hat, kann man doch nichts Vernünftiges sagen. Also, Ishmael schaute mich an, ja, und ich war froh darüber, plötzlich war kurz ein Kontakt hergestellt. Nicht lange. Er wandte sich schnell wieder ab, irgendetwas schien ihn zu erschrecken. Regen prasselte ans Fenster, im Haus schlug eine Tür zu.

Sie bringen immer Regen mit, sagte ich mit einem Lächeln, aber er reagierte nicht. Lächeln war ihm fremd. Erst viel später hat er ein bisschen lächeln gelernt, aber leicht fiel es ihm nie.

Ich komme vom Hölzchen aufs Stöckchen, ich weiß, aber auch das bringt mich hoffentlich weiter. Diese ersten Begegnungen mit ihm liegen schon so lange zurück. Ich befürchte, dass ich etwas übersehe. Irgendwo in meiner Erinnerung an den ersten Besuch liegt eine Erklärung für das, was später kam, für sein Verschwinden. Was habe ich nicht gesehen?

Wie sich dann zeigte, hatte ihn nicht der Regen oder eine zuschlagende Tür erschreckt, sondern unsere Hündin, die unbemerkt hereingekommen war und neben ihm aufs Sofa sprang. Afrikaner haben es nicht so sehr mit Hunden, glaube ich, und Zeitungszusteller schon gar nicht. Er wehrte sie ab, bevor sie ihm übers Gesicht schlecken konnte. Sie ist ein unglaublich lieber Hund, du hast sie nie gesehen, Bijke heißt sie. Verrückt nach Menschen, einschließlich Einbrechern.

Mit Ishmael ist es so geblieben: Wenn er morgens in den Garten kam, rannte sie auf ihn zu und wollte ihn quasi umarmen, aber er hielt die Hände ausgestreckt vor sich, um sie wegzuschubsen.

Ich schaltete ein paar Lampen ein und hätte am liebsten den Kamin angemacht. Es war gegen halb drei, eine müde Tageszeit, aber damals nicht. Ich war sehr wach, so wach wie selten. Aber auch unsicher. Ishmael saß nur still da und mied meinen Blick, wie eingefroren, und eingeschüchtert von unserer Hündin, die ihm vergeblich ihre Pfote hinstreckte.

Später, ich habe oft darüber nachgedacht, immer wieder habe ich nach einer Ursache für sein Verschwinden gesucht, nach etwas, das mich hätte warnen müssen – also später kam mir der Gedanke, dass ich mich ihm gegenüber vielleicht von Anfang an falsch verhalten habe. Ich hätte ihm nie anbieten dürfen, bei uns zu wohnen. Viel zu direkt, ein idiotischer Vorschlag, viel zu unerwartet und beängstigend. Oder nicht? Es ist doch keine Art, jemanden so zu überfallen. Immer zu eilig, du kennst das ja von mir, ich hätte ihm erst ruhig zuhören sollen, ihn seine Geschichte erzählen lassen sollen, soweit das möglich war, und mir dann zusammen mit ihm etwas überlegen. Aber ihn nicht gleich mit dem Angebot überrumpeln, bei uns einzuziehen. Er kannte uns doch nicht. Was sollte er bei uns? Ich sage ›uns‹, dabei hatte er Maarten noch gar nicht gesehen.

In Afrika gibt es zu Hause nie Männer, nur Frauen. Männer streifen durch die Gegend, oder sie sind tot. Männer kommen und gehen oft nur. Ein Vater ist etwas Vorübergehendes, um es mal so auszudrücken. Ich verallgemeinere, ich weiß. Afrika ist nicht überall gleich, aber auf Sierra Leone trifft das schon zu, glaube ich.

Sierra Leone, ja, da kam Ishmael her. Ich habe ihn danach gefragt, damit er wieder etwas sagte, und weil ich den Gedanken an mein überstürztes Angebot vertreiben wollte.

Er hatte die rechte Hand schützend zur Seite gestreckt, um Bijke auf Abstand zu halten. Ich sah seine blasse Handfläche mit den dunklen Rändern. Es dauerte noch einen Moment, bis er sagte: aus Sierra Leone. Ich versuchte mich zu erinnern, wo genau das lag, ich war nie jemandem aus Sierra Leone begegnet, der Name war nicht viel mehr als ein paar Laute, die ich im Zusammenhang mit Diamanten und Bürgerkrieg gehört hatte. Aber das war lange her, darüber wurde längst nicht mehr berichtet. Normalerweise dachte man nie an Sierra Leone, wirklich nie. Heute weiß ich viel mehr, ich habe Menschen kennengelernt, die wie Ishmael von dort geflüchtet sind, und ich weiß, dass dieser grauenvolle Bürgerkrieg nie aufgehört hat.

Er nannte übrigens nur den Namen, fast unhörbar, fast entschuldigend. Es klang so, als sollte ich dem nur ja keine Bedeutung beimessen, er war schließlich nicht dort, lebte nicht mehr dort, dieses Land war etwas Vorübergehendes. Ja, wie ein Vater. Es klingt weit hergeholt, wenn ich das so sage, aber ich habe darüber nachgedacht, ich sage es nicht, um originell zu sein. Ich glaube wirklich, wenn man keinen Vater hat, hat man auch kein Vaterland. Dann stimmt die Landkarte nicht, der Kompass dreht durch, man verirrt sich.

Eine Mutter begleitet einen immer, wohin man auch geht. Von ihr wird man nie getrennt, sie ist da, man ist seine Mutter, und man hat einen Vater. Oder eben nicht. Haben und sein, zwei Welten. Kennst du dieses Gedicht von Ed. Hoornik, ›Haben und sein‹? Ein Dichter, der schon seit Jahren vergessen ist. Hat ein paar wunderbare Gedichte geschrieben. Heute werden seine gesammelten Werke gerade mal fünf Euro kosten, vermute ich. Fünf Euro für das lebenslange Ringen um ein paar schöne Zeilen. In so einem Buch stecken für eine Million Jahre Gefühle und Gedanken, Angst und Todesnot, und grenzenlose Geduld bei der Suche nach dem einen richtigen Wort.

Fünf Euro für ein Leben. Ja, fast so wie in dem Bürgerkrieg in Sierra Leone. Da war ein Leben sogar noch weniger wert, es gab unzählige Tote, ein Leben zählte gar nicht.

Bist du mal in Westafrika gewesen? Ich musste erst nachsehen, welche Länder es da gibt, und welche Städte. Elfenbeinküste, Gambia, Senegal, Liberia, Guinea. Conakry, Bissau, Dakar, Freetown.