Freigang - Calvin Malone - E-Book

Freigang E-Book

Calvin Malone

4,8

Beschreibung

Was würdest du tun, wenn jemand deine Hilfe braucht, du dich aber selbst in Gefahr bringst? Wenn dich ein Messer bedroht, ein Verrückter Amok läuft, dich dein Mitbewohner betrügt oder du den Umständen hilflos ausgeliefert bist? Calvin Malone, einst ein gewalttätiger, zorniger junger Mann, muss Entscheidungen wie diese treffen. Jeden Tag. Denn Calvin sitzt im Knast. Seit 20 Jahren. Und Calvin ist Buddhist! Seine Geschichte, knallhart, ehrlich und inspirierend, zeugt von einem Mut und einer Kraft, die Grenzen sprengt und hoffnungsvolle Perspektiven eröffnet. Wer Würde, Mitgefühl und Wahrhaftigkeit lebt, wird zum Freigänger - selbst im Gefängnis. Es lohnt sich - dieses Buch! Unter allen Umständen!

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Titel der Originalausgabe: Razor-Wire Dharma erschienen bei

Wisdom Publications, Somerville, MA

© Calvin Malone, 2008

Vollständige E-Book-Ausgabe der bei J.Kamphausen Verlag &

Distribution GmbH erschienenen Printausgabe

Calvin Malone: Freigang

Übersetzung: Rainer Scholz

© Deutsche Ausgabe: Aurum in J. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH, Bielefeld 2011; [email protected]

Lektorat: Hendrik Bönisch

Umschlag, Typografie/Satz: Wilfried Klei

Covermotiv: photocase – kallejipp

Motiv Innen: © Dirk Czarnota – Fotolia.com

www.weltinnenraum.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2011

ISBN Printausgabe: 978-3-89901-453-2

ISBN E-Book: 978-3-89901-561-4

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

Calvin Malone

FREI

GANG

Warum es sich lohnt,unter allen Umständen

BUDDHIST zu sein

Mit einem Vorwort vonSensei Sunyana Graef

Den vier Menschen gewidmet,deren Begeisterung für dieses Buchmir den Mut gab, niemals aufzugeben:

Meiner Mutter,Eleanor Mussen,dafür, dass sie immer für mich da ist

Sensei Sunyana Graeffür all die Jahre der Unterstützung

Dem Zen-Priester Vanja Palmersdafür, dass er an mich glaubt

Shane Kellbergfür Treue und Hingabe

Vorwort der Herausgeberin

Danksagungen

Einleitung

Den Weg einschlagen

Der Abgrund

Beäugen

Banane

Neunundvierzig

Bulldog und Weihnachten

Der Heimat ein Stückchen näher

Ätherisches Öl

Ärger

Sich einlassen

Derrick

Suppe

Munny

Zen-Meister wider Willen

Köder binden

Apfel

Hacksaw

Shawn

Artischockenherz

Metta

Freiheit

Gefährliche Begegnung

Loslassen

Frohe Feiertage

Wunder

Unsere Gärten befreien

Nachsatz

Anmerkung des Autors

Anhänge

I. Die vier edlen Wahrheiten

II. Meditation

Über den Autor

Vorwort der Herausgeberin

Vor Jahren sprach ich mit meinem Lehrer, Roshi Philip Kapleau, darüber, ein Opfer zu bringen, dass einem selbst vielleicht schaden könnte, aber auf jeden Fall jemand anderem helfen würde. Ich fragte ihn, was er in einer solchen Situation tun würde. Er praktizierte seit mehr als 40 Jahren Zen-Buddhismus und ich war mir sicher, die Antwort zu kennen – bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, platzte ich heraus: „Du würdest sofort handeln, Roshi, ohne darüber nachzudenken!“ Er sah mich an und schaute dann zu Boden, ohne ein Wort zu sagen. Eine Minute später antwortete er, sanft und bedächtig: „Ich würde gern von mir behaupten, dass ich das täte.“

Die Demut meines Lehrers ist mir im Laufe der Jahre viele Male wieder in den Sinn gekommen, doch niemals eindringlicher als beim Lesen von Calvin Malones Geschichten. Es erfordert Mut und Überzeugung, Entscheidungen zu treffen, die das Wohlergehen anderer über unser eigenes stellen. Diejenigen unter uns, die eine spirituelle Disziplin praktizieren, welche am Bodhisattva-Ideal, alle fühlenden Wesen zu befreien, ausgerichtet ist, hoffen, dass unsere Reaktionen in Zwangssituationen mitfühlend und weise sein werden, selbstlos und liebend. Doch wir wissen nicht wirklich, wie sie ausfallen werden – denn nur wenige von uns kommen jemals in eine Situation, die uns in dieser Hinsicht prüfen würde.

Wie würden wir reagieren, wenn wir einem messerschwingenden Angreifer, einem durchgeknallten Verrückten, einem lügenden Dieb oder einem verzweifelten jungen Mann, der Schutz vor brutalen Schlägern sucht, gegenüberständen? Was, wenn die mitfühlende Entscheidung unsere Bequemlichkeit unterbrechen und uns unmittelbar der Gefahr aussetzen würde? Im Gefängnis, dem einzigen Ort, an dem Calvin jemals dem Dharma begegnete und ihn seither praktiziert, sind das keine hypothetischen Fragen. Deine Sicherheit, dein Wohlergehen, dein innerer Frieden sind hinter Gittern niemals selbstverständlich und deine Reaktion auf eine Situation kann ganz buchstäblich eine Entscheidung zwischen Leben und Tod darstellen – für dich oder für jemand anderen.

Es war mir eine besondere Ehre, mit Calvin bei der Bear-beitung seines Materials für die Veröffentlichung zusammenzuarbeiten. Die Geschichten reichen von der Zeit vor Calvins Haft bis zur Gegenwart und wurden in einem Zeitraum von 15 Jahren in verschiedenen Gefängnissen des Staates Washington geschrieben. Die Berichte in diesem Buch sind wahr, doch die Namen der beteiligten Personen wurden geändert – obwohl sämtliche ausführlich porträtierten Gefangenen Calvin sagten, dass sie sich geehrt fühlten, in dieses Buch aufgenommen zu werden.

Beim Lesen von Calvins Geschichten werden Sie sich vielleicht fragen, wie Sie mit den Herausforderungen umgegangen wären, denen er sich im Gefängnis gegenübersah. Ich habe dies auf jeden Fall getan. Calvin nahm 1992 zum ersten Mal Kontakt zu mir auf und begann wenig später damit, mir seine Aufzeichnungen zu senden. Manchmal waren das Nebenbemerkungen in handgeschriebenen Briefen – „Letzte Woche ist was Komisches passiert“ (gefolgt von der Geschichte, die hier mit dem Titel „Apfel“ auftaucht) – manchmal waren es sorgfältig getippte Berichte, die allein für sich standen. Ich war von der Kraft und dem Mut der Geschichten überwältigt. Sie waren fesselnd, inspirierend, ehrlich. Oftmals wurde ich dazu bewegt, seine Worte bei Zen-Vorträgen meinen Schülern vorzulesen, und viele seiner Sätze fanden ihren Weg in unseren monatlichen Newsletter und in diejenigen anderer buddhistischer Gruppen. Jede Geschichte war das Geschenk von jemandem, der sich den Dharma wirklich zu Herzen nahm.

Calvin war seiner eigenen Aussage nach ein gewalttätiger und zorniger Mann, als er ins Gefängnis kam. Daher war seine Wandlung, als sie eintrat, umso dramatischer. Gleichwohl ist es nur nachvollziehbar, wenn man sich fragt, ob einige der Situationen, von denen er berichtet, und seine Reaktionen darauf wohl überhaupt wahr sein könnten. Da ich bei keinem der Ereignisse, über die Calvin schreibt, Augenzeugin war, beurteile ich die Richtigkeit dieser Geschichten anhand meiner Bekanntschaft mit Calvin durch unseren jahrelangen Schriftverkehr, einige Anrufe, ein paar Besuche und die Aussagen anderer (in erster Linie buddhistische Lehrer von der Westküste der Vereinigten Staaten), die mehr Gelegenheiten zu direktem Kontakt von Angesicht zu Angesicht mit Calvin hatten als ich.

Doch das überzeugendste Beweismaterial stammt von den zahlreichen Menschen, denen Calvin im Laufe der Jahre geholfen hat und die mir aus vielerlei Gründen geschrieben haben. Brief für Brief legt Zeugnis über Calvins Großzügigkeit und Mitgefühl ab. Ein kambodschanischer Häftling fügte einen Brief seines Anwalts, mit der Nachricht über den erfolgreichen Abschluss seines Verfahrens vor der Einwanderungsbehörde, bei. Ohne Calvins Hilfe hätte er niemals jemanden gefunden, der bereit gewesen wäre, ihn kostenlos rechtlich zu vertreten. Es sind Briefe von vietnamesischen Gefängnisinsassen (die oftmals um Malas oder Bilder des Buddhas baten) eingetroffen, die mit den Worten „Calvin Malone hilft mir bei diesem Brief, da ich Schwierigkeiten damit habe, auf Englisch zu schreiben“ beginnen. Da ist ein bewegender Brief von einem jungen Mann, der soeben ein Paket Kleidung und etwas Geld erhalten hatte und schreibt: „Ich schulde Euch ein großes Dankeschön, und ich wünschte, ich könnte meinen Dank zum Ausdruck bringen, doch ich weiß wirklich nicht, wie. So etwas wie das hier habe ich noch nie bekommen.“ Er wusste nicht, dass die Person, die jenes Geschenk anonym mit großem Aufwand organisiert hatte, Calvin gewesen war; das Paket war lediglich vom Vermont Zen Center versandt worden. Und dann sind da noch die Karten von Calvin selbst, denen Geld beiliegt: „als Spende zur Linderung von Leiden“, „um jemanden ins Camp zu schicken“,* „eine Zuwendung, um zu helfen“ und viele, viele mehr.

Ein Häftling, Shawn Bayer (der in diesem Buch im Kapitel „Shawn“ vorgestellt wird), schreibt:

„Anfangs konnte ich kaum begreifen, wie Calvin es schaffte, mit all dem, was er für andere tat, Tag für Tag weiterzumachen. Calvin hat durch sein Beispiel und sein geduldiges Da-Sein einen bedeutenden Einfluss auf mein Leben ausgeübt. Er brachte mir ungeheuer viel bei, sowohl über kleine als auch über große Dinge. Er lehrte mich die Bedeutung von Wissen; er lehrte mich Mitgefühl und Liebe, Treue und Freundschaft und Verantwortlichkeit. Das sind Dinge, über die Jungs im Gefängnis nicht gerne reden, und Calvin lehrte mich auch, dass es in Ordnung war, das zu tun.“

Ein anderer Insasse, Adam Prescot, schickte Folgendes, nachdem er einen frühen Entwurf von Calvins Buch gelesen hatte:

„Calvin war so ein guter Freund und hat mir dabei geholfen, einige harte Zeiten durchzustehen. Durch ihn habe ich viel über mich selbst gelernt. In seinem Buch scheint seine Persönlichkeit genau so durch, wie ich sie kenne. Er bringt immerzu Freude und Verständnis ...“

In einer der eindrucksvollsten Geschichten, „Suppe“, ist die Wandlung der Person, mit der Calvin seine Begegnung beschreibt, so erstaunlich, dass ich Calvin darum bat, mir etwas „stützendes Beweismaterial“ zu übersenden. Nach kurzer Zeit traf ein Paket mit Briefen ein, die Calvin im Laufe der letzten Monate von Brad (dem jungen Mann aus der Geschichte) und Brads Mutter geschickt worden waren. In einem von ihnen schrieb Brad Folgendes:

„Ich war wütend auf die Welt, ich war die ganze Zeit zornig, und hatte nichts, was ich erreichen oder verwirklichen wollte. Jetzt habe ich kurzfristige und langfristige Ziele. Ich nehme keine harten Drogen mehr und das soll auch so bleiben. Ich bin sowohl körperlich als auch geistig in der besten Verfassung meines Lebens, UND ALL DAS VERDANKE ICH DIR, BRUDER. Also selbst wenn Du NIE wieder irgendjemandem helfen solltest, kannst Du immer noch zurückblicken und Dir sagen, dass Du einem jungen Mann geholfen hast, von dem die meisten Leute sein ganzes Leben lang behaupteten, dass ihm nicht mehr zu helfen wäre. Das muss etwas wert sein. Mal ganz davon abgesehen, dass ich mein GED* bekommen habe!“

Und das kam von seiner Mutter: „Dein Lichtstrahl und Deine Worte haben einen Ort in Brad berührt, den ich nicht erreichen konnte! Er hält große Stücke auf Dich. Danke!“

Im Gefängnis geschieht Merkwürdiges. Einige Leute steigen in die Tiefen der Hölle hinab, doch andere – wie Calvin – gehen im Gefängnis durch ein Feuer, das ihnen ermöglicht, eine komplette Wandlung zu vollziehen. Das Ergebnis ist spirituelles Wachstum und das Aufblühen von Mitgefühl. Calvins buddhistische Praxis hat ihn dazu gebracht, seine Gedanken, seine Gefühle, seine Handlungen und seine Reaktionen aufmerksam zu betrachten.

Ob wir nun im Gefängnis sitzen oder nicht, wir unterscheiden uns gar nicht so sehr voneinander; es ist vielmehr eine Sache des Abstufungsgrads als unterschiedlicher Wesensarten. Jeder unserer Gedanken kann in Emotionen ausbrechen, jede unserer Emotionen kann in Handlungen aufflammen. Bei den meisten von uns werden jene Handlungen niemanden physisch in lebensbedrohliche Gefahr bringen. Nichtsdestoweniger setzen wir aus buddhistischer Sicht jedes Mal, wenn wir unseren niederen Gefühlen nachgeben, unser Leben – unser Leben der Einheit – aufs Spiel.

Obwohl Calvin kein Zen-Lehrer ist, ist er jemand, der den Dharma ernst nimmt und achtsam daran arbeitet, ihn in sein Handeln einzubinden. Das geht direkt bis ins Mark spiritueller Praxis – zu lernen, Weisheit und Mitgefühl in unserem täglichen Leben zu verwirklichen. Die Früchte dieser Arbeit sind zwischen den Umschlägen dieses Buches zu bewundern. Einige der Geschichten sind komisch, einige erschütternd, einige ergreifend. Alle bringen den Dharma als lebendige Wirklichkeit in jemandem zum Ausdruck, der versucht, die Praxis zu leben und nicht bloß darüber zu reden. Das ist wahrer Buddhismus.

Sunyana Graef

Vermont Zen Center

Shelburne, Vermont

* „Ins Camp schicken“ bedeutet wahrscheinlich, einer Person die Teilnahme an einem Retreat zu ermöglichen, also eine ausgedehnte Praxisperiode in abgeschiedenem Umfeld. Aber es könnte natürlich auch einfach eine Spende für die Teilnahme eines mittellosen Kindes am Sommercamp gemeint sein.

* General Education Diploma, eine Urkunde, die dem Inhaber bescheinigt, dass er über akademische Fähigkeiten verfügt, die über eine Art zweiten Bildungsweg erlangt wurden und dem amerikanischen High-School-Level entsprechen.

Danksagungen

An der Entstehung dieses Buches waren buchstäblich Tausende von Leuten beteiligt: Freunde von Freunden, Familienmitglieder auftauchender Figuren, Lehrer, Schüler, Bewunderer und Kritiker gleichermaßen. Ich kann mich nur bei einer Handvoll von ihnen bedanken, und falls ich irgendjemand Nahestehenden übersehen habe, ist das keine Absicht – doch ich hoffe, Du weißt, dass auch Du daran beteiligt warst, dieses Buch möglich zu machen. Danke Euch allen:

Judy Patterson · Lama Inge · Dharmachari Aryadakha ·

Ilsang Jackson · Ken & Visakha Kawasaki · Rowan Conrad ·

Sunyana Graef · Ti’an Callery · Noah Young · Oswaldo Burgos ·

Dale Crittenden · Clyde Nipp · Dirk McClinton · Brian Lamb ·

Roy Queen · James „Padma“ Pliley · Jacob Meeks · Josh Hobbs ·

Taigen Henderson · Brian Moore · Jerald Rapali · Victor Vasquez ·

Randy Robinson · Harvey Talbert · Viet Ngo · Billy Trick ·

Hung Truong · Keith Schoening · Marc Malone · Jim Bedard ·

Scott Kobai Whitney · Eido Frances Carney · Dan Bouton ·

Eleanor Mussen · Vanja Palmers · Shane Kellberg ·

Richard Sloderbeck · Henry Hodgman · Minh Thach ·

Steven Baird · Die buddhistische Gefängnisgruppe des AHCC ·

Jeremy Yeager

Einleitung

„Das Einzige, was Dir gehört, und das Einzige, was Du hast, ist Dein Wort. Ohne Dein Wort bist Du bloß ein armer, völlig abgebrannter Häftling.“ Mit geringfügigen Variationen ist das gängige Gefängnisweisheit. All die Jahre hindurch habe ich versucht, diesem Prinzip, das ich für unumstößlich hielt, zu folgen. Doch ich glaube nicht mehr völlig daran.

Da gibt es andere Sachen, die dir zur Verfügung stehen. Du kannst den Mut und die Beharrlichkeit aufbringen – so wie auch die Hingabe – zu praktizieren. Du kannst die Fähigkeit erwerben, dein Denken und Handeln zu verändern und zu einer besseren Person zu werden. Du kannst so tiefe und bereichernde Freundschaften pflegen, dass Einsamkeit kein Problem mehr darstellt. Du kannst die Kraft haben, innerhalb deiner Umgebung positive Veränderungen zu bewirken, die sich wellenförmig bis über die Gefängnisgrenzen hinaus ausbreiten.

Ich weiß, dass sich das bewahrheiten kann. Doch die Tatsache, dass ich mich im Gefängnis befinde, bleibt, und gelegentlich bricht die nackte Erkenntnis dieser Tatsache beim Aufwachen über mich herein. Eine meiner größten Ängste in der Haft ist, „institutionalisiert“ zu werden. Die Art und Weise, in der das Gefängnis jeden Tag in jedem Augenblick die Kontrolle über Zeit, Ort und Raum ausübt, bewirkt, dass man leicht in Selbstgefälligkeit und Stumpfsinn verfallen kann. Ich liege im Bett und weiß, dass ein weiterer zermürbender Tag vor mir liegt. Von den drei aufgetischten Mahlzeiten wird vielleicht, aber nur vielleicht, eine halbwegs genießbar sein. Die große Anzahl psychisch Kranker, die hier inhaftiert sind, wird ziellos umherirren, und ihre Unberechenbarkeit ist eine stetige Quelle der Unsicherheit. Willkürliche Regeln kommen zur Anwendung, wenn ich es am wenigsten erwarte. Gewalt lauert direkt hinter der nächsten Ecke. Ein weiterer Tag grauer Eintönigkeit wird jede Aktivität begleiten.

Während ich es diesem Gedankenfluss erlaube, sich seinen Weg zu bahnen, werde ich mir schließlich bewusst, wie lächerlich dieses ganze Selbstmitleid ist. Ich bin gesund. Ich bin von der Gewalt auf den Straßen, Autounfällen und anderen Gefahren des Straßenlebens abgeschottet. Ich bin weit entfernt von Kriegen. Ich bin nicht am Verhungern, und ich schlafe gut. Ich erkenne, dass ich es zugelassen habe, mich von der Täuschung überrollen zu lassen – wenn auch nur für einige Augenblicke. Diese Täuschung ist dieselbe, der die Menschen überall unterliegen. Wir legen uns selbst Beschränkungen auf und erschaffen ein Gefängnis, das einengender und gefährlicher ist als das Leben hinter Mauern und Stacheldraht.

Das Meditieren vor meinem Altar verwandelt meine Umgebung in etwas Universelles. Ich spüre, dass ich zusammen mit Millionen von Wesen sitze, ohne die Fesseln der Anhaftung, Abneigung oder einer Vielzahl anderer Leiden. Hier ist der Punkt, an dem alle Hemmnisse und Hürden hinweggefegt werden und Frieden und Freiheit regieren. Das ist der große Nutzen davon, den Dharma im Gefängnis zu praktizieren.

Gleichzeitig kann diese Praxis aber auch ein brennender Schmerz sein. Der Schmerz kommt nicht vom übermäßigen Sitzen vor einem Altar. Es ist der Schmerz, der die Selbsterkenntnis und den aufrichtigen Umgang mit persönlicher Unvollkommenheit begleitet.

Mit der buddhistischen Praxis habe ich kurz nach meiner Inhaftierung begonnen. Mit dem Ablauf jeden Jahres konnte ich tatsächlich tiefgreifende Veränderungen meiner Sichtweise feststellen. Trotz der Umgebung, oder vielleicht auch wegen ihr, wurde ich zu einer mitfühlenderen und verständnisvolleren Person. Immer dann, wenn ich selbst davon überzeugt war, dass ich ein ziemlich gutes Verständnis der grundlegenden Lehren Buddhas hätte, tauchte jedes Mal ein Gefangener oder ein Wärter auf, der als Lehrer einsprang, um mich wissen zu lassen, dass ich gerade erst damit angefangen hatte.

Wie überall sonst auch, gibt es im Gefängnis zahllose Lehrer und endlose Gelegenheiten zum Üben. Wenn du draußen auf eine Situation stößt, die unangenehm ist, stehen dir eine Menge Wahlmöglichkeiten zur Verfügung. Du kannst sie offen und direkt angehen, oder du kannst dich in dein Auto setzen und eine Runde fahren. Du kannst versuchen, sie zu vergessen, indem du dich betrinkst oder andere Drogen nimmst, oder du kannst einen Waldspaziergang machen. Du kannst essen, was immer du magst, oder einen Freund anrufen.

Im Gefängnis finden sich nur wenige Ausweichmöglichkeiten. Gefängnis ist eine schonungslose Art von Erfahrung. Dort gibt es gewalttätige Leute, gewiefte Gauner, die Gutherzigen, die Raubtiere, die Unwissenden, die Ungebildeten, jene, die aufrichtig, und jene, die faul sind. Viele haben ihr Leben aufgegeben und irren einfach nur durch den Tag, auf der Suche nach jemandem oder etwas, der oder das ihnen hilft, den jeweiligen öden Augenblick zu überstehen. Sie laden all ihre Sorgen bei dir ab oder bitten dich um Rat in der Hoffnung, dass du ihre persönlichen Probleme mit einem kurzen, prägnanten Zitat lösen könntest. Ich habe gelernt, den meisten Leuten aufmerksamer und verständnisvoller zuzuhören, aber ich lasse es nicht zu, dass sie mich dazu benutzen, ihre Zeit für sie abzusitzen.

Als die Jahre sich ihren Weg in dieses neue Jahrtausend bahnten, fühlte ich mich vom Ansturm des Leidens um mich herum etwas ausgelaugt. Die steigende Anzahl der psychisch kranken Gefangenen fügte dem unter den Inhaftierten stark verbreiteten Schmerz und Leid eine neue Dimension hinzu. Es ist schwierig, die eigentliche Ursache zu erkennen, weshalb einige Leute hier sind. Dazu kommen noch diejenigen, die von Crystal Meth, Heroin oder irgendeiner anderen Droge abhängig sind, und schon hast du ein Umfeld, das auf vielerlei Ebenen entmutigend wirken kann.

Für Gefangene, die gerade erst mit buddhistischer Praxis begonnen haben, kann die Herausforderung, mit den vielschichtigen Problemen anderer Gefangener umzugehen, unter Umständen unüberwindbar sein. Sie finden es möglicherweise einfacher, dem Reiz des Fernsehers oder des nächsten Kartenspiels zu erliegen. Erfahrene Praktizierende neigen dazu, einen „Praxis-Kokon“ zu bilden, um sich selbst vor den noch Unglücklicheren zu schützen. Auch wenn das eine Methode zur Selbsterhaltung sein kann, hält es gleichzeitig die Praktizierenden von Gelegenheiten fern, ihre Praxis zu vertiefen, indem sie sich auf andere Gefangene einlassen, die Hilfe brauchen und offen dafür sind, sie zu empfangen.

Dieses Buch ist aus meinen Erfahrungen im Gefängnis entstanden und zielt darauf ab, den Menschen buddhistische Sichtweisen zu vermitteln, die daran interessiert sind, ihr Leben zu verbessern – sei es innerhalb oder außerhalb einer Haftanstalt. Ein Gefängnis kann ein erbarmungsloser Ort sein – aber die Welt außerhalb der Gefängnistore kann genauso sein. Wenn wir das Leiden unserer Mitmenschen lindern wollen, müssen wir lernen, wie wir mitfühlend mit allen um uns herum umgehen können – sowohl unseren Freunden als auch Menschen, die uns möglicherweise Schlechtes wünschen.

Meiner Erfahrung nach ist der Dharma-Weg eine Methode, wahres Glück zu erreichen. Ihm uneingeschränkt zu folgen, ist wohl die schwierigste Herausforderung im Leben eines jeden Menschen. Doch der darin liegende Nutzen ist unermesslich. Die Güte, die wir anderen erweisen, dehnt sich in kleinen Wellen endlos durch das Universum aus.

Mögen alle Wesen glücklich sein.

Mögen alle Wesen wohlauf sein.

Mögen alle Wesen Frieden finden.

Den Weg einschlagen

In der Vollzugsanstalt einen Job zu bekommen, ist selbst im günstigsten Fall schwierig. Die meisten Stellen finden sich im Küchen- oder Hausmeisterbereich und bestehen häufig aus Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, wie Zigarettenkippen zusammenfegen oder Tische wischen, die bereits sauber sind. Ein paar Insassen haben das Glück, erstklassige Jobs in der Bildungsabteilung, im Freizeitbereich oder in der Bücherei zu ergattern. Stellen werden nur dann frei, wenn jemand stirbt oder ins „Loch“ gesteckt wird, und meistens werden diese Positionen von Lebenslänglichen übernommen. Alle anderen dürfen sich mit Routinejobs abfinden, vor allem die Neuzugänge.

Als ich drei Monate meiner Strafe abgesessen hatte, hörte ich, dass ein Job in der Gefängniskirche frei geworden war, und stürzte mich auf diese Gelegenheit, obwohl ich – so, wie die Dinge lagen – nicht daran glaubte, auch nur die geringste Chance zu haben. Das größte Problem, mit dem ich beim Bewerbungsgespräch konfrontiert werden würde, war das ungeschriebene Gesetz, dass der Kaplan ausschließlich Christen einstellte.

Ich war überzeugter Atheist – ein kleines Hindernis, über das ich bis zum Augenblick des Gesprächs immer und immer wieder nachgrübelte, ohne eine Lösung zu finden. Eine meiner Stärken ist es, mich in Bewerbungsgesprächen gut zu verkaufen. Wenn ich es erst mal so weit schaffe, kriege ich den Job in der Regel auch.

Eine lange Minute starrten der Kaplan und ich uns gegenseitig über einen großen Schreibtisch aus poliertem Holz hinweg an. Er war lässig gekleidet und sah entspannt aus. Seine Brille war ihrer Zeit weit voraus und lenkte mich dermaßen ab, dass er mich auf dem falschen Fuß erwischte, als er schließlich sprach. Er erkundigte sich nach meinen kirchlichen Kenntnissen und meinem Bildungsstand. Er fragte mich, womit ich mir vor dem Gefängnis meinen Lebensunterhalt verdient hatte (ich war Aufseher in einem Warenlager gewesen) und ob ich beim Militär gewesen wäre (ich war ungefähr drei Jahre lang bei der Armee gewesen). Alles leichte Fragen.

Schließlich rückte der Kaplan zum Ende des Gesprächs mit der großen Frage raus: „Sind Sie Christ?“

Manchmal ist das Gehirn irgendwie komisch. In bestimmten Momenten bleibt die Zeit stehen und du spürst, dass du alle Zeit der Welt hast, über eine Antwort nachzudenken. Zumindest spürte ich das damals. Ich wollte um diesen Job nicht buckeln und betteln. Ich wollte nicht lügen und sagen, ich wäre ein Christ. Täte ich das, würde ich gegen meine eigenen Prinzipien verstoßen. Doch mir war klar, dass es keinen Job für mich geben würde, wenn ich ehrlich wäre. Ich blinzelte einige Male und sagte dann ohne zu denken: „Ich bin presbyterianisch getauft worden.“ Technisch gesehen eine ehrliche Antwort. Der Kaplan strahlte mich an, schlug begeistert mit der Hand auf den Tisch und sagte, ich hätte den Job. Wir besiegelten es mit einem Handschlag, und so begann mein erster Gefängnisjob.

Obwohl meine Pflichten größtenteils Bürotätigkeiten beinhalteten, gehörte zu ihnen auch, Ordnung in die Tausenden von religiösen Büchern in der Bibliothek zu bringen. Die Kirchenbücherei war winzig, mit ungefähr so viel Bodenfläche wie ein Stadtbus. Der Kaplan hielt nichts von der Dewey-Dezimalklassifikation*. Es war ein organisatorisches Chaos. Ich fand nie heraus, was der Kaplan gegen Melvil Dewey hatte. Manchmal gab ich mich der Vorstellung hin, dass Dewey niemals damit rausgerückt war, ob er presbyterianisch getauft worden war oder nicht. Wenn man Deweys System nicht benutzte, war die nächstbeste Option, die ganzen Bücher alphabetisch zu katalogisieren.

Schon bald stellte ich fest, dass bis auf ein Prozent alle Bücher christlich waren – und davon waren im Prinzip alle protestantischer oder fundamentalistischer Darstellung. Eine Handvoll jüdischer Bücher war ausgesondert und auf dem Boden eines Eckregals teilweise versteckt worden. Katholische Bücher auf Spanisch und Englisch standen im Regal darüber. Bücher der Mormonen, Wicca, Zeugen Jehovas sowie islamische Schriften wurden in Holzkisten oder verschlossenen Schränken aufbewahrt. Falls jemand jene Bücher lesen wollte, musste er sich zuerst an den Kaplan wenden. Das taten nur wenige. Wenn Bücher unsichtbar weggeschlossen sind und Hindernisse den Zugang zu ihnen versperren, macht sich niemand die Mühe.

Es war ein Tag wie jeder andere – ist es nicht immer so, wenn ein einschneidendes Ereignis unser selbstgefälliges Leben erschüttert?

Es war ein Montagmorgen und ich passierte die diversen Kontrollpunkte zwischen dem Zellenblock und der Arbeit ohne irgendwelche der üblichen Scherereien. Auf meinem Schreibtisch hatte sich ein Haufen Arbeit angesammelt. Ich ging die Liste mit den „Neuzugängen“ durch und tippte dann ein paar Ankündigungen für religiöse Veranstaltungen. Als Nächstes machte ich mich an den Stapel von Literatur, der täglich in der Gefängniskirche eingeht. Die Bücherei stand zur allgemeinen Nutzung offen, doch bloß drei Leute nahmen die ihnen zu diesem Zweck zugeteilte Zeit wahr. Zwei dieser Männer erkannte ich als Lebenslängliche und tägliche Stammgäste, die sonst nichts zu tun hatten. Der dritte Typ war neu. Er sah aus, als ob er sich in seinen frühen Zwanzigern befand und die Gefängnismentalität, die dich das für die Rolle eines Häftlings notwendige Aussehen und Verhalten annehmen lässt, noch nicht in sich aufgesogen hatte. Mir war sofort klar, dass er ein Neuling war. Wenn Leute hinter ihm vorbeigingen, ignorierte er sie immer. Ein alter Hase oder erfahrener Sträfling würde sich aus Reflex leicht zur Seite drehen, um sehen zu können, ob von der vorbeigehenden Person eine Gefahr ausginge. Dieser neue Typ benahm sich, als wäre er in einem Buchladen im Einkaufszentrum.

Ein „Verzeihung“ unterbrach meine Arbeit. Da war er, der neue Typ, und sah völlig unschuldig und aufrichtig aus. Ich konnte es nicht vermeiden, zu denken, dass dieser Typ einige dunkle Tage erleben würde, sobald einige seiner Mitgefangenen ein Auge auf ihn geworfen hätten. Er war nicht nur nach Gefängnismaßstäben gutaussehend, sondern auf jene ländliche, adrette, sorglose Art, die Leuten, die eine beträchtliche Zeit im Knast abzusitzen haben, unverständlicherweise tierisch auf den Sack geht. Ungeachtet der Umgebung hatte er eine jugendlich optimistische Ausgelassenheit an sich, die durch meine unfreundliche Fassade drang. Sein Grinsen war ansteckend. Ich musste unfreiwillig lächeln, als ich antwortete: „Dir sei verziehen.“ Ohne auf meine abfällige Art einzugehen, erkundigte er sich, ob wir irgendwelche buddhistischen Bücher hätten. Sein Anliegen war so aufrichtig und so höflich formuliert, dass ich auf die gleiche Weise antwortete und dafür um Entschuldigung bat, dass wir überhaupt keine hatten.

Dies war der Augenblick, in dem mein Leben sich für immer verändern sollte. In einem der verschlossenen Schränke befand sich eine spärliche Sammlung von Literatur mit dem Etikett „Östliche Religion“. Beinahe sämtliche östliche Religionen waren darin auf die eine oder andere Art vertreten, doch es gab nichts über Buddhismus. Als Norman (was, wie ich erfuhr, der Name des neuen Typen war) das nächste Mal in die Bücherei zurückkehrte, zeigte ich ihm die zehn bis zwölf Bücher in der Hoffnung, dass er irgendwas von Interesse fände. Er schaute sich die Sammlung über eine Stunde lang an. Kurz bevor er ging, fragte er dann, ob es möglich wäre, sich Bücher hereinschicken zu lassen.

Ich fragte den Hilfskaplan, ob die Möglichkeit bestände. Von den beiden Kaplanen war er derjenige, der anderen Religionen, die sich von seiner eigenen unterschieden, am aufgeschlossensten gegenüberstand. Er schlug vor, dass wir an buddhistische Organisationen oder Verleger schreiben sollten, um um gebrauchte Bücher zu bitten. Der Kaplan riet uns, nicht zu viel zu erwarten, da andere religiöse Gruppen im Gefängnis das ebenfalls praktisch erfolglos versucht hätten. Trotz dieser düsteren Prophezeiung einigten wir uns auf einen Termin, an dem wir uns zusammensetzen konnten, um einen „Bettelbrief“ zu schreiben.

Norman war so hartnäckig, was diesen buddhistischen Kram anging, dass meine Neugier geweckt wurde. Ich fing an, mich durch die staubigen, mit ausrangierter Literatur gefüllten Schachteln zu wühlen, die in einer unbenutzten Besenkammer gestapelt waren. Wie durch Zauberhand fand ich drei Ausgaben der Zeitschrift Trycicle. Diese bot ich Norman an, der mir wiederum eine davon zum Lesen gab. Ich machte mir nicht die Mühe. Einerseits mag ich Leute nicht, die mir religiöse Bücher aufdrängen, und andererseits fand ich das, worauf ich einen Blick warf, offen gesagt nicht sonderlich interessant.

Ein paar Tage später tauchte Norman wieder auf. Ich hegte langsam gemischte Gefühle in Bezug auf diesen Typen, der zwar offensichtlich intelligent war, aber allmählich anfing, mir mit seinen Fragen zur Beschaffung buddhistischer Materialien erheblich auf die Nerven zu gehen. Er hatte zwar ein einnehmendes Wesen, aber es wurde von einem gezierten Gehabe, das ich für aufgesetzt hielt, überschattet. Es nervte mich noch mehr, dass Norman zu unserer Planungsbesprechung mit zwei Büchern, die ihm jemand geschickt hatte, aufkreuzte. Eines davon drückte er mir in die Hand und sagte mir geradeheraus, ich sollte es lesen. Währenddessen wartete ein weiterer „Bettelbrief“ darauf, geschrieben zu werden.

Das Buch, das Norman mir gab, trug den Titel Mindfulness in Plain English.* In meiner Zelle schaute ich es mir genauer an und stellte fest, dass es von Wisdom Publications stammte. Ich fand den Namen des Verlages ein wenig anmaßend, und mit dieser skeptischen Einstellung begann ich zu lesen.

Als ich am Ende des ersten Kapitels anlangte, war ich bereits gefesselt! Alles, was ich las, ergab absolut Sinn. Hier war ein Pfad, der mich dazu einlud, nach der Wahrheit zu suchen, ohne blindes Vertrauen von mir zu verlangen. Ich spürte, dass ich dazu eingeladen wurde, einen Weg aus der Unwissenheit heraus zu suchen. Hier war etwas, dass mir die Gelegenheit gab, zu verstehen und zu üben, ohne Glauben einzufordern. Alles, was ich in diesem Buch las, schien mich dazu zu ermutigen, logische Schritte in Richtung wahrer Frieden und Glück zu unternehmen.

Als ich das Buch zu Ende gelesen hatte, machte ich Norman im Gefängnishof ausfindig. Ich wollte mit ihm über dieses neue Universum sprechen, das ich entdeckt hatte. Zu meinem großen Entsetzen befand sich Norman im Kraftraum, umringt von vier Sträflingen, die für ihre rassistischen Ansichten bekannt waren. Sie waren Skinheads, die mit dem Ku-Klux-Klan und der Gruppe Arische Nationen innerhalb des Gefängnisses in Verbindung standen. Ich machte mir gewaltige Sorgen um seine Sicherheit, doch ich hatte keine andere Wahl, als es fürs Erste dabei bewenden zu lassen.

Später setzten der Hilfskaplan, Norman und ich uns zusammen, um über den „Bettelbrief“, den ich im Laufe der Woche geschrieben hatte, zu sprechen. Erneut warnte uns der Kaplan davor, zu viel zu erwarten, doch er war immer noch dazu bereit, es uns versuchen zu lassen. Wir trugen mehr als 200 Adressen von den letzten Seiten der Tricycle-Zeitschriften zusammen. Unter ihnen befanden sich buddhistische Tempel, Zentren, diverse Sanghas (buddhistische Gemeinden), Verlage, buddhistische Läden und Organisationen. Der Kaplan bot an, die Briefe zu verschicken und Porto und Kuverts mit Kirchengeldern zu bezahlen. Wir verbrachten Stunden damit, Umschläge zu adressieren und zu füllen. Die ersten 60 Briefe wurden noch an jenem Tag versandt und über 180 weitere innerhalb der folgenden zwei Wochen.

Inzwischen hatte ich herausbekommen, dass Norman außergewöhnlich intelligent war. Er ließ mich wissen, dass sein IQ um die 160 kreiste. Außerdem erzählte er mir, dass er schwul war. Norman war bestrebt, mir zu versichern, dass er nicht versuchte, im Gefängnis einen Partner zu finden. Er sagte, dass Frauen nicht umherziehen und Sex mit jedermann haben, bloß weil sie Frauen sind, und Schwule tun dies genauso wenig. Diese Offenbarungen schienen mir nicht von Bedeutung zu sein – ich wollte mit ihm über Buddhismus, über Leben in der Gegenwart und Achtsamkeit reden. Ich wollte wissen, was man tut, wenn man meditiert, oder lieber noch, Techniken lernen. Wir kamen überein, uns an jenem Wochenende im Hof zu treffen.

An dem Tag, an dem wir im Hof spazieren gingen, lernte ich ein wenig mehr über Norman und Buddhismus. Norman war im Umfeld einer Kommune aufgewachsen, einem Lebensstil, der die Ideale von Frieden und Liebe der 1960er Jahre widerspiegelte. Wir redeten an jenem Tag über eine Menge Sachen, doch alles, an das ich mich erinnere, waren seine Bemühungen, mich davon zu überzeugen, dass es am wichtigsten wäre, in der Gegenwart zu leben. Ich kapierte es einfach nicht – konnte oder wollte es nicht kapieren. Ich hielt seinen Erklärungen Fragen entgegen, die das Planen für die Zukunft betrafen. Wenn du für den Moment lebst und die Vergangenheit vergisst, wird deine Zukunft immer und immer wieder mit den gleichen Fehlern gespickt sein. Wenn du nicht vorausplanst, planst du zu scheitern. Das war meine Sichtweise. Norman versuchte geduldig, mir verstehen zu helfen, dass dies die einzige Zeit ist, die es gibt. Er sagte: „Das Gestern ist Geschichte, das Morgen ein Mysterium, und der Augenblick ist ein Geschenk. Deshalb nennt man es auch präsent (sein).“*

Ich glaube nun, dass der größte Teil meines Widerstandes gegen das, was er zu sagen hatte, von meinem Widerwillen dagegen stammte, mir von diesem jungen Kerl was beibringen zu lassen (er war immerhin 22 Jahre jünger als ich). Wir stritten ein wenig miteinander, zum Teil sehr hartnäckig, doch nicht so, dass ich die vielen Augen, die uns beobachteten, während wir die Laufbahn entlanggingen, nicht bemerkt hätte. Ich spürte die Gegenwart heraufziehender Gefahr – die gleiche Sorte Gefühl, die man bekommt, wenn sich dunkle, bedrohliche Wolken am Horizont zusammenballen und der Wind sich ändert und stetig auffrischt. Elektrizität lag in der Luft. Ich konnte das Ozon beinahe riechen. Etwas Böses braute sich zusammen …

Norman hatte vom Kaplan die Erlaubnis erhalten, in einem der Nebenräume der Kapelle zu meditieren. Ich war nicht daran interessiert, nichts zu tun, und schloss mich ihm nicht an. Aber ein vietnamesischer Insasse tat es. Alle nannten ihn Lanh. Er war eine ruhiger, liebenswürdiger Mensch, der von Anfang an gut mit Norman auskam. Norman begann sogar, Vietnamesisch mit Lanh zu sprechen. Norman wäre auch in der Lage, das Gleiche mit Leuten zu tun, die Spanisch sprachen; ich nahm an, dass er von Natur aus sprachbegabt war. Norman verblüffte mich ständig. Da saß er auf dem nackten Boden, ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht, neben einem anderen jungen Mann aus einem anderen Land, und beide wirkten so ausgeglichen.

Im Kirchenbüro machte ich mich an die Arbeit, indem ich die Liste der neuen Eingänge durchsah und dann damit begann, die Kirchenpost zu sortieren. In dem Stapel Briefe und Päckchen befanden sich zwei Briefe und vier Pakete, die an die buddhistische Gefängnisgruppe adressiert waren. Der Kaplan öffnete die Pakete und überreichte sie mir. Sie waren voll mit buddhistischen Büchern! Allen möglichen buddhistischen Büchern! Irgendwer hatte eine Schachtel Räucherwerk und farbenfrohe Postkarten mit diversen buddhistischen Statuen darauf beigelegt. Einer der Briefe stammte von Ilsang Jackson vom Zen-Tempel in Ann Arbor, Michigan, der uns seine Hilfe anbot. Der andere stammte von Sensei Sunyana Graef vom Vermont Zen Center, die uns wissen ließ, dass Bücher auf dem Weg zu uns waren. Bis zum heutigen Tage halte ich mit diesen beiden wunderbaren Lehrern Briefkontakt. Ich erinnere mich, dass ich an jenem Tag von der Großzügigkeit jener Leute, denen ich noch nie begegnet war, überwältigt war.

Als Norman und Lanh ihre Sitzung beendet hatten, zeigte ich ihnen die Kisten. Wir verbrachten eine wunderbare Zeit damit, jeden Text durchzugehen und aufgeregt Pläne für die Zukunft zu schmieden. Selbst ich ging völlig im Augenblick auf.

Es hat noch niemand eine Kommunikationsform entwickelt, die schneller ist als Mund-zu-Mund-Propaganda im Gefängnis – und