Freiheitliche Ideen - Ewald Grothe - E-Book

Freiheitliche Ideen E-Book

Ewald Grothe

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Beschreibung

»Namen und Programm, Mittel und Wege mögen sich [...] ändern: der Liberalismus als Weltanschauung wird jedoch bleiben.« Moritz Julius Bonn Der deutsche Liberalismus erlebte im 19. und 20. Jahrhundert große Erfolge und dramatische Herausforderungen. Die Katastrophe des Nationalsozialismus schien zu beweisen, dass der Liberalismus gescheitert war, eine Diagnose, die ideengeschichtlich jedoch in die Irre führt. Liberales Gedankengut hatte auch in Deutschland eine bedeutende Tradition, an die man nach 1945 anknüpfen konnte. Ewald Grothe untersucht historische Wandlungsprozesse und liberale Schriften. Er porträtiert Wissenschaftler, Publizisten und politische Akteure, die für Verfassung, Rechtsstaatlichkeit und bürgerliche Freiheit stritten, und zeigt, dass abseits deutscher Sonderwege die liberale Demokratie auf unterschiedliche Ideengeber zurückgeführt werden kann. Oft gegen den Mainstream gewandt, setzten sie sich mit Common Sense und festen Überzeugungen für Gerechtigkeit, sozialen Fortschritt und bürgerliche Mit- und Selbstbestimmung ein. Sie repräsentieren einen zukunftsorientierten, reformbereiten und sozial engagierten Liberalismus, dessen Wurzeln im 19. Jahrhundert lagen, der die Weimarer Republik prägte und in der Bundesrepublik politisch wieder reaktiviert werden konnte.

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Ewald Grothe, geboren 1961, Studium der Geschichte, des Öffentlichen Rechts und der Rechtsgeschichte an der Philipps-Universität Marburg, 1994 Promotion in Marburg, 2004 Habilitation an der Bergischen Universität Wuppertal, seit 2007 Lehrbeauftragter an der Universität Köln, seit 2009 außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte in Wuppertal, seit 2011 Leiter des Archivs des Liberalismus der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Gummersbach. Forschungsgebiete: Liberalismusgeschichte, Verfassungsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte.

Ewald Grothe

Freiheitliche Ideen

Der schwierige Weg zur liberalen Demokratie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book (EPUB)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2023

Coverabbildung: Wahlplakat der DDP zur Wahl der Weimarer

Nationalversammlung, Düsseldorf, 1919, Lithographie 109,2 x 75 cm

© Deutsches Historisches Museum, Berlin, Inv.-Nr.: P 57/1326

Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf

Alle Rechte vorbehalten.

EPUB: ISBN 978-3-86393-647-1

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

ISBN 978-3-86393-160-5

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter

www.europaeischeverlagsanstalt.de

Für Inhalte Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Inhalt

Pfade der Liberalismus-Forschung. Eine Einleitung

Liberalismus als historisches Forschungsthema

I. Aufbruch und Abgrenzung – Der vormärzliche Liberalismus

Politische Bewegungen im Vormärz. Liberalismus, Konservatismus, Konstitutionalismus und Parlamentarismus

Die Brüder Grimm und der Liberalismus

Büchners Feinde. Liberale und Konstitutionelle in seinen Briefen und im „Hessischen Landboten“

„Wir verlangen mehr Gedankengehalt als liberale Phrasen …“ Friedrich Engels und der Frühliberalismus

Die Bibel des Liberalismus im Vormärz. Das Rotteck-Welckersche „Staats-Lexikon“

Karl Theodor Welcker und die Idee eines deutschen Bundes

Sylvester Jordan (1792-1861) – Die modernste Verfassung ihrer Zeit

II. Arbeit am Neubau – Der Liberalismus in der Weimarer Republik

Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Eine Skizze

„Import oder Eigengewächs“? Der Liberalismus in der Geschichtsschreibung der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus

„Ein Schritt auf dem Wege zum Volk der Gerechtigkeit!“ Friedrich Naumann und die Weimarer Reichsverfassung

Hugo Preuß und die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung

Der organische Föderalismus bei Hugo Preuß

„Der Liberalismus als Weltanschauung wird bleiben“. Zeitanalyse und Zukunftssicht in der Publizistik von Moritz Julius Bonn

Hans Rosenberg und die Geschichte des deutschen Liberalismus. Seine unveröffentlichte Antrittsvorlesung vom Januar 1933

Die liberale Zerstörung einer Legende: Erich Eycks Bismarck-Biographie

III. Die Wiederkehr – Der bundesdeutsche Liberalismus nach 1945

Der „Machtwechsel“ von 1969 als demokratisch-liberaler Wendepunkt

Freiburg und kein Ende? Liberale Zukunftsvorstellungen zwischen 1960 und 2000

Anmerkungen

Literatur

Drucknachweise

Personenregister

Pfade der Liberalismus-Forschung

Eine Einleitung

Nicht alle Wege führen zur Liberalismus-Forschung. Aber wenn man sich mit Verfassungsgeschichte und politischen Ideen im 19. und 20. Jahrhundert befasst, kommt man an Studien zum Liberalismus schwerlich vorbei. Das betrifft – direkt – sowohl die Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis des Liberalismus in Parteien und Parlamenten als auch – indirekt – mit seinen Gegnern zur rechten wie zur linken politischen Seite. Dabei wird schnell deutlich, wie schwierig oft eine genaue Vermessung von politischen Ideenwelten ist, weil Ideen fluide bleiben, sich permanent verändern und an neue Konstellationen angepasst werden. Häufig sind historische Akteure ideologisch nicht klar zu verorten, zumal wenn sie nicht in erster Linie Politiker sind, weder einer Partei angehören noch einer bestimmten Parteiräson folgen. So steht das erste Kapitel dieses Bandes thematisch sowohl im Zeichen von Aufbruch der Liberalen als auch ihrer Abgrenzung von anderen politischen Bewegungen.

Die als Märchensammler berühmten Brüder Jacob und Wilhelm Grimm lebten in einer protoparteipolitischen Zeit. Der ihnen gewidmete Beitrag nimmt ihre eher unbekannte politische Seite, ihre liberal-konservative Haltung in den Blick, die ihr Wirken in vielerlei Hinsicht grundierte. Die zwischen konservativem Traditionalismus und reformbereitem Denken schwankende Haltung ist nicht untypisch für manche Zeitgenossen im Vormärz, die der Politik im Allgemeinen und dem Liberalismus im Besonderen als allzu modern empfundene Ideenströmung, die auf Veränderung zielte, mit Skepsis begegneten.

Gegner bzw. Feinde des Liberalismus sind aber nicht nur für sich genommen interessant, sondern sie repräsentieren vielmehr die Außenwahrnehmung der liberalen Bewegung und erweitern damit den Blick auf das Phänomen „Liberalismus“ selbst. Für eine dezidiert liberalismusfeindliche Sicht stehen hier die Aufsätze über den Dichter Georg Büchner und den sozialistischen Gesellschaftstheoretiker Friedrich Engels. Ein auf andere Weise symptomatisches Beispiel für die erbitterte Gegnerschaft zum Liberalismus liefert die demokratieskeptische Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, die uns den intellektuellen Anteil am Untergang der ersten deutschen Demokratie nachvollziehen lässt.

Angeregt durch den Marburger Historiker Hartwig Brandt wurden die hier versammelten Forschungen zur südwestdeutschen Verfassungs- und Parlamentsgeschichte, die sich als inhärenter Bestandteil deutscher Liberalismusgeschichte erweist. Die beiden frühliberalen Professoren, der Historiker Karl von Rotteck und der Jurist Carl Theodor Welcker, avancierten als Herausgeber des „Staats-Lexikons“ zu den Evangelisten des deutschen Frühliberalismus. Wie eng politische Idee und politische Form zusammenhängen, zeigen die Pläne Welckers zur Reform des deutschen Bundes. Sie stehen in enger Verbindung zur Studie über den Marburger Staatsrechtlehrer und kurhessischen Verfassungsschöpfer Sylvester Jordan, der zu Recht als ein dezidierter Wegbereiter der Demokratie gelten kann. Leben und Leiden Jordans dokumentieren zugleich, wie schwierig der Weg zur liberalen Demokratie in Deutschland war, der erst nach 1918 zu einem Erfolg führte.

Mit zwei Liberalen, die den Übergang von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie Weimars ebnen halfen, befasst sich der zweite Teil des Buches. An der Konstruktion der ersten deutschen Demokratie und ihrer Verfassung 1919 hatten der fortschrittsliberale Publizist und Politiker Friedrich Naumann und der liberale Rechtswissenschaftler Hugo Preuß, die schon vor Ende des Kaiserreichs für dessen Parlamentarisierung eingetreten waren, einen wichtigen Anteil. Das Thema „Föderalismus“, das bereits Welcker beschäftigt hatte, kehrt bei Hugo Preuß zurück.

Einem Historiker, der zwar liberale Sympathien hegte, den aber die Realität liberaler Politik zutiefst enttäuscht hatte, ist die Untersuchung über Hans Rosenberg gewidmet. Rosenberg, ein Schüler des liberalen Historikers und Vernunftrepublikaners Friedrich Meinecke, musste aufgrund seines Judentums 1933 aus Deutschland emigrieren. Ausgangspunkt der Publikation bildete der Fund seines bis dahin unveröffentlichten und 2012 erstmals edierten Habilitationsvortrages, der sich in seinem Nachlass im Bundesarchiv Koblenz befindet. Dieser ist inhaltlich bemerkenswert, weil Rosenberg die Niedergangsgeschichte des Liberalismus so beschrieb, wie sie dann nach 1945 für lange Zeit tonangebend wurde. Aber der Vortrag ist auch wissenschaftsgeschichtlich bedeutend, weil er gerade einmal zehn Tage vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Flucht Rosenbergs an der Universität Köln gehalten wurde.

Das Denken Rosenbergs öffnet Einblicke in die Szene der deutschen emigrierten Historiker, die in vielen Fällen dem Umfeld von Friedrich Meinecke entstammten. Nicht zu diesem Kreis gehörte Erich Eyck. Von ihm stammt eine im Exil entstandene dreibändige Bismarck-Biographie, die den Reichsgründer aus liberaler britischer Perspektive sehr kritisch beurteilte. Eyck zählte zu den deutsch-jüdischer Emigranten in Großbritannien, ebenso wie der jüdische Wirtschaftswissenschaftler und Publizist Moritz Julius Bonn.

Parteipolitisch bewegten sich viele deutsch-jüdische Intellektuelle – so auch Preuß, Bonn und Eyck – im Feld des Linksliberalismus, der sich nach 1918 in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) sammelte. Einer ihrer prominenten Politiker, der deutsche Jude und zeitweilige Fraktionsvorsitzende der DDP im Deutschen Reichstag, Ludwig Haas, war anlässlich eines spektakulären Fundes Ausgangspunkt einer kleinen Skizze zum Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Denn einer der Nachfahren von Haas, der durch seinen frühen Tod 1930 die mutmaßliche NS-Verfolgung nicht mehr erlebte, meldete sich aus Neuseeland mit der Nachricht, es gebe einen Koffer mit Schriften seines liberalen Ahnen.

Der erste Vorsitzende der DDP Friedrich Naumann hatte 1918 eine Staatsbürgerschule in Berlin gegründet, den Vorläufer der Deutschen Hochschule für Politik, an der Eyck, Rosenberg und Bonn lehrten. An die Tradition dieser Hochschule wurde nach 1945, als der Liberalismus seine Wiedergeburt erlebte, wieder angeknüpft: zum einen durch deren Fortführung im Rahmen der Freien Universität Berlin, zum anderen durch die von Theodor Heuss initiierte Gründung der Friedrich-Naumann-Stiftung 1958. Beide Institutionen treten für freiheitliche Ideen und eine demokratische Bildung ein – wichtige Prinzipien des bundesdeutschen Grundgesetzes, an dessen Entstehung Heuss mitgewirkt und Ideen Naumanns aus der Weimarer Verfassungsdiskussion hineingebracht hat. Wenn dieser Band das Weiterwirken und Wiederaufgreifen der demokratischen Ideen von 1918 nach 1945 thematisiert, so betrifft dies mit Blick auf die Geschichte der Freien Demokratischen Partei (FDP) erst die Zeit seit den 1960er Jahren. Denn zuvor bildeten die sozial eingestellten gegenüber den national gesonnenen Liberalen eine Minderheit, was sich erst in den Jahren der sozial-liberalen Koalition nachhaltig änderte.

Auch die Spuren des sozialen Liberalismus in der Bundesrepublik führen zurück in die Weimarer Zeit. Nicht nur schlug sich ein „stiller Verfassungswandel“ im „Machtwechsel“ des Jahres 1969 nieder, bei dem die Große Koalition von der sozial-liberalen Regierung unter der Leitung von Willy Brandt und Walter Scheel abgelöst wurde. Auch der programmatische Kurswechsel, den die Freiburger Thesen, das liberale Parteiprogramm von 1971, markierten, bedeutete einen Rückbezug auf linksliberale Traditionen der ersten deutschen Demokratie. Das Freiburger Programm blieb inhaltlicher Anknüpfungspunkt für die FDP (mindestens) bis zur Jahrtausendwende und erlebte eine mehrfache Renaissance, die im abschließenden Beitrag erörtert wird.

Generell nimmt das vorliegende Buch die Entstehungsund Wirkungsgeschichte freiheitlicher Ideen in den Blick. Diese beziehen sich auf den organisierten Liberalismus in Parteien und Parlamenten, aber auch auf das außerparlamentarische Feld und das Spektrum jenseits liberaler Parteien. Denn der Liberalismus als politische Bewegung war (und ist) stets breiter und umfassender aufgestellt, als sich dies in seiner parteipolitischen und parlamentarischen Repräsentation abbildet. In sich ist er zudem äußerst heterogen, was schon deutlich wird, wenn man auf die Distanz zwischen sogenannten neoliberalen, libertären, sogenannten Wirtschaftsliberalen und den Vertretern eines sozial-liberalen Flügels schaut. Die Einordnung in „rechts“ und „links“ wird der Komplexität solcher Strömungen innerhalb des Liberalismus nicht gerecht. Dies gilt auch für die gesamte liberale Bewegung, zumal jenseits des politisch organisierten Liberalismus, und es gilt zudem auch historisch: Gerade der frühe noch nicht partei- oder fraktionsmäßig organisierte Liberalismus verstand sich als politische und gesellschaftliche Sammlungsbewegung jenseits der konservativen und gouvernementalen Richtung. Und zwischen den gemäßigten Liberalen vor 1848 und in der Revolution und den Demokraten, die sich seit den 1830er Jahren allmählich abspalteten, bestanden erhebliche politische Meinungsunterschiede. Dies setzte sich im Verhältnis der Liberalen zu den Sozialdemokraten fort. Bisweilen bekämpfte man sich stärker gegenseitig als den politischen Gegner im rechten Spektrum. Die Differenzen bezogen sich nicht nur, aber auch ganz wesentlich auf die Frage des Wahlrechts. An diesem Punkt schieden sich für Liberale und (Sozial-)Demokraten die Geister bis 1918. Während für Liberale ein Zensuswahlrecht unverhandelbar war, pochten die Demokraten auf ein unbeschränktes Männerwahlrecht. Erst in der Weimarer Republik fanden beide Strömungen in der Idee der liberalen Demokratie wieder zusammen. Nach 1918 wurde in der Weimarer Koalition zeitweise die Verbindung zwischen SPD und DDP möglich, die vor dem Weltkrieg Naumann mit seinem Wunsch eines Bündnisses von Bassermann bis Bebel erhofft hatte. Aber bis dahin war es ein schwieriger und langer Weg.

Der gemeinsame Fluchtpunkt der vorliegenden Arbeiten liegt im Weg zur liberalen Demokratie. Die verschiedenen Ideendebatten lassen sich als Elemente zu einer Geschichte freiheitlicher Ideen verstehen, ganz im Sinne des Plakats auf dem Titelblatt, das die wichtigsten Grundlagen und Bausteine des „Neubaus“ der Weimarer Republik aus der Sicht der Deutschen Demokratischen Partei im Jahre 1919 thematisiert.1 Dieser Ideenfundus, der sich in Menschen- und Bürgerrechten sowie in Forderungen nach Emanzipation, Partizipation und Rechtsstaatlichkeit niederschlägt, durchzieht im Übrigen auch diesen Band, dessen Schwergewicht auf den sozialen, den fortschritts- und zukunftszugewandten Aspekten sowie reformorientierten Ansätzen liegt und deutlich weniger die beharrenden Kräfte des Liberalismus, die es zu allen Zeiten gab, sichtbar werden lässt. Nationalliberale spielen hier eine Nebenrolle, oft als Gegner von Reform und Fortschritt. Wirtschaftsliberale geraten kaum in den Blick, obwohl sie zukunftsorientiert waren, den Fortschritt allerdings ökonomisch und weniger emanzipatorisch definierten.

Zugleich bietet dieser Band keine Gesamtgeschichte freiheitlicher Ideen, da er sich auf den deutschen Raum beschränkt. Denn der deutsche Liberalismus blieb vor dem Ersten Weltkrieg, von Ausnahmen wie beispielsweise Naumann abgesehen, in internationaler Hinsicht doch sehr begrenzt in seiner Wahrnehmung. Diese selbstgewählte deutsche Sonderrolle, die in anderen politischen Spektren noch viel ausgeprägter war, begünstigte später die Deutung, dass Deutschland insgesamt einen Sonderweg gegangen sei. Neuere transnational ausgerichtete Studien wie diejenigen von Edmund Fawcett und Helena Rosenblatt betonen dagegen vergleichend eine gesamteuropäische und transnationale Sichtweise, die zugleich die Eigenheiten verschiedener nationaler Liberalismen zur Sprache bringt.2

Zudem deckt dieses Buch längst nicht alle Phasen des deutschen Liberalismus ab. Vielmehr setzt es deutlich zwei Schwerpunkte: Der eine liegt im Vormärz und der andere in der Weimarer Republik. Nicht behandelt wird die Entstehungsgeschichte des Liberalismus in der Epoche von Aufklärung und Revolution, nur ansatzweise geraten die Zeit nach 1848 und das deutsche Kaiserreich in den Blick. Die bundesdeutsche Zeitgeschichte wird in zwei Beiträgen für die Jahrzehnte zwischen 1960 und 2000 behandelt. So bilden die Aufsätze in ihrer Zusammenschau Ausschnitte einer Geschichte freiheitlicher Ideen in Deutschland ab. Aus breit angelegten Forschungen in den 1980er Jahren, als die Bürgertumsgeschichte in Blüte stand und die Erkundung des Liberalismus inspirierte, sind heute deutlich schmalere Wege geworden, wenn es um eine Organisations- oder Sozialgeschichte geht. Die vorliegenden Studien zur Ideengeschichte bilden somit einen Pfad innerhalb der Liberalismus-Forschung und scheuen sich dabei nicht, die Brüche und Lücken offenzulegen, die in dieser selbst enthalten waren und sind.

Die in diesem Band versammelten Arbeiten erschienen in den Jahren zwischen 2003 und 2022. Für die erneute Veröffentlichung wurden sie durchgesehen, bisweilen ergänzt, manchmal gekürzt, teilweise auch aktualisiert und mit Nachweisen versehen.

Am Ende dieser einleitenden Bemerkungen gilt es, vielfachen Dank abzustatten. Zunächst geht dieser an Jens Hacke, von dem die Idee zu der Sammlung von Aufsätzen über freiheitliche Ideen stammt und der die Realisierung des Bandes mit steter Ermunterung und erforderlichem Nachdruck begleitete. Für die reibungslose Realisierung bin ich der Europäischen Verlagsanstalt und ihrer Verlegerin Irmela Rütters verbunden. Christian Wöhrl besorgte mit Umsicht und Tempo den Satz und die Korrekturen. Zudem bin ich erneut meinen Historiker-Freunden dankbar, die zuverlässig und vertrauensvoll meine Texte auch ein zweites Mal lasen: Edgar Liebmann und Ulrich Sieg, Anne Nagel und Wolther von Kieseritzky; Wolther hat zudem dem Wiederabdruck des gemeinsam erarbeiteten und nun aktualisierten Forschungsüberblicks zugestimmt. Ihnen allen gilt meine Dankbarkeit für die langjährige treue Freundschaft. Einem von ihnen – meinem Freund Edgar – ist dieser Band gewidmet.

Liberalismus als historisches Forschungsthema

(Koautor: Wolther von Kieseritzky)

Organisations-, Sozial- und politische Ideengeschichte des Liberalismus in den letzten dreißig Jahren

Die Beschäftigung mit der Geschichte des Liberalismus hat in Deutschland eine gut einhundertjährige Tradition. Dies gilt sowohl für Darstellungen zur Organisations- als auch zur politischen Ideengeschichte. Einer ersten sehr zeitgebundenen und interessengeleiteten Arbeit des Publizisten Oskar Klein-Hattingen aus den Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg folgte die Darstellung des Ideenhistorikers Guido de Ruggiero aus der Endphase der Weimarer Republik.1 Grundlegend für die Liberalismus-Deutung nach 1945 wurde zunächst die Darstellung des Historikers Friedrich C. Sell (1953), der mit seiner These von der „Tragödie“ des deutschen Liberalismus dem älteren Topos einer – schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts behaupteten – Krisengeschichte der liberalen Ideen eine neue Facette hinzufügte.2 In den 1960er Jahren erschien für die politische Bildungsarbeit der Überblick eines Autorenteams aus dem unmittelbaren Umkreis der Friedrich-Naumann-Stiftung.3 Die bis heute anspruchsvollsten historischen Synthesen zur Geschichte des deutschen Liberalismus aber stammen von dem amerikanischen Historiker James J. Sheehan (1978/83) zum einen und von Dieter Langewiesche (1988) zum anderen.4 Eine neuere Gesamtdarstellung des Liberalismus von Hans Fenske (2019) ist leider unbefriedigend.5

Bei einem wissenschaftlichen Diskurs über die Geschichte des Liberalismus lassen sich einige grundsätzliche Vorüberlegungen anstellen, um zu Perspektiven für die künftige Forschung zu gelangen. Hierzu gehört die Frage, welchen Stellenwert die Liberalismus-Forschung in der aktuellen Historiographie einnimmt, welche Aufgabe ihr heute zukommt und wie eine moderne Liberalismus-Geschichte aussehen könnte. Die folgenden Ausführungen verstehen sich nicht als umfassender Überblick über die Geschichtsschreibung zum politischen Liberalismus, sondern sollen vielmehr das Augenmerk auf einige forschungsrelevante Phänomene legen.

Die letzten dreißig Jahre der deutschen Liberalismus-Geschichte haben sich hauptsächlich in den Bänden des „Jahrbuchs zur Liberalismus-Forschung“ niedergeschlagen. Wichtige Monographien sind in den online verfügbaren Rezensionen zur Liberalismus-Forschung besprochen worden. Dabei zeigt sich, dass seit dem Buch von Dieter Langewiesche mit der Ausnahme des erwähnten Bandes von Hans Fenske keine neue wissenschaftlich fundierte Überblicksdarstellung mehr erschienen ist,6 sondern dass in vielen Bereichen noch intensiver geforscht werden muss.7 Dies bezieht sich gleichermaßen auf die nationale wie die regionale und kommunale Ebene, die Organisations- wie die Ideengeschichte des Liberalismus.8

Generell lässt sich konstatieren, dass die deutsche Geschichts- und Politikwissenschaft die Liberalismus-Forschung in den letzten drei Jahrzehnten tendenziell vernachlässigt hat. Als Organisationsgeschichte von politischen Parteien resp. einer politischen Bewegung ist sie Teil der politischen Geschichte; als solche galt sie somit seit den späten 1970er Jahren – zumindest in ihrer klassischen Form als Partei- und Ereignisgeschichte – nicht mehr als modern. Größeres Interesse fand sie noch als Sozialgeschichte und Geschichte des sozialen Liberalismus, insbesondere auch im Zusammenhang mit Forschungen zur Geschichte des Bürgertums.9 Mit dem Paradigmenwandel in der Geschichtswissenschaft erfuhr die Liberalismus-Forschung seit dem letzten Jahrhundertwechsel als politische Kulturgeschichte oder Kulturgeschichte des Politischen wieder erhöhte Aufmerksamkeit. Wenn es um politische Kommunikation, Diskursräume und Erinnerungsorte geht, ist auch die Geschichte der politischen Bewegungen im Spiel, da diese den politischen Raum bis heute strukturieren und mitbestimmen.

Die klassische Parteiengeschichte hat dagegen seit geraumer Zeit unter einem Bedeutungsverlust zu leiden. Als ausschließlich auf die Geschichte von Organisationen des politischen Lebens konzentrierte Form, quasi als eine Art Institutionengeschichte, wird sie von Historikerseite seit Jahren wenig betrieben.10 Dabei hat die Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien inzwischen die Protokolle der FDP-Bundestagsfraktion und des FDP-Bundesvorstands herausgegeben, die eine solide Quellengrundlage bieten.11 Um die Geschichte anderer, nicht-liberaler Parteien ist es jedoch kaum besser bestellt. Allenfalls die Jubiläumsliteratur kann hier etwas aushelfen. Aber im Gegensatz zum 150jährigen Gedenken an die Gründung der Vorläuferpartei der heutigen Sozialdemokratie vermochte das zwei Jahre zuvor fällige Jubiläum der ersten Partei überhaupt in Deutschland, der 1861 gegründeten liberalen Deutschen Fortschrittspartei, nur ein geringes publizistisches und wissenschaftliches Echo auszulösen.12

Die Geschichte des Liberalismus kann neben der Organisations- und Institutionengeschichte auch als eine Geschichte des liberalen Denkens geschrieben werden. Hier ist die klassische Form einer Ideengeschichte seit der letzten Jahrhundertwende von einer Diskursgeschichte abgelöst worden, die sich selbst zum Teil auch als „Neue Ideengeschichte“ definiert. Politische Ideengeschichte, die sich als Segment der Geschichte sozialer Bewegungen versteht, ist allerdings auch längere Zeit nicht en vogue gewesen.13 Dies gilt nicht allein für den Liberalismus, sondern ebenso für Konservatismus und Sozialismus, um zwei andere traditionelle politische Strömungen zu nennen. Erst in jüngster Zeit sind wieder Darstellungen erschienen, die einen umfassenden Ansatz zu verwirklichen suchen.14

Gegenüber einer Politikgeschichte herkömmlicher Art wurde seit den 1970er Jahren mit Nachdruck auch eine Sozialgeschichte des Liberalismus gefordert. Aber die Euphorie um den Königsweg der Sozialgeschichte verging, ohne dass – jenseits von Einzelstudien und Aufsatzsammlungen15 – eine solche für die gesamte Geschichte des Liberalismus geschrieben worden wäre. Der fundamentalen Studie von Jörn Leonhard zur liberalen Begriffsgeschichte im frühen 19. Jahrhundert ist leider keine vergleichbare Untersuchung über spätere Zeiten gefolgt.16Anders gilt dies für den Zusammenhang von Liberalismus- und Bürgertumsgeschichte: Hier sind grundlegende Studien vor allem zum 19. Jahrhundert entstanden – etwa zu bürgerlichen Organisationsformen, dem Vereinswesen, zur Sozialstruktur und Wirtschaftsmentalität sowie zu liberalen Netzwerken.17

Wie vielfältig die historischen Ausprägungen des Liberalismus waren, verdeutlichen bereits die unterschiedlichen Profile des liberalen Selbstverständnisses im Adel, in der Handwerkerschaft oder im Besitz- und Bildungsbürgertum. Damit verbanden sich liberale Werte und Mentalitäten, die bisher nur zum Teil erforscht worden sind.18 Zwar gingen damit Ziele und Absichten einher, die generell auf Bürgerrechte und größere Partizipation hinausliefen, doch zeigen allein schon die unterschiedlichen Einstellungen zu Wirtschaftsfreiheit und Protektion, wie widersprüchlich und ambivalent manche Leitbilder waren.19

Dabei erweist sich die Entwicklung des Liberalismus bemerkenswert eng verknüpft mit der Geschichte seiner Gegner: In deren Auseinandersetzung mit den liberalen Werten und Ideen sowie der liberalen Politik spiegelt sich zugleich ein Teil der Problemgeschichte des Liberalismus. Heinrich August Winkler hat dieses Phänomen in diversen Studien zum 19. und 20. Jahrhundert analysiert; auch eine Tagung des Archivs des Liberalismus in Gummersbach hat sich 2013 dieser Frage angenommen.20

Ein weiterer Ansatzpunkt der Liberalismus-Forschung ist die Geschichte des Parlamentarismus als einer Teilgeschichte des Liberalismus auf institutioneller Ebene.21 Allerdings fehlen für eine Gesamtgeschichte auch nur des deutschen Parlamentarismus noch grundlegende Studien zu einzelnen Epochen oder zu einzelnen Regionen. Immerhin liegen einige wichtige Arbeiten zu liberalen Kernländern vor.22 Jedoch mangelt es nach wie vor an einer Geschichte des Reichstags im Kaiserreich und in der Weimarer Republik.23 Zum Deutschen Bundestag hat Marie-Luise Recker in den letzten Jahren zwei Studien vorgelegt.24 Beim Projekt des Handbuchs der Geschichte des deutschen Parlamentarismus sind gerade im Vergleich zu Preußen und Süddeutschland insbesondere die mitteldeutschen Staaten von Sachsen bis Kurhessen vernachlässigt.25

Eine Vielzahl von Ergebnissen für eine politische Sozial- und Kommunikationsgeschichte des Liberalismus haben dagegen sowohl regionalgeschichtliche,26 als auch stadt- und kommunalhistorische Studien erbracht; hier zeigt sich aber ein sehr vielfältiges, wenn nicht disparates Bild der Ausgestaltung liberaler Handlungsspielräume.27 Schließlich ist in der Genderforschung der vermutlich größte Forschungsrückstand festzustellen, denn eine Geschichte des Liberalismus unter Geschlechterperspektive wurde bisher noch nicht umfassend geleistet.28

Blickt man auf biographische Studien, liegt der bisherige Schwerpunkt der Forschung im letzten Vierteljahrhundert eindeutig auf liberalen Persönlichkeiten und Politikern des 19. Jahrhunderts – beispielhaft seien jüngere Biographien über Friedrich Christoph Dahlmann, Moritz Mohl und Heinrich von Gagern genannt.29 Dies kann nicht verwundern, hat die liberale Bewegung in dieser Zeit doch eine ihrer facetten- und erfolgreichsten Phasen erlebt; auf politischer Ebene lässt sich erst in der Bundesrepublik wieder vom prägenden Liberalismus sprechen. Im 20. Jahrhundert reicht die Kette von Arbeiten über Max Weber, Walther Rathenau, Gustav Stresemann bis zu Theodor Heuss.30 Es fehlt dagegen eine moderne Biographie über Friedrich Naumann.31 Außerdem liegt der Schwerpunkt mancher Studien weniger auf dem Parteiführer oder liberalen Politiker, sondern eher auf dem Parlamentarier oder Präsidenten.32 Insgesamt konzentrieren sich die biographischen Darstellungen über Liberale häufig auf die großen Gestalten.

Auch jenseits des biographischen Interesses wurden die meisten Studien zum Liberalismus bisher über das 19. Jahrhundert verfasst. Das hat auch damit zu tun, dass es sich hier um eine Blütezeit der liberalen Bewegung handelt. In zahlreichen Arbeiten zum Vormärz, zur Revolution von 1848/49 und zur Reichsgründung spielt der Liberalismus als treibende politische Kraft und leitende Idee eine der Hauptrollen.33 Selbst für das deutsche Kaiserreich gilt, dass Darstellungen seiner Parteien und politischen Organisationsformen nicht darauf verzichten können, sich mit liberaler Politik zu befassen oder sie sogar in den Blickpunkt zu rücken.34

Die Geschichte des Liberalismus in der Weimarer Republik wurde bis vor wenigen Jahren als die Entwicklung einer politischen Bewegung im Niedergang betrachtet und deshalb eher marginalisiert. Mehrere Studien zum Liberalismus in der Weimarer Republik wiesen diese Tendenz bereits im Titel aus.35 Dass sich hier auch eine andere Perspektive öffnen lässt, zeigen neueste Analysen zum Weimarer Liberalismus.36 Ausgehend von einer deutlich wertschätzenderen Sicht auf die Weimarer Reichsverfassung wurden nun auch der Liberalismus und einzelne seiner Protagonisten positiver beurteilt und vor allem seine Prägekraft für die Entwicklung nach 1945 betont.37 Unstrittig ist hingegen, dass der Liberalismus in der Zeit des Nationalsozialismus „in der Defensive“38 war: Er konnte nur eine geringe Wirkung entfalten, unabhängig davon ob er sich in der „inneren Emigration“, im Widerstand oder im Exil befand.39

Die Forschung zum Liberalismus nach 1945 kam lange Zeit nur schleppend in Gang; wenige Studien oder Sammelbände mit Überblickscharakter haben sich dieser Epoche bislang gewidmet.40 Inzwischen aber ist fast eine Renaissance der Forschung zu Liberalismus und Demokratie festzustellen, ein Tagungsband von 2015 hat eine Art Neupositionierung angestoßen.41 Auch ein Sammelband zum Liberalismus im späten 20. Jahrhundert wurde vor einigen Jahren publiziert.42 Sogar eine Geschichte der Demokratie seit dem 19. Jahrhundert wurde gewagt.43 Dies schließt an Ansätze an, die Geschichte des Liberalismus im 20. Jahrhundert als komplexe Beziehungs- und Prozessgeschichte der Liberalisierung aufzufassen.44

Blickt man auf den organisierten Liberalismus in Deutschland in Gestalt der Freien Demokratischen Partei (FDP), sind hauptsächlich deren Anfänge besser untersucht.45 Hier sind auch die bisher wenigen biographischen Arbeiten über liberale Politiker angesiedelt.46 Für die Zeit danach klaffen große Lücken; eine wissenschaftliche Gesamtdarstellung der FDP fehlt schmerzlich. Auch problembezogene Analysen existieren nur für einige Themen, insbesondere zur liberalen Ost- und Deutschlandpolitik sowie zur Wirtschaftspolitik.47 Darüber hinaus findet man auch Sammelbände für ein breiteres Publikum, die einige interessante Blicke auf Abschnitte der liberalen Geschichte werfen.48 Zur Geschichte des Liberalismus in der sowjetischen Besatzungszone und in den Anfangsjahren der DDR, als die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) noch nicht „gleichgeschaltet“ war, liegen einige Untersuchungen vor, die gleichwohl verdeutlichen, dass der Druck der sowjetischen Machthaber bereits nach 1945 jede liberale Regung sehr erschwerte.49

Insgesamt betrachtet, scheint die Forschungslandschaft zum Liberalismus eher disparat – dies gilt national wie international. Für die Liberalismus-Forschung gibt es also ein weites Feld offener Fragen und strittiger Probleme.50

Perspektiven der künftigen Liberalismus-Forschung

In der künftigen Forschung sollten ausgetretene Pfade gemieden werden und zugleich die jeweiligen Charakteristika des Liberalismus als Idee, sozialer Bewegung und organisierter politischer Kraft Berücksichtigung finden. Welche Leitmotive und Spannungsfelder gehören zu diesen Charakteristika und können als Ausgangspunkte zur weiteren Erforschung des Liberalismus dienen? Einige Thesen sollen für die historische Forschung verschiedene Perspektiven aufzeigen.

1. Der Liberalismus in historischer Dimension à la longue durée lässt sich kaum in ein terminologisch eng geschnürtes Korsett zwängen; vielmehr bildet er eine vielgestaltige Mischung aus historischer Kontingenz und eigenen Denkmustern in einer je spezifischen Konfiguration von politischen Begriffen.51 Dies erlaubt die Anpassung an den jeweiligen historischen und zeitgenössischen Problemlösungsbedarf. Sein Kern reflektiert gesellschaftliche und politische Übereinkünfte und ändert sich deshalb nur langsam; wie in einem Netzwerk ordnen sich andere Ideen und Begriffe – etwa Vernunft, Freiheit, Verantwortung, Individualität, Machtkontrolle und Fortschritt – diesem Kern zu und geben diesem ein bestimmtes Profil. Folgt man diesem Ansatz, lassen sich einige Grundsätze als Kernelemente eines Liberalismus in historischer Perspektive formulieren. Dazu gehören ein Individualismus mit einem auch ganz personalen Freiheitsversprechen; eine politische und ökonomische Konzeption, die auf das vernunftbegabte Subjekt und eine ihm entsprechende Bildungsidee setzt; eine aus der Tradition der Aufklärung und des Idealismus hervorgehende Vorstellung von der „Integrität“ der Person; die als grundlegend erachteten Prinzipien der Gleichheit vor dem Gesetz und gleicher Chancen auf politische Partizipation; eine auf Rechtsstaatlichkeit und Gewährleistung von Menschen- und Bürgerrechten beruhende Verfassungsordnung; eine Öffentlichkeit mit einem geregelten Modus zur Austragung von Konflikten sowie eine auf den Markt zielende soziale Ordnung der Gesellschaft auf der Grundlage des Privateigentums.

Die Kernelemente um die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gültigen Leitbegriffe Selbständigkeit und Partizipation treten in unterschiedlicher Gewichtung und Gemengelage auf. Das liberale Sozialmodell setzt auf eine durch Eigeninitiative, Assoziationsfreiheit und plurale Öffentlichkeit gesicherte wirtschaftliche Selbständigkeit und Entscheidungsfreiheit. Das mit diesen Leitbegriffen konstituierte und wechselnden historischen Konstellationen ausgesetzte „Gesicht“ des Liberalismus konnte sehr unterschiedliche Facetten annehmen – Ungleichzeitigkeit und Differenz in der Ausprägung der Kernelemente sind konsistente Merkmale der liberalen Geschichte. Die Vorstellung des frühen Liberalismus etwa orientierte sich an einer Ordnung „für den Mann in der klassenlosen Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen“ mit dem zentralen Ziel eines „auskömmlichen Lebens“ für alle.52 Die Annäherung an dieses Ideal definierte den gesellschaftlichen Fortschritt. Insofern war und ist die liberale Ordnung niemals statisch, sondern in dauernder Wandlung und Dynamik begriffen.

Wird Liberalismus in diesem Sinne als eine breit angelegte Strömung mit einer kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Programmatik verstanden, scheint eine Aufspaltung des Liberalismus in verschiedene Liberalismen ebenso unangemessen wie die Vorstellung eines linearen Entwicklungsschemas. Wenig produktiv aus heutiger Sicht sind deshalb Entgegensetzungen etwa eines Altliberalismus der vorindustriellen Zeit, des – zum Beispiel auf Laisser-faire reduzierten – so genannten klassischen Liberalismus und eines als Sozialliberalismus postulierten modernen, postindustriellen Liberalismus. Diese Modelle werden den Gemengelagen und der inhärenten Dynamik des Liberalismus nicht gerecht; überdies ist – vom 21. Jahrhundert her betrachtet – allein schon die mit den genannten Beispielen verbundene Einengung auf die Perspektive der industriegesellschaftlichen Entwicklung problematisch.

2. Die Ausprägung der Kernelemente des Liberalismus hängt vom jeweiligen historischen Kontext ab, geschieht also im 19. und 20. Jahrhundert in direkter Wechselwirkung mit der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Dynamik. Zugleich steht die liberale Weltdeutung in Konkurrenz mit anderen Ideen, die über die Kraft und Attraktivität verfügten, Personen und Gruppen zu vergesellschaften. Dies führte den Liberalismus auf eine Reihe von Spannungsfeldern, die häufig zu Problemfeldern wurden und die Identität und Geschlossenheit der liberalen Bewegung in Frage zu stellen vermochten bzw. ihn mitunter zu einer Reformulierung seiner Lösungsansätze zwangen.

Diese potentiellen Konfliktfelder entschieden über Erfolg oder Misserfolg der organisierten Liberalen wie auch des Liberalismus als Idee und gesellschaftlicher Kraft – je nachdem, ob es der liberalen Bewegung gelang, den Ansatz zu inkorporieren oder zumindest eine produktive Interessenkooperation einzugehen. Dazu gehören unter anderem die Frage der Nation und des Machtstaates, die soziale Frage, die Demokratie (also die Reichweite von Partizipation), die Region (der föderale Ansatz) oder die Bürgergesellschaft (Mittelstand). Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts sind zwei Konfliktlinien hinzuzufügen, die lange Zeit nicht für konfligierende, sondern für selbstverständliche, ja fast natürliche Partner des Liberalismus gehalten wurden: Fortschritt und Marktwirtschaft.

3. Die Geschichte des Liberalismus geht weit über die Geschichte einer politischen Partei oder einer sozialen Klasse bzw. Schicht hinaus. Sie ist vielmehr in ihren mehrdimensionalen Erscheinungsformen zu erfassen – als Organisation einer (oder mehrerer) Partei(en), im Fortbestehen als soziale Bewegung und in der Vernetzung im öffentlichem Raum sowie im Modus kommunikativen Handelns. Dabei handelt es sich um verschiedene Dimensionen, die aber als gleichrangig zu verstehen sind: Nur dann wird man den Funktionsweisen liberaler Politik und dem Selbstverständnis des liberalen Bürgers gerecht. Wechselseitige Abhängigkeit der Wahrnehmungsmuster und soziale Erfahrungen auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene sind für die Entwicklung und Ausprägung des Liberalismus entscheidend, ebenso wie etwa der Modus diskursiver Reflexion und Pluralität, der den Begriff der Wahrheit neben der Vernunft auch an die jeweilige Übereinkunft bindet.

4. Topoi und Leitmotive in der Historiographie zum Liberalismus spiegeln dessen Komplexität nur teilweise wider. Zudem werden Erkenntnisinteressen nicht selten durch normorientierte sowie moralische Wertungen bestimmt (zum Beispiel bei der These vom „Verrat“ liberaler Prinzipien). Schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt orientierte sich die Historiographie – wie oben gezeigt – am Gegensatzpaar von Aufstieg resp. Erfolg und Niedergang bzw. Verfall oder Versagen des Liberalismus. Auch das Selbstbild des organisierten Liberalismus blieb diesem Rahmen verhaftet: In der Interpretation ihrer eigenen Geschichte, der Entwicklung ihrer politischen und sozialen Bewegung, übernahmen liberale Intellektuelle und Politiker diese moralische und pejorative Bewertung der Liberalismus-Entwicklung in Deutschland bereits vor der vorletzten Jahrhundertwende. Leitmotivisch setzte sich diese Sichtweise bis Ende des 20. Jahrhunderts fort – in unterschiedlichen Abstufungen verstanden als Krise der bürgerlichen Gesellschaft.

Bei dem Historiker Hans Rosenberg findet sich die moralische Wertung vom Versagen des Liberalismus bereits 1933, bei Theodor Schieder ist nach 1945 von der Krise des bürgerlichen Liberalismus die Rede; James Sheehan spricht vom „jahrzehntelangen Niedergang“ des Liberalismus, während Friedrich C. Sell 1953 eine „Tragödie“ des Liberalismus konstatiert.53 Schließlich vertrat auch Lothar Gall 1975 mit seiner These, das liberale Leitbild einer klassenlosen Bürgergesellschaft sei zur bürgerlichen Klassenideologie mutiert, im Prinzip ebenso die Verratstheorie, wie Wolfgang Mommsen zeitgleich mit seinem Verdikt eines liberalen „Sündenfalls“ in Bezug auf die nationalliberale Zustimmung zur Kolonialpolitik im Kaiserreich.54

Nur scheinbar anders gewendet ist in dieser Hinsicht der Topos vom Siegeszug, der Aufnahme und Realisierung wesentlicher Kernelemente des Liberalismus in die moderne pluralistische Demokratie. Da auch dieses Interpretament als Erklärung für den Niedergang des organisierten Liberalismus („totgesiegt“, nicht totgesagter politischer Liberalismus55) herhalten musste, stellt es nur die andere Seite der Medaille pejorativer Liberalismuskritik dar. Derartigen Deutungsversuchen liegt notwendigerweise eine apriorische, normierte Auffassung von Liberalismus zugrunde, die ein entsprechendes Werturteil je nach eigener – meistens liberalismuskritischer bis -feindlicher – Position erlaubt und sich im Besitz der Wahrheit a posteriori, des Maßstabes richtigen Handelns und der angemessenen Problemlösung weiß.

Betrachtet man die Historiographie – ausgehend von der Komplexität des Liberalismus als historisches Phänomen –, fallen zumindest drei Tendenzen auf, die den Forschungsfortgang insgesamt dominierten. Dies sind

– erstens der Wechsel der Untersuchungsebene vom personenzentrierten Ansatz (Honoratioren) über die soziale Gruppe (Fraktion, Partei) schließlich zu den Vergemeinschaftungsformen des sozialmoralischen Milieus (Lepsius) oder des Lagers (Rohe) – anders ausgedrückt: von den politischen Eliten und ihrem Handeln in der Organisation, der Partei und Fraktion zum gesellschaftlichen Bezug und zur sozialen Verankerung der liberalen Bewegung;56

– zweitens das pars pro toto in der moralischen Bewertung der Liberalismusgeschichte: Einzelne Elemente innerhalb der liberalen Bewegung bzw. des liberalen Ordnungsgefüges werden extrahiert und stehen exemplarisch für eine doch äußerst heterogene Bewegung und ein vielfältiges politisches Organisationsgefüge. Gegen diese Reduktion des komplexen Phänomens Liberalismus ist einzuwenden, dass der Transfer und die Infusion einzelner liberaler Elemente in andere Ideengefüge aus diesen Ideen keinen Liberalismus erzeugen, ebenso wie umgekehrt illiberal bewertete Elemente innerhalb des Liberalismus diesen noch nicht insgesamt in seinem Charakter „korrumpieren“. In diesem Muster jedoch finden die Verratsthesen ihren Platz;

– und drittens – wohl als Reaktion auf die ursprüngliche Verengung der Interpretation der liberalen Bewegung auf Muster klassischen politischen Handelns als Partei – die zunehmend erfolgte Erweiterung der Liberalismus-Forschung zur Bürgertums- und Gesellschaftsgeschichte, die ein komplexeres Bild der den Liberalismus tragenden Gruppen zeichnete und gerade deren Kommunikations- und Wertehorizont ins Zentrum rückte.

5. Im 20. Jahrhundert haben viel zu lange Fortschrittsdenken und Untergangsstimmung die Historiographie über den Liberalismus bestimmt. Das lag zum einen an einer Auftragsgeschichtsschreibung, die zu einer Art Selbstbeschreibung führte, zum anderen an einer durch die Zäsuren von 1930/33 und 1945 geprägten Sichtweise. Eine solche Geschichtssicht folgt einem unhistorischen Determinismus, sie ist deshalb methodisch fragwürdig. Eine angemessene Historiographie kann der Liberalismus-Geschichte nur gerecht werden, wenn sie Möglichkeiten und Grenzen von Idee und Praxis liberalen Denkens vor dem Zeithintergrund gerecht würdigt. In Zeiten einer undeutlich gewordenen Zukunftsagenda gilt dies mehr denn je. Die Entwicklung des Liberalismus erschöpft sich jedenfalls weder in einer Fortschritts- noch in einer Untergangsgeschichte; sie macht nur Sinn, indem man ihr stets eine Offenheit zugesteht und damit eine Perspektive gibt.

6. Die Ursprungsländer des Liberalismus können weder ein Auslegungsprivileg noch ein Durchsetzungsmonopol für diese politische Idee beanspruchen. Der Drang nach Freiheit ist ein gesamteuropäisches Bedürfnis und ein globales Anliegen der Menschen. Die Liberalismus-Geschichte geht nicht in einer westeuropäisch-nordamerikanischen Erfolgsgeschichte auf, sondern ist eher als eine Globalgeschichte von verschiedenen Freiheitsbewegungen aufzufassen. Nationale Narrative sind daher zu ergänzen, allerdings nicht zu ersetzen. Gerade die in den letzten Jahren betriebene Geschichte freiheitlicher Ideen setzt sich zu Recht mit den globalen Menschenrechten auseinander. Kolonialismus und Rassismus sind nicht zuletzt auch als antiliberale Ideen zu deuten.

7. Lange Zeit schienen politischer Liberalismus und parlamentarische Repräsentation geradezu im Gleichschritt die Geschichte zu bestimmen. Mit der zunehmenden Kritik am parlamentarischen System und mit einer sich verstärkenden Parteienverdrossenheit gilt es, die ausschließlich institutionelle Sicht auf den Liberalismus als parlamentarische Kraft zu ergänzen und diese Betrachtungsweise für andere Interpretationen zu öffnen. Die Erscheinungsformen des Liberalismus lassen sich nicht vornehmlich auf eine (institutionelle) Geschichte des Parlamentarismus reduzieren, sondern müssen als eine Entwicklung hin zu Partizipation und Selbstbestimmung betrachtet werden.

8. Die Geschichte des Liberalismus ist wie die allgemeine Geschichte und spezieller die politische Ideengeschichte kein gleichförmiger, kontinuierlicher und stets zielgerichteter historischer Vorgang gewesen. Es gibt immer auch Brüche und Diskontinuitäten. Diese sind zu beschreiben und zu analysieren. Generell handelt es sich bei der Liberalismus-Geschichte stets um eine prozesshafte und damit ungleichmäßige, d.h. auch gebrochene und verzögerte Geschichte der Liberalisierung, die Fort-, aber auch Rückschritt (Deliberalisierung) bedeuten kann und – historisch betrachtet – häufig bereits bedeutet hat.

9. Nicht nur vor einer ausschließlich Parlamentarismus-bezogenen Sicht auf den Liberalismus ist zu warnen, sondern ebenso vor einer Reduzierung der historischen Betrachtung auf eine Parteigeschichte. Der Liberalismus hat sich vor allem im frühen 19. Jahrhundert als politische Bewegung verstanden und sich ausdrücklich überparteilich definiert. Im 20. Jahrhundert zeigt sich mehr als deutlich, dass bestimmte liberale Strömungen nicht parteigebunden aufgefasst werden dürfen, so beispielsweise der Sozialliberalismus. Unter anderen Vorzeichen gilt es auch im 21. Jahrhundert, eine allzu große Konzentration auf eine Partei oder auf bestimmte Parteien zu vermeiden. Diese Offenheit, ja Vielfalt hat den Liberalismus in der Vergangenheit ausgezeichnet; sie war zum Teil problematisch, ist ihm aber wesensmäßig eigen. Eine Liberalismus-Geschichte ist nur zum Teil eine Geschichte des organisierten Liberalismus, sie ist vor allem auch die Geschichte freiheitlicher Ideen und der sie unterstützenden politischen Bewegung sowie einer oder mehrerer Parteien.

10. Der Liberalismus lässt sich grundsätzlich als eine ausgesprochen wertbezogene politische Bewegung verstehen. Aus der Tradition der Aufklärung erwachsen die verschiedenen Kernelemente liberalen Denkens im 19. Jahrhundert, zu denen auch zu dieser Zeit bereits Föderalismus und Subsidiarität zählen. Der Gedanke der Subsidiarität lässt sich auf der Ebene der Gemeinde, der Region und selbst einer Nation umsetzen. Föderalismusdenken zeigt sich bei verschiedenen liberalen Theoretikern; so wird beispielsweise von einem Mehrebenenmodell politischer Entscheidungen gesprochen. Neben dem ‚klassischen‘ Streben nach Bürgerrechten, Partizipation, nationaler Selbstbestimmung und Wirtschaftsfreiheit lassen sich Föderalismus und Subsidiaritätsprinzip als wichtige liberale Werte und Ziele des Liberalismus in einer langfristigen Perspektive identifizieren.

I.

Aufbruch und Abgrenzung – Der vormärzliche Liberalismus

Politische Bewegungen im Vormärz

Liberalismus, Konservatismus, Konstitutionalismus und Parlamentarismus

Einleitung

Liberalismus, Konservatismus und Konstitutionalismus waren eng miteinander verflochtene politische Bewegungen im Vormärz. Bei der Durchsetzung der damit verbundenen Ideen handelte sich um zwei historische Prozesse, deren Beginn vor 1815 und deren Abschluss nach 1848 datierte, wobei deren Kernzeit in die Epoche des Vormärz fiel. Die Anfänge des Liberalismus lagen im 17. Jahrhundert; der Konstitutionalismus begann mit dem Ende des 18. und im frühen 19. Jahrhundert; ähnlich verhielt es sich mit dem Konservatismus. Die Ideengeschichte aller drei Bewegungen vollzog sich in Westeuropa und reichte damit über die deutsche Geschichte hinaus. Eng verbunden mit Liberalismus, Konservatismus und Konstitutionalismus war der Parlamentarismus, denn moderne Repräsentativkörperschaften entstanden erstmals mit den Verfassungen des frühen 19. Jahrhunderts. Hinsichtlich ihres Menschenbilds, der Zukunftserwartungen und der Zielvorstellungen standen sich Liberalismus und Konservatismus konträr gegenüber. Bei den Begriffen „konservativ“, „liberal“ und „konstitutionell“ handelte es sich jeweils um zeitgenössische Selbstbezeichnungen.1 Nachfolgend sollen zunächst die Begriffe inhaltlich erläutert werden, danach wird die historische Entwicklung beschrieben und schließlich werden die jeweiligen Ausprägungen und Folgen analysiert.

Liberalismus

Mit dem Begriff „Liberalismus“ bezeichnet man eine politische Bewegung und zugleich eine Idee. Ideengeschichtlich ist u.a. an die programmatischen Schriften der britischen Liberalen John Locke und Adam Smith zu denken, die den Liberalismus von seiner repräsentativen und seiner ökonomischen Seite grundlegend geprägt haben. In der Abhandlung „The Second Treatise of Civil Government“ aus dem Jahr 1690 beschrieb der englische Philosoph John Locke ein politisches System, in dem der (monarchischen) Regierung eine parlamentarische Vertretung mit eigenen Rechten gegenübertritt, die das Volk repräsentiert. Der schottische Schriftsteller Adam Smith vertrat in seiner 1776 erschienenen Studie „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ die Theorie, dass frei wirkende und sozial gebundene wirtschaftliche Kräfte ein Maximum an persönlicher Freiheit ermöglichen. Zu diesen beiden Autoren muss man den Philosophen Immanuel Kant als Ideengeber des Liberalismus hinzufügen, der in seiner Abhandlung „Zum ewigen Frieden“ aus dem Jahr 1795 eine Grundlegung der Rechte des Menschen unternahm. Diese Programmschriften des 17. und 18. Jahrhunderts prägten das liberale Denken im Vormärz. Auf ihnen bauten alle weiteren bedeutenden Abhandlungen des Liberalismus und Konstitutionalismus auf.

Als liberale Vordenker im Vormärz sind insbesondere die Historiker Friedrich Christoph Dahlmann („Politik“, 1835) und Karl von Rotteck zu nennen („Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften“, 1828). Darüber hinaus sollten der Leipziger Staatsrechtler Karl Heinrich Ludwig Pölitz, dessen Tübinger Kollege Robert Mohl sowie der Freiburger Rechtswissenschaftler Carl Theodor Welcker erwähnt werden. Rotteck und Welcker waren auch Herausgeber des bedeutendsten Fortsetzungswerks, des 15-bändigen „Staats-Lexikons“ – der „Bibel“ des vormärzlichen Liberalismus. Über die deutschen Grenzen hinaus nach Westeuropa sind vor allem Richard Cobden, John Stewart Mill und Alexis de Tocqueville als wirkungsmächtige liberale Vordenker zu erwähnen.

Der Liberalismus des Vormärz fußte auf den Gedanken der Aufklärung. Zugleich aber resultierte aus der traditionalen Idee der ständischen Libertät, die grundsätzliche Vorstellung, dass ein Staatssystem dualistisch konstruiert sei. Staat und Verwaltung standen Parlament und Gesellschaft gegenüber. Insofern wurde es bei den Liberalen als kritisch erachtet, wenn sich in der Verfassungspraxis die Sphären von Regierung und Parlament mischten. Liberale verstanden sich vielmehr als „Volksmänner“, die im Parlament die Gesellschaft repräsentierten. Gouvernementale, also regierungstreue Abgeordnete widersprachen im Prinzip ihrer Vorstellung, ebenso wie Minister, die dem Parlament angehörten oder ihm entstammten. Die Liberalen sahen sich als Partei der „Bewegung“ und der Reformen, während sie die Regierung und ihre Anhänger als Vertreter des Stillstands, ja Rückschritts brandmarkten. Als sich in der Verfassungswirklichkeit der vormärzlichen Ständeversammlungen unterschiedliche Auffassungen zeigten, erwies sich die Ausformung verschiedener politischer Gruppierungen als unvermeidlich.2

Konservatismus

Im Gegensatz zum Liberalismus, der auf politische Reformen und gesellschaftlichen Fortschritt ausgerichtet war, zielte der Konservatismus eher auf das Bewahren der politisch-sozialen Zustände und stimmte allenfalls vorsichtigen Veränderungen zu. Während der Liberalismus stark rational geprägt war, argumentierte der Konservatismus häufig emotional, teils irrational und nicht selten religiös. Ganz besonders betont wurde von den Konservativen die Legitimität der Fürstenherrschaft, deren Ausfluss in der Verfassung das monarchische Prinzip war, eine Art Generalvollmacht des Fürsten, aus der sich die Rechte aller anderen staatlichen Institutionen herleiteten.

Liberalismus und Konservatismus waren sich in der Ablehnung der Revolution einig. Eine der liberal-konservativen Grundschriften gegen die Französische Revolution stammte von dem englischen Schriftsteller und Politiker Edmund Burke. Die politische Romantik des Staatstheoretikers Adam Müller wandte sich als Spielart des Konservativen insbesondere gegen Aufklärung und Revolution. Eine altständisch-patrizische Variante des Konservatismus stellen die Ideen des Schweizer Historikers Karl Ludwig von Haller dar, auf dessen Buchtitel („Restauration der Staats-Wissenschaften“, 6 Bände, 1817–1834) der Epochenbegriff der „Restauration“ zurückgeht. Weitere Vertreter der konservativen Ideenwelt im Vormärz waren der Schriftsteller und Metternich-Vertraute Friedrich von Gentz, der politische Journalist Carl Ernst Jarcke und der sozialkonservative Literaturhistoriker Victor Aimé Huber.3

Huber-Böckenförde-Kontroverse

Mit den Klassikern liberalen Denkens verbinden sich die Ideen eines auf politischen, wirtschaftlichen und sozialen Grundrechten beruhenden Repräsentativsystems mit einer konstitutionellen Verfassung. Grundlegend war hierbei die Annahme, dass die Monarchie zwar fortbestehen, aber im Gegensatz zum Absolutismus durch eine Verfassungsurkunde rechtlich gebunden und beschränkt werden sollte.

Über die Frage, inwieweit diese Beschränkung des Fürsten in einer konstitutionellen Monarchie bereits im Keim einen Übergang zum Parlamentarismus bedeutete, entzündete sich in der deutschen Wissenschaftsgeschichte der 1960er Jahre ein über Jahrzehnte andauernder Streit, die sogenannte Huber-Böckenförde-Kontroverse. Kern der Debatte war dabei die von dem Staatsrechtler Carl Schmitt zuerst 1934 skizzierte und von dem bundesdeutschen Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde 1967 ausformulierte Annahme, dass der Konstitutionalismus ein Übergangsstadium zwischen Absolutismus und Parlamentarismus darstellte. Die typische Form der daraus resultierenden parlamentarischen Monarchie wurde in Deutschland allerdings erst am Ende des Ersten Weltkrieges im Zuge der sogenannten Oktoberreformen 1918 durchgesetzt. Durch den Untergang des Kaiserreichs und den Übergang zur Republik nur kurze Zeit später blieb die kurze Phase der parlamentarischen Monarchie in Deutschland jedoch nicht viel mehr als eine verfassungsgeschichtliche Fußnote. Das konstitutionelle System hingegen hatte sich zuvor über ein ganzes Jahrhundert als recht stabil erwiesen, weswegen es aus der Sicht des Verfassungshistorikers Ernst Rudolf Huber (1963) eine typologische Eigenständigkeit besessen habe.4

Konstitutionalismus

Unabhängig von der Frage, wieweit der Konstitutionalismus als ein selbstständiges politisches System oder eigenständiger Verfassungstyp angesehen werden kann, ist aber unstrittig, dass die fürstliche Gewalt durch eine geschriebene Verfassung im Unterschied zum Absolutismus legal begrenzt wurde. Der Monarch gab durch einen mehr oder weniger freiwilligen Akt Befugnisse an eine Repräsentativversammlung ab, regelte die Staatsorganisation und gewährte Staatsbürgerrechte. Er selbst war nicht mehr unumschränkter, absoluter Souverän, sondern Organ und Funktionsträger des Staates. Der konstitutionelle Monarch war gebunden durch eine Verfassung, die er selbst nicht mehr zurücknehmen oder außer Kraft setzen konnte. Außer gewissen konstitutionellen Vorbehalten in Exekutive und Legislative blieben ihm eine Zivilliste, aus der er den Hofstaat finanzierte, sowie das Erbrecht innerhalb seiner Dynastie.

Mit der Ausbreitung des Konstitutionalismus als Staatsund Regierungssystem in Deutschland und Europa nach 1815 sahen sich auch konservative Zeitgenossen gezwungen, sich auf Verfassungen einzustellen. Die konstitutionelle Variante des Konservatismus vertrat der Rechtsphilosoph Friedrich Julius Stahl. Ihm ging es wie vielen Konservativen darum, die monarchischen Rechte gegen den aufkommenden Liberalismus zu verteidigen. Aber im Unterschied zu den früheren Versuchen, für die Rechte der Obrigkeit mit naturrechtlichen oder religiösen Argumenten („Gottesgnadentum“) zu werben, stand Stahl für das „monarchische Prinzip“ in der Verfassung, das dem Herrscher legitime konstitutionelle Vorrechte („Prärogativen“) zusicherte. Nach dem Vorbild der französischen Charte constitutionnelle von 1814 wurde das monarchische Prinzip zumeist in den ersten Artikeln der einzelstaatlichen Verfassungen des Vormärz festgehalten.

Konstitutionalismus und Liberalismus waren in der deutschen Geschichte vor 1848 keine nationalen, sondern primär regionale Phänomene. Da auf dem Wiener Kongress 1814/15 kein deutscher Nationalstaat, sondern mit dem Deutschen Bund ein Staatenbund entstanden war, gab es keinen realen Anknüpfungspunkt für eine überregionale Verfassungsbewegung. Auch der Liberalismus entwickelte sich primär in den Kommunen und in den Einzelstaaten. Am deutlichsten zeigte er sich in der politischen Praxis von städtischen Versammlungen und Landesparlamenten.

Die Einberufung landständischer Versammlungen beruhte auf dem berühmt gewordenen Artikel 13 der Deutschen Bundesakte von 1815. In diesem war davon die Rede, dass in allen Bundesstaaten „landständische Versammlungen stattfinden“ sollten.5 Über die Auslegung entbrannte in den folgenden Jahren ein Streit, der um die Frage ging, ob mehr an altständische oder repräsentativstaatliche Parlamente gedacht sei. Die Frage wurde im süddeutschen Frühkonstitutionalismus der nachfolgenden Jahre zugunsten moderner Verfassungen mit einem Zweikammersystem entschieden. Am Ende schlugen in verschiedenen Phasen bis zum Jahr 1848 insgesamt 37 von 41 Staaten des Deutschen Bundes den Weg zum Verfassungsstaat ein, zu den Ausnahmen zählten aber Österreich und Preußen. Die Provinzialstände in den preußischen Landesteilen waren nur ein unzureichender Ersatz für ein fehlendes gesamtstaatliches Parlament, weil trotz mehrfacher königlicher Verfassungsversprechen keine preußische Konstitution für den Gesamtstaat zustande kam. Die zahlreichen neuen Verfassungen verdeckten die Tatsache, dass in einigen deutschen Kleinstaaten und in den freien Städten altständische Grundgesetze bis 1918 in Kraft blieben. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zeigte sich auch und gerade im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts.

Die meisten Verfassungen der deutschen Einzelstaaten wurden oktroyiert, nur wenige mit den Landständen vereinbart. Hintergrund der Verfassungsgebung waren häufig finanzielle Bedürfnisse der Steuererhebung und die Notwendigkeit der Integration neuer Landesteile nach dem Wiener Kongress. Insofern waren die konstitutionellen Verfassungen „Werkzeuge der Staatsspitze“ und gingen zugleich durch „die Schule der Bürokratie“.

Die Konstitutionen selbst bestanden zum einen aus einem Katalog von „Untertanenrechten“ und aus Regelungen über die Staatsorganisation zwischen Regierung und Landtag. Dabei wurden die Sphären von Legislative, Exekutive und Judikative voneinander geschieden. Der Monarch behielt diverse Sonderrechte, die sich im sogenannten monarchischen Prinzip bündelten. Dies waren insbesondere erbliche Thronfolge, exekutive Staatsleitung, militärische Prärogative und die Befugnis, den Landtag einzuberufen und zu schließen. Schließlich ernannte und entließ der Monarch die Minister. Die Minister selbst waren seine Bevollmächtigten und Vollzugsorgane des Staatswillens. Sie waren im Vormärz die bürokratischen „Scharniere“, bei denen als Exekutive die monarchischen und die landständischen Beschlüsse zur Legislative zusammenliefen. Da aber die Macht zugunsten des Fürsten ungleich verteilt war, wurden die Konstitutionen des Vormärz geprägt von einer Art „hinkenden Gewaltenteilung“. Ein wichtiges Recht, das dem Fürsten als Souverän nach außen zustand, war die Entscheidung über Krieg und Frieden. Nach innen gab er allerdings eine zentrale Befugnis zum Teil preis, indem die Verfassungen die Bewilligung des Budgets und die Ermächtigung zur Steuererhebung von der Zustimmung der Landtage abhängig machten.6

Parlamentarismus

Im Vormärz entstand in den deutschen Einzelstaaten ein früher Parlamentarismus. Die Rechte und Aufgaben der Landtage waren in den vormärzlichen Konstitutionen ausführlich geregelt. Diese Ständeversammlungen wurden nach indirektem Zensuswahlrecht gewählt und setzten sich aus gewählten und geborenen Abgeordneten zusammen. In der Sprache der Zeitgenossen und in den Verfassungsurkunden war in der Regel von Ständeversammlungen und Deputierten die Rede, was bereits andeutete, dass es bei den Landtagen einen Überhang altständischer Traditionen gab. Die größeren deutschen Länder besaßen ein Zweikammersystem mit einer Ersten Kammer für Angehörige des Fürstenhauses, den ehemals reichsunmittelbaren Adel, Standesherren, Kirchenvertreter, Universitätsdeputierte und Besitzer von sogenannten Rittergütern. Die Adelskammern hatten vor allem die wichtige Aufgabe, Entscheidungen der „Volkskammern“ zu kontrollieren und durch die erforderliche Zustimmungsbefugnis im Zweifel auch zu blockieren. Zuweilen aber agierten sie auch gegen den Monarchen, wenn es um die Einschränkung von eigenen Privilegien oder Besitztümern ging. In der Zweiten Kammer nahmen die gewählten Vertreter der Städte und Landgemeinden Platz. Ein Einkammersystem existierte nur in wenigen Mittel- und Kleinstaaten.

Die Befugnisse der Ständeversammlungen waren begrenzt und ließen geringe politische Spielräume. Nur ausnahmsweise stand den Landtagen das Recht der Gesetzesinitiative zu; umso wichtiger waren das Motionsrecht und die Zustimmungserfordernis zu den Gesetzen. Eine Ministerverantwortlichkeit gab es nur strafrechtlich, noch nicht parlamentarisch, faktisch funktionierte eine parlamentarische Verantwortung in Ausnahmefällen. Ausgiebig genutzt wurde die öffentliche parlamentarische Debatte und der unzensierte Druck der Landtagsverhandlungen. Der frühe Parlamentarismus war ein Forum der liberal geprägten Meinungsvielfalt, die seit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 von der zensierten Presse nicht mehr gewährleistet werden konnte.

Die gewählten Abgeordneten in den einzelstaatlichen Landtagen bildeten noch keine Fraktionen im formellen Sinne, aber es gab verschiedene politische Richtungen und entsprechende protofraktionelle Gruppierungen. Diese orientierten sich an den dominierenden politisch-ideologischen Lagern, insbesondere dem Konservatismus und dem Liberalismus. Die (Selbst-)Bezeichnungen waren dabei sehr vielfältig und reichten von Reaktionären, Servilen, Gouvernementalen, Konstitutionellen bis hin zu Demokraten und Radikalen. Seit den 1830er Jahren spalteten sich die liberalen Abgeordneten zunehmend in eine gemäßigte und eine entschiedene („ultraliberale“) Richtung. Aus der letzteren Gruppe entstand in der 1848er Revolution das demokratische Lager. In den Landtagen waren die liberalen Abgeordneten zwar stark vertreten, aber eher selten besaßen sie eine parlamentarische Mehrheit. Dennoch wirkten die Landtage als eine Art Gegenkraft zur Regierung, weil sie in der Legislative mitentschieden, indem sie Gesetzentwürfe diskutierten und teilweise abänderten. Die Regierungen ihrerseits hielten dem Liberalismus eine defensive Politik entgegen, die man teils als reaktionär, teils als konservativ bezeichnen kann.

Den wichtigsten liberalen Politikern in den Vormärzlandtagen wie dem hessisch-badischen Weingutsbesitzer Johann Adam von Itzstein, dem hessen-darmstädtischen Juristen Heinrich von Gagern, den badischen Publizisten Karl Mathy und Karl von Rotteck oder dem kurhessischen Anwalt Carl Wilhelm Wippermann standen konservative Minister wie Friedrich Landolin Karl von Blittersdorff in Baden, Karl du Bos du Thil im Großherzogtum Hessen, Ludwig Hassenpflug im Kurfürstentum Hessen oder Joseph Maria von Radowitz in Preußen gegenüber. Während die Liberalen für politische Partizipation, Bürgerrechte und wirtschaftliche Freiheit eintraten, oblag es den konservativen Gegenspielern, im Auftrag ihres Fürsten die monarchischen Rechte zu wahren, die parlamentarischen Befugnisse möglichst einzugrenzen und allenfalls eine konservative Modernisierung zuzulassen.7

Konstitutionelle Grundrechte

Neben den Befugnissen des Landtags bildeten die Rechte und Pflichten der Staatsbürger einen weiteren Hauptbestandteil der Verfassungen des Vormärz. Für Anhänger des Naturrechts handelte es sich um unveräußerliche Urrechte; aus Sicht des Vernunftrechts zählte die Teilhabe der Staatsbürger zu den Erfordernissen eines modernen Staatswesens. Deshalb war es wichtig, den Erwerb oder Verlust des Staatsbürgerrechts juristisch zu regeln. Aus Sicht der Fürsten hingegen waren es Untertanenrechte – eine Auffassung, die sich besonders in den spezifischen Beschränkungen der Freiheitsrechte niederschlug. Meinungsund Pressefreiheit wurden ebenso wie das Vereinigungs- und Versammlungsrecht in den Verfassungen begrenzt. Vergleichsweise wenig eingeschränkt war dagegen die Auswanderungsfreiheit. Als besonders umstritten erwies sich neben der Pressefreiheit die Öffentlichkeit und Mündlichkeit von Gerichtsverfahren sowie das Recht, neben dem regulären Militär sogenannte Bürgerwehren zu organisieren. Konfessionelle Grundrechte beschränkten sich in der Regel auf die drei christlichen Konfessionen, wobei den jüdischen Bürgern eine teils eingeschränkte Emanzipation zuteil wurde. Die Verfassungen gewährten Gleichheitsgarantien bei den staatsbürgerlichen Pflichten, wie der Steuerleistung, dem Militärdienst oder beim Zugang zu öffentlichen Ämtern. Die Grundrechte in den Verfassungen waren zunächst proklamativ gemeint, oft standen sie unter einem Gesetzesvorbehalt, was in der Regierungspraxis dazu führte, dass ein ausgestaltendes Gesetz entweder verzögert wurde oder dieses das Grundrecht einschränkte.

Besonders umkämpft war im Vormärz die Ausgestaltung des aktiven und passiven Wahlrechts. Das Wahlrecht war nicht allgemein, indirekt und öffentlich. Die Liberalen traten für ein eingeschränktes und indirektes Männerwahlrecht ein. Sie waren der Meinung, dass politische Urteilsfähigkeit erst durch Besitz und Bildung ermöglicht werde und beides zu einer Wahlfähigkeit qualifiziere. Die ökonomischen und sozialen Stufen der Wahlbeschränkung waren je nach Staat sehr unterschiedlich. Fast überall gab es Wahlsysteme mit Wahlmännern. Tatsächlich waren in den deutschen Einzelstaaten etwa 5 bis 15% der Bevölkerung aktiv wahlberechtigt und damit mehr als in anderen westeuropäischen Staaten. Die Ablehnung des allgemeinen (und direkten) Wahlrechts teilten die Liberalen übrigens mit den Konservativen, und hier unterschieden sie sich deutlich von der demokratischen Bewegung, die ein allgemeines Wahlrecht forderte. Die Wahlbeteiligung bewegte sich in Deutschland auf regional und lokal sehr unterschiedlichem Niveau.

Träger liberaler Ideen waren im Vormärz vor allem die besitzenden und gebildeten bürgerlichen Mittelschichten mit überwiegend protestantischer und städtischer Prägung. Etliche Anhänger des Liberalismus besaßen eine Hochschulausbildung, und nicht wenige fanden sich im staatlichen oder kommunalen Staatsdienst wieder oder übten freie Berufe wie Rechtsanwalt oder Arzt aus; einige entstammten dem Wirtschaftsbürgertum. Aus diesen gesellschaftlichen Kreisen kamen sowohl die liberalen Protagonisten als auch die liberalen Anhänger und Wähler. Gleichwohl gab es Liberale selbst unter den Adligen, die in ihrer Mehrzahl freilich dem konservativen Lager zuzurechnen waren.

Ziel der liberalen Bewegung war die Ausweitung der in der Verfassung gewährten Grund- und Freiheitsrechte und der Befugnisse des Landtags. Insofern bildete der Liberalismus nicht nur in der Ideenwelt, sondern auch in der politischen Praxis einen Gegenpart zu allen auf Bewahrung zielenden konservativen, restaurativen oder reaktionären Bestrebungen. Der Ausbau der parlamentarischen Rechte stellte eine zentrale Forderung der Liberalen dar. Der Liberalismus strebte nach politischem Fortschritt, er zielte auf Partizipation und Emanzipation. Was ihm dagegen fremd anmutete, war der Gedanke demokratischer Gleichheit. Deswegen gab es ein gestuftes Zensuswahlrecht und auch eine ständisch begrenzte Wirtschaftsfreiheit. Die Konservativen agierten dagegen in der Regel defensiv, wollten eher bewahren statt verändern. Allenfalls die sogenannten Reformkonservativen erkannten die Notwendigkeit gemäßigter politischer und sozialer Reformen, um nicht den Anschluss an die Erfordernisse der Zeit zu verlieren. Liberale befürworteten den Freihandel und setzten sich dementsprechend für den 1834 gegründeten Deutschen Zollverein ein, während Konservative überwiegend für Schutzzölle eintraten.8

Phasen des Konstitutionalismus

Die preußischen und die rheinbündischen Reformen in den Jahren um 1810 bildeten den Ausgangspunkt für verfassungspolitische Bestrebungen und verfassungsrechtliche Ziele, an die man nach 1815 anknüpfen konnte. Die napoleonischen Kriege und die nachfolgende Besetzung und Annexion großer Teile Europas durch Frankreich waren der äußere Anlass für Änderungen in der Verfassungsstruktur der davon betroffenen Staaten. In Preußen wurden mit den Reformen, die Karl Freiherr vom Stein, Karl August von Hardenberg, Wilhelm von Humboldt und andere Staatsmänner verantworteten, ganz erhebliche politische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen initiiert, welche die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen für den Vormärz bildeten. Städtereform, Judenemanzipation, Militär- und Bildungsreformen sowie die Bauernbefreiung liberalisierten eine altständische Gesellschaft. Diese Verfassungsreformen blieben allerdings zum Teil stecken und wirkten schon deshalb bruchstückhaft, weil eine gesamtstaatliche Konstitution vom preußischen König zwar mehrfach versprochen, aber bis 1848 nicht erlassen wurde. Preußen war wirtschaftlich modern und verfassungspolitisch rückständig.

In den von Napoleon abhängigen Rheinbundstaaten wurden gleichfalls erhebliche Veränderungen der Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialstruktur auf den Weg gebracht. Hintergrund waren sowohl die anstehende Integration neuer Landesteile als auch die notwendige Finanzierung des Staates. Im Unterschied zu Preußen kam es allerdings in einigen Fällen zur Verabschiedung einer Verfassungsurkunde. Das prägnanteste Beispiel war die Verfassung des Königreichs Westphalen aus dem Jahr 1807. Dass diese Konstitutionen in der Regel nur kurz galten und auch mehr deklamatorischen und demonstrativen als real wirksamen Gehalt besaßen, hinderte nicht, dass viele spätere Vormärzverfassungen ideenmäßig an sie anknüpften und einige Reformer des Vormärz sich an sie erinnerten. Der sogenannte Rheinbündische Konstitutionalismus ist als protokonstitutionalistisch zu bewerten.

Der deutsche Konstitutionalismus entwickelte sich nach 1815 in drei Phasen, die man auch als Schübe der Verfassungsgebung bezeichnen kann. Einem Auftakt mit zunächst altständisch geprägten kleinstaatlichen Verfassungen um 1815 (Nassau, Sachsen-Weimar-Eisenach, Waldeck) folgte zwischen 1818 und 1820 der süddeutsche Konstitutionalismus in Baden, Bayern, Württemberg und Hessen-Darmstadt. Nach einer Dekade relativen verfassungspolitischen Stillstands kam eine zweite Welle des Konstitutionalismus mit der Verfassunggebung deutscher Mittelstaaten wie Kurhessen, Sachsen und Hannover in den Jahren 1830 bis 1833. Die dritte Phase des Konstitutionalismus fällt in das Jahr 1848, in dem als Folge der Revolution auch die beiden bis dahin verfassungslosen deutschen Großstaaten Preußen und Österreich Konstitutionen erhielten. An der Konzeption, Diskussion und Entstehung der einzelstaatlichen Verfassungen haben Liberale zum Teil führend mitgewirkt. Zu nennen sind hier beispielsweise der Göttinger Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, der die Hannoversche Verfassung von 1833 entwarf, und der Marburger Staatsrechtler Sylvester Jordan, der die kurhessische Konstitution von 1831 stark beeinflusste.

Generell war der Liberalismus an den Universitäten sehr präsent. Das galt für einige „politische Professoren“ wie Rotteck, Welcker, Dahlmann oder Jordan ebenso wie für einen Großteil der Studenten. Die frühen Burschenschaften traten für nationale und liberale Ziele ein; auf dem 1817 organisierten Wartburgfest wurden – neben nationalistischen und judenfeindlichen Parolen – auch freiheitliche Forderungen erhoben. Einheit und Freiheit waren im frühen Liberalismus ohnehin eng miteinander verzahnte Forderungen. Doch mit den Karlsbader Beschlüssen, die der Deutsche Bund 1819 als Folge des Attentats auf den als Spion verdächtigten Dichter August von Kotzebue erließ, wurden studentische Aktivitäten unterbunden und eine rigide Zensur von Büchern, Flugschriften und Zeitungen eingeführt. Damit stand das öffentliche Leben bis 1830 unter Aufsicht. Die unzensierten Landtagsverhandlungen bildeten danach fast das einzige Forum des Liberalismus in den 1820er Jahren.

Als Folge der französischen Julirevolution von 1830 änderten sich auch die politischen Verhältnisse in Deutschland grundlegend. In mehreren Staaten brachen politisch und sozial motivierte Unruhen aus, und in Braunschweig wurde sogar das Schloss angezündet. In dieser Situation erneuerten die Liberalen ihre Forderung nach Verfassungen und Reformen. 1831 wurden im Kurfürstentum Hessen und im Königreich Sachsen neue Konstitutionen erlassen, 1833 folgte die Verfassungsgebung im Königreich Hannover. Ähnlich wie in den süddeutschen Hauptstädten bildete das städtische Bürgertum in Kassel, Hannover und Dresden einen wesentlichen Faktor bei den Verfassungsberatungen. Es drängte auf liberale Reformen, welche die ausgebrochenen Unruhen bekämpfen, wirtschaftliche Freiheiten ermöglichen und politische Mitsprache sicherstellen sollten. Um den unruhigen Unterschichten zu begegnen, wurden Bürgerwehren eingerichtet.9

Auch in den süddeutschen Staaten erwachte die Bevölkerung aus der weitgehenden Lethargie der 1820er Jahre. In Baden wurde der Landtag des Jahres 1831 dazu genutzt, ein liberales Pressegesetz auf den Weg zu bringen, das allerdings nur kurz galt. In der bayerischen Pfalz führte man zum Andenken an die Verfassungsgebung von 1818 eine Feier bei Neustadt an der Weinstraße durch. Ende Mai 1832 strömten zwischen 20.000 und 30.000 Teilnehmer auf das Hambacher Schloss und forderten Einheit und Freiheit für die deutsche Nation. Das Hambacher Fest ist als die größte politische Demonstration des Vormärz in die deutsche Geschichte eingegangen. In Reaktion auf dieses und andere kleinere Freiheitsfeste, vor allem in Bayern und Hessen, beschloss die Deutsche Bundesversammlung auf Initiative des österreichischen Staatskanzlers Fürst Klemens Wenzel von Metternich die Sechs und Zehn Artikel, mit denen der Deutsche Bund im Juni und Juli 1832 politische Versammlungen und Vereine verbot.

Der Liberalismus als politische Bewegung wurde von den Bundesbeschlüssen des Sommers 1832 hart getroffen. Er war unter Kuratel gestellt, agierte fortan hauptsächlich in den einzelstaatlichen Landtagen und suchte seine Nischen im vorgeblich unpolitischen Vereinswesen. Turner- und Sängervereine beherbergten zum Teil ein politisiertes Bürgertum, das nun die Versammlungen nutzte, um dort die in der Öffentlichkeit verbotenen politischen Diskussionen zu führen. Der Hallgartener Kreis um den hessisch-badischen Gutsbesitzer Johann Adam von Itzstein bildete als überregionales Diskussionsforum der Liberalen eine Ausnahme. Die Zensur politischer Schriften wurde zwar mit einem Großprojekt wie dem von Rotteck und Welcker herausgegebenen „Staats-Lexikon“ unterlaufen, das wegen seines Umfangs nicht zensiert wurde. Aber die rigiden Maßnahmen bedeuteten das Ende einer politischen Presse und der Flugschriftenliteratur. Radikalliberale oder frühsozialistische Politiker oder Schriftsteller, wie z. B. der Kreis um Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig oder einige Mitglieder des Jungen Deutschland, gingen in den Untergrund oder die Emigration.

Nur wenige herausragende Ereignisse in der Zeit zwischen 1832 und 1847 zeigten, dass es den politischen Liberalismus in Deutschland noch gab. Von hoher Bedeutung und Symbolkraft war deshalb die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Außerkraftsetzung der Hannoverschen Verfassung durch den Thronfolger Ernst August im Jahr 1837. Sieben Göttinger Professoren, darunter Dahlmann und die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, protestierten gegen den eklatanten Verfassungsbruch, wurden aus ihren Ämtern entlassen und zum Teil des Landes verwiesen. Ein Proteststurm zugunsten der Göttinger Sieben erhob sich; sie galten als Märtyrer des Liberalismus. Kaum ein politisches Ereignis im Vormärz hat deutschlandweit eine derart große Resonanz hervorgerufen und gezeigt, dass Zivilcourage gegenüber monarchischer Willkür und zugunsten einer Verfassung den liberalen Gedanken – wenn auch nur kurzzeitig – wiederzubeleben vermochte.

Die Zusammengehörigkeit von liberalem und konstitutionellem Denken kam schließlich auch in den Feierlichkeiten zum 25-jährigen Jubiläum der badischen Verfassung 1843 zum Ausdruck. Insgesamt nahmen rund 100.000 Badener an den zahlreichen Feiern im Land teil. Auch hier zeigte sich, dass die liberale Bewegung in den meisten Fällen regional oder lokal verankert war und unter den gegebenen politischen Umständen nur sehr selten in einem nationalen Rahmen Wirksamkeit entfalten konnte.10

Vorgeschichte von 1848

Eine deutschlandweite Beachtung fanden zwei Versammlungen von Liberalen und Demokraten im Jahre 1847. Im südhessischen Heppenheim an der Bergstraße kamen die gemäßigten Liberalen zusammen; im badischen Offenburg trafen sich linksliberal-demokratisch ausgerichtete Politiker aus ganz Deutschland. Beide liberale Gruppen verfassten programmatische Aufrufe, die jeweils die Ziele von Einheit und Freiheit nochmals deutlich zum Ausdruck brachten. Zweifellos erhofften sich die Teilnehmer beider Versammlungen von liberaleren Verfassungen einen Schritt hin zu einem freiheitlicheren Deutschland.11 Auch die Diskussionen auf dem Vereinigten Landtag des Königreichs Preußen fanden 1847 eine erhebliche überregionale Resonanz, selbst wenn ihnen nicht der Durchbruch zu einer gesamtpreußischen Konstitution gelang.