Freiherr vom Stein - Gerhard Ritter - E-Book

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Gerhard Ritter

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Beschreibung

Der Reichsfreiherr Karl vom und zum Stein (1757–1831) hat als Minister König Friedrich Wilhelms III. das von Napoleon vernichtend geschlagene Preußen in den Jahren 1807–1808 tiefgreifend zu modernisieren begonnen. Von Napoleon geächtet und verfolgt, wurde Stein als Berater des Zaren Alexander I. zu einem der Architekten des russisch-deutschen Bündnisses, das entscheidend zum Erfolg der Befreiungskriege gegen Napoleon beigetragen hat. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 1378

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Gerhard Ritter

Freiherr vom Stein

Eine politische Biographie

FISCHER Digital

Inhalt

VorwortEinleitungErster Teil · Der Reformer [Teil I]Erstes Buch · Epoche des Werdens [Teil I]1. Kapitel · Herkunft2. Kapitel · Lernjahre3. Kapitel · Der Verwaltungsfachmann: Bergbau und westfälische Provinzialverwaltung in Friedenszeiten 1780–17924. Kapitel · Erste Berührung mit großen Reformaufgaben: Kammerpräsident in Westfalen 1793–1802Erster Teil · Der Reformer [Teil II]Erstes Buch · Epoche des Werdens [Teil II]5. Kapitel · Ausreifen einer politischen Weltansicht: Äußere und innere Auseinandersetzungen mit der Französischen Revolution 1792–1804Erster Teil · Der Reformer [Teil III]Zweites Buch · Epoche der Reformen [Teil I]6. Kapitel · Minister des Ancien Régime 1804–18067. Kapitel · Zusammenbruch des alten Staates · Erste EntlassungErster Teil · Der Reformer [Teil IV]Zweites Buch · Epoche der Reformen [Teil II]8. Kapitel · Das große Reformprogramm von Nassau · Wiederberufung als leitender MinisterErster Teil · Der Reformer [Teil V]Zweites Buch · Epoche der Reformen [Teil III]9. Kapitel · Das große Reformjahr 1807/1808 [Teil I]Erster Teil · Der Reformer [Teil VI]Zweites Buch · Epoche der Reformen [Teil IV]9. Kapitel · Das große Reformjahr 1807/1808 [Teil II]Zweiter Teil · Der Vorkämpfer nationaler Freiheit und Einheit [Teil I]Drittes Buch Unter dem Zwang der Fremdherrschaft10. Kapitel · Staatsfinanzen und Kriegskontributionen im Winter 1807/180811. Kapitel · Hoffnungen und Versuche einer Schilderhebung gegen Frankreich im Sommer 180812. Kapitel · Sturz und Verbannung13. Kapitel · Im Exil: Zuschauer der großen Politik 1809–1812Zweiter Teil · Der Vorkämpfer nationaler Freiheit und Einheit [Teil II]Viertes Buch · Die Befreiung [Teil I]14. Kapitel · Vorkämpfer der Befreiung Europas. Am Zarenhof 181215. Kapitel · Preußens ErhebungZweiter Teil · Der Vorkämpfer nationaler Freiheit und Einheit [Teil III]Viertes Buch · Die Befreiung [Teil II]16. Kapitel · Organisator der Kriegsverwaltung 1813/1814Zweiter Teil · Der Vorkämpfer nationaler Freiheit und Einheit [Teil IV]Viertes Buch · Die Befreiung [Teil III]17. Kapitel · Der Wiener Kongreß 1814/1815 · Das nationale VerfassungsproblemAusklang des Lebens 1815–1831Personenregister

Vorwort

Die Erstauflage dieses Buches, die zur hundertsten Wiederkehr von Steins Todesjahr 1931 erschien, war nach wenigen Jahren vergriffen. Im Kriege, 1942, veranstaltete die Deutsche Verlags-Anstalt einen photomechanischen Neudruck, der aber zum größten Teil von Bomben zerstört wurde, ehe er zur Auslieferung kam. Das Buch wird also seit langem im Buchhandel vermißt. Seine Neuauflage stieß auf die äußere Schwierigkeit, daß ein so umfängliches Werk (zwei Bände von insgesamt 950 Druckseiten!) bei den heute so gewaltig gestiegenen Druckkosten unerschwinglich teuer werden müßte. Trotzdem konnte ich mich nicht entschließen, seinen Umfang auf die Hälfte zusammenzustreichen, insbesondere den Anmerkungsapparat fortzulassen, weil es dann für die wissenschaftliche Forschung, für die es seinerzeit grundlegend geworden ist, so gut wie jeden Wert verloren hätte. Anderseits konnte ich mich der Einsicht nicht verschließen, daß die Lesbarkeit des Textes durch eine gewisse Straffung nur gewinnen würde: vieles ließ sich doch kürzer formulieren, als es in der ersten Niederschrift (oft in der Entdeckerfreude aus Anlaß neu gewonnener Einsichten) gelungen war, und zuweilen war auch eine noch schärfere Konzentration auf das Wichtigste möglich. Auch im Anmerkungsteil ließen sich manche Streichungen durchführen, wo gewisse Kontroversen der älteren Forschung heute als erledigt gelten können oder wo von mir gefundene archivalische Dokumente, deren Wortlaut ich wiedergegeben hatte, inzwischen gedruckt worden sind. Freilich ist dafür eine ganze Menge neues Material zugewachsen und die Auseinandersetzung mit neueren Arbeiten notwendig geworden. Ich habe also energisch gekürzt, aber doch so, daß nichts weggelassen wurde, was für die Forschung irgendwie bedeutungsvoll sein könnte.

Das Ergebnis ist eine völlige, Zeile für Zeile durchgeführte Revision bzw. Neugestaltung meines früheren Textes. Selbstverständlich ist die gesamte seit einem Vierteljahrhundert erschienene Spezialliteratur gesammelt, durchgesehen und wo nötig eingearbeitet worden, mit besonderer Sorgfalt diejenigen Quellenveröffentlichungen, die (wie der Briefwechsel mit Reden) neues Tatsachenmaterial gebracht haben. Für den Leser am sichtbarsten ist die Umschaltung der Quellenbelege: früher zitierte ich nach dem alten Quellenwerk von Pertz oder nach den Archivsignaturen der von mir im Original benutzten Dokumente. Jetzt konnte ich den Leser auf das große, von E. Botzenhart edierte Nachlaßwerk verweisen: „Frh.v.Stein. Briefwechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen“, das freilich längst nicht alle von mir benutzten Archivalien bringt. Ich zitiere es abgekürzt mit „B.“, und zwar nach der Erstauflage von 1931–37, da eine zweite noch während der Drucklegung meines Buches zu erscheinen beginnt, also ebenso wie s.Z. die erste für mich zu spät kommt. Neben Botzenhart ist 1931 die musterhafte, leider fragmentarisch gebliebene Edition der preußischen Staatsarchive zur Reform der Behördenorganisation 1806–07 durch Georg Winter getreten, die ich vorzugsweise zitiert habe, wo sie in Konkurrenz mit Pertz und Botzenhart tritt. Wo ich Archivsignaturen angebe, bedeutet H.A.: Hohenzollerisches Hausarchiv; G. St. A.: Geheimes Preußisches Staatsarchiv; N.A.: Nassauer Familienarchiv (jetzt in Schloß Kappenberg); Z.A. M.: Zentralarchivverwaltung des Sowjetstaates in Moskau. Ich habe die alten Bezeichnungen beibehalten, obwohl auch die Bestände der beiden erstgenannten Archive jetzt verlagert sind: in das neugeschaffene Merseburger Zentralarchiv. Da ich aber keine praktische Möglichkeit hatte, die Erhaltung und Neuaufstellung der alten Bestände nachzuprüfen, vertraue ich darauf, daß sich die zitierten Dokumente mit Hilfe der alten Signaturen am leichtesten werden herausfinden lassen.

Möge das Werk, das auch in seiner Neuauflage die Frucht nicht geringer Mühen darstellt, in verjüngter Gestalt abermals einen weiten Leserkreis finden – trotz des ungeheuren Wandels der Zeiten seit 1931! Wenn ich ein wenig Stolz dabei empfinde, so darüber, daß ich mich nicht genötigt sah, an meiner Grundauffassung von damals Wesentliches zu ändern.

 

Freiburg, Januar 1958

Gerhard Ritter

Einleitung

Das Zeitalter der deutschen Erhebung, aus dem hier zu berichten ist, hat in seinen Nachwirkungen ein ganzes Jahrhundert deutscher politischer Geschichte, aber auch deutschen Geisteslebens bestimmt. Es war schon ein einzigartiges Erlebnis für unser Volk, im Laufe einer einzigen Generation aus der Abhängigkeit von fremdem Geistesgut aufzusteigen zur Rolle einer der führenden Kulturnationen Europas und mit Hilfe desselben Europa sich aus der politischen Unterjochung durch einen Fremdherrscher zu befreien – aus alter Zerrissenheit und hilfloser Ohnmacht sich zu erheben zu neuer Einheit, zum klaren Bewußtsein politischer Schicksalsgemeinschaft und zu einem bis dahin unbekannten nationalen Stolz. Der wunderbare Einklang von echtem politischem Bedürfnis, von nationalem Geltungsdrang und sittlich-religiösen Überzeugungen, mit dem der Befreiungskampf geführt wurde, hat ihn im Bewußtsein der Deutschen durch ein ganzes Jahrhundert verklärt, seine Vorkämpfer und Führergestalten mit legendärem Strahlenglanz umgeben. Die ungewöhnliche Fülle bedeutender Geister, aber auch politischer und militärischer Charakterköpfe von hohem Rang, die sich damals zusammenfanden, hat die deutsche Geschichtschreibung von jeher aufs stärkste angezogen und zu biographischen Schilderungen verlockt, aber auch zu Gesamtdarstellungen, die bis zum ersten Weltkrieg auf einen unverkennbar enthusiastischen Grundton gestimmt waren. Als letzte und glänzendste Frucht dieser Bemühungen erschien kurz vor 1914 Friedrich Meineckes berühmtes Buch über die Entstehung nationalstaatlichen Denkens im höheren deutschen Geistesleben.

Heute, nach den Katastrophen zweier Weltkriege, blicken wir aus gänzlich veränderter Sicht auf jene Höhenepoche deutscher Geschichte zurück. Was unsere Väter darin suchten: den beflügelnden Antrieb im Kampf zuerst um die Gründung des Nationalstaates, später um die Behauptung und Mehrung seines Prestiges als Großmacht, kann für unser Geschlecht keine Verlockung mehr bieten. Es gibt keine Großmachtstellung rein europäischer Staaten mehr, am wenigsten des deutschen. Wir sehen heute auch schärfer als früher die Kehrseite jener großen deutschen Erhebung: die einseitig militanten Züge eines Nationalbewußtseins, das ganz unmittelbar in Kämpfen entstand; die gefährliche Nachwirkung einer Glorifizierung des Krieges (als Kreuzzug und sittliche Bewährungsprobe) im Kreise der Patrioten um Stein, Arndt, Gneisenau; den Überschwang ihres Patriotismus mit seiner unklaren Vermischung politischer und moralischer, ja religiöser Motive: einer Vermischung, deren Gefährlichkeit uns aus sehr bitteren Erfahrungen der jüngsten Zeit erst ganz deutlich geworden ist; nicht zuletzt die enge Verbindung des echten Idealismus, der sie beseelte, mit Illusionen über die nüchterne Wirklichkeit – auch über die Wirklichkeit einer „Volkserhebung“, die im wesentlichen doch nur in der Sphäre höherer Bildung wirklich lebendig wurde.

Wir blicken also mit größerer Nüchternheit als frühere Generationen auf jene Epoche zurück, und dieses Buch hat schon in seiner Erstauflage von 1931 viel dazu beigetragen, patriotische Übermalungen zu beseitigen, durch die ihr Geschichtsbild von der liberal-nationalen Historie entstellt worden war. Aber nüchterne Wahrhaftigkeit ist überhaupt die einzige Haltung, in der geschichtliche Betrachtung wirklich hilfreich werden kann. Geschichtsstudium ist, richtig verstanden, nicht andächtige Bewunderung vergangener Großtaten, sondern Selbstbesinnung. Gewiß: es gibt auch bewundernswerte Großtaten und geschichtliche Helden in unserer Vergangenheit, und gerade die Epoche Steins hebt sich als eine der ganz wenigen Strecken deutscher politischer Geschichte heraus, in der das Tragische, das Unheil, nicht überwiegt, sondern zuletzt überstrahlt wird vom großen Erfolg. Aber wenn wir uns mit ihr beschäftigen, tun wir es nicht, um uns zu erbauen oder zu begeistern (und dann in der Nahsicht auf die Dinge doch immer wieder ernüchtert zu werden), sondern um uns selbst, als Nation, daraus besser zu verstehen. Wir sind eigentlich erst in der Epoche Napoleons und Steins zu einer politischen Nation zusammengehämmert worden, durch historische Schicksale von ungeheurer dramatischer Spannung und Wucht. Wie es dabei im einzelnen zugegangen ist, wie und was dabei mitgewirkt hat, das zu wissen, ist für unser politisch-historisches Selbstverständnis von höchstem Interesse. Der Reichsfreiherr vom Stein hat bei diesem Prozeß an sehr wichtiger Stelle und sehr tatkräftig mitgewirkt – nicht so sehr als politischer Denker, fruchtbar in neuen „Ideen“, sondern als politischer Charakter, als Mann des Willens und der Tat. Sein Name ist geradezu zum Symbol geworden für die Anfänge der deutschen Nationalbewegung. Die Tatsache aber, daß wir dank dieser Bewegung zu einer großen politischen Nation von einheitlicher Willensbildung zusammengewachsen sind, bleibt ein ganz großes geschichtliches Ereignis. Sie läßt sich nicht mehr aus der Welt schaffen: weder durch gewaltsame Spaltungsversuche fremder Machthaber noch durch Ernüchterung, Enttäuschung, ja Entsetzen über die Entwicklung des deutschen Nationalismus, die von idealistischer Begeisterung der Frühzeit zu hemmungslosem materiellem Machtdrang und zuletzt zu schmachvoller Entwürdigung des deutschen Namens geführt hat.

Aber der Name Steins ist nicht nur zum Symbol nationaler Sammlung geworden, sondern zugleich zum Symbol einer neuen Freiheitsgesinnung, die der passiven Unterwürfigkeit, zu der die deutschen Landesväter ihre Untertanen in Jahrhunderten erzogen hatten, ein Ende machen wollte; die politisches Selbstbewußtsein und freiwillige Mitarbeit im öffentlichen Leben zu wecken suchte, vor allem im deutschen Bürgertum. Als Reformer des alten Obrigkeitsstaates, als einer der Träger, ja in gewissem Sinne als eine Zentralfigur des älteren deutschen Liberalismus ist er uns heute noch viel unmittelbarer wichtig denn als Vorkämpfer nationaler Einheit. Freilich: wir müssen uns hüten, seinen Namen im Sinn irgendwelcher innerpolitischer Bedürfnisse der Gegenwart zu aktualisieren! Wenn die Erstauflage dieses Buches 1931 irgend etwas eindeutig erwiesen hat, so war es dies: daß es hoffnungslos ist, ihn als Kronzeugen für irgendeine der Parteiströmungen unseres Jahrhunderts in Anspruch zu nehmen, wie es immer wieder versucht worden ist: sei es für die Konservativen (Ad. Wahl), sei es für die Nationalliberalen (Max Lehmann), sei es für die demokratische Linke (Hugo Preuß) oder gar für den Nationalsozialismus (so u.a. Erich Botzenhart in seinen späteren Bänden). Er ist und bleibt streng gebunden an die geschichtlichen Voraussetzungen und politischen Ideen seiner eigenen Epoche und ist nur von daher zu verstehen. Aber gerade in seiner höchst eigentümlichen Zwischenstellung zwischen Aufklärung und Romantik, zwischen altadeligem Ständewesen und bürgerlich-liberalen Verfassungsidealen des 19. Jahrhunderts hat er eine Aufgabe von großer Bedeutsamkeit erfüllt: einen praktischen Anfang zu machen mit der inneren Auflockerung des alten Obrigkeitsstaates und die äußeren Voraussetzungen zu schaffen für ein neues staatsbürgerliches Selbstbewußtsein im deutschen Bürgertum.

Das geschah, wie sich noch zeigen wird, zunächst unter Einwirkung westeuropäischer Vorbilder, und zwar wesentlich englischer. Aber was daraus in der konkreten Lage Deutschlands, im Erleben seiner außenpolitischen Katastrophe erwuchs – zum ersten Male ganz deutlich sichtbar in der Nassauer Denkschrift von 1807 – war eine spezifisch deutsche Form von Liberalismus: eine Freiheitsgesinnung, der es weniger auf die Sicherung vorstaatlicher Rechte des Individuums im Staate ankam wie in der westeuropäischen Welt, als auf die Mobilisierung seiner Kräfte für das öffentliche Wohl und für die Rettung des Vaterlandes. Diese Freiheitsgesinnung, die sich dann bei den ostpreußischen Schülern Kants, Steins Mitarbeitern, auch mit naturrechtlichen Elementen verband, hielt stets den kategorischen Imperativ staatsbürgerlicher Pflicht in sich lebendig.

Man hat neuerdings oft – und mit Recht – betont, eine der Folgen des Befreiungskampfes gegen Napoleon sei gewesen, daß die Deutschen sich nicht nur bewußt von den naturrechtlichen Freiheitsidealen des Westens loslösten, sondern in betonten Gegensatz dazu traten. Daß diese Ablösung zu einer gefährlichen Selbstabschließung und Selbstverhärtung, ja zum Verlust der Freiheitsgesinnung überhaupt führen konnte und zum Teil geführt hat, ist sicher wahr. Ebenso wahr ist aber die Tatsache, daß es geschichtlich eine eigene Form des deutschen Liberalismus gegeben hat, aus eigenem Erleben der Unfreiheit entsprungen, aus den ureigensten Ideen so großer Geister wie Kant und Wilhelm von Humboldt genährt. Dieser deutsche Frühliberalismus hat sich unter dem Druck restaurativer und reaktionärer Kräfte nach 1815 nicht voll entfalten können, hat aber gleichwohl mit dem ethischen Kern seiner Freiheitsgesinnung im deutschen politischen und Geistesleben eine Nachwirkung ausgeübt, deren Bedeutung sich nicht leicht überschätzen läßt. Zu seiner Entstehung und Entwicklung hat auch der Freiherr vom Stein seinen originalen Beitrag geleistet.

Es wird eine der wichtigsten Aufgaben unserer Biographie sein, diese denkwürdigen, aber weithin vergessenen Zusammenhänge erneut zu erweisen und anschaulich zu machen.

Erster TeilDer Reformer

„Allein dadurch, daß man das Gegenwärtige aus dem Vergangenen entwickelt, kann man ihm eine Dauer für die Zukunft versichern.“

 

STEIN am 12. Februar 1816

Erstes Buch Epoche des Werdens

Erstes Kapitel Herkunft

Unter allen Faktoren, die bestimmend gewesen sind für die geistige Erscheinung des Mannes, dessen Leben hier zu schildern ist, war das Erbe des Elternhauses ohne Frage der stärkste. Es ist das seelische und geistige Erbe eines altadeligen Geschlechtes von mehr als fünf Jahrhunderten urkundlich bezeugter Familientradition, dem der Reichsfreiherr Karl vom und zum Stein die festgeprägte Form seines Wesens verdankt. Seit dem Jahre 1235 läßt sich die alte, inzwischen längst verfallene Burg auf dem „Stein“, gleich unterhalb der Stammburg des nassauischen Grafengeschlechts, dazu das stattliche Herrenhaus im Städtchen Nassau, als Besitz seiner Familie nachweisen. So weit auch die ehemaligen Burgmannen der Nassauer Grafen seither ihren Besitz ausgedehnt hatten auf beiden Ufern des Rheins und das Lahntal hinauf, inner- und außerhalb des nassauischen Machtbereiches, so viel sie umhergekommen waren im Dienste fremder Herren – ununterbrochen hatte die Familie den Stammsitz an der Lahn bewohnt, eine Generation nach der anderen in fast den gleichen äußeren Lebensverhältnissen aufwachsend und absterbend. Nicht eine Persönlichkeit in dieser langen Reihe von Stammvätern, von der man zu sagen wüßte, daß sie den fest gegebenen Umkreis der Standes- und Familientraditionen durchbrochen hätte, sei es durch ungewöhnliche Leistungen, sei es durch Abenteurerdrang mehr als üblichen Stiles. Für den geschichtlichen Rückblick scheint es, als ob alle Kraft des alten Herrengeschlechtes sich gesammelt hätte in dem einen Haupte der jüngsten Generation, dem letzten Stammhalter des Hauses.

Es liegt nahe, schon hier den Vergleich mit Bismarck zu ziehen. Charakteristische Standeseigenschaften des Landadels sind beiden Männern gemeinsam: vor allem die äußere und innere Unabhängigkeit, die erdhafte Verbundenheit mit der Scholle, mit Heimat und Volkstum, mit allem, was gewachsen, geschichtlich geworden ist. Aber das soziale Milieu der Reichsfreiherren am Rhein war doch wieder charakteristisch verschieden von dem der ostelbischen Landjunker. Politisch unabhängiger, aber dafür auch staatlich wurzelloser, wirtschaftlich ansehnlicher, aber weit mehr genießende Rentner als praktische Landwirte, lebten sie in altfränkischen Lebensformen, ein Stand ohne Zukunft, wesentlich angewiesen auf die ängstliche Konservierung des von den Vorfahren Überkommenen, stets bedroht vom Fortschritt der modernen politischen Entwicklung, lebendige Überreste des mittelalterlichen Feudalwesens, die merkwürdigsten von allen. Wie in Bismarck alle gesunden politischen Kräfte des preußischen Militär- und Beamtenadels, zugleich ein Stück von der robusten Lebensenergie des agrarischen Berufsstandes sich zusammenfinden, so gewinnen in Stein die vornehm-stolze Haltung und der historische Reichspatriotismus der Reichsritterschaft ihren bedeutendsten Ausdruck; aber zugleich umwittert seine Gestalt etwas von der Romantik veraltender Lebensformen inmitten einer jungen, mächtig vorwärtsdrängenden Zeit.

Ein seltsames Konglomerat verschiedenartigster Rechte, dieser Steinsche Familienbesitz an Lahn und Rhein! Zwei Dutzend verschiedener Güter und Güterstücke weit zersplittert, Grundbesitzrechte der mannigfaltigsten Art und Herkunft, verteilt auf mehr als 50 Ortschaften allein auf dem rechten Rheinufer, verstreut über ein Gebiet von etwa 18 Quadratkilometern; dazu, politisch am wichtigsten, die beiden Gutsdörfer Frücht und Schweighausen, mitten im fürstlich nassauischen Gebiet gelegen, in denen die Steins die hohe Gerichtsbarkeit und damit eine obrigkeitliche Stellung ähnlich der ihrer landesfürstlichen Nachbarn beanspruchten. Eben hiervon leiteten sie den äußeren Rechtstitel ihrer Reichsunmittelbarkeit ab, in beständigem Kampf mit dem Nassauer, der die in seinem Gebiet gelegenen Steinschen Besitzungen zu mediatisieren trachtete. Das führte zu endlosen Prozessen vor den Reichsgerichten und noch endloseren Quengeleien und Schikanen aller Art, mit denen sich fürstliches und reichsritterliches Amt gegenseitig das Leben nach Kräften erschwerten.

Es hinderte aber nicht, daß man vom Glanz und den Pfründen der landesfürstlichen Höfe für die ritterliche Familie nach Kräften Vorteil zu ziehen suchte. Zahllose Mitglieder der Reichsritterschaft traten in fürstliche Hof- und Verwaltungsdienste ein. Ehemals hatten die Steins den Nassauern als Burgmannen und Beamte gedient; später, mit ihnen verfeindet, suchten sie andere benachbarte Höfe auf: den pfälzischen, hessischen, mit besonderer Vorliebe aber die geistlichen Kurhöfe am Rhein: in Trier und Mainz. Auch der Vater Karls vom Stein, Karl Philipp, war als Kämmerer, später als adeliger Geheimer Rat im Dienste des Mainzer Kurfürsten beschäftigt – mehr repräsentativ als praktisch tätig. Daß die Familie seit dem 16. Jahrhundert dem protestantischen Bekenntnis angehörte, bedeutete dafür kein Hindernis; längst hatten in dieser adligen Gesellschaft die Familieninteressen den Bann der konfessionellen Gegensätze durchbrochen.

Wichtiger noch als die Gunst der geistlichen Nachbarfürsten war für die Ritterschaft die des kaiserlichen Hofes. Die Offizierslaufbahn im kaiserlichen Heer war in diesen Familien noch mehr beliebt als der Dienst an fürstlichen Höfen. Im Kaiser erblickten sie ihren natürlichen Schutzherrn, und in der Tat legte der Wiener Hof großen Wert auf die Erhaltung dieses Standes, mit dem er sich eng verbunden fühlte im gemeinsamen Gegensatz gegen die Machtbestrebungen des Territorialfürstentums. Auch wer in fürstliche Dienste trat, vergaß doch nie seinen Rang als „Reichsunmittelbarer“; immer behielt sein Dienst etwas vom Charakter der Freiwilligkeit.

Es ist leicht, das Überlebte und Ungesunde dieser politischen Zwergherrschaften zu erkennen. Unfähig, es den gehaßten fürstlichen Territorien an praktischen Leistungen in Polizei, in Wohlfahrtspflege aller Art, insbesondere in wirtschaftspolitischer Fürsorge gleichzutun, wurden sie vielfach zu Schlupfwinkeln untauglichen Gesindels und überall zu Hemmnissen durchgreifender wirtschaftspolitischer Reform. Die Untertanen dieser Herren waren von wirklichem staatlichem Leben so gut wie abgeschnitten; weder eine deutsche noch eine besondere territoriale Staatsgesinnung konnte sich hier entwickeln. Dafür lebte in der Reichsritterschaft selbst ein Patriotismus höchst ehrwürdiger Art: eine Gesinnung, der das uralte Deutsche Reich noch immer das Vaterland schlechthin bedeutete.

Inmitten der partikularistisch zerteilten und weithin von kosmopolitischen Vorstellungen erfüllten deutschen Welt des 18. Jahrhunderts bildeten Reichsadel und Reichsstädte, dazu die geistlichen Fürstentümer, diese wunderlichen Rudimente mittelalterlicher Lebensformen, die letzten Träger des Reichsgedankens im deutschen Volk. Für sie allein bedeutete der Fortbestand des Reiches noch ein unmittelbares Lebensinteresse. Vor allem der kleine Reichsadel hätte seine privilegierte Stellung nicht einen Tag behaupten können ohne kaiserlichen Schutz; seine Untertanen hätten keine wirksame Rechtshilfe gefunden ohne die Appellinstanz des Reichskammergerichts. Freilich sieht man leicht: dieser Reichspatriotismus der Ohnmächtigen ist im wesentlichen rückwärts gewandt und egoistischer Natur. Ihm bedeutet der nationale Staat zumeist nicht mehr als das unentbehrliche Mittel zur Erhaltung veralteter Vorrechte, staatlicher Zwerggebilde ohne jede Zukunft. Unter allen den vielen Familien des deutschen Adels, die es verstanden hatten, im Verfall des alten Reiches sich selber emporzubringen zu Macht und Ansehen, das Unglück des Vaterlandes zum eigenen Vorteil zu nutzen, zeichneten sich die reichsritterschaftlichen gewiß nicht durch besondere patriotische Tugend aus.

Und doch war es ganz gewiß nicht bedeutungslos für die Entwicklungsgeschichte des nationalen Gedankens, daß wenigstens für einen Teil der deutschen Reichsstände die alten, schattenhaft gewordenen Institutionen des „heiligen“ Reiches nach wie vor mehr bedeuteten als ein lästiges Hemmnis partikularer Selbstsucht. Die schwäbisch-fränkischen Landschaften, die Gebiete ärgster politischer Zersplitterung, die man vorzugsweise das „Reich“ benannte, haben ja auch in der großen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts eine besondere Rolle gespielt. Doch nicht bloß deshalb, weil die unmittelbare Bedrohung vom Westen her und das Bewußtsein der eigenen Ohnmacht fortdauerten und auch in den von Napoleon hier geschaffenen Mittelstaaten ein Gefühl befriedigter Sicherheit niemals aufkommen ließen: eben hier war doch auch das alte Reich am längsten politische Wirklichkeit gewesen, und die Erinnerung an die enge Verbundenheit dieser altdeutschen Gebiete mit seinen Institutionen starb niemals gänzlich aus. Einen inneren Zusammenhang des alten, rückwärts gewandten Reichspatriotismus mit der nach vorwärts blickenden Nationalbewegung des neuen Jahrhunderts glaubt man in der Entwicklung einzelner bedeutender Männer immerhin deutlich zu erkennen: in der Familie des Freiherrn von Gagern stellt er sich gewissermaßen durch zwei Generationen her, in Männern wie Dahlmann und K. Th. Welcker durch das Studium des alten Reichsrechts literarisch vermittelt. Ganz unmittelbar und ganz lebendig aber besteht er nur im Geiste eines Mannes: des Reichsritters Karl vom Stein.

Dabei war es ganz besonders bedeutsam, daß die Ideale altdeutschen Herkommens, wie sie der Reichsadel pflegte und wie sie die Reichspublizisten des 18. Jahrhunderts juristisch formulierten, von jeher auch einen innerpolitischen Inhalt hatten. Der ständische Charakter der Reichsverfassung ließ ihre Lobredner zugleich zu Vorkämpfern ständischer „Libertät“ gegen fürstlichen Despotismus werden. J.J. Moser, der große Sammler und Kommentator des Reichsrechts, wurde so zum Märtyrer württembergischer Ständeprivilegien; und sein Sohn Karl Friedrich verteidigte den „teutschen Nationalgeist“, den Geist altdeutscher politischer Freiheit und selbständiger Überzeugung, gegen das „militärische Staatsrecht“ unfrei gewordener „Janitscharen“, wie es in den einzelstaatlichen Despotien neuerlich aufgekommen sei. Obwohl er die politische Ohnmacht der südwestdeutschen Kleinstaatenwelt nicht leugnen konnte und wollte, pries er es doch als einen glücklichen Zustand, „daß der sogenannte Souverain hier noch einen Richter über sich habe, der ihn früh oder spät zu finden weiß“, „daß von Gesetzen, von Freiheit, von gemeinschaftlichen Schlüssen doch noch die Rede ist und sich solche in manchem würklich zeigen“ – während er die straffere, mechanistisch erscheinende militärisch-bürokratische Organisation und den rücksichtslosen Machtwillen der norddeutschen Großmacht als undeutsch und unsittlich verabscheute. Gewiß war diese altständische Vorstellungswelt zunächst rein konservativ, ja reaktionär. Von ihr aus konnte aber recht wohl auch der Weg zu moderneren Verfassungsidealen, Vorstufen des späteren Liberalismus, gefunden werden. F. Chr. Dahlmann, der seine politische Laufbahn als Sekretär der holsteinischen Ritterschaft begann und als einer der Führer des Liberalismus in der Paulskirche von Achtundvierzig beendete, hat diese Entwicklungsmöglichkeit später am sichtbarsten verwirklicht. Aber auf einem Stück des Weges erscheint doch auch der Reichsritter vom Stein als sein Weggenosse – nur freilich im Rahmen einer älteren Generation. Sollte der altfränkische Freiheitstrotz, den wir als Erbteil seines Standes bei ihm voraussetzen dürfen, fruchtbar gemacht werden für die Aufgaben moderner Staatsreform, so bedurfte es einer Ausweitung und Bereicherung in größeren und gesünderen politischen Verhältnissen, als die versinkende Kleinstaatenwelt des südwestdeutschen „Reiches“ sie bot; zugleich einer Vergeistigung und Vertiefung durch Hineintauchen in die Flut der modernen politischen Ideenbewegung, wie sie eben damals von Westeuropa her das alte verträumte Deutschland mächtig überschwemmten. Auch die vaterländische Gesinnung, der herkömmliche Reichspatriotismus des ritterlichen Standesgenossen bedurfte einer solchen Wiedergeburt aus dem Geist einer neuen Zeit, einer Läuterung und Vertiefung zur nationalen Idee, wenn sie wirken sollte in die deutsche Zukunft hinein[1]. Erste Voraussetzung dafür war, daß ihr Träger rechtzeitig Fühlung gewann mit den großen geistigen Mächten der Zeit: zuerst im Bereich der Literatur erwachte ja eben damals der deutsche Genius nach langem Schlummer zum Bewußtsein seiner nationalen Eigenart. Wirklich lassen sich Spuren solcher Fühlungnahme im Leben des jungen Stein schon sehr früh verfolgen.

Das erste war die keineswegs traditionelle Bildungsatmosphäre des Elternhauses.

Das Bildungsniveau des elterlichen Hauses überragte nach allem, was man von dieser ritterlichen Familie weiß, nicht unerheblich den Durchschnitt. Von dem Vater freilich, dem kurmainzischen Geheimen Rat und Kammerherrn Karl Philipp vom und zum Stein, ist nicht viel mehr zu berichten, als daß er zu den wertvolleren Mitgliedern seines Standes gehörte: geistig anspruchslos, aber charaktervoll, ernsten Sinnes und unbedingt zuverlässig. Sein Sohn hat ihm später eine Grabschrift gesetzt, die dies als seine Kerntugend rühmt: „Sein Wort das war sein Siegel.“ Und wenn er mit den ersten Worten seiner Lebensbeschreibung voller Ehrerbietung des „religiösen, ächt deutsch ritterlichen Beyspiels“ seiner „sehr achtungswerthen“ Eltern gedenkt, das ihm von frühester Jugend auf „die Ideen von Frömmigkeit, Vaterlandsliebe, Standes- und Familienehre, Pflicht, das Leben zu gemeinnützigen Zwecken zu verwenden, und die hierzu erforderliche Tüchtigkeit durch Fleiß und Anstrengung zu erwerben“, eingeprägt habe – so wird ihm dabei die ehrenhafte Gestalt des Vaters ebenso vor Augen gestanden haben wie die geistig reichere und beweglichere Art der Mutter. Sicherlich dürfen wir aber auch die ungezügelte Heftigkeit des Temperaments, die unserem Helden zeitlebens viel verdorben hat, als elterliches Erbteil betrachten: beide Eltern sollen daran gelitten haben, Karl Philipp besonders in jüngeren Jahren. Bei seiner Eheschließung mit Karoline Langwerth von Simmern, seiner Cousine, haben sicherlich nüchterne ökonomische Rücksichten eine sehr wesentliche Rolle gespielt: die Ansprüche der Familie auf adlige Stiftspfründen für die Nachkommenschaft wurden dadurch trefflich gemehrt und gesichert. Aber was die junge Baronin in das Nassauer Herrenhaus einbrachte, war erheblich mehr: wesentlich ihr ist es zu verdanken, daß das Familienleben der Steins sich erhob über das Alltagsdasein von Landedelleuten seitab von den geistigen Bewegungen der Zeit.

Henriette Karoline war – in den Grenzen ihrer Erziehung und ihres eng gebundenen Lebenskreises – ohne Zweifel eine ungewöhnliche Frau. Nicht nur in den Augen ihres größten und Lieblingssohnes, der nie anders als mit fast leidenschaftlicher Verehrung ihrer gedenkt. Mit besonderem Respekt spricht jeder Besucher des Steinschen Hauses von ihr: „eine große, ganz originelle Dame“ nennt sie Lavater, „höchst ehrwürdig“ und die allgemeine Achtung genießend nach seiner Jugenderinnerung Goethe. Ihr Bild zeigt eine herbe, fast männliche Strenge der Züge, und (nach Lavaters Urteil) „den vollkommenen Charakter der Klugheit“, einer ausgesprochenen Begabung für praktische Geschäfte:[2] die Ähnlichkeit mit den charakteristischen Zügen des Sohnes, zumal in dem etwas überscharfen Profil mit der mächtigen, leicht nach unten gebogenen Nase, dem streng geschlossenen, schmalen Mund und den drohend gewölbten Stirnbögen, springt sofort in die Augen. Unermüdliche Tätigkeit für das Wohl der Familie ohne jede Rücksicht auf sich selber, hob der Sohn beim Rückblick auf ihr Leben als das Rühmenswerteste hervor. In der Tat hat sie, als eine rechte deutsche „Haußmutter“ guten alten Stiles, keine höhere Freude gekannt, als unter ihren Kindern zu wirken, die es dankbar anerkannten, daß sie so willig alle Bedürfnisse nach Zerstreuung und höfischer Vergnügung opferte, um sich in dem abgelegenen Nest an der Lahn vor der Welt zu „vergraben“[3]. Nicht weniger als zehn Kinder gebar sie im Laufe von zwölf Jahren, von denen drei Töchter und vier Söhne zu reifem Alter erwachsen sind; Karl vom Stein, geboren am 26. Oktober 1757, war der dritte Sohn, das vorjüngste der Geschwister. Über der Erfüllung so weitgehender Mutterpflichten wurde die Gesundheit der Baronin zerrüttet: seit 1775 war sie beständig leidend. Aber in dieses, unter so viel mütterlichen Sorgen und praktischen Geschäften sich rasch verzehrende Frauenleben fällt nun doch ein heller Strahl aus dem Bereich des eben damals zu neuer Kraft erwachenden deutschen Geistes.

Im Mittelpunkt ihrer geistigen Interessen stehen die Dinge, die den gebildeten Durchschnittsdeutschen jener Tage wohl überall am meisten beschäftigten: Fragen der Religion, der Moral und der – eben damals neu aufblühenden – Erziehungskunst. Pietismus und Aufklärung hatten die naive Selbstverständlichkeit erschüttert, mit der frühere Generationen die kirchliche Predigt hingenommen hatten – ihr Gegensatz drängte nun jeden einzelnen zu persönlicher Entscheidung. Die Stellungnahme der Baronin wird aus ihren Briefen ganz deutlich: die kirchliche Orthodoxie der alten Zeit war auch für sie vorüber, von der verstandesdürren Nüchternheit der Berliner Freigeisterei wollte sie erst recht nichts wissen. Männer wie Lavater, Jacobi und ihr Freundeskreis: das war die geistige Welt, in der sie lebte und webte: die Atmosphäre einer weichen, empfindsamen, zuweilen überschwänglichen Frömmigkeit des Herzens, das sich zur Wehr setzt gegen die kritischen Einwände des Verstandes. Besonders ausführlich sind wir über ihr Verhältnis zu Lavater unterrichtet: seine „Aussichten in die Ewigkeit“ las sie sogleich nach Erscheinen; seit 1774, nach einem Besuch des Züricher Propheten in Nassau, begann sie mit ihm einen brieflichen Gedankenaustausch, der bald zu intimer Freundschaft führte: zeitweise plante sie sogar, eines der Kinder in die Obhut des Gottesmannes nach Zürich zu geben. Was sie an Lavater anzog, sieht man deutlich: die Wärme der religiösen Empfindung, die undogmatische Freiheit eines Christentums der Tat. Sie selber stand fest auf dem Boden der kirchlichen Überlieferung; Basedows antitrinitarische Ketzereien weckten ihre Entrüstung – man erinnert sich dabei der köstlichen Schilderung, die Goethe, das Weltkind, von seinem Besuch mit den beiden Propheten bei den Steins gibt: der peinlichen Verlegenheit, die in dem frommen Hause entsteht, als der Tölpel Basedow durch keinerlei Mittel von seinen lästerlich wirkenden theologischen Ergüssen abzubringen ist! Es entsprach ganz dem Ton des Elternhauses, wenn Karl vom Stein später so oft wetterte gegen die neumodischen Metaphysiker und Berliner aufgeklärten Theologen, die „den einfältigen schlichten Bibelglauben hinweg exegesiert – den schlichten, gesunden Menschenverstand verdunkelt und Lehren vorgetragen haben, die die Grundsätze der Moral, den Glauben an Gott und Unsterblichkeit tief erschütterten und die Herzen der Menschen austrockneten“[4]. Gerade das letzte: Religion als Herzenssache, tritt in den Briefen der Mutter besonders lebhaft hervor. Man fühlt sich durchaus in die idyllische Luft der Wertherzeit versetzt, wenn man die zärtlichen Versicherungen ihrer Liebe zu dem Züricher Prädikanten liest, von dem sie sich die frostige Anrede „gnädige Frau“ verbittet, und vollends, wenn sie ihrer Freundin, der hochempfindsamen Romanschriftstellerin Sophie La Roche, versichert, welche grausamen Schmerzen sie bei der Abreise ihres Lieblingssohnes Karl nach Göttingen empfunden habe: „Tirons le rideau! …“ Aber man darf diesen Zeitstil nicht allzu wichtig nehmen. Hinter allen Gefühlsergüssen blickt doch ein sehr resoluter Hausfrauenverstand hervor, der sich in seiner Nüchternheit durch keinerlei Schwärmerei beirren läßt. Lavaters phantastische Neigungen machen ihr große Sorge; seine Intimität mit dem Wunderdoktor Gaßner ist ihr ein Greuel, und sie scheut sich nicht, dem berühmten Freunde kräftig ins Gewissen zu reden. Vollends da, wo Schwärmerei und Empfindsamkeit an die sehr soliden moralischen Grundsätze des Hauses zu rühren scheinen, spürt man in diese Welt gesteigerter Gefühle sogleich einen ernüchternd kühlen Luftzug aus dem Alltag deutscher Aufklärung hineinwehen. Als Fräulein von Klettenberg stirbt, beklagt sie vor allem, daß der junge Herr Goethe an ihr einen so starken moralischen Halt verliere. Werthers Leiden (die sie noch vor dem Druck handschriftlich kennenlernte), beurteilte sie, wie es scheint, wesentlich unter moralischem Gesichtspunkt: „Warum nimmt der Selbstmord so sehr überhand? (sie zählt eine ganze Reihe von neueren Beispielen auf). Und warum wird er so sehr verteidigt?“ Eine literarische Frau im Sinne einer vorwiegend ästhetisch-philosophischen Bildung war die Baronin ganz gewiß nicht. Trotz aller Bewunderung für den „trefflichen Klopstock“ und den Kreis des Göttinger „Haines“, trotz der Belesenheit der Baronin in den empfindsamen Dichtungen der Jacobi, La Roche, Leuchsenring und in den literarischen Modejournalen der Zeit standen die ästhetischen Interessen des Hauses doch immer in zweiter Linie hinter den religiösen, moralischen, erziehlichen; die rege Anteilnahme der Mutter Stein an den pädagogischen Reformbestrebungen der Philanthropen in Neuwied und Dessau – ein Interesse, das sich in gewissem Sinne auch auf den Sohn vererbt hat – stand ihr viel natürlicher zu Gesicht als alle poetische Schwärmerei.

Immerhin: aus einer gewissen Entfernung erlebte man doch auch im Nassauer Schlosse alles mit, was die literarische Welt damals bewegte; auch die großen Namen der Herder, Wieland, Goethe und einzelne aus deren engerem Freundeskreis tauchen auffallend häufig in den wenigen Briefen auf, die wir von der Baronin besitzen. Vom nahen Ems her gab es interessanten, anregenden Verkehr genug. Eine besondere „Verbindung von Lektüre, Belesenheit und eigenthümlichem Geist“ rühmte schon der junge Hardenberg an der Frau vom Stein und ihren Töchtern; daß auch künstlerische Interessen nicht fehlten, läßt die Tätigkeit des Malers Kraus, späteren Direktors der Weimarer Zeichenschule, als Lehrer der ältesten Tochter und Gesellschafter des Hauses vermuten, von der Goethe erzählt. Und wer einmal die bezaubernde Anmut der heute noch erhaltenen Zimmer, Meublements und kunstgewerblichen Schätze des Nassauer Schlosses aus jener Zeit auf sich hat wirken lassen – ein erlesenes Rokoko vorwiegend französischen Geschmacks –, der wird vollends geneigt sein, den begeisterten Schilderungen zu glauben, welche die La Roche in einem ihrer Romane von der ebenso vornehmen wie schlicht-natürlichen und naturfrohen Lebensart dieses freiherrlichen Hauses entwirft.

Aufgeklärte Bildungsinteressen vielseitiger Art – das ist nicht die Luft, in der Standesvorurteile, junkerliche Herrengesinnung gedeihen. In der Tat wird der Baronin ein besonders wohlwollendes, patriarchalisch-freundschaftliches Verhältnis zu ihren Leuten nachgerühmt. Sie selber spricht verächtlich von den Vorurteilen der Reichsritterschaft, „die sich über die Anderen erhaben dünkt, weil sie einige chimerische Privilegien und Prärogativen besitzt, die mehr kosten als sie werth sind“; sie lächelt über den Vorrang, den der Student von Adel noch immer auf Universitäten genießt, wo doch Fähigkeit und Verdienst allein eine Rolle spielen sollten, und empört sich über den Despotismus des Herzogs Karl von Württemberg; „Wer Ehr liebt, kan mit ihm nichts zu thun haben[5].“ Das sind gewiß nur sehr fragmentarische Äußerungen politischer Gesinnung; aber man erkennt doch schon aus ihnen ziemlich deutlich, wie hier die altständische Abneigung gegen den Despotismus der landesfürstlichen Regierungen sich mit moderneren Zügen politischer Aufklärung verbindet. Beides wird in Karl vom Stein – vertieft und bereichert – wiederkehren. Alle seine Ideale ehrenfester deutscher Biederkeit und Pflichttreue, aufrechten Freiheitsstolzes ohne chimärischen Klassendünkel konnte er in der Gestalt seiner Eltern wie im Bilde anschauen.

Und so ist man denn versucht, auch die Quelle seines ausgeprägten Bewußtseins deutscher Art im Gegensatz zum Welschtum schon im Elternhause zu entdecken. Die Zeiten waren ja noch keineswegs vorüber, in denen französische Bildung als die einzig standesgemäße in den Häusern des deutschen Adels galt; noch immer schrieb die gute Gesellschaft ihre Korrespondenz wie selbstverständlich in französischer Sprache; auch die Familie Stein macht darin keine Ausnahme: die Orthographie der Briefe an Lavater zeigt, wie ungewohnt es der Frau vom Stein war, sich auf deutsch schriftlich auszudrücken, und ihr Sohn behielt das Französische in seinen meisten Familienbriefen bis zum Lebensende bei. Man besorgte sich im Nassauer Schloß die Hauslehrer am liebsten aus Straßburg, weil die Elsässer den Ruf besserer französischer Manieren und besserer französischer Sprachkenntnisse besaßen als die sonst sehr geschätzten, aber ungehobelten schwäbischen Theologen[6]. Aber alle diese Dinge hatten im Steinschen Elternhause, wie es scheint, doch nicht mehr die alte Bedeutung. Lebendiges Luthertum, entschiedene christliche Frömmigkeit vertrugen sich nun einmal schlecht mit der neumodischen Bildung der Franzosen; auch der deutsche Pietismus hat ja ein sehr wesentliches Teil dazu beigetragen, daß unsere Nation sich ihrer Eigenart im Gegensatz zu der früher allmächtigen französischen Kultur bewußt wurde. Daß einer der Söhne zeitweise in der französischen Armee Dienst tat, war der Familie ein beständiger Kummer: dem dort herrschenden Geist der Verschwendung, der Libertinage und des Leichtsinns, so fürchtete man, werde er schwerlich entrinnen[7]. „Alte deutsche Biederkeit und Treue“ empfand man ganz im Stile des bewunderten Klopstock als besonderen Vorzug heimischer Art gegenüber dem windigen gallischen Wesen.

Eine sehr bedeutende Rolle in der Erweckung solcher Gesinnung spielten die Hofmeister der Steinschen Söhne, die der Frau des Hauses zugleich als literarische Berater dienten, vielfach auch mit geistlichem Zuspruch beistanden – weit über die Zeit ihrer Tätigkeit im Steinschen Hause hinaus. Unter ihnen zieht Friedrich Rudolf Salzmann als Begleiter des jungen Reichsfreiherrn nach Göttingen unser besonderes Interesse auf sich: ein Vetter jenes Aktuars Salzmann, der 1771 der Goetheschen Tafelrunde in Straßburg präsidierte. Salzmann hat später (Oktober 1775) zusammen mit Jakob Lenz, dem Straßburger Freunde und begabtesten Rivalen des jungen Goethe, eine Straßburger „deutsche Gesellschaft“ gegründet, die sich die besondere Pflege deutscher Sprache und elsässisch-deutscher Volksart im Gegensatz zum Welschtum zur Aufgabe setzte[8]. Freilich stand er dem empfindsamen Kreise des Göttinger „Haines“ – dessen Musenalmanach er nachzuahmen suchte[9] – viel näher als den Genialen vom Straßburger „Sturm und Drang“: sein Pietismus war von viel zu enger Art, als daß er deren Leistung wirklich ganz hätte verstehen können[10]. So bleibt es schließlich doch zweifelhaft, wieviel von tieferem Verständnis „deutscher Art und Kunst“ durch ihn dem Steinschen Hause zugeleitet wurde und ob er insbesondere als der Urheber jener frühen Shakespeare-Begeisterung betrachtet werden darf, von der uns eine vereinzelte Familienüberlieferung berichtet: die Steinschen Kinder, unter ihnen auch Karl, hätten den „Sommernachtstraum“ im Nassauer Schloßpark zusammen aufgeführt[11]. Denkwürdig bleibt diese Verdrängung französischer Komödientradition durch den großen Engländer aber auch so: noch heute ist kein zweiter Poet in der Nassauer Schloßbibliothek entfernt so reichlich vertreten wie Shakespeare; wenn man nun hört, daß unser junger Baron erst in Göttingen die englische Sprache erlernte[12], so wird man vermuten dürfen, daß er wesentlich an den Wielandschen Übersetzungen von Shakespeares Königsdramen und nicht aus den (ihm noch unzugänglichen) großen Geschichtswerken der Engländer sich jene lebendige Anschauung von englischer Nationalgeschichte holte, die nach seiner eigenen Erzählung den frühesten und stärksten literarischen Eindruck seiner Knabenjahre gebildet hat[13]. Die neue Umgebung in Göttingen, wohin er kaum sechzehnjährig im Oktober 1773 entsandt wurde – der einzige der Söhne, dem die Eltern die Befähigung zum akademischen Studium zutrauten –[14], war ganz dazu angetan, seine Vorliebe für englische Geschichte und englische Literatur erst recht zu befestigen.

Zweites Kapitel Lernjahre

Den Verfall reichspatriotischer Gesinnung in Deutschland führte Karl Friedrich von Moser ganz wesentlich darauf zurück, daß die Staatsrechtslehrer an deutschen Hochschulen fast alle zu feilen Werkzeugen landesfürstlicher Anmaßung wider Kaiser und Reich geworden seien; nur Göttingen mache hier eine rühmliche Ausnahme, das sich zugleich durch eine besonders „praktische Gedenkungsart“ der Professoren, durch ihre „lebendige Kenntnis von Geschäften, von den deutschen Höfen, dem Reichstag und den Reichsgerichten“ an Stelle trockener Pedanterie auszeichne. Damit war ganz zutreffend der Grund der starken Anziehungskraft bezeichnet, den die Göttinger Universität auf die studierenden Söhne des Reichsadels ausübte – ihre mit großem Stolz vermerkte Anwesenheit mochte freilich auch umgekehrt dazu beitragen, den ursprünglich mehr territorialen Charakter der hannoverschen Landesuniversität zu verwischen. Deren Eigenart war aber auch mitbestimmt durch die Sonderstellung Hannovers als Nebenland der englischen Krone. Hier gab es keinen Fürstenhof, auf dessen politische Wünsche und Vorurteile die Staatsrechtslehrer der Landeshochschule mit ängstlichem Respekt zu blicken hatten, keinen Landesvater, dessen strengkirchliche Beschränktheit die Äußerungen aufgeklärter Denkweise brutal unterdrückte, wie es vor nicht langer Zeit in dem preußischen Halle durch Vertreibung des großen Philosophen Wolff geschehen war. In Göttingen rühmte man sich, seinen Anteil zu haben an der vielbewunderten Denk-, Lehr- und Preßfreiheit des aufgeklärten England; an Stelle der pietistischen Theologie, die einst Halle berühmt gemacht hatte, seither aber auf Universitäten in Verruf gekommen war, pflegte man hier eine mildere Richtung, hauptsächlich vertreten durch den (im Steinschen Hause hochgeschätzten) Moraltheologen J.L. Mosheim; das Hauptgewicht aber legte man auf die weltmännischen Wissenschaften, die den Bedürfnissen der adligen Jugend am meisten entsprachen: Staats- und Rechtswissenschaften, daneben eine elegante neuhumanistische Bildung, beides in ausgesprochen praktischer, möglichst unpedantischer Form – einigermaßen entsprechend den Bildungsidealen, die auch in der aristokratischen Gesellschaft Englands herkömmlich waren. Auf diesem politisch fast neutral wirkenden Boden traf man Studierende „von Stand“ nicht nur aus allen möglichen deutschen Ländern, sondern auch des Auslands, mehr als irgendwo sonst. Für Karl vom Stein wurde der Eintritt in den Lebenskreis dieses niedersächsischen Landes entscheidend wichtig: ohne Frage hat hier sein politisches Denken die charakteristische Prägung und den zeitgemäßen Bildungsgehalt empfangen.

Über das akademische Studium des jungen Reichsfreiherrn besitzen wir wenigstens für die ersten fünf Semester (bis Ende 1775) sehr ausführliche, alle Einzelheiten des täglichen Lebens beleuchtende Berichte der ihn begleitenden Hofmeister. Das Bild, das wir daraus gewinnen, ist sicherlich sehr ungewöhnlich für einen Studierenden von Adel. Es scheint, daß die Mutter nach gewissen traurigen Erfahrungen, die sie mit ihrem ältesten Sohn gemacht hatte, und angesichts der Sorgen, die ihr die Entwicklung ihres Jüngsten soeben bereitete, mit verdoppelter Ängstlichkeit darüber wachte, daß dieser ihr Lieblingssohn – ihr Glück, ihr Trost und ihre Hoffnung, wie sie ihn einmal nennt – nur ja vor allen Gefahren behütet werde, die für seinen Charakter da draußen in der freien Welt – und wenn es auch nur die Welt von Göttingen war! – bedrohlich werden konnten. Die strengen Vorschriften, die sie immer wieder erließ, um den jungen Menschen keinen Augenblick unbeaufsichtigt zu lassen, ihn womöglich nur mit jüngeren Professoren zusammenzubringen, deren Gespräch ihn belehren und die er abends nach dem Inhalt des tagsüber im Kolleg Gehörten befragen könne, ihn dagegen vom Umgang mit Altersgenossen, vollends von der Teilnahme an „akademischen Orden“ zurückzuhalten, es sei denn in sittsam gegenseitigen Besuchen unter Aufsicht des Hauslehrers – alle diese Übertreibungen mütterlichen Erziehungseifers wurden schließlich selbst der lammfrommen Pedantenseele eines Salzmann zuviel. Vollends der stolze Freiheitsdrang und das frühreife Mannesbewußtsein des jungen Herrn waren gänzlich außerstande, sich damit gutwillig abzufinden. Alle noch so lebendige Verehrung für die Mutter (die gleich in den ersten Briefen von seiner Hand mit großer Herzlichkeit sich ausspricht) konnte nicht hindern, daß er sich diesen Fesseln entwand. Vergeblich beschwor ihn die Baronin, der Hand des Erziehers sich willig zu fügen, bittend, flehend, drohend, klagend[15] – noch war das erste Semester nicht um, als der Hauslehrer die Zügel aus der Hand verloren hatte und froh war, wenn er vor Zusammenstößen bewahrt blieb, die – wie er beweglich klagte – seine Gesundheit ruinierten. Ein weiteres Semester – und der offene Bruch war da, unwiderruflich; ein sanfter schwäbischer Theologe von großer Vorsicht löste den unglücklichen Straßburger Poeten ab: sein besseres Glück verdankte er durchaus der Tatsache, daß er sich sorgsam auf die Rolle des „furchtsamen Beobachters“, des hilfreichen Repetenten – und des Bedienten beschränkte[16].

Nichts wäre verkehrter, als in diesem energischen Hervorkehren des Herrenstandpunktes eine Äußerung jenes gewöhnlichen Adelshochmuts zu suchen, den man gerade im Hannoverischen nur allzugut kannte. Schon die Mutter lehnte das, scharfblickend, durchaus ab: „Nein, das ist nicht sein tic.“ Karl vom Stein selbst spottete über die Sucht der kleinstädtischen Göttinger, gegenseitig ihre Namen in der Anrede mit einem fiktiven „von“ zu schmücken, und als es einmal hieß, der Stadtkommandant, General von Waldhausen, wolle künftig nur noch Adelige zu seinen Kaffeekränzchen – den Glanzpunkten der Göttinger Geselligkeit – einladen, schwur er, niemals hinzugehen, solange nicht auch sein Salzmann aufgefordert sei. Hochmütig war der junge Stein gewiß nicht – wohl aber stolz, auffahrend, heftig, hartnäckig in seinen Meinungen und darum leicht reizbar durch Widerspruch – lauter Eigenschaften, die er später, in kritischen Momenten seiner politischen Laufbahn, als gefährliche Mängel an sich erfahren und selber oft beklagt hat, die aber zugleich die Kehrseite darstellen zu weithin sichtbaren Vorzügen der Charakteranlage. Seine „Gutherzigkeit“, die der Erzieher Salzmann begreiflicherweise in Zweifel zog, ist uns durch allzu zahlreiche Zeugnisse seiner späteren Familienbriefe und seines praktischen Verhaltens gegen Freunde und Angehörige – auch gegen solche, die er moralisch hart verdammte – bezeugt, als daß auch wir daran zweifeln dürften. Die Zudringlichkeit des Seelenlenkers und seiner Freundschaftserbietungen erklärt offenbar das meiste in dem Kampf der beiden: wir haben die gesunde Reaktion einer prachtvoll kräftigen, früh nach männlicher Reife sich dehnenden Knabenseele vor uns, die den Gefühlsüberschwang ihrer Umgebung einfach nicht erträgt und sich nun darin gefällt, ihr mit witzigen Paradoxien, kühler Ironie oder auch wohl mit schroffer Ablehnung entgegenzuwirken. F.R. Salzmann war gewiß kein alltäglicher Kopf: als strebsamer Literat, Journalist, Verleger und schließlich als theosophischer Schriftsteller von der schwärmerischen Art der Jung-Stilling und Madame Krüdener hat er sich später noch einen Namen gemacht; neben seinem Zögling erscheint er doch als eine ganz subalterne Natur. Er selber prophezeite ihm – mit fast feierlicher Gewißheit – eine große Zukunft. Wesentlich interessanter ist das Urteil, das der Göttinger Philosophieprofessor Feder nach sehr genauer Bekanntschaft über den jungen Baron fällte: „Er hat viel Verstand, aber auch viel Zutrauen zu sich selbst und sowohl darum als wegen seines Temperaments eine Heftigkeit in seinen Meinungen und Absichten, die bei seinem Alter nichts gewöhnliches sind … Der Herr vom Stein hat solche Eigenschaften, daß er auch ohne fremde Empfehlung mich interessieren würde[17].“ Ein Urteil, das durch die frühsten Selbstzeugnisse Steins, die Briefe des Studenten an die Mutter, durchaus bestätigt wird: da sieht man einen auffallend frühreifen, seiner geistigen Überlegenheit bewußten sechzehnjährigen Menschen vor sich, der mit hellen, lebhaften Augen in die Welt schaut, in praktischen Geschäften der Familie trefflich Bescheid weiß und der Mutter seinen Rat erteilt, an anderen gern seinen Spott ausläßt und gelegentlich etwas altklug-schulmeisterlich seine moralische Kritik an der Umwelt übt: alles Züge, die mit einer gewissen eckigen Härte auch in der Erscheinung des reifen Mannes wiederkehren – aber später ebenso wie jetzt ergänzt durch Zeugnisse der Herzensgüte und pietätvoller Verehrung für das, was ihm als echte Autorität gilt.

Mit einem wahrhaft asketischen Fleiß ging dieser intelligente junge Mann ans Studium. Nichts von den üblichen Zerstreuungen, Händeln, Zechgelagen oder gar Liebesabenteuern studierender adliger Jugend – dazu wäre in dem ehrsamen Göttingen (wo die Erscheinung des jungen Herder eben damals viel böse Nachrede machte, weil er für einen Geistlichen zu elegant gekleidet sei!) freilich auch dann wenig Gelegenheit gewesen, wenn Hofmeister und Mutter eine weniger strenge Aufsicht geführt hätten. Wer hier nicht vor Langeweile umkommen will, schrieb der junge Mann, kaum an seinem Musensitz angekommen, ist gezwungen zu arbeiten. So gab es denn jeden Vor- und Nachmittag Kollegbesuch, zwischendurch Vorbereitung auf den nächsten Tag, Nachschlagen der Gesetzbücher und geschichtlichen Quellenwerke, Ausarbeiten der Kolleghefte und Repetitionen mit Hilfe des Hauslehrers, dazu privaten Unterricht im Englischen, später auch im Italienischen und der Mathematik, weiterhin Reiten, Fechten, Tanzen und allerhand orthopädische Gewaltkuren, endlich noch (auf dringenden Wunsch Karls)[18] Musikunterricht auf der Bratsche – das alles füllte den Tag auch nach Salzmanns Abgang völlig aus – nur daß der Studiosus sich jetzt freieren, unbeaufsichtigten Umgang mit Altersgenossen erkämpft hatte. Man begreift hiernach die immer wiederholten Meldungen des Hofmeisters: „Wir sind aufs äußerste beschäftigt“ – „wir studieren mit Macht, selten komme ich vor Mitternacht zu Bette“; jeder durchreisende Besuch wurde als lästige Störung des Studienbetriebes betrachtet, Reisen nach Hamburg oder Gotha vollends von der Mutter als unzulässige Arbeitsunterbrechung abgelehnt. Eine Liste der von Stein aus der Universitätsbibliothek entliehenen Bücher, die man neuerdings zusammengestellt hat, mutet überaus stattlich an. Älteres deutsches Staatsrecht und Quellenwerke der deutschen Geschichte stehen im Vordergrund; aber auch die englische Geschichte und Literatur, wirtschafts-, besonders finanzwissenschaftliche Werke sind reichlich vertreten – an philosophischer Literatur anscheinend nur das, was die Vorlesungen als unentbehrlich bezeichnet hatten. Der Gesamteindruck aber ist der eines ungewöhnlich gründlichen Studiums vom ersten Semester an. Nach seiner eigenen Angabe hat Stein durch „übertriebene Anstrengung“ geradezu seine Gesundheit erschüttert[19].

Über die akademischen Lehrer, die Stein hörte, sind wir leidlich unterrichtet. Im Mittelpunkt standen durchaus die juristischen Studien; doch ergänzte er sie, wie üblich, durch Kollegbesuch in der philosophischen Fakultät. Moral- und Rechtsphilosophie hörte er bei Joh. G.H. Feder (im Stil der flachen englischen Popularphilosophie jener Tage), kulturphilosophische Vorlesungen bei Chr. Meiners, bei Beckmann vermutlich Kameralwissenschaft, vielleicht aber auch technologische, mineralogische oder andere naturwissenschaftliche Lehrvorträge[20]. Für die Vorlesung Joh. Christoph Gatterers über Tacitus und die älteste Geschichte Germaniens brachte er (wenigstens im ersten Semester) keine rechte Neigung auf, obwohl Salzmann gerade auf dieses Kolleg des großen Gelehrten besonderen Wert legte. Für seine Erziehung zu politischem Denken am wichtigsten war der Besuch der Vorlesungen von A.L. Schlözer[21]: in der Gestalt dieses Lehrers konzentrierte sich recht eigentlich, was Göttingen an historisch-politischer Anregung seiner Jugend zu bieten hatte[22]. Seine berühmten politisch-statistischen Zeitschriften, in denen er die Schwächen des deutschen Staatslebens, insbesondere des Despotismus der deutschen Kleinstaatenwelt, in unzähligen Einzelheiten ans Licht zog, begannen freilich erst lange nach Steins Abgang von Göttingen zu erscheinen. Aber als Vermittler westeuropäischer Staatsauffassung, insbesondere der Lehren Montesquieus, und als Bewunderer des englischen Staatswesens wirkte er von Anfang an auf seine Hörer mit eindringlicher Beredsamkeit. Vielleicht hängt es doch mit diesen Eindrücken zusammen, wenn der junge Stein im Sommer 1775 um die Erlaubnis bat, sich Montesquieus Esprit des lois anzuschaffen, was der Hofmeister befürwortete: „Da er nicht zu früh anfangen kann es zu studieren und weil er darin nie ausstudieren wird.“ (In der Tat tragen wenige Bücher seiner Bibliothek so reichliche Spuren der Durcharbeitung wie eben dieses[23].) Wenn irgendwo, dann konnte er bei Schlözer lernen, die altfränkischen Ideale von deutscher „Libertät“, wie sie in der Reichsritterschaft herkömmlich waren, im Sinn moderner Staatsauffassung fortzubilden: Schlözers ganze politische Lebensarbeit lief darauf hinaus, für die „Bezügelung“ despotischer Willkür durch „ständische“ Vertretungen zu wirken, zugleich aber auch die „chimärischen“ Privilegien des Adelsstandes innerhalb der Ständevertretungen zu bekämpfen.

Von den juristischen Dozenten werden namentlich G. Fr. Böhmer als Pandektist, von Selchow als Lehrer des deutschen öffentlichen Rechts im Mittelalter, an wichtigster Stelle aber Joh. Stephan Pütter mit seiner „Reichshistorie“ erwähnt: der eigentlichen Glanzleistung der Göttinger Juristenfakultät, der Hauptattraktion insbesondere für die studierende Jugend des Reichsadels, unentbehrlich für jeden, der sich wie Stein für den Dienst am Reichskammergericht oder Reichshofrat vorbereitete. Pütter, der bedeutendste Kenner reichsrechtlicher Institutionen und ihrer Geschichte, zugleich der letzte große Systematiker des alten Reichsrechts, hat vermutlich auch den juristischen Bildungsgang Steins am stärksten beeinflußt: seine Handbücher finden sich noch heute mit zahlreichen Randnotizen und Exzerpten versehen in der sogenannten Turmbibliothek des Nassauer Schlosses. Er war nichts weniger als ein politischer Reformer, vielmehr durchaus ein Vertreter des positiven Rechts; aber gerade weil er so fest und ausschließlich in den traditionellen Rechtsbegriffen des alten Reiches wurzelte, vertrat auch er die altdeutschen Ideale von ständischer „Libertät“ – nur ohne polemische Wendung gegen den fürstlichen Despotismus (wie K.F. Moser) oder gegen die Sonderprivilegien des (gerade in Hannover allmächtigen) Adels (wie Schlözer). Die Lehre aber, daß ständische Freiheit zum altererbten Wesen des deutschen Rechts im Gegensatz zum despotischen Absolutismus des französischen Staates gehöre, klang dem jungen Stein hier wie überall entgegen.

Aber die Reichshistorie, wie Stein sie bei Pütter hörte, als Geschichte der Institutionen des altdeutschen Staates, hatte zugleich noch eine andere Bedeutung. Sie war die einzige Form, in der damals überhaupt auf den Universitäten deutsche Geschichte gelehrt wurde. Die Historiker lasen nur über universal- oder territorialgeschichtliche Gegenstände; den Bemühungen der Juristen dagegen verdankt die deutsche Geschichtsforschung seit den Tagen Marquard Frehers und Hermann Conrings, also seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts, die ersten großen, zum Teil noch heute unentbehrlichen Sammlungen von Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters. Als der Freiherr vom Stein in seinen Alterstagen die gewaltigste und modernste dieser Sammlungen, die Monumenta Germaniae Historica, ins Leben rief, knüpfte er bewußt an diese alte Tradition der Rechtshistoriker an[24]. Auch sein eigenes späteres Schrifttum läßt überall ein starkes Interesse an der deutschen Rechts- und Verfassungsentwicklung hervortreten; bis in die Einzelheiten gehen seine nationalen Verfassungspläne von 1814/15 auf die ältere Reichsverfassung zurück. Auf jeden Fall bildete das Studium der „Reichshistorie“ für den künftigen nationalen Staatsmann eine unvergleichlich positivere Einführung in das Verständnis der vaterländischen Vergangenheit als alle deutschtümelnde Schwärmerei der Literaten des Göttinger Hain-Bundes für alte teutsche Heldengröße, wie sie sein Erzieher Salzmann teilen mochte und wie sie eben in jenen Jahren in Göttinger Literatenkreisen auf ihren Höhepunkt gelangte[25]. Geschichte und Religion, nicht aber Dichtung und Philosophie waren für ihn der unversiegliche Born jenes sittlichen Enthusiasmus, mit dem er an die Bewältigung aller seiner Lebensaufgaben ging. Aus der Geschichte will er sich schon als Knabe in Nassau „die Ansicht der Welt und der menschlichen Verhältnisse“ gebildet haben, die ihn dann auch in Göttingen beherrschte: eine freilich „einseitige und unpraktische Ansicht, verführend zu einer gewissen Unbilligkeit in Beurteilung der nahen Wirklichkeit“, aber erhaben über alles Gemeine und Alltägliche. Eine idealistische Weltansicht also, die ihn von vornherein zu strenger Auswahl seiner Freunde veranlaßt habe.

Als der alte Stein diese Sätze niederschrieb, erinnerte er sich wohl kaum noch der leidenschaftlichen Ungeduld, mit der er einst als junger Student den sorgsam ausgesuchten Kreis gesetzter, älterer Studierender von Adel zu erweitern gestrebt hatte, den seine Erzieher ihm zum Umgang bestimmten. Diese Herren von Löw, von Steinberg, von Lenthe, von Keller, von Grothe, Baron Spiegel, Grafen Brahe, Dönhoff, O’Donnell, Schulenburg, zum Teil Verwandte des Hauses, haben den jungen Reichsfreiherrn doch nur zum kleineren Teil wirklich interessiert. Aber darin trog ihn seine Erinnerung nicht, daß er nur mit hochstrebenden jungen Männern näheren Umgang hatte pflegen mögen: gerade die ihm damals am nächsten standen, haben es später alle zu ansehnlichen Stellungen im Staatsdienst gebracht. Von den Standesgenossen war ihm offenbar Franz von Reden am nächsten befreundet, später sein Begleiter auf seiner ersten großen Bildungsreise. Durch ihn aber wurde er gegen Ende der Studienzeit[26] mit zwei hochbegabten Hannoveranern von bürgerlicher Herkunft bekannt, die sich seine Freundschaft in noch engerem Sinn erwarben und die zugleich die weitaus interessantesten Köpfe dieses Bekanntenkreises sind: August Wilhelm Rehberg und Ernst Brandes. Vor allem Rehberg wurde sein Freund im innerlichsten Sinne des Worts – ihm auch im Naturell, in der leidenschaftlichen, stürmischen Energie seines Wesens, am nächsten verwandt. Noch im hohen Alter, über eine jahrzehntelange Entfremdung hinweg und deshalb um so glaubhafter, hat uns der hannoverische Staatsrat den starken Eindruck des Ungewöhnlichen geschildert, den einst der jugendliche Stein auf ihn gemacht hatte: „Es war überhaupt in allen seinen Empfindungen und Verhältnissen etwas Leidenschaftliches. Aber welche Leidenschaft! Dem lebendigen und unbeugsamen Gefühle für alles Große, Edle und Schöne unterordnete sich in ihm sogar der Ehrgeiz von selbst. Mit den wenigen Menschen, denen er sich hingab, war er nur durch Vermittlung jener Empfindungen verbunden; und wer dazu gelangte, konnte nicht anders, als ihn wieder leidenschaftlich lieben.“ Ein Seelenbündnis, das sich durch täglichen Gedankenaustausch, auf gemeinsamen Gängen um den Göttinger Wall, vollends in den Ferien, die man gemeinsam in Nassau verbrachte, immer mehr befestigte und für lange Jahrzehnte eine enge geistige Gemeinschaft begründete. In das Jahr 1792 fällt das schönste Zeugnis aus Steins Munde für diese Gemeinsamkeit: da meinte er, daß „unter allen denen vielen menschlichen Wesen dieser Erde, mit denen ich in Verbindung kam“, seine Schwester Marianne, seine Freundin Frau von Berg und Rehberg die drei einzigen wären, „mit denen ich in einem vollkommenen Verhältnis der Übereinstimmung, der Empfindungen und Begriffe stehe, in deren Umgang es mir unbedingt wohl ist, deren Meinungen, Handlungen und Betragen im Wesentlichen mit den meinigen übereinstimmen, für die ich keinen verborgenen Gedanken haben mag“. In der politischen Geschichte Steins aber nimmt Rehberg einen ganz einzigartigen Platz ein, weil die geistige Entwicklung des Staatsmannes durch niemanden so tief und nachhaltig beeinflußt worden ist wie durch diesen hannoverischen Freund – allerdings wesentlich erst in einem Gedankenaustausch späterer Jahre.

Bis es dazu kam, bedurfte es noch vieler Lernjahre auf dem Boden praktischer Politik, nicht bloß akademischer Wissenschaft und historisch-politischer Bildung.

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Ostern 1777 verließ der junge Baron Stein – ohne Abschlußprüfung, deren der Altadelige für sein Fortkommen nicht bedurfte – die Universität, um seine Ausbildung in der Praxis der Reichsbehörden: Kammergericht, Reichshofrat und Regensburger Reichstag, zu vollenden. Die Zukunft schien durch den Willen der Eltern fest bestimmt: Anstellung im Reichsdienst. Das hieß praktisch: eine Laufbahn als Kammergerichtsassessor, Reichstagsgesandter oder Reichshofrat – ein Leben inmitten unendlicher, größtenteils vergeblicher politischer und Rechtshändel, Streitigkeiten um veraltete Besitztitel, umlauert von Ränken, Eifersüchteleien, Gehässigkeiten der Standesgenossen, unter lauter Bürokraten hohen und niederen Ranges, deren Ehrgeiz sich in alltäglichen Geschäften erschöpfte. Immerhin: nach den herkömmlichen Standesanschauungen eine stattliche Lebensstellung, die Möglichkeit, ein vielgesuchter, einflußreicher Mann zu werden im Kreise der ritterschaftlichen Korporation, das Ansehen der Familie durch kaiserliche Gunstbezeigungen, Ehrentitel, Geschenke und Orden reichlich zu vermehren. Seit 1774 zum alleinigen Erben und Stammhalter der Familie bestimmt, hätte Karl vom Stein auf diesem breiten und sicheren Wege immerhin eine Stufe über die Lebensstellung seines Vaters, des kurmainzischen Kammerherrn, hinaus gelangen und die unmittelbaren Interessen des Familienbesitzes viel besser wahren können als an irgendeinem anderen Platz; daß er später in preußischen Dienst trat, bedeutete eine sehr ernstliche Gefährdung dieser Familieninteressen: ohne die selbstlos hingebende Hilfe seiner Schwester Marianne wäre ihm nicht einmal die laufende Güterverwaltung möglich gewesen. Wenn er dennoch schon 1780 diesen Übergang aus dem „Reich“ nach Preußen vollzog, so war das die erste ganz selbständige, aber zugleich auch die wichtigste persönliche Lebensentscheidung, die er jemals getroffen hat. Denn sie hat seinem weiteren Leben die alles entscheidende Richtung gegeben.

Der Entschluß ist, wie begreiflich, erst nach langem Schwanken gefallen: erst mußte sich der junge Baron durch die Erfahrung davon überzeugen, daß auf dem Wege des Reichsdienstes schlechterdings keine Ziele winkten, die seinen Ehrgeiz locken konnten. Leider sind wir über keine Periode seines Lebens so unzulänglich unterrichtet wie über die drei Jahre zwischen dem Abschluß des Göttinger Studiums und dem Eintritt in den preußischen Dienst. Aus Wetzlar, wo er gleich im Mai 1777 als Praktikant am Reichskammergericht eintrat und bis Ende des Jahres unter Aufsicht eines Advokaten arbeitete, besitzen wir nur einen einzigen Brief an seinen Göttinger Studienfreund Franz von Reden: eine witzig-ironische Schilderung der kleinstädtischen Gesellschaft und ihrer Lächerlichkeiten in sehr überlegenem Tone, doch voll Achtung für seinen juristischen Mentor und voll sachlichen Interesses für die praktischen Rechtsaufgaben, die sich vor seinen Augen darstellen und „der Theorie das für die Ausübung erforderliche Leben geben“. Als er diesen Brief schrieb (20.11.1777), kann er noch nicht jene leidenschaftliche Abneigung gegen „das Nichtige des toten Buchstabens und der Papiertätigkeit“ gefaßt haben, die später zu einem Hauptmotiv seiner Lebensgesinnung wurde.

Noch weniger wissen wir von den Einzelheiten der großen Reise, die ihn – zur Förderung seiner Weltkenntnis – seit Januar 1778 zuerst nach Mainz, dann an die Höfe von Mannheim, Darmstadt, Stuttgart, München, zwischendurch auch durch einige Teile Frankreichs und zuletzt an den Regensburger Reichstag führte. Hier indessen muß ihm zuerst die trostlose Nichtigkeit der alltäglichen Reichsgeschäfte zu Bewußtsein gekommen und die Lust vergangen sein, in ihrer Mitte sein Leben zuzubringen. Denn seit 1779 hören wir von Versuchen der Familie, ihn im preußischen Staatsdienst unterzubringen.

Eine sehr auffallende Wendung! Daß die Eltern Steins ähnlich wie alle ihre reichsritterlichen Standesgenossen ursprünglich mit stärkstem Mißtrauen auf die „despotische“ und gewalttätige Großmacht Preußen blickten, läßt sich aus unzweideutigen Zeugnissen schließen. Als der älteste Sohn Johann Friedrich, der in den Franckeschen Stiftungen in Halle erzogen wurde, im Sommer 1765 Neigung zeigte, in die preußische Armee einzutreten, hatte die Mutter alles aufgeboten, ihn, wider seinen Willen, von dieser „Schlaverey“ zu retten, „auf daß er mit der Zeit seinen Eltern nicht sein Unglück beymesset“[27]. Und die Klagen der Familie, daß „der Arm der deutschen Gerechtigkeit schwach ist gegen den Willen des Königs von Preußen und anderer mächtiger Stände, wann diese die Kammergerichtsmandate nicht hören wollen“, tönen noch in den Briefen der Göttinger Hofmeister gelegentlich wider[28]. So hatte denn auch Karl vom Stein noch in Göttingen (anscheinend 1773) in einem für die kleinstaatliche Gesinnung dieser Reichsritter höchst bezeichnenden Brief das Los der Untertanen des Bayreuther (?) Markgrafen beklagt, die (durch Übergang des Landes an Preußen) einen zwar wenig liebenswerten, aber doch wenigstens schwachen und nicht vor dem Arm der Gerechtigkeit (nämlich des Reichskammergerichts) geschützten Herrn vertauschen sollten „mit einem König, der das Universum zittern macht durch seine Waffen, die Welt in Staunen setzt durch die Größe seines Genies und seine Untertanen seufzen läßt unter dem Druck seines Szepters“[29]. Inzwischen hatte die Steinsche Familie allerdings Anlaß gefunden, ihre Meinung über Preußen einigermaßen zu revidieren. Jener älteste Bruder Karls, den die Mutter den Preußen ehedem nicht gönnen wollte, war statt dessen in die holländische Armee eingetreten, weil die Mutter fürchtete, bei den Kaiserlichen werde er am Ende noch katholisch werden; aber sowohl im Haag wie andernorts hatte es manche Sorge um ihn gegeben; schließlich war er doch zur preußischen Armee übergegangen (1778) und als Oberster und Chef eines Freiregiments sogleich in eine ansehnliche Stellung gelangt – später hat er es sogar bis zum diplomatischen Vertreter Preußens am Mainzer Hofe gebracht[30]. Diese Erfahrungen werden doch wohl die Baronin Stein mitbestimmt haben, als sie sich in einem noch erhaltenen wohlstilisierten Brief vom Januar 1779 an König Friedrich wandte und um Verwendung ihres dritten Sohnes im preußischen Dienste bat – aber einstweilen am Regensburger Reichstag, in der Kanzlei des dortigen preußischen Gesandten! Vielleicht war dieser letzte Zusatz ein Kompromiß zwischen Karls Wünschen und den Sorgen der Mutter und sollte den etwaigen Rücktritt erleichtern? Sonderbar ist, daß die Baronin sich gerade um eine Diplomatenstelle für den Sohn bewarb, der doch schon bald darauf eine heftige Abneigung gegen die Diplomatie geäußert hat. War das Ganze etwa nur ein Tastversuch ohne rechten Ernst oder doch ohne Karls volles Einverständnis? Jedenfalls wurde die Einladung des Königs, der junge Baron möge sich zunächst an seinem Hofe vorstellen, man müsse ihn doch erst kennenlernen, nicht befolgt. Statt dessen verbrachte der also Geladene noch ein volles Jahr im Zentrum des preußenfeindlichen Lagers: in Wien, Salzburg, Steiermark, Ungarn. Schon möglich, daß er angesichts der letzten Entscheidung noch einmal schwankte, welcher der beiden deutschen Vormächte er sich zuwenden solle, zugleich wohl auch: ob innere Verwaltung oder diplomatischer Dienst der für ihn gewiesene Lebensberuf sei; das zerstreute Umtreiben in bloßer Geselligkeit, das er in seinen Lebenserinnerungen als den Inhalt dieser Monate bezeichnet, würde zu einer solchen Vermutung wohl passen – doch Sicheres wissen wir nicht. Schließlich sieht man den Zögernden doch im Februar 1780