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Gerhard Ritter

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Beschreibung

Gerhard Ritter, einer der großen deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts, hat sich sein halbes Leben lang mit Gestalt und Wirkung Martin Luthers auseinandergesetzt. Seine Biographie hat maßgebend zu einem vertieften Verständnis des wahren Charakters der lutherischen Reformation beigetragen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 348

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Gerhard Ritter

Luther

Gestalt und Tat

FISCHER Digital

Inhalt

Dem Andenken meines am [...]Zur Textgestalt der sechsten AuflageZur EinführungI WerdejahreII Die deutsche Welt um 1517III Der Bruch mit Rom (1517–1519)IV Der Reformator (1520)V Worms: der Held der deutschen Nation (1521)VI Die Wartburgepisode · Erste SturmzeichenVII Sturmjahre (1522–1525)VIII Der Gründer der evangelischen Landeskirchen · Ausklang des LebensIX Umriß der geschichtlichen GestaltZeittafel

Dem Andenken meines am Weihnachtsabend 1941 in Rußland gefallenen Sohnes Berthold

Zur Textgestalt der sechsten Auflage[1]

Der Haupttext dieses Buches, die eigentliche Lebensgeschichte Luthers, hat sich seit den ersten Auflagen (1925/28) nur wenig verändert; doch wurden alle kritischen Einwände sachkundiger Rezensenten sorgsam berücksichtigt und natürlich auch die Fortschritte der allgemeinen Lutherforschung beachtet.

Stärkeren Änderungen waren Einleitung und Schlußteil (Kapitel IX) unterworfen. Der ursprüngliche Entwurf des Buches, bald nach dem Ende des Ersten Weltkrieges entstanden, hob Luthers Bedeutung als nationaler Heros, als zentrale Gestalt des deutschen Geisteslebens mit einer Energie hervor, die ich heute als Überbetonung empfinde. Das damals geprägte Schlagwort vom «Ewigen Deutschen» ist heute gestrichen – natürlich ohne die besondere nationale Bedeutung des größten deutschen Theologen außer Betracht zu lassen. Eine wesentliche Vertiefung meines theologischen Lutherverständnisses hat mir meine Tätigkeit als Herausgeber und Hauptrezensent des «Archivs für Reformationsgeschichte» (seit 1938), die Vorarbeit zu meiner Geschichte des 16. Jahrhunderts (zuerst in der Propyläenweltgeschichte 1941) und nicht zuletzt meine aktive Teilnahme am Kirchenkampf der dreißiger Jahre gebracht. Rückblickend finde ich heute, daß mein Buch erst in der 1943 erschienenen, stark umgearbeiteten dritten Auflage wirklich ausgereift ist. Die damals schon vorausgeahnte, 1945 eingetretene Weltkatastrophe hat für uns Deutsche den Gedanken Luthers von der Verborgenheit Gottes und von dem unheimlichen Zwielicht der Weltgeschichte eine unerhörte Zeitnähe gegeben. Das führte mich in der vierten Auflage (1947) zu einer fast völligen Neufassung der Einleitung. Die fünfte und sechste Auflage haben sich bemüht, die 1943 begonnene Revision vor allem durch erneute Überprüfung des Schlußkapitels weiterzuführen und die universale Bedeutung der lutherischen Prophetie noch schärfer herauszuarbeiten.

Manche Ergänzungen zu den Gedanken dieses Buches habe ich seither in zwei Aufsätzen der Zeitschrift «Zeitwende» veröffentlicht: «Luthertum, katholisches und humanistisches Weltbild» und «Luther und die politische Erziehung der Deutschen» – beide im Jahrgang 1946/47, der erstere jetzt wiederabgedruckt in der Aufsatzsammlung «Die Weltwirkung der Reformation», Neuauflage bei R. Oldenbourg-München 1959.

 

Freiburg i. Br., Januar 1959

Gerhard Ritter

Zur Einführung

Ratlos steht die abendländische Menschheit vor den Trümmern ihrer tausendjährigen Kultur. Nicht ein Winkel des Erdteils ist verschont geblieben, kein Stück ihres materiellen Besitzes unbeschädigt, keines ihrer geistigen Fundamente unerschüttert. Schlechthin alles hat das große dreißigjährige Erdbeben durcheinander geworfen. Alles scheint sinnlos geworden, alles ins Schwanken geraten, was ehemals festen Grund bot, und immer wieder verwirren sich unsere unsicher tastenden Schritte. Bange Furcht starrt aus dem tiefen Dunkel, das unsere Zukunft verhüllt: wird das Rad eines scheinbar unaufhaltsamen Schicksals über uns hinwegrollen, und was wird es übriglassen von alledem, was uns bis heute das Leben schön und liebenswert erscheinen ließ? Oder gibt es doch noch Quellen geistiger Kraft, wirklich lebendige, aus letzter Tiefe sprudelnde, echt und stark genug, um uns wieder Mut zu geben: Mut nicht nur zum Weitertragen eines für so Zahllose unsicher und arm gewordenen Lebens, sondern wohl gar zum trotzigen Kampf wider das drohende Schicksal?

Man kann sich dem Leben eines großen Mannes wie Luther von den verschiedensten Seiten her nähern. In den trüben, aber doch nicht hoffnungslosen Jahren nach dem ersten Weltkrieg suchten wir uns innerlich aufzurichten an der klaren Festigkeit seines Mannestums und fragten uns, nicht ohne Sorge, was von den seelischen Kräften, die ihn zu seinem Lebenskampf befähigt hatten, für uns wohl heute, in einer so tief verwandelten geistigen Atmosphäre, noch erreichbar sei. Nicht jeder vermochte dem großen Theologen zu folgen, dem Prediger der radikalen Glaubensparadoxie: der Lehre vom verborgenen Gott, von der totalen Unzulänglichkeit menschlicher Vernunft, von der völligen Verderbnis des menschlichen Willens und unserer Unfähigkeit zur Selbsterlösung, die allem humanistischen Denken so hart ins Gesicht schlägt. Aber jeder spürte etwas von der Kraft des Charakters, die sich aus solchen Quellen nährte, von der Tiefe der Selbstbesinnung, vor die der Mensch hier gestellt wird. Spürte oder ahnte wohl auch etwas davon, daß im lutherischen Erbe ein Schatz verborgen liegt, ohne den deutsche Geistesart, gerade in ihren edelsten Erscheinungen, nicht mehr zu denken ist, ohne den sie niemals ihre Weltbedeutung erlangt hätte. So konnte uns Luther als der «ewige Deutsche» erscheinen, auch in seiner Menschlichkeit, mit ihrer Größe wie mit ihren Gefahren und Schwächen. Das alles half uns, über mutlose Resignation hinwegzukommen, unser nationales Wesen in seiner Stärke und in seinen Gefahren besser zu verstehen und so den Sinn unseres Schicksals neu zu deuten, uns selbst auch im Unglück innerlich gegen die Umwelt zu behaupten.

Heute geht es gar nicht mehr bloß um deutsches Wesen und deutsche Zukunft. Es geht auch nicht mehr bloß um die abendländische Kultur. Heute geht es um unsere geistige Existenz schlechthin – um jene Grundfragen, von deren Lösung der Aufbau menschlicher Kultur überhaupt abhängt. Die Frage unserer Zeit schlechthin ist die Frage nach der Wirklichkeit Gottes. Wenn Gott wirklich tot ist, wie man uns bald verzweifelt, bald triumphierend versichert, dann stehen wir vor dem baren Nichts: dann kann auch von irgendwelchem Wiederaufbau echter Kultur keine Rede mehr sein. Denn echte Kultur lebt immer aus der Tiefe des Seins und muß verdorren, wenn ihre seelischen Wurzeln nicht mehr bis zu den wahren Quellgründen des Lebens hinabreichen. Wenn Gott tot ist, dann gibt es nur noch Zeit, aber keine Ewigkeit mehr; dann gibt es nur noch Vordergrund ohne Tiefe; dann wird unser ganzes Dasein im Grunde sinnlos, weil ohne Zukunft, ohne einen festen Richtpunkt, der in unendlicher Höhe sich über der Niederung unserer animalischen Existenz erhebt. Wir treiben dann hilflos auf den ewig schwankenden Wogen der Zeit; denn der ganze Sternenhimmel ist dann jäh erloschen. Wie unheimlich kalt und finster es dann auf der Erde wird, davon haben wir schon einen ersten Vorgeschmack bekommen. Wir haben sie schon entfesselt gesehen, die Bestie im Menschen, die nur auf ihre Stunde lauert, und kennen den lähmenden Schrecken, der in einer gottlos (und damit herzlos) gewordenen Welt an Stelle gläubigen Vertrauens über die Menschen regiert. Was zusammengebrochen ist in diesen letzten Jahren, endgültig und unwiderruflich, ist der Versuch der europäischen Menschheit, auch ohne echten Gottesglauben ein Reich der Humanität, der staatlichen Ordnung, der nationalen Kulturen, der überstaatlichen Völkergemeinschaft zu bauen und aufrechtzuerhalten. Heute sehen wir, daß ein solches Reich der lebendig nährenden Kräfte entbehrt und darum verloren ist, sobald der Abgrund sich auftut und der Kampf der Dämonen beginnt.

Was hat Luther von der Wirklichkeit Gottes erfahren? Das ist die Frage, die uns heute vor allen anderen den Zugang zu ihm eröffnet. Und eben sie führt sogleich in das Zentrum seines Lebens hinein. Erst von hier aus wird uns dann auch alles weitere wichtig: die Gestaltung seines Gotterlebens zur Botschaft, die Stiftung einer neuen Gemeinschaft rings um ihre Verkündung, der Aufbau seiner Kirche, die Durchleuchtung aller Lebensfragen von der zentralen Botschaft her, ihre Auswirkung im praktischen Leben, in Wirtschaft und Kultur, in Volkstum und Staat. Was in dem allen sichtbar wird, ist nun freilich auch ein großer Mensch, eine Mannesgestalt von unvergeßlicher Eigenart, die sich dem deutschen Wesen so tief eingeprägt hat wie kaum eine zweite, und schließlich ein Stück deutscher Umwelt, deutscher Geschichte, ohne die sein Werden und Wirken unverständlich bliebe.

Ob das alles nur Geschichte ist, nur ferne Vergangenheit, oder ob es am Ende auch für uns, für unsere Nöte und Fragen eine Antwort birgt (oder doch eine Wegweisung zu weiterem Suchen), das wird sich am Ende unserer Mitwanderung auf diesem Lebensweg zeigen müssen.

 

Ehe wir näher herantreten an das Leben Luthers, werfen wir zunächst einen raschen Blick auf die geistige Welt, die er vorfand, in die er hineingeboren wurde: auf die Welt des christlichen Mittelalters. Die Frage, ob es eine Vorgeschichte seiner Predigt gibt, ist ziemlich gleichbedeutend mit der, ob irgend etwas erkennbar ist von der Besonderheit deutscher Frömmigkeit innerhalb des geistigen Universalismus des römisch-katholischen Abendlandes.

Sie ist eindeutig kaum zu beantworten. Denn wie soll man überhaupt den geistigen Charakter des Deutschtums vor dem Auftreten Luthers genauer bestimmen? Man ahnt ihn wohl: in tausend Einzelzügen blitzt etwas davon auf – aber wer kann es fassen, wer sein Wesen mit klaren Worten umschreiben? Was ist das eigentliche Geheimnis deutscher Art? Faßbar ist doch nur das historische Schicksal unserer Nation, wie es im hellen Licht der geschichtlichen Überlieferung vor uns sich entrollt: als Volk der europäischen Mitte stärker als andere dem Andringen fremder Kultureinflüsse ausgesetzt zu sein. Ein Schicksal, das jederzeit mit ungeheurer Gewalt, am gewaltsamsten aber gleich zu Beginn unserer nationalen Geschichte an der Gestaltung des deutschen Wesens gehämmert hat. Denn es war doch eine sehr merkwürdige und folgenreiche Tatsache, daß gleich die Anfänge einer höheren Kultur den germanischen Stämmen, die das deutsche Land bewohnten, in den fertigen Formen spätantiker Zivilisation nahegebracht, später aber von derselben Kirche aufgenötigt wurden, die um ihrer Sendung willen das volkstümlich-heidnische Wesen auszurotten suchen mußte. So kam es, daß uns nur ganz dürftige Trümmerstücke vorchristlicher altdeutscher Überlieferungen unter einem gewaltigen Schutt kirchlicher Traditionen erhalten geblieben sind. Und doch glauben wir in den frühesten Jahrhunderten deutschen Christentums immer noch mehr von der bodenständigen, trotzigen Eigenart deutschen Volkstums auch innerhalb der Kirche wahrzunehmen, als in den nächstfolgenden, in denen sich die gleichförmige Decke römischabendländischer Zivilisation immer dichter darüber legt. Der Vorsprung, den wir Deutschen vermöge der uns früher gelungenen politischen Ordnung im 10. Jahrhundert vor den süd- und westeuropäischen Nationen besaßen (zumal auf dem altrömischen Kulturboden des deutschen Südwestens), war bereits überholt, als die großen Kämpfe des Kaiserstums mit Papstkurie und Vasallen begannen. Wir verehren die Laienpoesie des staufischen Rittertums als erste Blüte unserer nationalen Literatur; wir suchen ahnend nach Äußerungen deutschen Geistes in den Erzeugnissen romanischer und frühgotischer Baukunst und Bildnerei. Gewiß nicht vergeblich. Aber jeder weiß, daß niemals die Übermacht französischer Kultur über das Abendland stärker befestigt gewesen ist als in der staufischen Epoche. Die Eleganz ihrer Formen, der Phantasiereichtum ihrer poetischen Erfindungen hat auch auf Sinne und Herzen der Deutschen mit einer Eindringlichkeit gewirkt, daß deren geistige Erzeugnisse (auch die höchsten) den eigenen deutschen Gehalt tief verborgen unter fremder Formenfülle tragen – oft kaum noch erkennbar für das Auge des späten Betrachters. Bis in das Innerste des geistigen Lebens schien dieses fremde Wesen vorzudringen: auch die deutsche Frömmigkeit, vor allem in den Klöstern, nahm mehr und mehr von den ekstatisch-düsteren Zügen romanischer Gottesverehrung und Weltverachtung an. Seit dem Sieg der römischen Päpste über das Kaisertum sieht man auch die scholastische Gelehrsamkeit mit Hilfe der Bettelorden in Deutschland langsam eindringen: der Sieg des römisch-universalen Geistes drückt sich darin symbolisch vielleicht am deutlichsten aus.

Merkwürdig – und doch wohl kein Zufall –, daß eben in den deutschen Bettelklöstern, diesen Stätten äußerst gesteigerter Devotion und gelehrter Kontemplation, zuerst die Opposition des deutschen Empfindens und Denkens gegen den Geist des römischen Dogmas die starre Kruste frommen Gehorsams durchbrach und einen eigenen Ausdruck gewann. Von Meister Ekkehard, dem Dominikaner, bis zu Luther, dem Augustinereremiten, reicht eine Reihe von Theologengestalten, in deren literarischen Äußerungen wir tatsächlich zum erstenmal gewisse charakteristische Züge deutscher Frömmigkeit ganz greifbar zu finden glauben. Ihr Kreis beschränkt sich keineswegs auf die Mystiker und deren nächste Gesinnungsverwandte; im 15. Jahrhundert finden wir auch humanistisch gestimmte Geister darunter, vor allem Nikolaus von Cues, den viel zu wenig Gekannten, ohne Zweifel die glänzendste (wenn auch nicht die am meisten charakteristische) Erscheinung seines Jahrhunderts in Deutschland, und die «Stillen im Lande» von der Art des Wessel Gansfort, Joh. Pupper von Goch und ihrer Geistesgenossen. Die Geschichte ist über sie alle hinweggeschritten, und so liegen manche von diesen Gestalten selbst für die gelehrte Forschung halb oder ganz im Dämmerlicht; von der Frankfurter «Theologia Deutsch», die Luther später neu herausgab, kennen wir nicht einmal den Namen des Verfassers; Johann von Wesels Schriften, hussitisch gefärbt, sind erst in jüngster Zeit in etwas helleres Licht gerückt. Auf den ersten Blick mag die Mannigfaltigkeit aller dieser Bestrebungen größer scheinen als das ihnen gemeinsame Element; und sicherlich war es recht mißverständlich, in diesen Männern «Vorreformatoren» im eigentlichen Sinne zu sehen: den Bannkreis der mittelalterlich-hierarchischen Weltordnung hat keiner von ihnen wirklich durchbrochen. Aber man sieht doch ganz deutlich, wie in diesen zersplitterten Bestrebungen vereinzelter Geister ein starkes, ihnen allen gemeinsames, seelisches Bedürfnis nach Ausdruck ringt: ein Bedürfnis, die Religion als «persönliche Erfahrung von Gott» aufzufassen, den religiösen Lebensprozeß verinnerlicht auszudeuten, die Mittlerstellung des Priesters zwischen Gott und Menschenseele wo nicht auszuschalten, so doch gleichgültig werden zu lassen gegenüber dem einen, was not tut: dem unmittelbaren Ergreifen Gottes im Herzen der Gläubigen. Das sind äußere Symptome eines geheimen geistigen Prozesses, dessen Beobachtung für die deutsche Geistesgeschichte allerdings wichtiger ist als für die Geschichte der abendländischen Theologie. Sie tauchen schon im Hochmittelalter, in den Anfängen theologischer Spekulation in Deutschland auf und verleihen ihr – im Gegensatz zur Pariser Scholastik – von Anfang an einen mehr erbaulichen als rationalen Charakter. Aber erst im späteren Mittelalter, als die Entwicklung des geistigen Lebens überall in der abendländischen Kirche zu einer Zersetzung des harmonischen Einklangs von Vernunft und Offenbarung, natürlicher und geistlicher Lebensordnung führte, der sie in ihren besten Zeiten durchwaltet hatte – erst da wurde auch der geheime Widerspruch zwischen den seelischen Bedürfnissen des frommen Herzens und den äußerlich-starren Gesetzesnormen der Kirche als ein quälender Zwiespalt empfunden; erst seitdem geriet das religiöse Leben in Deutschland in jene erregte Spannung, die sich schon äußerlich als ein seltsamer Gegensatz zwischen gesteigerter kirchlicher Devotion und gleichzeitig wachsender Kritik an den inneren und äußeren Schäden der Kirche bekundet. Nur in Deutschland wurde dieser Widerstreit zum entscheidenden Kennzeichen der kirchlichen Entwicklung. Während die spanische Kirche sich auf den geistigen Grundlagen des 13. Jahrhunderts innerlich erneuerte, die alten Ideale romanischkatholischer Frömmigkeit neu aufglühen ließ – während umgekehrt in Italien das Leben aus den Schranken der kirchlichen Tradition überhaupt herauswuchs, die Ideenwelt des Christentums ihre unbedingt bannende Macht über die Gemüter der Menschen bereits zu verlieren begann, war es in Deutschland – und so nur in Deutschland – das gesteigerte religiöse Lebensbedürfnis selber, die christliche Frömmigkeit in ihrer intensivsten Gestalt, die um ihrer innerlichsten Bedürfnisse willen mit den kirchlichen Überlieferungen in Widerspruch geriet. Es ist einmal nicht anders: die Geschichte des deutschen Geistes hebt sich erst in dem Augenblick mit ganz deutlich erkennbarer Eigenart von der allgemeinen europäischen Entwicklung ab, als die religiösen Bedürfnisse der deutschen Seele in Widerspruch treten zu dem Geist der romanischen Kirche. Und wenn man das 15. Jahrhundert das «deutscheste» Jahrhundert unserer Geschichte genannt hat, so läßt sich das, wenn überhaupt, so im wesentlichen nur durch den Hinweis auf die gesteigerte Innigkeit und Innerlichkeit rechtfertigen, mit der die Deutschen damals die geistigen Schätze der christlichen Überlieferung sich zum persönlichen Besitz zu machen strebten. Was die Kunst und vor allem die Literatur dieses Jahrhunderts (einschließlich der sogenannten «Volksbücher») außerhalb dieses Ideenkreises geschaffen haben, trägt keineswegs eindeutig die Merkmale rein deutscher Geistesart zur Schau.

Von hier aus gesehen könnte das Lebenswerk Luthers wohl als Gipfelpunkt und Abschluß einer jahrhundertelangen Entwicklung erscheinen: er fand das erlösende Wort, das die andern nur stammelnd gesucht hatten – er erst half ihrem unklaren Sehnen zu seiner Erfüllung. Und in der Tat: ohne geistige Voraussetzungen dieser Art wäre das Gelingen der großen, das Abendland politisch und geistig tief erschütternden Revolution in unserem landschaftlich zersplitterten und politisch so schwer beweglichen Volke vollends unerklärlich. Aber von einer eigentlichen Entwicklung der reformatorischen Idee läßt sich gleichwohl nicht reden, ohne das Bild des wirklichen Verlaufes der Dinge gänzlich zu entstellen. Gerade das Entscheidende seiner Tat: der revolutionäre Durchbruch durch den Zauberbann einer Tradition, die durch eine mehr als tausendjährige Geschichte gerechtfertigt schien, und die Begründung dieses Durchbruchs aus den letzten Tiefen des religiösen Bewußtseins heraus – gerade das war völlig neu, völlig unvorbereitet, völlig unerwartet. Diese eine überraschende Tat hat die Deutschen, bis dahin mehr Teilhaber als Mitschöpfer der abendländischen Kultur in den Augen der anderen Nationen, für einige (freilich kurze) Jahrzehnte an die Spitze der europäischen Geistesbewegung gebracht.

Aber wahrlich: nicht darin liegt ihre eigentliche Bedeutung beschlossen. Und nicht als Deutscher, sondern als Christ, als lebendiger Zeuge von der Wirklichkeit Gottes ist Martin Luther zum Reformator der abendländischen Kirche geworden. Eine eigentliche Vorgeschichte seiner Tat, der Wiederentdeckung des urchristlichen Mysteriums, gibt es nicht. Sie ist nur aus einem höchstpersönlichen Wiedererleben zu verstehen.

I Werdejahre

Wer dem Leben Martin Luthers nähertritt, sieht sogleich, daß hier alles davon abhängt, die Persönlichkeit in ihrem Zentrum, in den innersten Regionen des Seelisch-Geistigen, zu erfassen. In der Biographie anderer Geisteshelden mag der Weg von außen nach innen gangbar scheinen: von der geschichtlichen Umwelt zum Kern der sich allmählich, unter Mitwirkung äußerer Einflüsse, bildenden Individualität. Die geistige Entwicklung Luthers nimmt ihren Ausgangspunkt in seelischen Tiefen, in die kein äußerer Einfluß mehr hineinreicht. Wer ihn verstehen will, muß ihn zuerst in seiner Einsamkeit aufsuchen. Gewiß: daß seinem Wollen der große äußere Erfolg zuteil wurde, im Gegensatz zu so manchen rasch erstickten Bewegungen des Mittelalters, das lag (unter anderem) an einem höchst denkwürdigen, einmaligen und so noch nie erlebten Zusammentreffen äußerer Umstände, die auch ihren Platz in seiner Geschichte beanspruchen. Aber das eigentliche Geheimnis seiner Wirkung ruht doch nicht hier: das ruht in einer Epoche seiner inneren Entwicklung, die in den entscheidenden Zügen längst abgeschlossen war, ehe er an die Öffentlichkeit hervortrat. Das ruht in rein geistigen Lebensprozessen von solcher Mächtigkeit und Tiefe, daß dafür (trotz aller engen Zusammenhänge mit dem Mittelalter) die mittelalterlichen Vorbilder schlechthin fehlen. Wie viele hatten es schon vergeblich versucht, den Bann der mittelalterlichen Priesterkirche zu durchbrechen! Die einen waren damit gescheitert, weil sie aus dem Ideenkreis der sakramentalen Heilsanstalt nicht wirklich herauskamen, die andern, weil in ihnen weniger das religiöse Erlebnis als die rationale Kritik säkularen Denkens sich äußerte, die dritten (darunter «Vorläufer» wie Wiklif und Hus), weil ihre Opposition sich zunächst an äußeren Mißständen des kirchlichen Lebens entzündete und von vornherein mit irdischen, politischen Forderungen befleckte, ehe sie in den Kern des Heiligtums eindrang. Was sie alle nicht vermocht hatten, das vollbrachte der Wittenberger Mönch aus der Tiefe eines Gemütes und eines naiv-religiösen Wollens, das gerade vermöge seiner innerlichsten Regungen die stärkste historische Wirkung geübt hat, weil es alle Kraft aus einer Sphäre jenseits aller menschlichirdischen Strebungen schöpfen mußte. Die Seelenkämpfe dieses Menschen sind in einem Maße Geschichte geworden, wie es sonst sehr selten geschieht. Man wird darin schon an jene großen geheimnisvollen Gestalten erinnert, die am Anfang aller Religionsgeschichte stehen: im Dämmerscheine halb legendarischer Überlieferung, während über das Bild Martin Luthers bereits das volle Tageslicht historischer Erkenntnis flutet.

Freilich: im Leben jedes Menschen (und wäre er gleich so unfähig, sein Herz vor andern zu verschließen, wie es Martin Luther war) gibt es Geheimnisse, von denen keine Schrift kündet. Alle Schatten, die um die Gestalt des einsamen Kämpfers in der Erfurter Klosterzelle geistern, hat auch das liebevolle Quellenstudium einer jahrhundertealten Lutherforschung nicht zu bannen vermocht, und gerade die Kritik der letzten Generationen, gestützt auf neuere Quellenfunde, hat einen romantischen Legendenkranz zerstören müssen, der sich (nicht ohne Mitschuld des alternden Reformators, dem seine Jugenderinnerungen stark nachdunkelten) seit langem um die Geschichte von Luthers Jugend gewoben hatte. Als Sohn eines zwar bescheidenen, aber keineswegs bittere Not leidenden Elternhauses ist Martin Luther am 10. November 1483 in Eisleben geboren, in Mansfeld (seit 1484) aufgewachsen. Von besonders harten Entbehrungen seiner Kindheit zu sprechen, scheint kein Anlaß, noch weniger von frühzeitiger Zerrüttung seines Nerven- und Gemütslebens infolge brutaler Mißhandlung durch Eltern und Lehrer. Unbestreitbar freilich bleibt ein gewisser dunkler Untergrund in den Eindrücken dieser ersten Jahre: die harte, nüchterne Rechtschaffenheit dieses bäuerlichen Elternpaares, das mit zähem Fleiß und Erwerbssinn sich ziemlich rasch zu einem gewissen bürgerlichen Wohlstand emporarbeitete, und die barbarische Schuljustiz jener Tage wirkten hier auf ein Gemüt, in dem geniale Kräfte schlummerten, das aber eben darum wohl auch unvergleichlich reizbarer zu denken ist (trotz aller urwüchsigen Derbheit der Lebensäußerungen), als seiner dörflich-rohen Umgebung entsprach. Ist es möglich, auch positive Erbstücke dieser heimischen Umgebung zu bestimmen? Entscheidend ist doch vor allem das eine: die Herkunft aus einem Bauerngeschlecht und aus dem Herzen des deutschen Landes: er war schon seiner Abstammung nach in außergewöhnlichem Maße ein Deutscher; und den Bauernsohn hat er niemals einen Augenblick verleugnen können – weder äußerlich noch innerlich. Im übrigen weist nichts, was wir von seinem Elternhause und seinen Vorfahren wissen, über das Alltägliche hinaus, insbesondere nicht die Art der (offenbar recht durchschnittlichen) elterlichen Frömmigkeit. So hat er als geistiges Erbe im engeren Sinn wohl nur eines aus dem Mansfelder Bergmannshaus davongetragen: einen unversieglichen Schatz an volkstümlicher Erbweisheit und Mutterwitz in Sprache und Denken – aber gewürzt mit einer starken Dosis von Aberglauben, in dem ja freilich auch noch ein Stück urtümlich-roher Volksreligiosität fortlebt: eine dumpfe Angst vor dem Walten unsichtbarer, unheimlicher Gewalten zwischen Himmel und Erde. Der Teufelsspuk im Bergwerk, die Hexe im Nachbarhaus, Kobolde aller Art in Wald und Feld, gegen die man alle Schutz- und Wetterheiligen aufzubieten hat – das waren sehr reale Ärgernisse, mit denen auch so nüchterne und geschäftstüchtige Leute wie Hans und Margarete Luther sich wohl herumzuschlagen hatten. Die Kirche dagegen mit ihrer geheimnisvoll lockenden Macht scheint erst in Magdeburg, wo er vierzehnjährig die Lateinschule besuchte, tiefer auf die Knabenseele eingewirkt zu haben – im religiösen Unterricht der «Lollbrüder», die sich die Bekehrung weltlicher Scholaren zur besonderen Aufgabe gesetzt hatten. Die Luft einer wärmeren Kirchlichkeit, als Martin vom Elternhause her gewöhnt war, hat ihn auch an dem neuen Schulort Eisenach, der «lieben Stadt» (seit 1498) umweht: im Kreise der Verwandten und Freunde, unter denen Frau Ursula Cotta mit ihrem Schalbeschen Familienanhang eine legendarische Rolle in der älteren Tradition spielt; einen Bettelknaben brauchte sie nicht von der Straße aufzulesen. Glückliche neuere Brieffunde gestatten uns einen unmittelbaren Einblick in die Atmosphäre herzlicher Freundschaft, musikalischer Geselligkeit und kirchlicher Devotion, in welcher der Knabe dort zum Jüngling heranreifte – er selber wird in alledem doch kaum in Umrissen sichtbar. Seine Biographie beginnt eigentlich erst in Erfurt, wo er seit 1501 die Universität besuchte; aber auch da besteht die sichere Überlieferung aus der Zeit vor dem Klostereintritt nur aus dürftigen Trümmern. Ein fleißiger Student von treuherziger kirchlicher Frömmigkeit, der andern als Muster vorgehalten wird und der in geschwindem Aufstieg durch die akademischen Grade alles sich aneignet, was es bei den Erfurter Philosophen zu lernen gab: neben der scholastischen Weisheit auch die Lektüre altrömischer und neulateinischer Poeten, ohne daß man darum eigentlich von einem «humanistischen» Freundeskreise sprechen dürfte. Zugleich ein «hurtiger, fröhlicher Gesell», der die Laute zu schlagen weiß, nicht wenige Freunde besitzt und mit dem Degen über Land reist – das ist beinahe alles, was von ihm deutlicher sichtbar wird. Nichts in diesem Dasein deutet auf eine Zukunft oberhalb des gewöhnlichen Lebenslaufes braver deutscher Scholaren – nirgends eine Spur von starken äußeren Anregungen, die das Ingenium aus seinem Alltagsgeleise hätten werfen können. Immerhin ein begabter junger Mensch, mit dem der Vater (inzwischen selber zum Patrizier seiner Kleinstadt aufgestiegen) hoch hinaus will: seit er den Meistergrad der Philosophie erworben hat, bereitet er sich zur Laufbahn des Juristen vor mit dem Lebensziel eines angesehenen fürstlichen oder städtischen Rates; schon ist eine stattliche Heiratspartie in Aussicht genommen – da wirft dieser musterhafte Sohn mit einem plötzlichen Entschluß alle Lebenspläne über den Haufen und verschwindet für immer hinter den Klostermauern. Der Bruch mit dem Vater steht am Anfang der Wanderung durch die Wüste, die Martin Luther dereinst auf die Höhen der Geschichte führen sollte. «Denn ich bin kommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater und die Tochter wider ihre Mutter; und wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert.»

Martin Luther hat selber nie daran gezweifelt, daß an dieser Stelle seines Lebens (das sonst eigentlich überraschende Wendungen – trotz aller dramatischen Spannung – nirgends aufweist) der Eingriff einer höheren Hand unmittelbar spürbar geworden sei. Recht unsicher ist in der Tat alles, was über seelische Kämpfe und Sündenangst jener Frühzeit berichtet wird, die ihn ins Kloster getrieben hätten; immerhin scheint es, daß schon im Bilde des jugendlichen Studenten dicht neben den hellen, humorvollen Zügen die Schatten tiefer Schwermut und religiösen Ernstes sich zeigten. Sein ganzes Leben lang ist er dem stürmischen Schwanken wechselnder Stimmungen ausgesetzt gewesen, weit stärker als andere. Äußere Anlässe zur Selbstbesinnung: der angebliche Tod eines uns unbekannten Freundes; eigene Lebensgefahr bei einem Unfall 1503, das Wüten der Pest in Erfurt 1505 und ähnliches mögen ihn seelisch erschüttert haben – die Katastrophe des Sommers 1505, den Eintritt des jungen Magisters ins Erfurter Kloster der Augustiner-Eremiten zu erklären, bieten sie doch kaum einen greifbaren Anhalt. Sicher ist nur eins: das Gelübde des Klostereintritts, während eines Gewitters auf freiem Felde bei dem Dorfe Stotternheim getan, übermannte den Jüngling selbst, wie einen das Grausen plötzlich übermannt. «Von Erschrecken und Angst des Todes eilends umwallt, gelobt ich ein gezwungen und gedrungen Gelübde.» Als der Blitzstrahl so nahe einschlug, daß er zu Boden stürzte, «und sich fast den Fuß brach», entfuhr ihm wie ein Schreckensruf, «nicht von Herzen und freiwillig», was seinem Leben die entscheidende Wendung gab. Visionen, das religiöse Hauptstück der romanischen Mystiker, blieben dem schwerblütigen Deutschen immer wesensfremd; als einen Ruf vom Himmel aber scheint er doch jenes Erlebnis – wenigstens nachträglich – betrachtet zu haben. Viel später erst wurde er zweifelhaft (ähnlich wie sein Vater), ob es Gott oder der Teufel gewesen war, der da mit ihm geredet hatte.

Uns erscheint das Ganze heute nur als erstes Wetterleuchten jener Seelenkämpfe, denen Martin Luther im Kloster entgegenging.

 

Die «Bekehrung» Luthers im Kloster gehört zu den meistumstrittenen Gegenständen der neueren Lutherforschung. Im Grunde ist dabei nichts deutlicher geworden, als daß man von einer einmaligen «Bekehrung» in irgendeinem tieferen Sinne überhaupt nicht reden darf. Was wir vor uns sehen, ist ein hartes, mühsames, schrittweises Ringen durch mehr als zehn Jahre, in dem es wohl Augenblicke freudigen Gehobenseins durch plötzlich hellere Einsichten, aber keine blitzartige «Erleuchtung» in dem Sinne gibt, daß mit einem Male ein alter Weg in Nacht versinkt und ein neuer klar vor Augen liegt. «Sein Geist ist zweier Zeiten Schlachtgebiet.» Auch das gibt noch nicht ganz die richtige Anschauung. Denn dieser Mönch mit der Herzensangst um einen gnädigen Gott sucht gar nicht wissentlich eine neue Antwort auf alte Fragen. Man kann es nicht deutlich genug sagen: von der großen Opposition gegen die verweltlichte Papstkirche und ihre Machtstellung, die damals alle Welt erfüllte, hat nichts, aber auch gar nichts in die Einsamkeit der rein persönlichen Kämpfe hineingeklungen, in denen Martin Luther sich von der geistigen Welt des Mittelalters losriß und auf Grund eines neuen, unendlich vertieften Heilsverständnisses den Mut zum Leben erstritt.

Die Form, in der diese Kämpfe auftraten, ist (wenigstens im äußerlichen Umriß) bekannt genug: das vernichtende Sündengefühl, der Schrecken vor dem Zorn Gottes, den der Mensch durch gesteigerte Zerknirschung, durch asketische Bußübung, durch planmäßige Heiligung des ganzen Lebenswandels vergeblich zu versöhnen trachtet. «Ist je ein Mönch gen Himmel kommen durch Möncherei, so wollt ich auch hineinkommen sein, das werden mir zeugen alle Klostergesellen, die mich gekannt haben. Denn ich hätte mich, wo es länger gewährt hätte, schier zu tot gemartert mit Wachen, Beten, Lesen und anderer Arbeit.» Das war keine Übertreibung; sein Körper hat die Spuren dieser Jahre sein Leben lang nicht mehr überwunden. Woher aber stammt dieses heftige Bedürfnis nach Selbstabtötung des irdischen Menschen? Es ist keinesfalls erst eine künstliche Klosterzüchtung, so wenig wie seine Sündenangst einfach als «Mönchskrankheit» gedeutet werden kann. Ein bebendes Verlangen, Gott durch asketisches Leben zu versöhnen, mag sich schon vor dem Klostereintritt zuzeiten in Luther geregt haben (so wenig wir im einzelnen darüber wissen): er hätte sonst doch wohl Mittel und Wege gefunden, das übereilte Gelübde von Stotternheim rückgängig zu machen. Was war der eigentliche Stachel dieser Ängste?

Bei einem jungen Menschen von heißem Temperament liegt eine sehr bequeme psychologische, sozusagen medizinische «Erklärung» zu nahe, als daß sie nicht vielfach versucht worden wäre. Liest man, wie Luther die Macht der Erbsünde, der bösen Lust, schildert, die wie ein fressendes Feuer in unsern Adern tobt und allen freien Willen zunichte macht, so wird man – auch ohne polemisches Vorurteil – sich schwer dem Eindruck entziehen, daß hier in erster Linie die sinnliche Leidenschaft (im geschlechtlichen Sinne) gemeint sei. Aber es ist mehr als unwahrscheinlich, daß Versuchungen dieser Art im Leben des jungen Mönches eine bemerkenswerte Rolle gespielt haben. Alle Quellenzeugnisse – von haßerfüllten Gegnern so oft aufs peinlichste befragt – sprechen in Wahrheit eindeutig dagegen. Es ist kein Zufall, daß der Reformator das Gelübde der Ehelosigkeit am spätesten von allen katholischen Regeln hat fallenlassen. Die Kämpfe, die ihn innerlich am meisten quälten, bewegten sich auf einer viel höheren Ebene; sie haben ihn im Alter noch ebenso tief erschüttert wie in der Jugend – nur daß der äußere Anlaß wechselte und vor allem: daß er inzwischen zu unvergleichlich größerer Klarheit in ihrer geistigen Überwindung vorgedrungen war. Versuchungen weltlicher Art, Widerstreben des natürlichen Menschen gegen die Strenge der Mönchsgelübde überhaupt haben ihn wohl niemals ernstlich beschäftigt. Das alles liegt tief unter ihm: man kann ihn gar nicht ärger mißverstehen, als wenn man seine Seele zum Schauplatz eines Kampfes macht, in dem das natürliche Glücksstreben des irdischen Menschen mit asketischem Heilsverlangen streitet. Nicht zu strenge, nicht unerfüllbar hart, sondern gänzlich unzureichend gegenüber den unendlichen Ansprüchen des göttlichen Gebots erscheint ihm die Klosteraskese; und weder Himmelssehnsucht noch Höllenfurcht ist es eigentlich, was seine Seele erzittern macht: das persönliche Wohlergehen des eigenen Ich verblaßt zu völliger Bedeutungslosigkeit gegenüber dem furchtbaren Ernst, mit dem das sittlich-religiöse Problem als solches ihn innerlich durchschüttelt.

Weit näher zum Ziel als jede «natürliche» Deutung seiner Seelennöte führt darum die theologische, die sie aus den inneren Spannungen der spätmittelalterlichen Frömmigkeit verständlich zu machen sucht: aus der Schwierigkeit, die Verantwortlichkeit des freien menschlichen Willens für seine eigenen Taten zu vereinen mit dem Prädestinationsgedanken okkamistischer Ausprägung – aus dem inneren Widerspruch also zwischen der Idee der vergeltenden Gerechtigkeit Gottes und der irrationalen Willkür seines Erwählens und Verwerfens. Auf der einen Seite die unbedingte Überzeugung von der Fähigkeit und Pflicht des freien menschlichen Willens, sich würdig zu machen zum Empfang der Gnade durch «vorbereitende» Verdienste – der Fähigkeit insbesondere, durch Selbstzerknirschung den vollkommenen Haß gegen das Böse, die unendliche Liebe zu Gott in sich selber zu erzeugen; auf der anderen Seite die Abhängigkeit alles sittlichen Gelingens, aller Würdigkeit vor Gott von der geheimnisvollen Mitwirkung der im Sakrament (und unbegreiflicherweise nur im Sakrament, durch Vermittlung des Priesters) «eingegossenen» Gnade Gottes, deren Wirksamkeit sofort entschwindet, sobald eine «Todsünde» im Herzen des Menschen Platz gewinnt; und endlich Gottes freie Willkür, auch die in solchem Gnadenstand gewirkten «Verdienste» des Menschen «anzunehmen» oder zu verwerfen: den Sünder aus Gnaden zum ewigen Heil oder zur ewigen Verdammnis zu bestimmen – ohne jede Bindung an «Vernunft» und positive Ordnung. Soviel Sätze, soviel Zweifel und Fragen, soviel Anlaß zu innerer Ungewißheit, zu neuer Angst. Diese Theologie, in deren Gedankengängen ein regsamer tätiger Wille alles, fromme Versenkung in Gott nichts Wesentliches bedeutete (ganz im Sinne englischer Welt- und Lebensauffassung, wie es ihrer Herkunft entsprach), trieb durch die schroffe Betonung der Verantwortlichkeit des freien menschlichen Willens und zugleich der ungebundenen Willkür Gottes die notwendigen Antinomien, die in aller höheren Religiosität schlummern, in extremer Weise auf die Spitze. Wie mußten sie auf den schweren deutschen Ernst, auf den grübelnden Tiefsinn des Erfurter Mönches wirken, der mit zitterndem Gewissen ihre sittlichen Ansprüche zu erfüllen, mit unablässig bohrendem Nachsinnen ihre Geheimnisse zu enträtseln suchte! Wie sollte er sich ein Herz fassen zu einem Gotte, auf dessen Gnade auch der nicht mit Gewißheit zählen durfte, dessen ganzes Leben ein einziges krampfhaftes Bemühen war, sich ihrer würdig zu erweisen? Bedeutet da «Gerechtigkeit» nicht viel mehr einen Schrecken als eine Hoffnung? Mußte der nicht verzweifeln, der so ein ganzes Leben voll ewiger Ungewißheit, voll vergeblicher endloser Mühen vor sich sah?

Unser Verständnis dieser Dinge – und damit der religiösen Gedankenwelt, mit der sich Luther im Kloster tagtäglich herumschlug – hat sich ohne Zweifel durch die eifrige Erforschung der spätscholastischen Theologie in den letzten Jahrzehnten außerordentlich vertieft. Und doch: in den Kern des Lutherproblems gelangt man mit alledem nicht. Jene innere Gegensätzlichkeit der religiösen Vorstellungen war Unzähligen gleich Luther als Problem aufgegeben. Warum hat sie gerade bei ihm – und nur bei ihm – zu so gewaltigen Explosionen geführt? Woher stammt das neue Gewissen, das ihn diese Nöte so unendlich viel tiefer und unmittelbarer empfinden ließ als alle Welt rings um ihn her – im Grunde als alle Theologen seit den Tagen Augustins? Erst damit gelangen wir an das letzte Geheimnis seiner Größe: daß er unendlich viel mehr war als ein Theologe: daß er – rätselhaft genug für einen Menschen des 16. Jahrhunderts, d.h. am Endpunkt einer anderthalbtausendjährigen Entwicklung des Christentums – imstande war, trotz aller scholastischen Herkunft und Erziehung in einem höheren, letzten Sinn doch unabhängig zu bleiben von aller Lehrtradition überhaupt; imstande, die ewig-ursprünglichen Geheimnisse des Göttlichen auf ursprünglich-eigene Art neu zu erfassen. Erst jenseits der theologischen Probleme, ja jenseits aller rationalen Begriffe und ihrer Zweifelsfragen überhaupt, eröffnet sich der Blick auf das religiöse Urphänomen. In Worte läßt es sich nicht fassen, aber wenigstens ein Nachhall davon zittert hier und dort ergreifend nach.

Als spräche er von einem Dritten, so allein wagt er davon zu erzählen: «Ich kannte einen Menschen, der hat mir gesagt, er habe diese Qualen öfter erduldet, freilich immer nur für ganz kurze Zeit, aber so groß und höllisch, daß keine Sprache davon reden, keine Feder davon schreiben, ja daß es keiner glauben kann, der es nicht selbst erlebt hat. Sie waren von einer Art, daß wenn sie sich noch weiter gesteigert oder auch nur eine halbe Stunde gedauert hätten, ja auch nur den zehnten Teil einer Stunde, so wäre der Mensch ganz und gar vergangen, und alle seine Gebeine wären zu Asche geworden. In solchen Augenblicken erscheint Gott in seinem schrecklichen Zorn und vor ihm auf einmal alle Kreatur. Da gibt es kein Entrinnen, keinen Trost, nicht drinnen noch draußen, sondern nichts als Anklage und Verdammnis aller. Da schreit der Mensch auf in seiner Angst wie geschrieben steht: ‹Ich bin dahingeschmettert vom Blicke deines Auges!› Ja, er wagt nicht einmal zu rufen: ‹Ach, Herr, handle nicht in deinem Zorn mit mir!› In solchen Augenblicken – seltsam zu sagen – vermag die Seele nicht zu glauben, es könne ihr je Erlösung werden; nur das eine merkt sie: noch ist die Strafe nicht vollendet! Aber es ist ja eine ewige Strafe, und unmöglich, sie für eine zeitliche zu halten! So bleibt dem Menschen nichts als die nackte Sehnsucht nach Hilfe und der entsetzliche Schrei der Angst; aber er weiß nicht einmal, an wen er sich um Hilfe wenden soll. Da ist die Seele ausgespannt am Kreuze mit Christus, daß du könntest alle ihre Knochen zählen. Und kein Winkel ist darin, der nicht erfüllt wäre mit schrecklichster Bitterkeit, mit Furcht, mit Angst, mit Schwermut – aber dies alles unendlich, ewig.»

Was ist das? In welche Abgründe des Menschlichen blicken wir hier hinein? Da ist nichts von der entzückten Schau der himmlischen Herrlichkeit, die uns romanische Mystiker, nichts von der seligen Abgeschiedenheit, der gelassenen Versenkung in das unendliche Gottwesen, die Meister Ekkehard und Tauler uns preisen. Da ist aber auch nichts von dem Gesetze und Regeln erteilenden, durch eine wohlgeordnete kirchliche Beamtenhierarchie (einen festen Instanzenzug gleichsam) mit dem einzelnen Menschen verkehrenden Gott der mittelalterlichen Kirche, zu dessen Thron tausend Stufen der Devotion hinanführen. Da ist Gott als das mysterium tremendum, das «schauerliche Geheimnis», als das er von Anbeginn aller Religion den Menschen erschienen ist – ebenso früh oder früher noch, als da sie in ihm den Quell höchster Beseligung des Menschen erkannten. Furchtbar ist es, wenn Gott zum Menschen redet: ein «greulicher Gruß – gleich als wir sehen, wenn der Blitz einen Baum oder Menschen schlägt». «Willst du wissen Ort, Zeit und Art, in der Gott zu uns redet? So höre: ‹Wie der Löwe hat er alle meine Gebeine zerbrochen.› Nicht so unmittelbar spricht seine Majestät mit uns, daß der Mensch ihn sehen könnte, ja: ‹Kein Mensch wird am Leben bleiben, der mich siehet.› Auch nicht ein kleines Fünkchen seiner Rede erträgt unsere Natur. Darum nämlich spricht er durch Menschen mit uns, weil wir alle es nicht ertragen, ihn selber zu hören. Und was weiter? Könnte etwa die Majestät Gottes mit dem natürlichen Menschen freundlich reden, sie habe ihn denn zuvor getötet und ausgedörrt, daß sein übler Gestank nicht mehr die Luft verpestet? Denn er ist ein verzehrendes Feuer.» «Er schlingt einen hinein und hat solche Lust daran, daß er aus seinem Eifer und Zorn dazu getrieben wird, die Bösen zu verzehren.» «Ja, er ist erschrecklicher und greulicher denn der Teufel. Denn er handelt und gehet mit uns um mit Gewalt, plaget und martert uns und achtet unser nicht.» «Denn das vermag kein Mensch auf Erden zu lassen: wenn er recht an Gott gedenket, so erschrickt ihm das Herz im Leibe und liefe wohl zur Welt aus. Ja, sobald er Gott höret nennen, so wird er scheu und schüchtern.»

Das sind nun freilich religiöse Bilder und Empfindungen, die den «modernen» Menschen mit all den rationalisierten und nachempfundenen Gefühlen und Vorstellungen, die er seine Religion nennt, höchst fremdartig, wie ein Stück Urgestein aus grauer Vorzeit anstarren mögen. Aber das ist eben das Kennzeichen geschichtlicher Helden, daß sie nicht unsern Maßstäben und Idealen sich fügen, sondern eigene Maßstäbe und Ideale in die Welt bringen. Wer die geschichtliche Leistung Martin Luthers, des Kämpfers, in ihrer vollen Größe verstehen will, muß sich diesen dunklen, unheimlichen Untergrund seiner Frömmigkeit recht deutlich machen; erst dann tritt die ganze Kühnheit seines Glaubensentschlusses, die ganze unerhörte Kraft dieser Seele zutage, die das kindliche Vertrauen zu diesem alttestamentarischen Gott des Schreckens als «unserem lieben Vater» sich in schweren Seelennöten immer neu erstritt (im Kampfe mit Gott selbst!) und zum A und O ihres Lebens machte. Denn es steht ja durchaus nicht so, daß diese Kämpfe auf die Klosterzeit oder gar auf deren erste Jahre sich beschränkt hätten, um dann allmählich dank einer neuen Erkenntnis vom evangelischen Heil abzusterben. Von früher Jugend an bekennt der Reformator, durch solche «Anfechtungen» verfolgt zu sein. Was er im Gewitter vor Erfurt erlebte, war sicherlich im Kern nichts anderes als ein besonders plötzlicher und heftiger Anfall des religiösen Schreckens, dessen nahe Verwandtschaft mit der urtümlichen Volksreligiosität, mit der irrationalen Furcht vor dem «Unheimlichen», uns erst die neuere religionspsychologische Forschung recht verdeutlicht hat. Er war und blieb die tiefreligiöse Natur, die «jedes fallende Blatt» zuzeiten erschrecken konnte, weil er in seinem Wehen den Atem Gottes zu spüren meinte. Bis in seine letzten Lebensjahre kehrten diese Erschütterungen immer von neuem wieder, als Anfechtungen bald Gottes, bald des Teufels, seines gefürchteten Hausgenossen, mit dem er «so manchen Scheffel Salz gegessen» hat. Ja, es scheint, daß sie ihre volle Furchtbarkeit erst zu einem Zeitpunkt gewannen, als er die grundlegenden Einsichten seiner neuen, reformatorischen Erkenntnis bereits errungen hatte; am schwersten haben sie ihn offenbar in den Jahren bedrängt, als er sich öffentlich von Rom losriß. Sein Leben blieb ein bebender Gang an der Seite seines Gottes, jeden Augenblick gewärtig neuer Seelenstürme. Das eigentliche Geheimnis seines Prophetentums aber ist die höchst paradoxe, weil religiös begründete Tatsache, daß eben jenes Erzittern des natürlichen Menschen für ihn zum nie versiegenden Quell freiströmender Kraft wurde, welche die Welt überwindet, weil nichts mehr in der Welt sie zu erschrecken vermag. Je heftiger die Stürme im Innern zuzeiten tobten, um so größer war die Zuversicht des Propheten auf seine Sendung; denn um so gewisser ward er sich selber der heiligen Flamme, die seine Seele läuternd durchglühte.

Freilich: auf diese Höhe der Selbstgewißheit zu gelangen, dazu bedurfte es einer Durchgeistigung jenes religiösen Urerlebnisses, in der nun eben die eigentliche geschichtliche Leistung der Klosterjahre bestand. Denn nur weil und nur insofern es sich hier um geistige Vorgänge im höheren und höchsten Sinne handelt, sind überhaupt diese ganz persönlichen Erlebnisse geschichtlich bedeutsam geworden. Möglich immerhin, daß ihre psychologischen Wurzeln – wie die so vieler geistiger Erscheinungen von hohem Rang – bis in jene dunklen Regionen des Seelenlebens hinabreichen, in denen Seelisches und Körperliches ununterscheidbar miteinander sich verflicht. Wenigstens seit dem Wartburgaufenthalt von 1521 hören wir viel von schwerer körperlicher Krankheit (Steinleiden und chronischen Verdauungsstörungen, zeitweise verbunden mit Herzkrämpfen), zu der er den Grund in der übertriebenen Askese der Klosterzeit gelegt haben mag und die den kräftigen Körper des Bauernsohnes lange vor der Zeit zerrüttete; aus der Klosterzeit selbst wird freilich nichts derart berichtet. Immerhin könnte eine starke nervöse Reizbarkeit, wie sie allen großen Leidenschaftlichen eigen ist, schon damals bestanden haben. Erfurter Brüder, die ihm nicht wohlwollten, klagten gern über seine Heftigkeit. Aus alledem mag, wer da will, eine gewisse körperliche Veranlagung zu seelischen Verstimmungen herauslesen. Für die geschichtliche Würdigung wäre das herzlich belanglos. Geistige Minderwertigkeit läßt sich vielleicht aus körperlichen Ursachen zureichend erklären; das Genie hat einen Teil seiner Größe darin, daß ihm auch körperliche Hemmungen nur zum äußeren Anlaß werden, weiter und tiefer als andere die Nöte des Menschlichen und die Möglichkeit ihrer Überwindung zu erleben, gewaltiger noch den Geist kämpfen zu lassen wider das Fleisch, neue und noch hellere Funken zu schlagen aus dem toten Gestein. Die geschichtliche Bedeutsamkeit seines Werkes ist darum letztlich unabhängig von der psychologischen Entstehungsgeschichte: nicht als seelisches, sondern als geistiges Phänomen, losgelöst von seinem menschlichen Träger, wirkt es in die Geschichte hinaus.

Martin Luthers religiöse «Anfechtungen» haben ihre geschichtliche Bedeutung darin, daß sie zum seelischen Stachel einer Gedankenarbeit von gewaltigem Umfang und unvergleichlicher Tiefe geworden sind. So sehr, daß im einzelnen sein religiöses Ringen um die Versöhnung mit Gott sich gar nicht mehr abtrennen läßt von dem theologischen Ringen um das rechte Bibelverständnis. Merkwürdigerweise hat diese geistige Durchleuchtung, die vielseitige Entfaltung einer theologischen Lehre, die ursprüngliche Glut und Leidenschaftlichkeit des religiösen Erlebnisses niemals zu schwächen vermocht, ja zunächst offenbar – im Kampfe mit äußeren und inneren Widerständen – eher noch gesteigert; das gibt diesem ganzen Leben seine stürmische Wucht, seinen heroischen Zug.