Freimaurerei und die Schweiz - Armin Landerer - E-Book

Freimaurerei und die Schweiz E-Book

Armin Landerer

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Beschreibung

Außenstehende wissen über die Freimaurerei in der Regel nichts, wenig oder Falsches. Die Freimaurerei war immer und ist auch heute noch eine Projektionsfläche für Falschbehauptungen oder Verschwörungstheorien, während ihr Einfluss auf die Geschichte der Schweiz und die moderne Gestalt des Bundesstaates nur äußerst selten ins Bewusstsein tritt. Dieses Buch ermöglicht einen neutralen Einblick in diese über 300 Jahre alte Bruderschaft, indem ihre Wesensmerkmale, ihre reiche Geschichte, ihre Wertvorstellungen und Grundlagen vorgestellt werden. Faktenbasiert werden die politischen Prozesse in der Schweiz vom Ancien Régime bis zum Sonderbundskrieg 1847 beschrieben. Der Einfluss der Freimaurerei war erheblich und im Kulminationspunkt - der Erarbeitung und Verabschiedung der ersten Bundesverfassung 1848 - unübersehbar. Freimaurer haben einen maßgeblichen Beitrag zu einem politischen System geleistet, das dem ressourcenarmen neuen Bundesstaat durch theoretisch klare und zugleich pragmatisch taugliche Gedankenführung eine beispiellose und rasche Entwicklung zu einem der geachtetsten und reichsten Länder der Welt ermöglichte.

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FREIMAUREREI UND DIE SCHWEIZ

WESENSMERKMALE, GESCHICHTE UND EINFLUSS AUF DIE ENTSTEHUNG DES MODERNEN BUNDESSTAATES 1848

ARMIN LANDERER

Print: ISBN 978-3-96285-043-2

eBook EPUB: ISBN 978-3-96285-169-9

1. Auflage 2021

Copyright © by Salier Verlag, 2021

Alle Rechte vorbehalten. All Rights reserved.

Satz: InDesign im Verlag

Vorwort: Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Reinalter, Innsbruck

Einbandgestaltung: Christine Friedrich-Leye

Herstellung: Salier Verlag, Bosestr. 5, 04109 Leipzig, DE

Printed in the E.U.

www.salierverlag.de

Was ist Freimaurerei?

Voltaire, Franklin, Goethe, Shackleton, Churchill:

Sie alle standen als Freimaurer auch für die folgenden Werte …

Daheim ist sie Güte.

Im Geschäft ist sie Ehrenhaftigkeit.

In Gesellschaft ist sie Höflichkeit.

Für den Unglücklichen ist sie Mitgefühl.

Gegen das Unrecht ist sie Widerstand.

Für den Schwachen ist sie Hilfe.

Dem Gesetz gegenüber ist sie Treue.

Gegen den Unrecht-Tuenden ist sie Verzeihen.

Für den Glücklichen ist sie Mitfreude.

Vor der Natur ist sie Ehrfurcht und Liebe.

(Autor unbekannt)

INHALT

Vorwort

1. Einleitung

2. Geschichte und Verbreitung

2.1 Eine kurze Geschichte der Freimaurerei

2.1.1 Der Keim

2.1.2 Ausbreitung in die Welt

2.1.3 Wirkungen der Entwicklung

2.2 Bedeutung der Kolonialisierung für die globale Verbreitung der Freimaurerei

2.3 Freimaurerei und die internationale Bruderkette: ein globales Netzwerk

2.3.1 Grundzüge der freimaurerischen Bruderschaft

2.3.2 Heikle Punkte in Ausformungen der Grundzüge

2.3.3 Freimaurerische Werkzeuge zur Überwindung heikler Punkte

2.4 Freimaurerei im Konfliktfall – Krieg und Feldlogen

3. Wesensmerkmale der Freimaurerei

3.1 Was ist das Wesen der Freimaurerei?

3.2 Esoterik in der Freimaurerei

3.3 Symbolik in der Freimaurerei

3.4 Wohltätigkeit der freimaurerischen Logen

3.5 Repräsentative freimaurerische Werke im Bereich der Kunst

3.5.1 Beispiel Architektur: Logengebäude Lindenhof in Zürich

3.5.2 Beispiel Kunst: Eingangshalle Amtsgebäude Stadtpolizei Zürich

3.5.3 Beispiel Literatur: Ernst und Falk, Gespräche für Freimaurer

3.5.4 Beispiel Musik: Die Zauberflöte (Wolfgang Amadeus Mozart)

3.6 Freimaurerei und ihr Einfluss auf ausgewählte welthistorische Ereignisse

3.6.1 Die Aufklärung (1650–1800)

3.6.2 Die Revolutionsepoche im 18. und 19. Jahrhundert

3.6.3 Die Amerikanische Revolution und Unabhängigkeit (1765–1789)

3.6.4 Die Französische Revolution (1789–1799)

3.6.5 Der südamerikanische Befreiungskampf gegen die Spanier

3.7 Freimaurerei und ihre Bedeutung: gestern – heute – morgen

4. Freimaurerei in der Schweiz

4.1 Entwicklung der Freimaurerei in der Schweiz

4.2 Schweizer Freimaurer in den politischen Prozessen in der Schweiz vom Ancien Régime bis zum Sonderbundskrieg

4.3 Das Ancien Régime in der Schweiz (1712–1798)

4.4 Die „Franzosenzeit“: Helvetik und Mediation (1798–1814)

4.5 Die Schweiz als Staatenbund (1814–1847)

4.6 Der Sonderbundskrieg (1847)

5. Schweizer Freimaurer und die Entstehung des modernen Bundesstaates 1848

5.1 Die Erarbeitung und Verabschiedung der ersten Bundesverfassung (1848)

5.2 Gründung des neuen Schweizer Bundesstaates (1848)

5.3 Der erste Schweizer Bundesrat von 1848: dominiert von Freimaurern

6. Die freimaurerischen Wurzeln der politischen Architektur der Schweiz

6.1 Das parlamentarische Zweikammersystem

6.2 Direkte Demokratie – die Schweiz als Konsensdemokratie

6.3 Föderalismus

6.4 Gewaltentrennung

6.5 Humanitäre Tradition

6.6 Konkordanz

6.7 Menschenrechte

6.8 Neutralität

6.9 Rechtsstaatlichkeit

7. Antimasonismus

7.1 Die katholische Kirche

7.1.1 Die grundsätzlichen Dimensionen

7.1.2 Der historische Verlauf

7.2 Verschwörungstheorien

7.2.1 Erscheinungsformen von Verschwörungsvermutungen

7.2.2 Hintergründe im Zustandekommen einer Entzweiung

7.2.3 Zur Paradoxie der erzeugten Realität

7.3 Verbot in kommunistischen und anderen autoritär geführten Staaten

7.3.1 Die frühe Freimaurerei in Russland

7.3.2 Die Zeit der Revolutionen

7.3.3 Die Sowjetunion und ihre Auflösung

7.4 Verfolgung der Freimaurer durch die Nationalsozialisten im „Dritten Reich“

7.4.1 Fragestellung und Betrachtungsweisen

7.4.2 Einfluss der Wertesysteme

7.4.3 Die Situation unter dem Nationalsozialismus

7.4.4 Systemische Besonderheiten

8. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

8.1 Einblicke

8.2 Freimaurerisches Wirken in der historischen Entwicklung

8.2.1 Die Freimaurerei widmet sich der Aufklärung

8.2.2 Die Staaten in Amerika vereinigen sich

8.2.3 Frankreich rauft sich zusammen

8.2.4 Südamerika befreit sich von seinem Joch

8.3 Die Freimaurerei in der Schweiz

8.3.1 Die Eidgenossenschaft wird ein Staat

8.3.2 Geltung der in der Untersuchung freigelegten Grundzüge

8.4 Ausblick

9. Quellen- und Literaturverzeichnis

9.1 Literaturverzeichnis

9.1.1 Allgemeines

9.1.2 Freimaurerei

9.1.3 Welthistorische Ereignisse

9.1.4 Geschichte und Politik der Schweiz

9.1.5 Persönlichkeiten

9.2 Quellen

9.2.1 Internetquellen

9.2.2 Bildnachweis

10. Anhang

10.1 Zeittafel Freimaurerei

10.2 Glossar – Freimaurerische Begriffe

10.3 Liste der Schweizer Logen

11. Register

Personenregister

Sachregister

Anmerkungen

Über den Autor

VORWORT

VON HELMUT REINALTER

Bücher über die Geschichte der Freimaurerei unter dem Aspekt ihres Einflusses auf Politik, Gesellschaft und Kultur sind selten und nicht einfach zu schreiben, weil der Einfluss der Bruderkette ein indirekter, manchmal aber auch ein direkter war. Dieser lässt sich allerdings nur schwer nachweisen. Die Gegner der Freimaurerei haben den angeblich großen Einfluss der Bruderkette immer dämonisiert und als politische Macht missverstanden. So sind im Laufe der neueren Geschichte zahlreiche Verschwörungstheorien bzw. Verschwörungserzählungen entstanden, die als Teil eines weltweiten Antimasonismus und Antisemitismus gesehen werden und an Aggressivität und Polemik bis heute nichts eingebüßt haben.

Eine einigermaßen seriöse und realistische Einschätzung der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Wirkung der Freimaurer bezieht sich in erster Linie auf die Selbstbildung der Brüder und die Kongruenz ihres Selbsterziehungsprogramms, in der Symbolsprache der Freimaurerei wäre dies die Arbeit am „rauen Stein“, sowie auf ihre Ziele und Auseinandersetzung mit den wesentlichen Denkströmungen der jeweiligen Zeit. Neben politischen und gesellschaftlichen Strukturen spielen auch einzelne Persönlichkeiten in der Geschichte der Bruderkette eine nicht unwesentliche Rolle. So lässt sich, wie die moderne Freimaurerforschung nachweisen konnte, nur an einzelnen konkreten Beispielen der tatsächliche Einfluss der Freimaurerei auf die gesellschaftliche Entwicklung erklären. Dabei zeigt sich bei aller Vorsichtigkeit der Beurteilung und Einschätzung, dass die Freimaurerei bei der Auflösung der frühneuzeitlichen Dogmen, in der Aufklärung, in der Säkularisierung, in der Amerikanischen und Französischen Revolution, in den verschiedenen Reform- und Freiheitsbewegungen, in den bürgerlichen Revolutionen im 19. Jahrhundert, bei der Herausbildung des Liberalismus, der westlichen Demokratien, des modernen Parlamentarismus, des Sozialstaates und bei der Verbreitung der Menschenrechte, Menschenpflichten und Friedensbemühungen eine Rolle spielte. Diese war zwar keine tragende, wenngleich die freimaurerischen Ideen der Humanität, Aufklärung und Toleranz in den geistesgeschichtlichen und politischen Entwicklungen seit der Frühen Neuzeit bedeutsam waren. Die Freimaurerei trat nicht als Beweger und Auslöser in Erscheinung, wohl aber als Ermutiger und Verstärker, gleichsam wie ein Katalysator. In diesem Sinne war die Bruderkette mit ihren Grundsätzen, Ideen, Zielen und Handlungsmustern am politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungsprozess direkt oder indirekt beteiligt. Dieses Engagement steigerte sich vor allem dann, wenn die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse im Gegensatz zu den masonischen, humanitär-ethischen Anliegen standen.

Das vorliegende Buch von Armin Landerer, eine Überblicksdarstellung, befasst sich vorwiegend auf Literaturbasis mit der Freimaurerei in der Schweiz und insbesondere mit ihrer Geschichte, ihren Grundsätzen, Werten und mit ihrem Einfluss auf die Entstehung des modernen Bundesstaates 1848. Die Arbeit beginnt mit einer kursorischen, gekürzten Geschichte und Verbreitung der Bruderkette, zeigt deren Ziele, Grundsätze, Werte und Wesensmerkmale auf und wendet sich dann dem Hauptteil des Buches zu, nämlich der Freimaurerei in der Schweiz. Dieser Hauptabschnitt enthält neben der historischen Entwicklung die Tätigkeit der Schweizer Brüder in der Politik im Zeitraum vom Ancién Regime bis zum Sonderbundskrieg sowie die Rolle der Brüder in der Entstehung des modernen Bundesstaates 1848. Das Buch wird abgerundet und noch ergänzt durch die Darstellung der politischen Architektur der Schweiz (Demokratie, humanitäre Tradition, Menschenrechte, Neutralität und Rechtsstaatlichkeit), des Antimasonismus und der Verschwörungstheorien dieser Zeit. Am Schluss steht eine komprimierte Zusammenfassung mit Schlussfolgerungen des Autors.

Die vorliegende Arbeit leistet nicht nur zur neueren Geschichte der Freimaurerei in der Schweiz, sondern auch zur Wirkungsgeschichte der Bruderschaft am Beispiel der Entstehung des Bundesstaates 1848 und der ersten Bundesverfassung einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Freimaurergeschichte.

Innsbruck, im August 2021

Helmut Reinalter

1

EINLEITUNG

Die Freimaurerei steht in der Öffentlichkeit nach wie vor in einem Kreuzfeuer aus den vielfältigsten Betrachtungsperspektiven heraus, während ihr enger Bezug zur Geschichte der Schweiz und ihrer modernen Gestalt nur äußerst selten ins Bewusstsein tritt. Über die Geschichte der Schweiz, über ihre Entwicklung zum modernen Bundesstaat sowie wichtige, diesen Prozess beeinflussende Persönlichkeiten ist umfangreiche Literatur verfügbar. Worüber aber nur sehr wenige Forschungsergebnisse vorliegen, ist der Einfluss der Freimaurerei – oder vielmehr der Einfluss von Freimaurern und ihres freimaurerischen Gedankenguts – auf diesen Prozess in der Schweiz. Dabei war der Einfluss der Freimaurerei sehr erheblich und im Kulminationspunkt, nämlich in der Erarbeitung und Verabschiedung der ersten Bundesverfassung 1848, unübersehbar, während die eigentliche Quelle und die internationale Verflochtenheit in diesem Gedankengut kaum je ins Bewusstsein treten. Mit dem hier vorgelegten Buch soll diese Wissenslücke geschlossen werden, die genannten Einflüsse etwas näher begreifen lassend.

Auf die Entstehung des modernen Bundesstaates haben aktive Freimaurer aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft – insbesondere aus der Rechtswissenschaft – als politische Funktions- und Amtsträger direkt einen maßgeblichen Einfluss ausgeübt sowie auch indirekt als Wirtschaftsführer oder als Rechtsgelehrte. Diese Männer waren in der Lage, in einer der menschlich-politischen Situation gründlich angemessenen Weise freimaurerische Ideen und Ideale zu verankern – insbesondere in der ersten Bundesverfassung von 1848. Dadurch haben sie einen maßgeblichen Beitrag geleistet zu einem politischen System, das dem ressourcenarmen neuen Bundesstaat durch theoretisch klare und zugleich pragmatisch taugliche Gedankenführung eine beispiellose und rasche Entwicklung zu einem der geachtetsten und reichsten Länder der Welt ermöglichte.

Die Grundfragen im vorliegenden Buch sind also: Wer waren diese Männer? Was ist die Basis ihrer Ideen, Ideale und Überzeugungen? Wie sind sie vorgegangen? Wie stehen sie im weiteren Kontext? Welche Art von Konflikten musste überwunden werden, bis die Schweiz ihre definitive, aber doch flexible Form als föderale Demokratie gefunden hatte? Zugleich soll der Blick über die Schweiz hinaus auf einige internationale Zusammenhänge sowie auf methodische Fragen gerichtet werden, um das implizierte Geistesleben etwas zu erhellen. Das ist der Fragenkomplex, der in der Folge behandelt wird. Die Leserinnen und Leser werden mitgenommen auf eine spannende Reise in die politisch, wirtschaftlich und kulturell bewegte Zeit des 18. sowie in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, die aber ihre Ausläufer bis in unsere Epoche hat. Die Protagonisten und ihre Ideen und Ideale werden pointiert porträtiert, es wird Einblick gewährt in den engagiert geführten Wettbewerb politischer Ideen und Ideologien und es werden die freimaurerischen Ideale verständlich aufgezeigt, die das Fundament der heutigen Schweiz bilden. Dadurch kann transparenter werden, woher diese Ideale stammen, welche historischen Ereignisse sie geformt haben oder, mit etwas anderen Worten, welche Persönlichkeiten mit freimaurerischem Gedankengut und entschlossenem Handeln das Entstehen der modernen Schweiz beeinflusst haben.

Als Außenstehender weiß man in der Regel über die Freimaurerei nichts, wenig oder Falsches. Die Freimaurerei war immer und ist auch heute noch eine Projektionsfläche für Falschbehauptungen oder Verschwörungstheorien. Mit diesem Buch soll die Freimaurerei nicht glorifiziert werden. Es soll vielmehr ein neutraler Einblick in diese über 300 Jahre alte Bruderschaft ermöglicht werden, indem ihre Wertvorstellungen und Grundlagen vorgestellt werden und faktenbasiert der Einfluss ihrer Ideen und Ideale durch einzelne Freimaurer auf die politischen Prozesse in der Schweiz aufgezeigt wird. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass die Freimaurerei zwar innerlich in geistiger Strenge eine Ausrichtung auf die Universalität pflegt, aber äußerlich nie als organisierte, abgestimmte oder personell koordinierte Einheit auftrat oder wirkte. Vielmehr konnte und kann jeder Freimaurer gemäß seinen eigenen Überzeugungen, seinem Naturell und seinen Gestaltungsmöglichkeiten in seinem persönlichen Bereich – im Privatleben, im beruflichen Umfeld und in öffentlichen Funktionen – Einfluss ausüben. Diese Gestaltungsmöglichkeiten nutzten bereits damals einige Freimaurer sehr engagiert und zielorientiert, indem sie nebst ihren beruflichen Kompetenzen und Erfahrungen auch freimaurerisches Gedankengut – unter anderem basierend auf den fünf freimaurerischen Grundpfeilern Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität – in ihr Wirken integrierten. Um diese Gestaltungsmöglichkeiten ihrem eigentlichen Sinn gemäß verstehen zu können, ist es selbstverständlich notwendig, die freimaurerische Wesensart in einem allgemeineren Lichte als nur in einem Fokus auf die Schweiz darzustellen.

Thematisch ist die vorliegende Arbeit gegliedert in Kapitel, die in sich weitgehend abgeschlossen sind, sodass die Leserschaft auch einzelne Themen selektiv auswählen kann. Der Verständlichkeit und Übersichtlichkeit halber wird der Themenkomplex nicht chronologisch bzw. epochenbezogen angegangen, sondern themenspezifisch aufbereitet.

Nach dieser Einführung wird zuerst die Welt der Freimaurerei kurz vorgestellt: ihre Geschichte, ihre Inhalte und Wertvorstellungen, die Entwicklung der Freimaurerei als eine weltumspannende Bruderkette, die spezifische Reaktionen hervorruft (Kapitel 2). Sodann werden die Wesenskerne der Freimaurerei angesprochen, die für sie wesentlichen Quellen und Themen, einige ihrer Ausdrucksformen sowie ihr Einfluss auf ausgewählte welthistorische Ereignisse (Kapitel 3). Anschließend wird die Betrachtung fokussiert auf die Entwicklung der Freimaurerei in der Schweiz und ihr Einfluss auf die politischen Prozesse in der Schweiz vom Ancien Régime bis zum Sonderbundskrieg (Kapitel 4) sowie auf die Entstehung eines modernen Bundesstaates in der Schweiz durch die erste Bundesverfassung (Kapitel 5). Dann wird die politische Architektur der Schweiz in ihre Kernkomponenten aufgebrochen und es werden ihre freimaurerischen Wurzeln beleuchtet (Kapitel 6). In einem vergleichsweise spezifischen Sinne wird die ideologische Gegnerschaft der Freimaurerei auf verschiedenen Ebenen in Betracht gezogen (Kapitel 7). Im abschließenden Teil werden die wichtigsten Erkenntnisse und Fakten für die Leserschaft kurz zusammengefasst und es werden einige inhaltliche Folgerungen daraus gezogen (Kapitel 8).

Diese Arbeit ist der Einwirkung von Freimaurern auf die realen Ereignisse gewidmet. Damit sind zunächst jene Männer gemeint, die in Freimaurerlogen aufgenommen worden waren, bevor sie sich den politischen Zusammenhängen widmeten. Aber wie sich bei der genaueren Betrachtung zeigt, ist letztlich weniger eine „offizielle“ Mitgliedschaft relevant als vielmehr die Fähigkeit von Menschen überhaupt, die Zusammenhänge durch jene Ideen und Maximen anzugehen, welche das freimaurerische Gedankengut in sich birgt. Dieses ist ja nicht die einzige Form von Weisheit solcher Art, sondern gliedert sich in das weitere Weltwissen ein (siehe dazu auch Kapitel 3.1). Somit sollten in dieser Arbeit eigentlich alle Männer gewürdigt werden, die in einer verlässlichen Art und Weise aus der universellen Perspektive heraus denken, die das freimaurerische Gedankengut kennzeichnet. Viele Menschen – etwa Mitstreiter in Kommissionen wie die zur Revision der Bundesverfassung im Frühling 1848 – waren durch die intensive Zusammenarbeit allmählich durchtränkt von dieser Geistesart und wurden so zu freimaurerisch denkenden Individuen, zu „Freimaurern ohne Schurz“ (siehe Glossar, Kapitel 10.2). Es gibt auch Männer, deren Mitgliedschaft in einer Loge nicht zweifelsfrei gesichert ist, die aber ganz klar im freimaurerischen Geiste dachten und handelten. Zur leichteren Identifikation sind in dieser Arbeit die Namen von Freimaurern – mit oder ohne Schurz – jeweils kursiv gestellt.

Armin Landerer

im August 2021

2

GESCHICHTE UND VERBREITUNG

Um die Freimaurerei ranken sich Meinungen der unterschiedlichsten Art, von mysteriösem Geheimwissen munkelnd bis machtsüchtige Verschwörungen witternd. Deshalb muss es hier zunächst darum gehen, die Wirklichkeit des Freimaurertums zur Sprache kommen zu lassen. Dazu wird eine kurze historische Rückblende vorgenommen, die das Anliegen und die Eigenart der freimaurerischen Bemühungen zutage treten lässt. Diese Betrachtung geht aus vom Ganzen und führt hin zu dem Spezifikum, um das es in der vorliegenden Arbeit geht: die Freimaurerei in der Schweiz und ihr weiteres Potenzial.

2.1 EINE KURZE GESCHICHTE DER FREIMAUREREI

Die historische Entwicklung der Freimaurerei verlief in ziemlich klar unterscheidbaren Phasen vom Keimhaften über das Wachstum zu einer Blüte durch Wirkungen.

Baumeister/Architekt im Mittelalter Holzschnitt von Jost Amman 1536

2.1.1 DER KEIM

Um die gedanklichen Ursprünge im historischen Werdegang der Freimaurerei ranken sich zahllose Mythen, Legenden und Vermutungen. Sie sind Ausdruck der Überzeugung, dass der Mensch, praktisch seit es ihn gibt, ein tiefes inneres Bedürfnis nach Universalität in seinem eigenen Handeln hat.1 Ideengeschichtliche Einflüsse der ägyptischen und griechischen Mysterienbünde, des Templerordens, der Rosenkreuzer, der Kabbala sowie des Gnostizismus sind erkennbar und aus diesen Traditionen heraus finden sich auch viele Symbole in der Freimaurerei.2 Als weltliche Vorläufer der Freimaurerei gelten, von der internationalen Freimaurer-Forschung anerkannt, die handwerklichen Bruderschaften mit ihren Bauhütten, die jeweils dort zustande kamen, wo Sakralbauten zu Ehren des Höchsten entstanden, wo Dome und Kathedralen gebaut wurden. Es war also zunächst die Institution der Kirche, die für die wandernden Bauleute als Auftraggeberin wirkte. Das ganz dem Realen zugewandte Brauchtum der Bauhütten hat vieles zum freimaurerischen Gedankengut beigetragen.3 Aber durch den Rückgang derartiger Bauvorhaben seit dem 15. Jahrhundert – nicht zuletzt durch massive Dezimierungen der Bevölkerung als Folge der Pest oder des Dreißigjährigen Krieges – verloren sie einerseits allmählich operativ an Bedeutung, während sie andererseits zunehmend spekulativ4 wurden durch die große Anzahl der „angenommenen Mitglieder“, die nicht direkt eine handwerkliche Tradition verkörperten. Aber mit diesen trat allmählich die operative, handwerkliche Tätigkeit in den Hintergrund und die symbolische Arbeit im Sinne des Bauens an einem unsichtbaren, geistigen Tempel wurde im „neuen Freimaurertum“ zum Ziel der Bemühungen.5 Es ergab sich also eine Wende in der Wahl des Beschäftigungsgegenstands: Der Wesenskeim nahm eine andere Gestalt an. Dadurch wurde es auch notwendig, sich strukturell anders zu organisieren. Als älteste heute noch existierende Freimaurerloge der Welt gilt die ‚St. Mary’s Chapel No. 1‘ in Edinburgh, deren Protokolle bis ins Jahr 1599 zurückgehen. Sie hat sich im Laufe der Zeit von einer reinen Werkloge zu einer Freimaurerloge im modernen Sinne gewandelt. Die Aufnahme von spekulativen Maurern ist ab dem Jahr 1600 nachweisbar.6

Die älteste heute noch existierende Loge „St. Mary’s Chapel No. 1“ in Edinburgh

2.1.2 AUSBREITUNG IN DIE WELT

In Europa verlief die Entwicklung unterschiedlich. Aus England kommend verbreitete sich die Freimaurerei in Europa. In Deutschland und Frankreich warf man den Bruderschaften zunehmend vor, sie würden religiösen und sozialen Aufruhr verbreiten durch die Pflege von geheimen Zusammenkünften in ihren Logen, die Gesetze von Staat und Kirche missachtend. In England bestand die traditionelle operative Freimaurerei etwas länger. Auch sie nahm aber immer mehr Nicht-Freimaurer in ihren Reihen auf, während zugleich das Aufkommen der spekulativen Freimaurerei zu Spannungen mit der ursprünglichen Tradition führte, obwohl diese den geistigen Horizont erweiterte. Dadurch kam der Gedanke auf, den Konflikten zu begegnen durch die Schaffung einer obersten Körperschaft mit der Aufgabe, die Logen regelkonform zu halten. Dies kam in London am 24. Juni 1717 zustande, als sich vier Logen zu einer Großloge zusammenschlossen.7 Bereits 1721 wurde mit Herzog John von Montagu der erste englische Adelige als Großmeister der Großloge von England eingesetzt. Dieser erteilte dem Reverend James Anderson den Auftrag, aus alten gotischen Dokumenten eine Konstitution der 1717 gegründeten ersten Großloge zu verfassen. The Constitutions of the Freemasons erschien 1723 und wurde von Anfang an über den Buchhandel vertrieben. Diese „Alten Pflichten“, wie im Sprachgebrauch der Freimaurer die Verfassung genannt wird, bilden auch heute noch die gültige und verbindliche Grundlage der Freimaurerei.8

„The Constitutions oft the Free-Masons“ erschienen 1723

Durch dieses Erstarken des Freimaurerbundes wurde die britische Großloge führend in Europa und breitete sich zunächst im britischen Inselreich aus. Aber nicht alle Logen schlossen sich der Großloge an. Manche blieben der operativen Linie treu und bildeten als „antients“ eine Opposition zur Großloge von London mit ihren „moderns“.9 Diese Spaltung ist nicht bloß ein Zufall, sondern ein beispielhaftes Symptom der damaligen gedanklichen Situation. Um dies zu erläutern, muss kurz ausgeholt werden.

Im geschichtlichen Verlauf der individualpsychologischen und gesellschaftlichen Entwicklung Europas erscheint das 18. Jahrhundert als gekennzeichnet durch den Aufbruch von vielen Neugierden und Bemühungen, um die Kluft zu überbrücken, die sich seit der Scholastik aufgetan hatte zwischen dem an der materiellen Welt sich orientierenden Verstand und seinem letzten Hintergrund – also zwischen dem auf die Dingwelt begrenzten Wissenkönnen und dem entsprechenden Glaubenmüssen in Bezug auf den letztlich übergeordneten Gesamtzusammenhang. In der Grauzone zwischen diesen beiden ideellen Bereichen hatten sich religiöse Autoritäten und politische Mächte eingenistet, die der Transparenz im Wege standen. Die vielen Versuche zur Überwindung der Spannungen durch eine neuartige, umfassendere Rationalität und Ausformung der Vernunft bilden den Impuls der Aufklärung als historischer Epoche mit ihrem brodelnden kulturellen Leben.10 In Immanuel Kant zeigt sich die ideelle Spannung sehr klar als hochdifferenzierte mentale Technik zur Erfassung der Wahrnehmung von Dingen durch die dazu geeigneten Begriffe, während zugleich das „Ding an sich“ und der Gesamtzusammenhang unerkennbar bleiben muss. Kant war durch die radikale Kritik von David Hume an der Metaphysik aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geweckt worden,11 was ihn zu seiner kritischen Transzendentalphilosophie bewegte. Aber auch Hume – und das Denken in England überhaupt – war sehr an die Welt der Erscheinungen gefesselt. Weil bis heute noch weitgehend daran geglaubt wird, dass jedes Erkennen durch eine äußerliche Wahrnehmung erfolgt, kann immer noch kein Konsens gefunden werden, wie sich diese ideelle Differenz in kompromissloser Weise überbrücken ließe. Johann Wolfgang von Goethe hat die Lage trefflich und knapp gekennzeichnet in Faust I, in der Schülerszene (Vers 1936−1940):

Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,

Sucht erst den Geist herauszutreiben,

Dann hat er die Teile in seiner Hand,

Fehlt, leider! nur das geistige Band.

Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)

Diese Differenz grundbegrifflich kohärent zu fassen, war auch den Freimaurern im England des 18. Jahrhunderts nicht ohne Weiteres möglich, sodass ihre Auffassungen vielgestaltig blieben. Aber in England hatte sich weniger Widerstand gegen die Freimaurerei geregt und die Logen waren führend in der Bemühung, unterschiedliche Interpretationen miteinander zu vereinbaren und ihre Träger gesellschaftlich zu organisieren. So konnten die Freimaurer ungehindert ausstrahlen – zunächst auf ein Europa, das in seinen geistigen Anstrengungen noch wenig soziale Einigung zustande bringen konnte. Nach wie vor bildet die erste Großloge von London in formal-organisa­torischer Hinsicht den Ausgangspunkt für alle regulären Freimaurerlogen.12

In den Ländern Europas – zunächst in Frankreich (ab 1732), den Niederlanden (ab 1731), Deutschland (ab 1737) und Österreich (ab 1742) – begann der Freimaurerbund in unterschiedlicher Weise Fuß zu fassen. Dabei spielten staatliche Vorschriften und Randbedingungen stets eine große Rolle13 – wobei in der Schweiz, besonders im alemannischen Teil, eine bemerkenswerte Toleranz gegenüber den freimaurerischen Tätigkeiten herrschte.14 Auf schweizerischem Boden wurde 1736 in Genf durch einen Engländer die erste Loge gegründet. In Frankreich breitete sich die Freimaurerei sehr rasch aus – unter anderem, weil man Mittel und Wege fand, um die einst verbotene Aufnahme von Frauen zu umgehen, aber auch weil die päpstlichen Bannbullen nicht zur Anwendung gelangten, da das Parlament in Paris sie nie ratifizierte.15 Zu den Mitgliedern der französischen Logen zählten – etwas anders als in England – weniger die Adeligen, sondern Intellektuelle von Rang und Namen, die das Kultur- und Geistesleben nachhaltig beeinflussten. So wurde in Frankreich die Freimaurerei zum Inbegriff der geistigen und kulturellen Bewegung des 18. Jahrhunderts, der Aufklärung, und konnte sich bis in die höchsten sozialen Ränge ausbreiten.16

Auch in Deutschland kamen die ersten Logen aus England, zunächst die 1737 gegründete und 1740 umbenannte Loge „Absalom“ in Hamburg, die hier jedoch bald typisch deutsche Züge annahmen: formal eine straffe Organisation17 und inhaltlich ein romantischer Geist mit einer Neigung zum Transzendenten.18 Bald vervielfachten sich die Logen, wurden zum Treffpunkt von Adepten enorm vieler Spielarten und entwickelten teils eigene Wege, die sich im deutschen Idealismus dann auch philosophisch und künstlerisch manifestierten. In der Gesamtbewegung traten sozusagen zwei kräftige Seitenflügel auf. Es war einerseits 1776 der von Adam Weishaupt begründete Illuminatenorden aus französisch-materialistischem Aufklärungsgedanken heraus mit dem Ziel, als reaktionär empfundene Orden wie die Rosenkreuzer und die machtvollen Jesuiten zu bekämpfen.19

Adam Weishaupt (1748–1830)

Zunächst hatten die Illuminaten nichts mit dem Freimaurertum zu tun, aber es gelang ihnen, einige Logen zu infiltrieren und initiatorische Riten zu übernehmen, was Verwirrung stiftete. Sie wurden 1785 in Bayern vom Kurfürsten Karl Theodor verboten und mit ihnen gleich auch die Freimaurer. Andererseits war seit Christian Rosenkreutz der Rosenkreuzerorden mit mystisch-kabbalistisch gefärbten Interpretationen von Überlieferungen entstanden, der vor allem in Prag Verbindungen mit Freimaurern hatte. Mit seinen eigenen Hochgraden war der Rosenkreuzerorden mit der Strikten Observanz verwandt (ein untergegangenes Hochgradsystem, das auf der Grundlage des Templermotivs arbeitete20) und so wurde sein Eindringen in die Logen durch ihr Hochgradsystem begünstigt. Er gewann rasch politischen Einfluss und wurde aber 1793 in Österreich, dann 1800 in Preußen verboten.21

Für viele Suchende stellte sich die Grundfrage, welcher Observanz22 sinnvollerweise zu folgen sei, aber durch die vielen vertretenen Perspektiven mit entsprechenden Verbindungen und Verfeindungen entstanden Verhältnisse, die alles andere als klar waren. Im Wesentlichen standen (und stehen sich immer wieder neu) zwei Typen von Kräften gegenüber: einerseits Bemühungen um Einsicht, Toleranz und Dialog („rezeptiv, saugend, ziehend“), andererseits Bewegungen zugunsten von Einwirkung und Machtgewinn („expressiv, drückend, stoßend“).23 Es gab viele Kombinationen aus diesen ideellen Grundkräften und sie wirkten bunt durcheinander. Daraufhin gab es Versuche wie den Ordenskonvent 1782 in Wilhelmsbad, um das Verhältnis zwischen den Ideen und Kräften zu klären und eine neue Ordnung zu finden. So entstand der „Eklektische Bund“ in Frankfurt, in dem nur noch die drei Johannisgrade (Lehrlings-, Gesellen- und Meister-Grad) als verbindlich anerkannt wurden.24

Auch in Italien wurde die erste Loge durch englische Freimaurer gegründet, nämlich um 1730 in Florenz, und es folgten rasch Logen in weiteren Städten. Am Anfang ihrer Entwicklung stieß die Bewegung noch auf keine nennenswerte Gegnerschaft. Doch schon 1738 erließ Papst Clemens XII. eine Bulle („in eminenti apostolatus specula“), welche die Maurer eines Komplotts gegen die Religion beschuldigte und es den Katholiken verbot, in Freimaurerlogen einzutreten. Dieser Schritt belastet bis heute das Verhältnis zwischen den Freimaurern und der Kirche.25

Papst Clemens XII. (1652–1740)

Aber in anderen Ländern Europas – in Belgien, in der Schweiz, in Luxemburg, Schweden, Dänemark, Norwegen, Island, Russland, Polen, Finnland, Spanien und Portugal – breitete sich die Freimaurerei rasch aus. In den englischen Kolonien Nordamerikas wurde bereits 1731 die erste Loge in Philadelphia gegründet.26 Als die Amerikanische Revolution sich anbahnte, war das freimaurerische Gedankengut praktisch das einzige einigende ideelle Band für die Männer, die sich in den dreizehn Kolonien um eine Verbesserung der Lage bemühten. Nicht zuletzt durch das gemeinsame Ideal einer freiheitlichen sozialen Ordnung kam ihnen bei der Revolte gegen das Mutterland eine führende Rolle zu.27 Auch in der Französischen Revolution, in der Auseinandersetzung mit dem Ancien Régime, war das kulturelle, humanitäre und gesellschaftliche Engagement der freimaurerischen Akteure beteiligt, obwohl die Freimaurerei als Organisation aus prinzipiellen Gründen den gewaltsamen Aspekt ablehnte.28 Gerade durch die Tatsache, dass die Freimaurer in ihren Logen in Bezug auf die Verwaltungsfragen eine demokratische Ordnung mit gesellschaftlicher Gleichheit als „Mensch unter Menschen“ bereits formalisiert hatten und konkret pflegten29 – also aus ihrer eigenen Erfahrung wussten, wie es sich anfühlt, Probleme in einer Gemeinschaft durch diese Umgangsformen zu lösen –, konnten sie im turbulenten Geschehen in konstruktiver Weise auf die revolutionären Bemühungen ausstrahlen. Gewiss lassen sich gesellschaftliche Unterschiede etwa von materiellem Besitz nicht leugnen, aber in der allgemeinen öffentlichen Ordnung sollten sie keine Bedeutung haben.30 Ebenso waren die Freiheit im Denken und die Brüderlichkeit in der gegenseitigen Unterstützung schon ein Teil der freimaurerischen Umgangsformen.

2.1.3 WIRKUNGEN DER ENTWICKLUNG

Im Rahmen der Aufklärung mit ihrer Suche nach Nicht-Begrenztheit im Begreifen der Wirklichkeit entlud sich in der Französischen Revolution ein Impuls, die Spannung auszugleichen zwischen der partikulären Herrschaft von traditionellen Machtstrukturen und dem universalen Gesamtzusammenhang. Das Mittel dazu war das Konzept des Selberdenkens, anstatt einer gegebenen ideellen Instanz zu folgen. Dass die Durchführung weniger sanft-evolutionär als explosiv-revolutionär ausfiel, liegt vor allem am institutionellen Widerstand gegen den ideellen Spannungsausgleich. Diese Ablehnung bestand damals in ganz Europa; Frankreich war besonders anfällig für Konflikte durch die ausschweifenden Praktiken der sozialen Oberschicht. Die Politisierung der Aufklärung brachte die traditionellen politisch-sozialen Institutionen auch in vielen anderen Ländern ins Wanken. Die Veränderungen führten zu einer völligen Umgestaltung der politischen und territorialen Situation, die auf dem Wiener Kongress nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert stand deshalb fast weltweit im Spannungsfeld zwischen revolutionären und restaurativen Ansinnen. Im säkularen Bereich führte die zunehmende Mechanisierung allmählich zur Industrialisierung, zunächst vor allem in England. Dies beschleunigte den Wandel und das Wachstum von einer anderen Seite her und brachte weitere soziale Veränderungen mit sich. In diesen Prozessen um Menschen- und Bürgerrechte, im Verbund mit der beginnenden Demokratisierung, setzten sich Freimaurer an die Spitze der gedanklichen Entwicklung.31 Alle großen Postulate jener Zeit wie um die Freiheit des Individuums, Eigentum, Agrar- und Gewebereformen, Gemeindereformen, Schul- und Universitätsreformen, sind Emanzipationsforderungen. Auch die Postulate der Freimaurerei selbst, die sich in allen Bereichen beteiligte und umgekehrt von allen auch selber intern berührt wurde, haben diesen Charakter. Weil manche staatliche Ordnung trotz Modernisierung durch Verfassungen und Reformen auf die Konservierung von vorbürgerlichen Herrschaftsstrukturen ausgerichtet war, nahm dort der Widerspruch gegenüber der sich politisch emanzipierenden bürgerlichen Gesellschaft zu. In Ländern mit reaktionären Herrschern kam es zu Verboten der freimaurerischen Tätigkeit. Die Grundtendenz des Aufspaltens zwischen sozial eigentlich notwendigen Strukturbildungen und machtvoller Verneinung führte schließlich in die gesamtgesellschaftliche Systemkrise, die sich in den Revolutionen um die Mitte des 19. Jahrhunderts entlud.32 Dies war auch in der Schweiz der Fall, wo zwischen dem Zusammenbruch der alten Eidgenossenschaft 1789 und dem Zustandekommen der Bundesverfassung 1848 intensive Auseinandersetzungen stattfanden zwischen einer Obrigkeit, die an ihren Privilegien festhalten wollte, und einer zunehmend aufgeklärten Bevölkerung, die um ihre Rechte kämpfte. Davon mehr in Kapitel 5 und 6.

Die Zeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ist gekennzeichnet von Nationalismen und freimaurerisch-intern von Reformen und Reformulierungen, denn gemessen am Potenzial des aufklärenden Denkens blieb noch einiges an Klarheit zu erreichen. Umgekehrt traten, angeregt durch politische Wirren am Anfang des 20. Jahrhunderts, namentlich in rechtsradikalen und nationalsozialistischen Kreisen, Theorien von einer jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung als Reaktion auf die Französische Revolution auf. Durch die Machtübernahme des Nationalsozialismus kam es zum Verbot und zur Auflösung der Freimaurerei in Deutschland. Diese konnte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg neu formieren.33

2.2 BEDEUTUNG DER KOLONIALISIERUNG FÜR DIE GLOBALE VERBREITUNG DER FREIMAUREREI

Die Kolonialisierung des Planeten durch Europa bildet ein ganz besonderes Kapitel in der Geschichte der Menschheit durch die schrankenlose Anwendung von Herrschaft bis tief in den Bereich der Gewalt hinein.34 In der Zeitschrift GEO wird wie folgt Bilanz gezogen:

Vom 15. Jahrhundert an dringen Europäer in alle Regionen der Erde vor, um zu erkunden und zu siedeln, zu handeln und zu herrschen, um auszubeuten und zu stehlen. Und was immer die Motive sind, das Ergebnis insgesamt ist ebenso simpel wie unerhört: Die Europäer (und später US-Amerikaner und Japaner) unterwerfen sich die Welt.

Die Bilanz dieses globalen Eroberungsprojektes ist verheerend: Sie umfasst Genozid, Menschenraub und wirtschaftliche Ausplünderung in nie dagewesenen Dimensionen. So gehen neueste Forschungen davon aus, dass in dem Jahrhundert nach der Ankunft der Konquistadoren in Amerika vor allem durch eingeschleppte Krankheiten 56 Millionen Ureinwohner gestorben sind – rund 90 Prozent der indigenen Bevölkerung. […]

Heute sind zwar nahezu alle ehemaligen Überseegebiete souveräne Staaten, doch das Erbe des Kolonialismus wirkt weiter: in den Köpfen der Menschen, in den Strukturen der neuen Staaten, in Abhängigkeiten, die nun viel subtiler sind, aber oft nicht minder prägend.35

Der Industrielle und Politiker Cecil Rhodes (1853–1902)

Grundsätzlich ging es um Ausbeutung, um Raubwirtschaft. Meist wurde erst erobert und geplündert, nach einigen Jahrzehnten eine Verwaltung improvisiert und das Minimum an Infrastruktur erstellt.36 Dass dabei Freimaurer prominent mitgemischt haben, dokumentieren nicht nur Figuren wie Cecil Rhodes, ein wesentlicher Akteur im Wettlauf um Afrika. In vielen Untersuchungen ist die enge Verbindung mit der freimaurerischen Bruderschaft nachgewiesen worden, in besonderem Ausmaß beispielsweise beim Aufbau des British Empire durch Vermittlung des Netzwerks der freimaurerischen Logen.37 Dieses Netzwerk deckte auch die Verbindungen und Konflikte mit Rivalen wie Frankreich oder Spanien ab, es war eine real wirksame weltweite Organisation, aber an einigen Stellen entfaltete es eine ganz besondere Wirksamkeit. Die freimaurerische Grundidee der toleranten Geselligkeit erlaubte es, die ausbeuterische Grundintention der Kolonialisierung etwas zu entschärfen, jedoch ohne sie auszulöschen, und so auf dieser machtvollen Welle mitzureiten. Nur 13 Jahre trennen die Gründung der Grand Lodge of England von der Gründung der ersten Freimaurerloge auf dem indischen Subkontinent, in Kalkutta. Bis 1758 bestanden Logen auch in Madras und Bombay, womit die drei entscheidenden Regionen abgedeckt waren. In Indien verzehn­fachte sich die Anzahl der Logen in den letzten zwei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Es gab Historiker, die sagten, die Geschichte von England finde nicht in England statt, sondern in Amerika und Asien. Zum Erfolg trugen einerseits die organisatorischen Kompetenzen der Freimaurer bei, die ihnen eine hochdifferenzierte Verwaltung der vielen Logen erlaubte, aber auch ihre Fähigkeit, sich in friedlichen Zeiten aktivieren zu können und sich in kriegerischen Situationen zurückzuhalten. Die freimaurerische Ausrichtung erlaubte auch die hohe Mobilität und Fluktuation der Mitglieder, die aus den Notwendigkeiten der Einsätze folgte. Zugleich hatte die Mitgliedschaft eine hohe integrative Funktion. Dieser Vorteil scheint viele beflügelt zu haben, denn manche wurden nur einen Tag vor der Abreise zu Mitgliedern einer Loge. Die meisten waren Administratoren, Militärs oder Kaufleute der East India Company. Freimaurer zu sein bot einen Zugang zu Informationen, die anderen Europäern nicht zugänglich waren. Die freimaurerische Qualität, einander vertrauen zu können, war im wilden Geschehen eine äußerst wichtige „Ressource“. Dazu kam der Zauber, dass überall und immer auf die Soziabilität und „britishness“ oder anderswo auf „l’esprit français“ gezählt werden konnte, also im freimaurerischen Netzwerk ein gewisses Heimatgefühl weltweit gewährleistet war.38

Unschwer ist erkennbar, dass mit dieser erfolgreichen Art, das menschliche Zusammensein zu regeln, der Grundzug der Globalisierung umrissen ist. Dieser betrifft natürlich nicht nur die britische Sphäre – ganz Europa wetteiferte in einem globalen Imperialismus, der überall freimaurerisch durchtränkt war. Diese Art der sozialen Regelung weist systematisch gesehen vier Kennzeichen auf: (1) das Netzwerken mit dem Grundelement der Loge im Sinne eines „hubs“, (2) das Prinzip der Ausdehnung des Netzes bei gleichzeitiger Qualitätssicherung durch Zertifikate, (3) eine Betonung der Kooperation und Geselligkeit durch gemeinsame Tätigkeiten (was leicht unterschiedliche Interpretationen der freimaurerischen Ideale nicht ausschließt), und (4) eine Aufmerksamkeit für den globalen Gesichtspunkt, den Gesamtzusammenhang ohne dogmatische Vorgaben, eine kosmopolitische Stimmung. Diese vier Elemente des Grundzugs erlauben in vielen Belangen eine Vermittlerrolle einzunehmen, ohne die Kreativität in der Suche nach neuen Lösungen zu alten Fragen einzuengen. Diese Qualitäten erlaubten es der freimaurerischen Bruderschaft in verschiedensten Situationen, eine Art von Schmiermittel zu bilden zwischen Lokalem und Globalem wie etwa in Handelsnetzen, Migrationsströmungen oder in Empires wie dem britischen.39

Was später als Geschichte erscheint, entsteht im Moment durch die Geisteshaltungen, die in den Tätigkeiten gepflegt werden, und Historiker deduzieren später aus den Geschehnissen die Ideologien, die darin wirksam wurden. Dabei werden auch sie selber geleitet von Geisteshaltungen als Kriterien der Interpretation. Diese haben sich entwickelt aus dem Eurozentrismus unter der Führung des Denkens von Adam Smith über Kant, Hegel, Marx und Max Weber, über den Okzidentalismus etwa eines Samuel Huntington bis hin zu Versuchen eines globalisierten Denkens mit Oswald Spengler und Arnold Toynbee sowie zu Auffassungen postmoderner Art, in denen nicht mehr Nationalstaaten wesentlich sind, sondern kulturelle und multinationale Strömungen weit über ethnospezifische Bestimmungen oder Polarisierungen hinaus wie Ost-West oder Nord-Süd. Historizität erscheint als das globale Gefüge der Sozialprozesse, in dem die Nationalstaaten und sogar Weltreiche nicht mehr die letztlich relevanten Akteure sind. Die Interaktionen erfolgen unter anderen Vorstellungen als in den traditionellen Auffassungen von Raum und Zeit, von Homogenität und Heterogenität, von Makro- und Mikro-Relationen. Vorstellungen von der „sozialen Konstruktion“ des Geschehens traten auf und von allgemeiner Relativität als Kennzeichen der heutigen Moderne. Wichtig wurden dadurch die sozialen Netzwerke und transnationalen Gemeinschaften. So hat die Analyse der Freimaurerei historiografisch als Labor gedient, um die neue Methodologie zu entwickeln.40 Eigentlich gehört auch die Struktur der akademischen Paradigmen zu den befragungswürdigen Dimensionen – besonders die Ökonomisierung der Zivilisation unter einem fragwürdigen Paradigma.41 Es zeigt sich, dass sich die Freimaurer von Anbeginn in einem globalen Sinn vereinigt haben, egal ob sie für ökonomische, militärische, politische, kulturelle, religiöse oder brüderliche Anliegen einstanden. Es zeigt sich weiter, dass es gerade die Entwicklung zum Imperialismus in den letzten drei Jahrhunderten ist, die ihnen besonders tragfähige Flügel verlieh. Diese Linie setzte in der Mitte des 18. Jahrhunderts an, als europäische kommerzielle Gesellschaften anfingen, in Übersee die ersten Freimaurerlogen einzurichten. Mit der Emergenz des British Empire als einzigem global hegemonischen Gebilde und der industriellen Revolution als global transformativem Prozess, mit der zunehmenden Relevanz von Amerika, Asien und Afrika, wurde die Institution der Freimaurerei zu einer tragenden Säule im Aufbau einer globalen imperialen Ordnung. Bisweilen kam mehr ihr ideell-imaginäres Potenzial zum Tragen und an anderen Stellen mehr ihre politisch-militärische Kompetenz, immer im Einklang mit der kolonialen Hegemonie. Trotz der theoretischen Offenheit der Freimaurerei für alle Menschen waren praktisch immer primär die Eliten impliziert und so wurde die Bourgeoisie aufgebaut. Im 19. Jahrhundert wurde das British Treaty System einflussreich als forcierte Konstruktionen im Rechtssystem, um die imperialen Interessen zu sichern. Es entstanden übergeordnete Logen, um das Logengefüge organisatorisch im Griff zu behalten.42

In dieser übergeordneten Perspektive wird eher verständlich, wie es dem Netzwerk der Bruderschaft möglich war, hehre freimaurerische Ideale und gnadenlose imperiale Ausbeutungswünsche miteinander in Einklang zu bringen. Jede Persönlichkeit konnte ihren Platz finden und im Netzwerk sinnvoll wirken.

Vor allem in der christlichen Religion musste nach Recht­fertigungen gesucht werden, um mit kognitiven Dissonanzen zwischen dem Hochmut des Eingreifen-Könnens und dem Erleben-Müssen der Leiden von anderen fertig zu werden. Als ideelle Dimensionen im Umgang damit traten in der Periode der Kolonialisierung spezifische psychische Strategien auf, die – allgemein, nicht nur bei Freimaurern – der Selbstrechtfertigung dienen. Es waren je nach Situation anwendbare Konzepte wie die aus dem Mittelalter übernommene Lehre des „gerechten Krieges“ gegen Nicht-Christen und später die civilizing mission bzw. mission civilisatrice und Kulturmission sowie dann auch die Idee einer Vormundschaftspflicht. Ein grundlegendes europäisches Sendungsbewusstsein gegenüber den anderen Kulturräumen der Welt manifestierte sich aber erst im späten 18. Jahrhundert, in der Zeit der transatlantischen Revolutionen, als „der Westen“ sich anschickte, ein neues Zeitalter der Freiheit und Gleichheit einzuläuten und sich dies mit der wirtschaftlichen Dynamik der einsetzenden industriellen Revolution verband, die neben Europa auch Nordamerika erfasste.43

Auf der Seite der Kolonisatoren wurde vor allem in Südamerika ein episches Narrativ gepflegt, wonach einige wenige Soldaten sich riesige Landstriche untertan machen konnten, insgesamt sehr viel größer als Europa. Ganz anders präsentiert sich die Realität für die indigenen Völker. Sie waren durch keine Entwicklungsschritte wie ein Mittelalter oder eine Renaissance gegangen, sie hatten nicht die Wirkungsmacht einer selbstorganisatorischen sozialen Gestaltung mit Zünften und Diskussionen um die politischen Willensbildungen und Regierungsformen erfahren. Ihre Produktions- und Verteilungsformen waren ganz anders organisiert. Durch den Einfall der auf Eroberung drängenden und hochmodern bewaffneten Europäer wurde die indigene Bevölkerung in ganz neue Dimensionen katapultiert. Im Verlauf von wenig mehr als einem halben Jahrhundert sah sie sich konfrontiert mit einer rasanten und systematischen Zerstörung ihrer sozialen und politischen Ordnung. Die turbulente Zeit der Kolonialisierung fällt in ihrem letzten Teil zusammen mit der nicht minder wilden Epoche der politischen Befreiungs-Revolutionen im Ausgang des 18. und anfangs des 19. Jahrhunderts, die ihren Anfang hatten zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Europa, dann aber schnell in Kolonialgebiete übergriffen. Der Kampf zwischen England und Spanien trug die Freimaurerei ausgiebig nach Südamerika und die Expansion der Deutschen und der Holländer brachte sie nach Afrika. In Lateinamerika kamen staatspolitische Befreiungsschläge als eine Folge der macht- und wirtschaftspolitischen Motive in Europa zustande, die ursprünglich durchaus reaktionär waren als Rivalitäten zwischen Königshäusern, die in den Kolonien ebenfalls Konkurrenzkämpfe und dadurch soziale Spannungen induzierten. Durch einige Freimaurer gelang es in Südamerika schneller als in Asien oder Afrika, selbstständige Staaten entstehen zu lassen. Im Folge-Geschehen hatte die Freimaurerei einerseits einen entscheidenden Einfluss auf das befreiende und autonom staatsbildende Geschehen, während sie selber andererseits dadurch in den Kolonien zu maßgeblichem Einfluss gelangte. In diesen Kämpfen spielten Militärlogen eine wesentliche Rolle, auch für die weitere Ausbreitung der Freimaurerei.

Während in Europa die Freimaurerei konservativ sein konnte, weil zwischen Religion und Gesellschaft nur selten Spannungen herrschten, war die Situation in den Kolonien der spanischen und portugiesischen Krone ganz anders. Diese Welt war straff beherrscht von der katholischen Kirche, vor allem von dem Orden, der sich „Gesellschaft Jesu“ nannte und von ihrem weltlichen Arm, der „Katholischen Kirche“, eng verbunden mit den absolutistischen Monarchien. Deshalb wurde in diesen Gebieten die spekulative Freimaurerei als illegitime verbotene Tochter geboren, gebildet von freiheitssüchtigen Bürgern, Studenten voller intellektueller Anliegen und von revolutionären Vorläufern der heutigen Demokratien. Das heißt, dass die amerikanische Freimaurerei von dieser denkenden Klasse hervorgebracht wurde, von denen, die als Enzyklopädisten, Freidenker und später als Liberale, Verschwörer oder Aufständische bezeichnet wurden nebst anderen abfälligen Namen.44

Von den ersten Momenten des öffentlichen Auftretens der spekulativen Freimaurerei an führten die Ideale der Freiheit in den latino- und hispano-amerikanischen Ländern, deren Erzeuger und Fahnenträger die Freimaurer waren, zu einem offenen Zusammenstoß mit den anderen Freimaurern, den konservativen aus den alten Regimes und totalitären Monarchien. Zu den Organisationen unter diesen Idealen gehörte die katholische Kirche selbst, die eine Art von ideeller Vorkämpferin war, welche die Macht hatte, Kaiser zu krönen und Dynastien zu legitimieren, indem sie behauptete, die Könige hätten eine göttliche Eingebung, um alle ihre Handlungen auszuführen. Die Konfrontation der Ideen zwischen diesen beiden Welten – auf der einen Seite das alte Regime, auf der anderen Seite die Demokratie, aus der die amerikanische Freimaurerei bereits hervorgegangen war – war der Auslöser für die Verfolgungen und päpstlichen Bullen gegen die Freimaurerei in den ersten Jahren des achtzehnten Jahrhunderts. Infolgedessen war die amerikanische Freimaurerei, insbesondere die spanisch-amerikanische, dazu gezwungen, geheim und verborgen zu bleiben und sich politisch gegen den Totalitarismus zu engagieren, sei er nun weltlich oder kirchlich.45 Dies machte ihn attraktiv für große Teile der Bevölkerung und erleichterte „bottom up“ die neue Staatsbildung.

2.3 FREIMAUREREI UND DIE INTERNATIONALE BRUDERKETTE: EIN GLOBALES NETZWERK

Während es für Freimaurer innerlich um die Persönlichkeitsentwicklung geht, ist äußerlich der Gestus der Verbrüderung und als Gefäß die Gemeinschaft konstitutiv. Die Verbindung zwischen diesen Sphären lässt sich im Äußeren aber unterschiedlich entfalten. Es kommt also darauf an, wie der Verbund jeweils gedacht und verwirklicht wird.

2.3.1 GRUNDZÜGE DER FREIMAURERISCHEN BRUDERSCHAFT

Die Grundauffassung über das Menschsein als Vermittlung zwischen Geist und Materie – oder im Menschen selbst zwischen seinem Innersten und allem Äußeren – hat ihre Wurzeln im europäischen kulturellen Gedächtnis aus biblischen Quellen und der klassischen griechischen Philosophie. Darin wird der Humanismus der Einheit begründet im Sinne dessen, was allen Menschen gemeinsam ist, ungeachtet aller äußerlichen Unterschiede – nämlich eingespannt zu sein zwischen dem eigenen Geist und der eigenen Materie. Der Humanismus bildet die Grundlage des europäischen Selbstverständnisses, das die gleichen Rechte, Pflichten und Privilegien für alle impliziert. So können etwa die Menschenrechte nur dann sinnvoll sein, wenn sie im streng allgemeinen Sinne gültig sind, unabhängig von Religion, Herkunft oder Vermögen. Auf das soziale Gefäß bezogen führt dies zur demokratischen Umgangsform, die umgekehrt nur dann ohne unnötige Reibungen funktionieren kann, wenn dieses Menschenbild dem Geschehen zugrunde liegt und es dem Individuum erlaubt ist, sich frei zu seiner rationalen Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Der Erkenntnisprozess von Platon bis zu den Menschenrechten weist keine markanten Einzelschritte auf, sondern bildet einen Fluss aus den inneren Zusammenhängen heraus, aus denen sich auch die Wissenschaften speisen ließen. Diese wiederum spiegelten in ihrer ursprünglichen Ausrichtung die Verbrüderung mit der Schöpfung, die sich im einzelnen Menschen als Empfindung der Verantwortung geltend macht – auf der geistigen Ebene als Selbstverantwortung, in Bezug auf die materielle Ebene als Verantwortung für das Umfeld im weitesten Sinne.46 Die Verbrüderung mit den Mitmenschen wird im freimaurerischen Leben durch die Gemeinschaft vermittelt, am direktesten in Gestalt der Loge. Die Gemeinschaft spielt allgemein eine entscheidende Rolle, denn – wie Martin Buber es ausdrückt: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“47 Wichtig in der Loge ist aber, dass die Glaubens-, Gewissens- und Denkfreiheit gilt: der Erkenntnis- und Entwicklungspfad soll der höchst eigene sein. Nur die ethischen Leitplanken sind für alle dieselben: die Tugenden, die in der Loge als wesentlich erkannt und eingeübt werden. Das gelingt am besten durch gegenseitige Unterstützung, durch einträchtige Hilfe innerhalb der nicht allzu großen Logengemeinschaft – was wiederum dem menschlichen Bedürfnis entgegenkommt, sich mit anderen in übersichtlicher Art und Weise zusammenzuschließen. Der dadurch entstehende Bund zwischen Menschen ist ungezwungener Ausdruck ihres Verbundenseins: Ihre Verbrüderung erfolgt ganz zwanglos, sozusagen aus sich selbst heraus. Die Betonung der Unwichtigkeit von Standesmerkmalen tut ein Übriges dazu, dass viele sonst in der Gesellschaft schwelende soziale Spannungen sich nicht manifestieren, ohne dass in den Logen dazu besondere Anstrengungen unternommen werden müssten. Im Selbstverständnis der Freimaurer leben sie selber im geschützten Innenraum der Loge so, wie nach ihrer Überzeugung die ganze Menschheit leben sollte. Die Loge gilt ihnen also als ein Modell der konkreten menschlichen Gesellschaft.48 Anstatt auf der Basis von Geist, Materialität und Vermittlung können die Grundelemente der Bruderschaft auch formuliert werden durch den Zugang zur Soziologie, wie sie Pierre Bourdieu entwickelt hat. Höhmann hat einen Ansatz dazu vorgelegt, den Habitus, das soziale Feld und Bourdieus Formen von Kapital als Leitbegriffe wählend. Der Habitus erscheint als verleiblichte Geschichte der Person, das Feld als verdinglichte Geschichte auf den Ebenen von Politik, Wirtschaft und Kultur mit ihren Teilfeldern, und Bourdieus Formen von Kapital erscheinen als ökonomische, kulturelle, soziale und symbolische Formen des Vermögens im Umgang miteinander und mit der Welt. Auch die freimaurerische Bruderschaft lässt sich in dieser Schematik abbilden.49

Es ist verständlich, dass das gesellschaftliche Dispositiv dieser Bruderschaft für viele Menschen einige Attraktivität in sich birgt, aber je nach den persönlichen Neigungen auch Antipathien auslösen kann. Solche Unterschiede in Urteils- oder Vorurteilsformen bilden das Material, mit dem sozial umzugehen ist. Wichtig dafür sind die Bedingungen innerhalb der Logen, die einen gesellschaftlich fruchtbaren Umgang mit dem Vorgang des Urteilens im sozialen Zusammenhang gestatten oder gar anregen. Zentral dabei ist die Dialogkultur: Zuhören können, ohne Vorurteilen zu folgen, andererseits aber auch die eigene Auffassung äußern können, ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen. Das ist Toleranz – nicht im Sinne eines laissez-faire, sondern als ruhiges Gelten-Lassen und In-Betracht-ziehen-Können auf dem integrativen Pfad der gemeinsamen Sinnsuche. So gesehen und ausgeformt ist die Gemeinschaft mit Bedacht nicht bloße Geselligkeit. Sie bietet dennoch auch Raum für ganz persönliche Belange. Es gibt keine äußerlichen Regeln, denn die letztliche Richtschnur ist die Selbstverantwortung. Das eigene Gewissen und die eigene Vernunft bilden die Quelle der Berichtigung. Das sind die zwei Instanzen, die sich auch als Säulen im Tempel wiederfinden. Die Herausforderungen kommen zustande durch die Positionen der anderen, weil sie die Baustellen im eigenen Gedankengebäude erkennen lassen; das ist freimaurerisch gesprochen das symbolische „Behauen des rauen Steins“. Tragend dabei ist das Ritual mit fest verteilten Rollen, durch die als Symbole stellvertretend die Denkprinzipen verkörpert werden mittels eines rituellen Frage- und Antwort-Spiels. Daraus folgt eine besondere und eigenartige gemeinschaftliche Interaktion. In dieser Interaktion gibt man für die Brüder und Schwestern das Allerbeste. Dadurch kann das Geschehen zu einem gemeinschaftsstiftenden Ereignis werden.50 Im gut geführten Ritual liegt der Kitt einer Loge für ihre Mitglieder. Diese Innerlichkeit birgt die schwer beschreibbare, aber tiefgründig wirksame Substanz, welche die Mitglieder als soziale Gemeinschaft bindet. Da das Ritual immer wieder eingeübt wird und die zugrundeliegende Symbolik weltweit Geltung besitzt, ist die globale Verbundenheit der Freimaurer keineswegs ein Zufall.

Durch die wie eine Reihe von Mantras sich wiederholenden Bewegungen festigt sich vieles im Kollektiv, was für Außenstehende jedoch unzugänglich bleiben muss und dadurch als etwas Geheimnisvolles erscheinen kann, wenn man nicht selber eine Ahnung hat von den darin ablaufenden seelischen Prozessen. „Vielleicht ist es auch das, was den Freimaurern den Ruf einer verschworenen Gemeinschaft eingebracht hat.“51

2.3.2 HEIKLE PUNKTE IN AUSFORMUNGEN DER GRUNDZÜGE

Als Grundelemente sind also wirksam: (1) auf der geistigen Ebene ein humanistisches, auf freie Erkenntnis und Entwicklung ausgerichtetes Menschenbild, (2) eine Gemeinschaftsbildung für ernsthafte Dialogkultur, den „rauen Stein“ der eigenen Persönlichkeit behauend, und (3) auf der materialen Ebene in der Loge ein tragendes Ritual, basierend auf Symbolen für den Zugang zum universellen Gesamtzusammenhang. Der Soziologe Pierre Bourdieu hat interessante Grundkonzepte vorgelegt, mit denen das Dispositiv als soziales Interaktionsgefüge gedacht werden kann durch (1) den Habitus als persönliche Struktur, (2) die Kapitalien als soziale Vermittlungsmittel und (3) das Feld als die materiale Gegebenheit (Organisationen, Institutionen, Sinnzuschreibungen). Durch den Wechsel vom einen zum anderen kategorialen Modell verschieben sich die Nuancen in der Betrachtung des Geschehens zwischen den Ebenen von Geist, Materie und Vermittlung. Wie handhaben die Freimaurer in der Welt die Bezüge zwischen diesen Ebenen?

Das weltweite Netzwerk der internationalen Bruderkette, das sich auf dieser Basis im Laufe der Zeit gebildet hat, ist beachtlich. Die Logen unterhalten viele Verbindungen unter sich, die Brüder und Schwestern besuchen andere Logen als Teil ihrer inneren Entwicklung, und selbst wenn sie ihren Wohnsitz wechseln, finden sie durch die Bruderschaft sofort passende Kontakte am neuen Ort. Dieses Netzwerk funktioniert ausgezeichnet. Mittels der internen Sprache, die durch ritualisierte Kennzeichen gebildet wird – einschließlich etwa die Art des Handdrucks, die Fußstellung, bestimmte Gesten als Zeichen ­–, können Brüder und Schwestern einander sofort wortlos und doch in differenzierter Art und Weise erkennen. Das ist gewiss ein Element, das dazu beiträgt, dass das Netzwerk außerordentlich erfolgreich ist.

Zugleich fühlen sich manche Außenseiter von der Freimaurerei in einigen Hinsichten etwas seltsam berührt. Dabei stechen zwei Themenbereiche besonders hervor. Einerseits ist es das Festhalten der Logenmitglieder an Interna, die als geheimnisvoll erscheinen können, trotz mannigfaltiger publizistischer Tätigkeit nach außen,52 während andererseits äußerlich die Verbindungen zu weltlicher und vor allem zu wirtschaftlicher und politischer Macht oft unklar bleiben,53 was von außen gesehen oft Anlass zu Analysen, Spekulationen und sogar Verschwörungstheorien gab, obwohl auf freimaurerischer Seite einige Klärungsversuche zu verzeichnen sind.54 Wer verbirgt da was vor wem, falls es überhaupt um ein Verbergen geht und nicht eher um einen Mangel im Sehvermögen des Betrachters? Wie ist dieser Gesamtkomplex angemessen zu verstehen?

Während die Grundzüge ihrem Wesen nach verständlich sind, ist eine Ausformung als Geheimnis oder allenfalls ein Verbergen gerade nicht per se verständlich. Zweifel am Prinzip des Geheimnisses kommen nicht von ungefähr, denn Geheimnisse treten jeweils da auf, wo eine transparente Kommunikation unmöglich oder unerwünscht ist – was alles sehr unterschiedliche Gründe haben kann, die aber einer entspannten Sozialität eher im Wege stehen, als ihr letztlich dienlich zu sein. So ist es kein Zufall, dass dieses Kennzeichen der Freimaurerei zum Gegenstand vieler Untersuchungen im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich wurde.55 So ist schließlich erkannt worden, dass die freimaurerische Geheimhaltung nicht wirklich ein Versuch ist, etwas zu verbergen. Es geht eigentlich eher um die Verpackung und nicht das, was sie enthält. Die Geheimhaltung ist eine Art und Weise, die Verbundenheit in der Gemeinschaft in eine besondere Feierlichkeit und Heiligkeit zu hüllen. Geboren während der Aufklärung, als sich der Griff der religiösen Orthodoxie auf das private und öffentliche Leben zu lockern begann, bot die Freimaurerei einen Übergang zu einer mehr säkularen Welt an. Sie war ein Gedankengebäude auf halbem Weg: Ihre Geheimhaltung und ihre Art, das Numinose zu berühren, machte sie zwar zu einer Art Religion, aber ohne gefährliche theologische Ideen zu enthalten. Die ersten Freimaurer konnten jedoch kaum vorhersehen, welche globale Erfolgsgeschichte und Berühmtheit sie erlangen würden. Die Lehre aus ihrer faszinierenden Geschichte ist einfach: Mach dich im entscheidenden Inhalt ein wenig unverständlich, hülle dich in Mysterien so wie eine kokettierende Lady.56 Manchmal kann das ja erfolgreich sein.

Der Soziologe Georg Simmel hatte in seinem Kapitel über „Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft“ in seinen „Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“ klargestellt: „Alle Beziehungen von Menschen untereinander ruhen selbstverständlich darauf, daß sie etwas voneinander wissen.“57 Wo viel geschieht und wenig gewusst wird, treten deshalb schnell Vermutungen auf, meist Projektionen aus dem eigenen Unbewussten heraus. Andererseits reicht für Simmel das Geheimnis vom bloßen Nichtwissen über die Verheimlichung und die Geheimhaltung bis hin zur bewussten Lüge.58 Wer etwas verhüllt, muss sich überlegen, was damit erreicht werden soll. Schon die schiere Globalität der freimaurerischen Wirkungsweise bei zugleich höchst diskreter Erscheinungsform zieht wie eine Projektionsfläche fast magisch die vielfältigsten Interpretationen auf sich. Die Frage ist dann, wie mit Geheimnisvollem umgegangen wird. Simmel betrachtet das Geheimnis nicht a priori als etwas Übles, was besonders da klar ist, wo Diskretion und Bescheidenheit zur Geltung kommen. Es ist unmöglich, immer alles über andere zu wissen, wo jedoch die Neugier ins Spiel kommen kann. „Unausgesprochen ruht der ganze Verkehr der Menschen darauf, daß jeder vom andren etwas mehr weiß, als dieser ihm willentlich offenbart.“59 Aber selbst die Lüge gilt für Simmel nicht unbedingt als verwerflich, denn in einer integren, intelligenten Anwendung kann sie lebensrettend wirksam werden. „Andrerseits steht zwar nicht das Geheimnis mit dem Bösen, aber das Böse mit dem Geheimnis in einem unmittelbaren Zusammenhang.“60 Die Frage ist, ob etwas von A unbekannt bleibt, was für B wichtig oder gar entscheidend ist. Es ist höchst bedeutsam, ob der harmlose Alltag oder eine existenzielle Frage ansteht. Solche Differenzen machen die verschiedenen Beziehungsformen aus mit ihrem je andersartigen Geheimnismanagement, wo – vor allem wenn ein Gefühl besteht, bedroht zu sein – auch Widerstand und eine Verschwörungstheorie entstehen kann. Ein Geheimnis kann eine Individualisierungsfunktion haben, wenn es eine Person von allen anderen unterscheidet, die das Geheimnis nicht kennen. Aber wenn dieses ewig geheim bleibt, nützt es auch wieder nichts, es wird wirkungslos. In dieser Gestalt steckt etwas von Verraten-Wollen-und-doch-nicht, also Kokettieren.61 Umgekehrt kann das Geheimnis eine Vergemeinschaftungsfunktion annehmen, wo mehrere Akteure sich ein Geheimnis teilen, es gemeinsam besitzen. Simmel beobachtet zwei Varianten einer „Doppelfunktion des Geheimbundes“62: Diese Struktur kann einen Schutzraum bilden für aufstrebende und noch schwache soziale Gruppen, ebenso wie sie einen Nutzraum bilden kann für erfolgreich bestehende Gruppierungen, die nun ihre Pfründe unter sich aufteilen wollen. In beiden Fällen ist das gegenseitige Vertrauen der Mitglieder sehr wichtig. In beiden Fällen kann die kollektive Abgrenzung mit einem Elitebewusstsein und Superioritätsgefühl einhergehen, sodass sie dann manchmal ein „aristokratisierendes Motiv“ teilen.63

Einige Forscher gelangten deshalb in Anlehnung an zwei Giganten in der Soziologie – Georg Simmel und Pierre Bourdieu – zum Schluss, dass der Akt der Geheimhaltung als eine Art „Schmuck“ zu fungieren scheint, der – ähnlich wie feine Kleidung – den eigenen Status erhöht, obwohl er die eigene Person verbirgt. In Bourdieus Begriffen dient geheime Information somit als mächtige Form von „symbolischem Kapital“ – das heißt als eine seltene und kostbare Ressource, die das eigene Prestige innerhalb einer bestimmten sozialen Hierarchie erhöht. Die Koppelung dieses Dispositivs mit der Hierarchie in der Enthüllung der symbolischen Grundlagen ergibt eine asymmetrische Hierarchie von Rängen und Graden, basierend auf einer klaren Ideologie von Exklusivismus und Klassenbewusstsein.64

Diese exklusivistische Facette steht im Zusammenhang mit einem anderen Aspekt des Geheimnisses, der manche Analysen, Spekulationen und Verschwörungstheorien nach sich zieht: die bemerkenswert undurchsichtige Verbindung von Freimaurerei mit weltlicher und vor allem mit wirtschaftlicher und politischer Macht. Es kann nicht geleugnet werden, dass manche Freimaurer sich angezogen fühlen von sehr profaner Macht und sich dann aus eigenen Stücken in hohen Rängen der machtpolitischen Sphäre bewegen – dort zwar nicht die Freimaurerei als solche vertretend, aber sie dennoch mit sich tragend und die Qualitäten dieses Hintergrunds in verschiedener Art und Weise zur Geltung bringend. In Bezug auf das, was daraus entstehen kann, kommt es sehr darauf an, in welchem Stil es geschieht – eher die gedankliche Transparenz auch für andere anstrebend oder eher das Denken dazu nutzend, um in Machtbelangen eine gewisse Intransparenz zu instrumentalisieren. Da sind natürlich die rein persönlichen Charakterzüge wirksam, aber weil die Freimaurerei doch nebenbei im Spiel ist, lässt sich die Unterscheidung zwischen freimaurerisch und höchstpersönlich nicht für alle Außenstehenden klarmachen. Der schummrige Zwischenraum – bisweilen auch in der Gedankenwelt der Person selbst – hat aber durch daraus folgende Handlungen seine Wirksamkeit. Es ist diese innere und bisweilen kollektiv wirksame Seelenschicht, die unsichere Menschen dazu verleitet, eigene Ungereimtheiten auf die Freimaurerei zu projizieren und so allerlei mehr oder weniger abstruse Auffassungen zu generieren. Auf dieser Ebene wären wohl differenzierte Anstrengungen nötig, um der weltweiten Bruderkette allmählich durch mehr Transparenz eine solidere Legitimation in der breiteren Öffentlichkeit zu verschaffen. Hepfer bemerkt dazu spitz, dass auch die Freimaurerei zum Problem beitrage, weil sich die Vereinigung der Freimaurer von ihrem Hang zur Geheimniskrämerei bis heute noch nicht gelöst habe.65 Einsicht in diesen Punkt bildet wiederum einen Antrieb für manche neuere Anstrengungen im Kreise der Freimaurer, sich einer Erforschung der Zusammenhänge zu widmen und aus solchen Erkenntnissen die freimaurerisch-internen Strukturen zu erneuern.66

Die Verbindung zwischen der Freimaurerei und einer weltweiten Wirksamkeit ihres Gedankengutes auf der realpolitischen Ebene ist dennoch ein seltsam umstrittenes Thema. Einerseits wird die Verbindung manchmal bezweifelt oder mindestens stark relativiert, während andererseits manche Zusammenhänge auffallend sind, sobald die Hintergründe gründlich in Betracht gezogen werden. Hier kommt ein Gesichtspunkt zur Geltung, der nur selten erwogen wird. Es gibt ein Paradoxon, das nie vollständig erklärt worden ist: Warum hat im 18. Jahrhundert eine völlig private Gemeinschaft, eine Form der freiwilligen Vereinigung – was die Freimaurerlogen ja waren – alle Sitten, Gewohnheiten und Formen des Regierens übernommen? Eine Standard-Erklärung ist, dass die Logen einfach die Elemente der konstitutionellen Regierung in England und Schottland imitierten, weil sie dort entstanden. Aber diese zirkuläre Argumentation gilt nur unter der Annahme, dass die Schlussfolgerung gilt („petitio principii“), sie bietet keine Erklärung, warum diese Nachahmung überhaupt erst erfolgte, und sie bietet auch keinen Vorschlag oder einen Grund für die Nachahmung oder das Interesse, welches alsdann die Freimaurerei auf dem Kontinent entfacht hat. Die Logen wurden zu Schulen des Regierens, weil die freiwilligen Vereinigungen in Westeuropa, zuerst in England und dann auf dem Kontinent, von gebildeten Männern bevölkert wurden, die vom Prozess der Staatsbildung beeindruckt waren, den sie um sich herum beobachteten. Mit anderen Worten: Die interne Entwicklung der Freimaurerei lenkte die Aufmerksamkeit auf das Thema der eigentlich nötigen Institutionen und Praktiken des Regierens. Das ist nicht gemeint als eine Anschuldigung, dass die Freimaurer versuchten, die eine oder andere nationale Regierung zu ersetzen, wie ihnen dies etwa in der Französischen Revolution vorgeworfen wurde. Es geht vielmehr darum, dass die Freimaurerei in London, Den Haag, Brüssel und Amsterdam daraufhin zu untersuchen wäre, was die Logen über die Stabilität, aber auch die Zerbrechlichkeit des Verhältnisses zwischen Zivilgesellschaft und Staat im 18. Jahrhundert entdecken und aussagen konnten. Um sich zu entfalten, brauchten die freiwilligen Vereinigungen, die Matrix der Zivilgesellschaft im Westen, den souveränen Staat als feste Größe. Wenn auch für nichts anderes, so war dieser doch die faszinierende Quelle der meisten Nachrichten und des meisten Klatsches. Darüber hinaus konnte durch informelle Vereinigungen die Macht der Regierungsbeamten zugänglicher gemacht werden, auch wenn (oder gerade wenn) deren Machtmonopole eine tatsächliche Beteiligung am Funktionieren des Staates weitgehend unmöglich machten. In manchen Momenten boten die Lesegesellschaften und Vereine aber auch einen Zufluchtsort, eine Flucht vor der Zensur oder, im Falle der Logen, einen Ort der Hilfe und Nächstenliebe, den der Staat oder die Kirchen nicht bieten konnten oder wollten. Gerade diese operationale Getrenntheit zwischen Staat und Zivilgesellschaft, gekoppelt mit einer inhaltlichen Parallelität, machten den Charme der Kombination aus, in welcher die eine Seite die andere inspirieren konnte.67