Freispruch durch den Obersten Gerichtshof - George Kardinal Pell - E-Book

Freispruch durch den Obersten Gerichtshof E-Book

George Kardinal Pell

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Beschreibung

In diesem dritten und letzten Band denkt Kardinal Pell über die Bedeutung des Leidens im Leben eines Christen nach und fasst den Entschluss, mit Gelassenheit das zu akzeptieren, was auf ihn zukommt. Als der Termin für sein Berufungsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof sich nähert, wächst in ihm die Zuversicht, dass er mit einen Freispruch rechnen kann. Dies ist ihm nicht nur für sich selbst wichtig, sondern vor allem auch für die Kirche und für den guten Ruf der australischen Rechtsprechung. Das Urteil wurde in der Folge durch die einstimmige Entscheidung des Obersten Gerichtshofes von Australien aufgehoben und Kardinal Pell nach knapp 13 Monaten aus dem Gefängnis entlassen.

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George Kardinal Pell

Freispruch durch den Obersten Gerichtshof

Das Gefängnistagebuch

Band III

1. Dezember 2019 bis 8. April 2020

Originaltitel der amerikanischen Ausgabe:

PRISON JOURNAL

Volume 3

The High Court Frees an Innocent Man

1 December 2019–8 April 2020

With an afterword by George Weigel

© 2021 by Ignatius Press, San Francisco

Die Zitate aus dem Brevier von George Kardinal Pell stammen aus: The Divine Office, 3 Bände, E. J. Dwyer, Sydney 1974. In deutscher Sprache: Die Feier des Stundengebetes, Lektionar für die katholischen Bistümer des deutschen Sprachgebietes, Hefte I/1 bis I/8, Hrsg. Bischofskonferenzen, 1978–2017.

Die Bibelzitate stammen aus der revidierten Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart 2016.

FREISPRUCH DURCH DEN OBERSTEN GERICHTSHOF

Band III

Das Gefängnistagebuch

Nachwort von George Weigel

Übersetzung: Dr. Gabriele Stein

© Media Maria Verlag, Illertissen 2023

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-947931-52-1

eISBN 978-3-947931-86-6

www.media-maria.de

INHALT

Zeittafel

41. WocheDer Advent beginnt

42. WocheEilmeldung aus dem Vatikan

43. WocheEin völlig unerwarteter Segen

44. WocheWeihnachten im Gefängnis

45. WocheDie Berufung kommt voran

46. WocheEin anderes Gefängnis

47. WocheNicht mehr in Einzelhaft

48. WocheUnsere besondere Situation

49. WocheAustralische Sympathien

50. WocheStröme zum Guten und Bösen

51. WocheOptimismus, aber keine Gewissheit

52. WocheEine vernichtende Argumentation

53. WocheUnd wieder Fastenzeit

54. WocheDer Weg der Vergebung

55. WocheEine letzte Berufung

56. WocheWarten auf die Entscheidung

57. WocheAlles ruhig so weit

58. WocheAlte Vorwürfe kommen wieder auf

59. WocheDer Schuldspruch wird aufgehoben

Nachwort

Anmerkungen

Der Autor

ZEITTAFEL

16. Juli 1996

Papst Johannes Paul II. ernennt Weihbischof George Pell zum Erzbischof von Melbourne, Australien.

26. März 2001

George Pell wird Erzbischof von Sydney, Australien.

21. Oktober 2003

Papst Johannes Paul II. ernennt Erzbischof Pell zum Kardinal.

25. Februar 2014

Papst Franziskus beruft Kardinal Pell in die neu geschaffene Position eines Präfekten des Wirtschaftssekretariats, das die Finanzen des Heiligen Stuhls und des Vatikans verwaltet.

29. Juni 2017

Die australische Polizei wirft Kardinal Pell mehrere lange zurückliegende sexuelle Übergriffe vor.

5. März 2018

Kardinal Pell, der alle Vorwürfe von sich gewiesen hat und freiwillig nach Australien zurückgekehrt ist, erscheint vor dem Magistrates’ Court in Melbourne zur Verlesung der Anklagepunkte.

1. Mai 2018

Nachdem einige Anklagepunkte fallen gelassen worden sind, entscheidet eine Richterin in Melbourne, dass der Kardinal sich für die übrigen vor Gericht verantworten muss.

2. Mai 2018

Die Fälle werden in zwei Verfahren aufgeteilt: Das erste soll sich mit Vorwürfen befassen, die auf die 1990er-Jahre zurückgehen, als Pell Erzbischof von Melbourne war. Im zweiten Verfahren werden Vorwürfe verhandelt, die auf die Anfänge seines priesterlichen Dienstes in den 1970er-Jahren zurückgehen.

20. September 2018

Das erste Verfahren, das am 15. August 2018 begonnen hatte, endet damit, dass die Geschworenen sich nicht einigen können.

11. Dezember 2018

Das Wiederaufnahmeverfahren, das am 7. November 2018 begonnen hatte, endet mit einem Schuldspruch.

26. Februar 2019

Die Staatsanwaltschaft lässt den zweiten Teil der Anschuldigungen, die auf die 1970er-Jahre zurückgehen, fallen.

27. Februar 2019

Kardinal Pell kommt in Untersuchungshaft und wird ins Gefängnis gebracht.

13. März 2019

Kardinal Pell wird zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt.

5. bis 6. Juni 2019

Berufungsverhandlung am Supreme Court of Victoria.

21. August 2019

Die Berufung wird mit 2:1 Stimmen abgewiesen.

11. bis 12. März 2020

Berufungsverhandlung am High Court of Australia.

7. April 2020

Der High Court hebt mit 7:0 Stimmen alle bisherigen Schuldsprüche auf. Kardinal Pell wird aus der Haft entlassen.

41. WOCHE

DER ADVENT BEGINNT

1. Dezember bis 7. Dezember 2019

Erster Adventssonntag, 1. Dezember 2019

Das Kirchenjahr ist eine wunderbare Erfindung, die die katholische Kirche vom Judentum übernommen und an die christliche Lehre angepasst hat. Wie andere Australier bin ich mit den weltlichen Weihnachts- und Osterfeiertagen aufgewachsen und habe immer auch an den religiösen Feiern teilgenommen. Den Jahreskreis habe ich als selbstverständlich betrachtet, doch ich habe ihn mit der Zeit immer mehr verstanden und geschätzt.

Jetzt aber weiß ich die Fastenzeit und Ostern, Pfingsten, den Advent, Weihnachten und sogar die Zeiten im Jahreskreis auf eine neue und tiefere Weise zu schätzen, weil sie meinem ruhigen Leben im Gefängnis Struktur und Sinn geben.

Die jüdische und christliche Geschichte geht weiter und hat einen Anfang mit der Schöpfung und mit Adam und Eva. Die Juden warten noch immer auf den verheißenen Messias, den wir in Christus erkennen, der am Ende der Zeiten als Richter zurückkommen wird. Die Christen glauben nicht an einen Kreislauf der immerwährenden Wiederkehr, an ein Leben der Reinkarnation nach dem Tod. Man kann hier eine andere Grundlage – anders als einen rationalen Gott – für die Theorien vom Urknall, von der Evolution und sogar vom Fortschrittsmythos erkennen, die Illusion vom unvermeidlichen und universalen Fortschritt, der sich in den Verbrechen des 20. Jahrhunderts wieder explosionsartig Bahn gebrochen hat. Doch die Welt hat auf jedem Kontinent spektakuläre – wenngleich nicht universale – Fortschritte in Sachen Lebensdauer, Gesundheit und Bildung und bei der Bekämpfung von Hunger und Not erlebt.

Den Pessimismus der Weisheitsliteratur – dass es nichts Neues unter der Sonne gibt (Koh 1,9) – haben die Christen überwunden, da wir dem Jüngsten Gericht (Mt 25) und dem neuen Himmel und der neuen Erde entgegengehen (Offb 21,1). Im jährlichen Festzyklus feiern wir, was das Volk Gottes bereits erfahren hat, und richten den Blick hoffnungsvoll nach vorn.

Meine Überlegungen zu dieser erfreulichen Erkenntnis wurden durch die Tatsache ausgelöst, dass die beiden nordamerikanischen Protestanten – beide exzellente Prediger mit einer riesigen Gemeinde –, die ich mir jeden Sonntag im Fernsehen anschaue, keinem erkennbaren liturgischen Kalender folgen. Ich bin schon neugierig, wie sie es mit Weihnachten halten werden, denn Oliver Cromwell hat das Fest im 17. Jahrhundert in England verboten und den 25. Dezember zu einem Fasttag erklärt, an dem man keinen Plumpudding essen durfte. Sogar in einigen Teilen der Vereinigten Staaten war das Fest einst gesetzlich verboten.

Father Martin Dixon trug ein blaues Messgewand, als er die Messe vom ersten Adventssonntag feierte. Wie er erklärte, ist diese Farbe von der Kirche als Alternative zum strengeren Violett der Fastenzeit zugelassen. Wieder etwas gelernt.

Joseph Prince1 forderte uns auf, »in euren dunkelsten Träumen Antworten zu finden«. Dabei trug er ein dunkles Jackett, Jeans, drei Ringe und Armbänder in einer dunklen, gedämpften Farbe. Er predigte über das 20. Kapitel der Apostelgeschichte und rief seiner Gemeinde ins Gedächtnis, dass sie das Licht der Welt sei und noch heller strahle, wenn sie sich versammle. Er erzählte die Geschichte des Eutychus, der von Paulus geheilt wurde, nachdem er bei dessen Predigt eingeschlafen und aus dem Fenster gefallen war. Die Episode zeigt auf, weshalb Paulus so wenig auf seine weltliche Weisheit und Beredsamkeit gab, und doch war er ein religiöses Genie. Der anglikanische Bischof und Exeget N. T. Wright hat Paulus’ intellektuellen Beitrag mit dem des Aristoteles verglichen, was mich sehr überrascht hat, als ich es zum ersten Mal las. Doch Wright weiß viel mehr über den hl. Paulus und möglicherweise auch über Aristoteles als ich. In puncto Sünde war Prince recht deutlich. Er sagte zu seiner Gemeinde: »Ihr seid auch gerettet, wenn ihr an der Welt durchaus Gefallen findet.« Im Glauben Fortgeschrittene verstehen das.

Joel Osteen2 drängte uns nicht zum ersten Mal, »aus dem Negativen auszubrechen«. Während ich ihm zuhörte, bekam er Konkurrenz von einem zornigen Insassen, der am anderen, lauten und oft übelriechenden Ende des Trakts brüllte und gegen die Tür schlug. Joel erklärte, dass die Wurzeln der Bitterkeit im Verborgenen wachsen, Gott uns aber für jede Jahreszeit Gnade schenkt, sodass wir unseren Geist selbst davon frei machen können. Zum Schluss sprach er über den älteren Bruder in der Geschichte vom verlorenen Sohn, der sich weigerte, am Fest teilzunehmen, das, wie Joel uns in Erinnerung rief, ohne ihn stattfand.

Songs of Praise wurde aus Chester [England] übertragen, wo die Christingles3 erfunden wurden. Diese Weihnachtsdekoration besteht aus einer Orange, in die man eine brennende Kerze und vier Zahnstocher mit aufgespießten Süßigkeiten hineinsteckt. Gute traditionelle anglikanische Kirchenlieder und »Christ Be Our Light« wurden gesungen.

Das Stundengebet am heutigen ersten Adventssonntag bringt die Dinge auf den Punkt:

Herr, unser Gott, alles steht in deiner Macht […]. Hilf uns, dass wir auf dem Weg der Gerechtigkeit Christus entgegengehen und uns durch Taten der Liebe auf seine Ankunft vorbereiten, damit wir den Platz zu seiner Rechten erhalten, wenn er wiederkommt in Herrlichkeit. Er, der in der Einheit des Heiligen Geistes mit dir lebt und herrscht in alle Ewigkeit.

Montag, 2. Dezember 2019

Nachdem ich 18 Jahre lang überwiegend in Sydney und später in Rom gelebt habe, habe ich mich daran gewöhnt, im Sommer dort zu bleiben. Das wechselhafte Wetter in Melbourne ist wieder neu für mich, nachdem ich so lange weg war, und in den beiden Stunden im Garten fror ich sehr. Es war so kalt, dass ich mir unter meinem Gefängnisoberteil einen aufgeschlagenen Spectator um meinen Bauch herumwickelte.

Meine Erinnerung, dass es in dem Garten eine Menge Blumen gibt, erwies sich als korrekt. Dort blühen gerade etliche kleinblättrige einheimische Blumen, die sehr hübsch aussehen. Niemand schneidet die abgestorbenen oder die vielen verblühten Rosenköpfe ab, obwohl schon eine Menge neuer, schöner Blüten aufgegangen sind. Es sieht ganz so aus, dass es kein Seniorenheim für Rosen gibt, wo man die, mit denen es ernsthaft bergab geht, vor den Augen der Öffentlichkeit verbergen kann.

In London hat ein islamistischer Terrorist bei einer Konferenz zum Thema »Resozialisierung« zwei Menschen erstochen. Er wurde auf der London Bridge nicht weit vom Schauplatz der früheren terroristischen Morde erschossen, und der Vater eines der erstochenen Männer, eines Cambridge-Absolventen, der das Wochenende organisiert hatte, hat sich dagegen ausgesprochen, die Gräueltat zu instrumentalisieren, um härtere Bestrafungen durchzusetzen. Das hier ist mehr als nur die Spur Satans. Das pure Böse.

Tony Abbott4 hat mich besucht und damit im Gefängnis für einigen Wirbel gesorgt. Erwartungsgemäß hatte die Presse rasch davon Wind bekommen und erwartete ihn am Ausgang. Er sagte lediglich, dass es ihn freue, in Melbourne zu sein, und dass er einen Freund besucht habe. Einige Medien wollten, dass wir uns gemeinsam äußern, aber wir haben dazu keine Erklärung abgegeben.

Tony ist ein echter und loyaler Freund. Er war der erfolgreichste Oppositionsführer in der Geschichte Australiens, aber als Premierminister weit weniger glücklich. Er hatte unter dem wiedererstarkten Antikatholizismus in Australien zu leiden, und ich glaube, dass die Missbrauchskrise, die die Kirche erschüttert, auch ihm als prominenten Katholiken geschadet hat. Dass er mit mir befreundet ist, war ein weiteres Handicap.

Auch wenn er nicht mehr für ein Amt kandidiert, brauchte es doch Mut, mich hier zu besuchen. Er erwähnte, dass niemand ihn gebeten habe, sich für mich zu verwenden, und ich erklärte, dass ich das entschieden unterstütze. »Um mir bei den Wahlen nicht zu schaden?«, fragte er schnell, und ich bejahte.

Wir sprachen über die Arbeit des Ramsay Centre for Western Civilisation, die gerade jetzt so wichtig ist, wenn man bedenkt, dass die laizistische Linke beinahe die gesamte Hochschulbildung und insbesondere die Geisteswissenschaften kontrolliert. Es sieht so aus, als würde sich die Australische Katholische Universität als dritter Partner – neben den Universitäten von Wollongong und Queensland – an der Stiftung beteiligen. Ich war überrascht und erfreut zu hören, dass das Ramsay Centre for Western Civilisation eine Spende für das Campion College getätigt hat.

Tony ist genau wie ich ein Bewunderer meines kürzlich verstorbenen Freundes Father Paul Stenhouse und ich erzählte ihm, wie sehr Paul sich darauf gefreut hat, das Antlitz Christi zu sehen. Dies führte uns zu einer Diskussion darüber, wie wohl das Leben nach dem Tod aussehen wird, und wir kamen auf Pauls Argument der Realität der menschlichen Seele zu sprechen. Obwohl ein erwachsener Mensch sich körperlich völlig verändert im Vergleich zu einem Neugeborenen, behält er seine Identität; seine Seele bleibt dieselbe. Ein oder zwei Ärzte, mit denen Tony befreundet ist, sind der Meinung, dass es auch eine gewisse physische Kontinuität gebe, das betreffe einige Komponenten (im Gehirn, glaube ich).

Tony war auch an den neuesten Finanznachrichten aus Rom interessiert. Kartya5 hatte mir den Überblick des vatikanischen Presseamts vom 28. November geschickt. Zwei Informationen waren neu für mich. Ein zweites Mitglied der AIF6 war zurückgetreten, Juan Zarate, der früher im US-Finanzministerium für den Kampf gegen Finanzkriminalität zuständig gewesen war. Noch ominöser war, dass Il Fatto Quotidiano in der Ausgabe vom 28. November 2019 schwerwiegende Zweifel an der Arbeit äußerte, die der neue AIF-Präsident Carmelo Barbagallo zwischen 2011 und 2019 – in Sachen Bankenskandale eine denkbar üble Zeit – bei der Banca d’Italia geleistet hatte. Der Autor behauptet, Barbagallo sei zum Rücktritt aufgefordert worden, nachdem der Eindruck entstanden war, dass er Informationen zurückgehalten und bestimmte Maßnahmen behindert habe. Solche Vorwürfe sind schnell ausgesprochen und werden häufig von Feinden lanciert, doch es wäre ein weiterer Todesstoß, wenn der Mann an der Spitze der AIF kein fähiger, entschlossener und mutiger Gegner der Korruption wäre.

Mein verbliebenes natürliches Hüftgelenk macht sich ein bisschen bemerkbar und verursacht mir beim Gehen manchmal leichte Beschwerden, aber im Sitzen, Stehen oder Liegen habe ich keine Schmerzen.

Die letzten Worte, die Prospero in Shakespeares Der Sturm an das Publikum richtet, passen nicht hundertprozentig zum Ende dieses Tages, aber die Sprache ist wundervoll und die Denkart zutiefst christlich:

Verzweiflung ist mein Lebensend’,

Wenn nicht Gebet mir Hilfe bringt,

Welches so zum Himmel dringt,

Dass es Gewalt der Gnade tut

Und macht jedweden Fehltritt gut.

Wo ihr begnadigt wünscht zu sein,

Lasst eure Nachsicht mich befrei’n.

Dienstag, 3. Dezember 2019

Nachdem ich den Fernsehapparat angestellt hatte, setzte ich mich, um mein Frühstück aus Toast, Butter, Marmelade und einem halben Liter Milch zu verzehren. Dabei stellte ich fest, dass Tony Abbotts Besuch bei Kardinal Pell Schlagzeilen gemacht hat. Auf Channel 7 wird nach wie vor mein Titel erwähnt, während ABC7 es vorzieht, mich als »in Ungnade Gefallenen« und als »verurteilten Pädophilen« zu bezeichnen. Die heutige Medienwelt ist sehr schnell und erreicht die Öffentlichkeit beinahe unmittelbar. Eine meiner Briefpartnerinnen in den USA schrieb mir, sie hätte gehört, dass ich im Gefängnisgarten arbeite!

Heute Morgen habe ich mit Terry Tobin8 gesprochen, der bald für die Malteser nach Osttimor aufbrechen wird. Seiner Meinung nach bewirkt eine öffentliche Geste wie die von Tony in der breiten Bevölkerung viel mehr als kluge Artikel.

Gestützt auf meine neunjährige Erfahrung in den ärmeren Teilen Asiens als Vorsitzender von Caritas Australia gab ich Terry die ernste Warnung von Father Sam Dimattina (die ich beherzigt hatte) mit auf den Weg, kein Wasser, sondern ausschließlich Bier zu trinken und reichlich gekochten Reis zu essen. Und ich hatte noch einen ausgefallenen Ratschlag für ihn, dass ein wirklich vorsichtiger Reisender, der auf keinen Fall Magenprobleme bekommen möchte, für das Zähneputzen Whisky und Zahnpasta benutzen sollte.

Eine ereignislose Stunde in der Turnhalle; allerdings hat es eine Weile gedauert, bis mir beim Tischtennis eine ununterbrochene Serie von je 100 Vor- und Rückhandschlägen gelungen ist. Habe ein bisschen länger auf dem Laufband trainiert.

Schwester Mary9 hat mir die heilige Kommunion gebracht und mir erzählt, dass sie mit Chris Meney10 gesprochen habe, da Erzbischof Fisher gerne vorbeikommen und die Messe für mich feiern würde. Leider ist das nicht möglich, weil persönliche Besucher nicht gleichzeitig in offiziellem seelsorglichem Auftrag ins Gefängnis kommen dürfen und weil die Behörden – erst recht seit gestern – kein öffentliches Aufsehen erregen wollen. Ich denke, wir sollten Father Jerome noch einmal bitten, die Messe zu lesen.

Heute sind rund ein Dutzend Briefe angekommen, was zu bewältigen ist. Weitere 20 bis 30 Briefe habe ich zwar bereits gelesen, aber noch nicht sortiert oder für mein Tagebuch verwendet – ein ziemlicher Rückstau, zumal auch noch eine ganze Reihe Briefe geschrieben werden muss.

Einige Briefschreiber erwähnen, dass sie von mir geträumt hätten. Ein Brief kommt von einer Dame aus Queensland. Sie schreibt: »Ich habe einen Traum gehabt, in dem Sie Ihre roten und weißen Gewänder getragen haben, und durch bunte Glasfenster schien die Sonne auf Sie. Ich hoffe, der Traum wird wahr.«

Sie erwähnte noch etwas, das ich sehr zu schätzen wusste, weil in den etwa 2700 wohlwollenden Briefen, die ich bekommen habe, darauf (wenn überhaupt) nur selten eingegangen wurde. Sie schrieb: »Was für ein Mensch wird Priester und Kardinal und verbringt dann Jahre damit, diese Probleme des Missbrauchs in der Kirche zu bewältigen. Das ist eine andere und schwierige Stufe des Dienstes. Sie müssen extrem breite Schultern haben.« Von meinen tatsächlich (nicht breiten) oder metaphorischen Schultern einmal abgesehen, habe ich einfach nur meine Pflicht getan – und doch ist es ermutigend zu wissen, dass jemand das anerkennt. Sie erwähnte auch die Gebetsgruppe meiner Unterstützer auf Facebook, die St Peter in Chains (»Der hl. Petrus in Ketten«) heißt. Wir haben in Melbourne in fünf Jahren 300 Anzeigen bearbeitet und die Kläger unterstützt.

Eine andere Dame, die ebenfalls von mir geträumt hatte, diesmal aus Dundas in New South Wales, schrieb einfach: »In dem Traum waren Sie guter Dinge«, was sie dazu veranlasst hat, eine weitere Messe für mich zu bestellen. Auch ich hoffe und bete, dass der Oberste Gerichtshof [von Australien] richtig und gerecht entscheidet und meine Verurteilung aufhebt im Sinne all derer, die mich unterstützen, und zum Wohl der Kirche. Schon dass der Oberste Gerichtshof meine Berufung angenommen hat, wurde von den »wahren Gläubigen« – nicht meinen einzigen Unterstützern – mit Erleichterung und Freude quittiert. Sie haben eine Chance verdient.

Ein paar andere Briefe behandelten unterschiedliche Themen. Ein Briefschreiber aus Queensland wies darauf hin, dass die Bibel für einen Schuldspruch zwei oder drei Zeugen verlange, auch wenn nach den Noachidischen Geboten ein Zeuge ausreiche. Er frage sich, ob das der Weg der Zukunft sein werde. Dann verglich er meine Verurteilung mit den kommunistischen Schauprozessen unter Stalin in den 1930er-Jahren. Das geht einen Schritt zu weit selbst im Hinblick auf das Berufungsgericht, denn die Sowjets hatten nie jemanden wie Richter Weinberg.

Father David Cartwright, ein großer Unterstützer, der mir regelmäßig schreibt, zitierte aus der langen Predigt, die John Kardinal O’Connor 1997 bei der Weihe des neuen Altars in der St Patrick’s Cathedral in Melbourne gehalten hat. Der Kardinal – eine meiner Inspirationsquellen – sagte, dass nicht das Leid, sondern vergebliches Leiden die größte Tragödie sei. Alles Leiden, ob klein oder groß, kann genutzt werden, um Gutes zu bewirken. Einige Verse aus dem 24. Psalm eignen sich als Schluss:

Wer darf hinaufziehn zum Berg des HERRN,

wer darf stehn an seiner heiligen Stätte?

Der unschuldige Hände hat und ein reines Herz,

der seine Seele nicht an Nichtiges hängt.

Mittwoch, 4. Dezember 2019

Gestern Abend brachte der SBS11 eine einstündige Sendung über den Advent und die Weihnachtsfeierlichkeiten in der St Paul’s Cathedral in London, die sich vor allem auf den Chor konzentrierte. Ich bin nicht gerade begeistert von Sir Christopher Wrens Meisterwerk, weil der Neubau der beim Großen Brand von London 1666 zerstörten Kathedrale, wenn er leer ist, an einen Konzertsaal erinnert. Wie der Melbourner Kricketplatz, der schrecklich aussieht, wenn er leer ist (der Kricketplatz von Sydney ist immer schön), wurde die St Paul’s Cathedral durch die große weihnachtliche Festgemeinde verwandelt und bot einen großartigen Rahmen für die Weihnachtsgottesdienste und die Eucharistiefeier im katholischen Stil.

Ich habe immer Wert auf die Liturgie und die Musik an den Kathedralen St Patrick’s und St Mary’s gelegt und auf die Pflege dieser beiden Traditionen, und das bestärkt mich in meiner Entschlossenheit, eine Aufhebung meines Schuldspruchs zu erwirken.

Eine gotische Kathedrale ist für die Feier des Gottesdienstes und die Besinnung auf das Jenseitige besser geeignet als die St Paul’sCathedral – doch die Liturgie ist ähnlich ehrfürchtig und dem Ritual entsprechend. In beiden Kathedralen drängen sich die Frommen, die Zweifler, diejenigen, die Ruhe und Frieden suchen, und die unvermeidlichen Touristen. Beide Bauwerke sind teure Ungetüme, die von effizientem Personal, Freiwilligen und einem harten Kern von »Gemeindemitgliedern« instand gehalten werden.

In Rom habe ich unsere traditionellen Weihnachtsgottesdienste immer vermisst, und dieses Jahr im Gefängnis wird die einzige Messe, die ich besuchen kann, am Tisch im Gemeinschaftsraum von Trakt 8 gefeiert werden. Hoffentlich machen meine Mithäftlinge nicht allzu viel Lärm. Der Rest muss übers Fernsehen und – das ist der wichtigere Teil – durch meine Gebete erfolgen.

Die Wochen sind nicht mehr von den Besuchen meiner Anwälte beherrscht, sodass ich meine Zelle heute – abgesehen von meinen Hofgängen – nur einmal, nämlich zur monatlichen Blutuntersuchung in der medizinischen Abteilung, verlassen habe. Mein Training musste ausfallen, weil die Sporthalle heute geschlossen war.

Ich habe es endlich geschafft, den Stapel mit liegen gebliebenen Artikeln und Briefen in Angriff zu nehmen, und bin mit dem Schreiben zweier Briefe, die überfällig waren, ein bisschen weitergekommen. Nach dem Mittagessen habe ich im Sitzen ein Schläfchen gehalten und beschlossen, das ab sofort jeden Tag zu tun.

Eine Dame aus Doncaster schrieb, dass sie, nachdem ich meine Berufung am Supreme Court verloren hatte, vor lauter Aufregung zunächst nicht in der Lage gewesen sei, die 300-seitige Urteilsbegründung zu lesen. Erst nach dem Erfolg am High Court habe sie die 300 Seiten gelesen; in ihrem Brief heißt es weiter: »Ich kann nur sagen, dass Richter Weinbergs Abhandlung ohne Zweifel australische Rechtsgeschichte schreiben wird. Sie ist außergewöhnlich.« Amen hierzu. Sie zitierte weitere Texte, deren Verfasser mir den Rücken stärken wollten, und erwähnte Russell Marks’ Artikel im Saturday Paper.12 Mir war nicht bewusst, wie linksgerichtet das Blatt ist, weshalb ich die Bedeutung des Artikels unterschätzt hatte. Sie hat eine Facebook-Seite »Cardinal Pell Trial« mit 900 Followern und es werden immer noch mehr, wie sie schreibt.

Eine andere Dame, die mir regelmäßig schreibt, stammt aus Dallas in Texas und hat eine Zeit lang in Wyoming gelebt. Ihre Briefe haben mir immer wieder Stoff für Gedanken und Kommentare geliefert, die ich in diesem Tagebuch notiert habe. Sie hofft, dass ich Tagebuch schreibe, betet regelmäßig für mich und bittet auch den hl. Thomas Morus in meinen Anliegen um Fürsprache. Sie hat mir ein überraschendes Kompliment gemacht. »Selbst im Gefängnis hat Ihr Leben einen Sinn und Zweck. Ohne Ihren Prozess hätte ich ganz sicher kein solch lebendiges, mitreißendes Vorbild, das mich in Zeiten des Zweifels und der Versuchung davon abhält, der Kirche, die sich in einem beklagenswerten Zustand des Verfalls befindet, den Rücken zu kehren.« Gebe Gott, dass wir nicht mehr allzu viele Entwicklungen miterleben müssen, die gute Menschen dazu bringen, an ein Schisma zu denken!

Ich beende den heutigen Eintrag mit einem Rat, den der hl. Pio von Pietrelcina (für mich immer noch Pater Pio) an jemanden geschrieben hat, der über seine Lage zutiefst unglücklich war (das Zitat verdanke ich meiner Freundin aus Dallas):

Der Pfad, auf dem du gehst, wird dich in den Himmel führen. Und er ist umso sicherer, weil Jesus selbst dich an der Hand nimmt. Sorge dich nicht wegen deiner geistlichen Trockenheit und Trostlosigkeit. […] Denk an das, was unser Herr gesagt hat: »Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich.«

Donnerstag, 5. Dezember 2019

Der heutige Tag lief anders als erwartet. Mr Harris hatte angekündigt, dass ich vor meinen zwei Stunden im Garten heute eine Stunde in der Sporthalle verbringen dürfte, doch dem Kollegen, der an seiner Stelle Dienst hatte, war der Organisationsaufwand ein bisschen zu groß, weil ich zwischen den beiden Terminen für eine halbe Stunde in die Zelle hätte zurückgehen müssen. Am Ende meinte er, es wäre zwar mein Recht, aber ich gab nach und sagte zu ihm, dass ich nur in den Garten gehen würde.

Der Himmel war leicht bewölkt, aber mit etwas über 20° Celsius war es ein schöner Tag, und ich bin mit dem Manifest der Catholics for Renewal ein gutes Stück weitergekommen.13 Es ist ein drastrisches Buch im wahrsten Sinne des Wortes. Ich kann den Landwirt aus Wagga Wagga verstehen, der während eines Treffens im Vorfeld des Plenarkonzils,14 bei dem Erneuerungs-Enthusiasten aus Canberra das Wort führten, hinausging und erklärte: »Es ist okay, wenn ihr eine neue Kirche wollt. Geht und macht euch eine, aber kommt nicht hierher und bringt Unruhe in unsere Kirche.« Das ist keine Option für mich, nicht einmal in meinem Alter, aber die Gefahr, dass das Plenarkonzil Streit und weiteren Schaden anrichtet, ist real.

Um halb drei Uhr bat ich [im Garten] den Wärter nachzusehen, wo meine Besucher blieben, denn sie sollten schon da sein, und ich hielt es für unwahrscheinlich, dass sie sich verspäteten. Die Wärter wüssten ja, wo ich sei, gab er zurück, und würden Bescheid geben, wenn der Besuch eintreffe. Zehn Minuten später fragte ich erneut nach, höflich, aber nachdrücklich, und schlug ihm vor hineinzugehen und nachzufragen, was los sei. Er ging hinein, kam zurück und teilte mir mit, dass sie nicht gekommen seien.

Nach 25 Minuten (die Besuchszeit dauert eine halbe Stunde) wurde ich schließlich von den Wärtern abgeholt, die mich in meine Zelle zurückbringen sollten. Natürlich war ich aufgebracht. Ich fragte direkt, was los sei, und wurde aus dem Büro wieder in den Besuchsraum zurückgebracht; die Jalousie wurde heruntergelassen und sie sprachen mit einem Neuankömmling. Dann durfte ich wieder eintreten und erfuhr, dass man mich in Trakt 8 zurückbringen würde. Ich wartete, bis die Wärterin ihr Telefonat beendet hatte, und fragte: »Was ist los?« Sie antwortete, dass sie sich nur an ihre Anweisungen halte, da die Besucher nicht auf der Liste gestanden hätten. Ich fragte sie, wer diese Anweisung erteilt habe, doch sie antwortete ausweichend. Ich erinnerte mich genau, dass ich sie namentlich und rechtzeitig angemeldet hatte. Meine Notizen in meiner Zelle bestätigten mir, dass ich die Namen am 2. Dezember eingereicht hatte.

Nachdem ich diese Information überprüft hatte, machte ich mir eine Notiz und erkundigte mich erneut, was vorgefallen war. Dabei hielt ich mich an das übliche Prozedere, das heißt, ich schob den Zettel mit der Notiz unter der Tür hindurch in den Flur.

Da der Hauptwachhabende bei meiner Rückkehr praktischerweise abwesend war, schickten sie schließlich zwei Wärter, einen nach dem anderen, die beide freundlich waren und mir erklärten, dass neuerdings das Zentralbüro für die Genehmigung meiner Besuche zuständig sei und ich die betreffenden Personen fünf Tage vorher anmelden müsse. Das war mir neu und natürlich wurde mir auch keine Begründung für eine solche Maßnahme gegeben.

Ich bedankte mich für die Information und erklärte, dass es hilfreich gewesen wäre, wenn ich das vorher gewusst hätte, denn dann hätte ich meinen Freunden, die beide aus New South Wales angereist waren, den Zeitaufwand und die Enttäuschung ersparen können. Meine Besucher waren Father Victor Martinez, der Superior von Opus Dei in Australien, und Prof. Gerald Fogarty, der Leiter des Warrane College an der Universität von New South Wales.

Ich werde mit meinen Anwälten über die Angelegenheit sprechen, aber ich neige zu dem Vorgehen, mich mit einem höflichen Brief direkt bei der Gefängnisleitung zu beschweren. Der Wärter draußen im Garten war kühl und kurz angebunden gewesen und hatte vermutlich gelogen, als er sagte, dass die Besucher nicht gekommen seien. Ich vermute, dass die Sache etwas mit dem Rummel um Tony Abbotts Besuch zu tun hat und eher eine Revanche als das Ergebnis bürokratischer Verwicklungen ist. Ich will deswegen keinen großen Aufstand machen, aber ich werde auf jeden Fall mit meinen Anwälten darüber sprechen.

Meine Mutter pflegte in solchen Fällen zu sagen: »Es ist ein Vergnügen für den Corker15, dass er am Leben ist, und der Wille Gottes, dass er Plattfüße hat.« Ich habe viele Iren aus meiner Bekanntschaft gefragt, ob sie dieses Sprichwort kennen, aber nur ein einziger meinte, er habe einmal etwas Ähnliches gehört.

Als ich in meine Zelle zurückkam, erwartete mich ein riesiger Umschlag voller Briefe und fotokopierter Artikel: genug Arbeit für mehrere Tage. Ich verbrachte zwei Stunden damit, vier weitere hervorragende detaillierte Artikel, die Christopher Friel16 über meinen Fall verfasst hatte, zu lesen, in denen er aufzeigte, weshalb der Kläger gezwungen gewesen war, seine Geschichten über den Schauplatz der »Übergriffe« in der Sakristei und auf dem Flur zu ändern.

Mein gestriger Mittagsschlaf war wohl doch nicht so eine gute Idee, denn ich habe letzte Nacht schlechter geschlafen als sonst. Also habe ich heute keine Siesta gehalten.

Der hl. Anselm war Erzbischof von Canterbury (1093–1109), und seine Werke Proslogion und Cur Deus Homo über Christus und seine göttliche Natur sind Klassiker, die den fast 700 Jahre älteren Klassiker eines weiteren Bischofs, des hl. Athanasius von Alexandrien, Über die Menschwerdung des Logos, in gewisser Weise ausgleichen und weiterentwickeln. Athanasius hat die wahre Gottheit und Menschheit Christi wirkungsvoller als jeder andere gegen die Angriffe des alexandrinischen Priesters Arius verteidigt. Dessen Anhänger, die die Gottheit Christi leugnen, sind auch heute noch lebendig und wohlauf – allerdings keine bekennenden Katholiken.

Der hl. Anselm schreibt:

O Herr. wie lange noch? Wie lange noch, Herr, vergisst du uns? Wie lange noch verbirgst du dein Angesicht vor uns? Wann wirst du herschauen und uns erhören? Wann gibst du dich uns wieder zurück? Gib dich uns wieder, damit es uns wohlergehe; denn wir sind arm ohne dich. Hab Erbarmen mit unserm Mühen und unsern Versuchen, zu dir zu kommen; denn wir vermögen nichts ohne dich!

Freitag, 6. Dezember 2019

Obwohl ich nur einen kleinen Teil der vatikanischen Finanznachrichten gelesen habe, die mir gestern zugestellt worden sind, ist die Situation beunruhigend; nicht weil der Heilige Vater einen neuen Staatsanwalt des Vatikans (Promotor Iustitiae) und Präsidenten der AIF ernannt hat – das war hilfreich –, sondern weil die vatikanischen Behörden wie üblich den Kopf eingezogen und gewartet haben, dass der Sturm vorüberzieht. Anscheinend hat das jahrzehntelang funktioniert, doch man fragt sich, wie groß der unsichtbare Schaden ist, der unterhalb der Plimsoll-Marke17 in den Herzen der Gläubigen angerichtet worden ist. Unser Ansehen ist durch die Pädophilie-Skandale erheblich beschädigt worden, und deshalb müssen wir entschlossen gegen Finanzkriminalität vorgehen. Ich war bestürzt, als ich neulich erfahren habe, dass rund 40 Prozent der US-amerikanischen Katholiken einer Umfrage zufolge darüber nachdenken, aus der Kirche auszutreten.

Ein tieffrommer Häftling schreibt mir regelmäßig. Er verehrt den hl. Pater Pio, ist verheiratet, hat Kinder im Teenageralter und behauptet, wegen der Machenschaften einiger korrupter Polizisten zu Unrecht verurteilt worden zu sein. Er hat nicht das nötige Geld, um Berufung einzulegen, aber heute sollte er den obersten Rechtsberater der Regierung von Victoria treffen, um seine Sache vorzubringen. Das wird inzwischen vorbei sein (es ist jetzt ca. 18.30 Uhr) und ich hoffe, dass es gut gelaufen ist. Ich habe heute all meine Gebete in diesem Anliegen aufgeopfert. Ich weiß nicht, wie viele Häftlinge nicht in der Lage sind, Geld für Anwälte aufzubringen, doch es werden relativ viele sein. Ich weiß nicht viel über den obersten Rechtsberater der Regierung von Victoria und bin skeptisch, was die antikatholische Andrews-Regierung betrifft,18 aber ein Regierungsmitglied, das sich die Zeit nimmt, mit einem Häftling wie meinem Freund zusammenzutreffen, nötigt mir Bewunderung ab.

Nach wie vor schreibt mir eine ganze Reihe von Insassen. Ein Mithäftling aus dem ländlichen Victoria hat große Sorgen: Sein Sohn hat gerade einen Monat im Gefängnis gesessen, seine Schwester hat kürzlich versucht, sich das Leben zu nehmen, und seine Mutter hat eine Diagnose bekommen, wonach sie nur noch ein paar Monate zu leben hat. Er bat mich, dafür zu sorgen, dass jemand von der Gemeinde mit seiner sterbenden Mutter Kontakt aufnimmt. Schwester Mary hat sich bereit erklärt, den Pfarrer zu kontaktieren und um einen Besuch zu bitten, obwohl wir zurzeit noch nicht einmal die Adresse kennen! Wir werden sehen, ob wir in der Sache irgendwie vorankommen.

Paul Galbally kam heute Nachmittag pflichtgemäß vorbei, um über das gestrige Besuchsfiasko zu sprechen. Ich befinde mich an der Toorak-Stirnseite19 von Trakt 8; hier haben wir Ruhe und frische Luft und die Wärter haben darauf bestanden, dass wir durch den Haupteingang und nicht durch das laute, oft übelriechende andere Ende des Trakts hinausgehen. Das war eine gute Entscheidung, denn der Gestank war furchtbar, weil ein Häftling – vermutlich unser Schreier – seine Zelle absichtlich verunreinigt hatte. Es ist kein einfacher Trakt für die Wachhabenden, doch sie haben nur gelacht und gesagt, an solche Zumutungen seien sie gewöhnt.

Nachdem ich Paul die gestrige Geschichte kurz erzählt hatte, kamen wir überein, dass er sich mit dem Gefängnisdirektor in Verbindung setzen wird, um mit ihm die Lage zu besprechen. Father Victor hatte ihn gestern, nachdem man sie weggeschickt hatte, gleich angerufen, doch Paul hatte bei Gericht zu tun gehabt. Er hat mir auch erklärt, dass ich die Verhandlungen am Obersten Gerichtshof nicht live werde mitverfolgen können, weil sie nicht übertragen werden, und dass ich auch nicht persönlich dabei sein darf, selbst wenn es möglich wäre, mich nach Canberra bringen zu lassen. Wir besprachen einige Aspekte der Friel-Artikel über die Prozesse, und ich kündigte ihm an, dass ich eine Liste mit den Texten erstellen würde, die die Anwälte lesen sollten.

Es war ein wolkiger Tag, aber bei meinen beiden Hofgängen war das Wetter angenehm. Meine rechte Hüfte bereitet mir weniger Probleme, was auch damit zu tun hat, dass ich mich nicht mehr nach unten beuge, um meine Zehen zu berühren. Allerdings kann ich meine Füße abwechselnd auf die Bank stellen und Dehnungsübungen machen, ohne dass mir das Beschwerden verursacht.

Ich muss noch mein tägliches Pensum im Buch The Sadness of Christ des hl. Thomas Morus lesen. Die Sprache ist natürlich eine andere, die Sätze sind lang, aber es ist die klassische katholische Lehre über das Erlöserleiden. Bisher ist es vorhersehbarer, ja konventioneller, als ich gedacht hätte.

Zwei Zeilen aus Psalm 20 treffen den Nagel auf den Kopf:

Der HERR antworte dir am Tag der Bedrängnis,

der Name des Gottes Jakobs schütze dich.

Samstag, 7. Dezember 2019

Wieder ein ruhiger Tag mit einer kleinen Flut von Briefen, die ankamen, während ich mich noch durch die liegen gebliebene Post hindurchgearbeitet habe. Leider wurde meine Zeit in der Sporthalle erneut gestrichen, weil das Gefängnis wegen irgendwelcher Probleme abgeriegelt werden musste – was genau passiert ist, weiß ich nicht. Immerhin konnte ich beim morgendlichen und abendlichen Hofgang in dem kleinen Bewegungsbereich meine Übungen machen. Das Wetter war angenehm und nachdem der Mobilfunkdienst am Morgen nicht zur Verfügung gestanden hatte, konnte ich am Nachmittag drei Telefonate führen. Danny Casey20 erzählte mir, dass es in den letzten Tagen keine großen Neuigkeiten über die vatikanischen Finanzen gegeben habe, obwohl die Truppe, die sich für die Gerechtigkeit einsetzt, emsig am Werk ist. Mark Withoos21 sandte mir eine Reihe älterer Nachrichten aus Italien, in denen etliche Quellen – vom Wall Street Journal über La Repubblica bis hin zu den Boulevardblättern – ausführlich über die Skandale berichtet haben, eine aufregende Mischung aus finanziellem und sexuellem Fehlverhalten.

Mein guter Freund und regelmäßiger Briefpartner Eugene Ahearn schrieb, um seiner Begeisterung über Tony Abbotts Besuch Ausdruck zu verleihen und die Reaktion des Premierministers von Victoria, Daniel Andrews, zu beklagen, der den Besuch als »eine Schande, eine absolute Schande« bezeichnet hatte. Derryn Hinchs22 Kommentare waren vorhersehbar, aber dass Andrews sich in der Öffentlichkeit so unüberlegt äußern würde, hatte ich nicht erwartet. Über seine privaten Ansichten war ich mir im Klaren, doch solche öffentlichen Kommentare sind entlarvend, weil sie zeigen, wie viel die laizistischen Revolutionäre zumindest in emotionaler Hinsicht investiert haben, um zu erreichen und sicherzustellen, dass ich öffentlich an den Pranger gestellt werde. Außerdem verrät es einiges darüber, wie er die öffentliche Meinung in Victoria einschätzt, auch wenn ihm diese Attacke keine neuen Stimmen einbringen wird. Danny Casey erzählte mir heute von einem älteren Herrn in seiner Gemeinde in Sydney, der beim Rosenkranzgebet nach der Vorabendmesse immer darum bittet, für die politischen Gefangenen in der Volksrepublik Victoria und insbesondere für Kardinal Pell zu beten. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich Andrews je begegnet wäre.

Father John O’Neill von der St-John-Vianney-Pfarrei in Doonside im Bistum Parramatta hat mir wieder geschrieben. Er hat das St Mary’s College in Sydney besucht und dort im Domchor gesungen; er hatte – und hat wahrscheinlich noch immer – eine großartige Tenorstimme. Er ist ein herausragender Priester und hat in seiner blühenden, von Glauben und Gebet pulsierenden Gemeinde viele Jahre lang Großartiges geleistet. Er ist in vielerlei Hinsicht und im besten Sinne des Wortes ein Vertreter der alten Schule, doch er kennt alle Kunstgriffe, die man heute zum Überleben braucht. Bei meinem letzten Besuch in seiner Gemeinde ist er mit über 20 Messdienern und eine größeren Gruppe verschleierter junger Frauen – Mitglieder der Handmaids of the Lord (»Dienerinnen des Herrn«) – in einer Prozession in die Kirche eingezogen. Aus seiner Gemeinde gingen zahlreiche Berufungen hervor; drei besuchen zurzeit das Priesterseminar und ein weiterer, Father Jack Green, ist Pfarrer der Nachbargemeinde. Drei jüngere Ministranten denken ebenfalls darüber nach, Priester zu werden. Es ist ein exotischer Garten, aber er blüht, und die Früchte sind gut.

Außerdem ist er ein Schriftsteller mit einem trockenen und manchmal gnadenlosen Humor, dessen Figuren gewagt naturgetreu dargestellt sind. Der beste Vergleich, der mir für das Stück, das er mir geschickt hat, einfällt, sind die Geschichten über Don Camillo in Italien, nur dass der Pfarrer nicht gegen den kommunistischen Bürgermeister, sondern gegen die Fortschrittlichen kämpft. Der Held ist Father King, der nicht Freddie genannt werden will und an »Ospeditis« leidet, d. h., er lässt kein Fettnäpfchen aus und gewinnt die meisten seiner verbalen Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern, zu denen auch sein Bischof und Edna Bacciatutti, die Personalsachbearbeiterin der Diözese, gehören. Sämtliche Gemeindegremien treten zurück, der Bischof versucht ihn als Priester loszuwerden, doch er überlebt das Ganze und die Gemeinde gedeiht. Ich habe ihm gesagt, die Geschichte sei boshaft und sentimental, aber ich hätte sie von A bis Z genossen. Er hat auch schon einmal eine recht ausgefeilte Kurzgeschichte über die Absurditäten des nachkonziliaren Geschehens in den Priesterseminaren geschrieben: eine Komödie der Irrungen. Father John ist tiefgläubig, ein Mann des Gebets und, wenn er will, so charmant, dass er einen Geier dazu bringen könnte, von einem Kadaver abzulassen (wie jemand einmal über Lord Louis Mountbatten, den letzten Vizekönig von Indien, gesagt hat); aber er ist auch zäh und clever. Das musste er auch sein, um zu überleben. In den letzten Wochen hat er einen internationalen Brief unterschrieben, in dem dagegen protestiert wird, dass während der Amazonas-Synode ein Standbild der heidnischen Gottheit Pachamama im Petersdom in Rom aufgestellt worden ist. Ich habe ihm dazu gratuliert.

Der hl. Cyprian, Bischof von Karthago, starb 258 n. Chr. unter Kaiser Valerian den Märtyrertod. Er schreibt in seiner Abhandlung

Vom Segen der Geduld:

Dass wir Christen sind, ist eine Sache von Glauben und Hoffnung; damit aber Glaube und Hoffnung ihr Ziel erreichen können, ist die Geduld notwendig. Wir streben ja nicht nach gegenwärtiger Herrlichkeit, sondern nach künftiger, wie auch der Apostel Paulus mahnt: »Denn auf Hoffnung hin sind wir gerettet« (Röm 8,24).

42. WOCHE

EILMELDUNG AUS DEM VATIKAN

8. Dezember bis 14. Dezember 2019

Zweiter Adventssonntag, 8. Dezember 2019

Zum ersten Mal, seit ich im Gefängnis bin, hatte ich Magen-Darm-Beschwerden. Im Lauf des gestrigen Tages hatte ich Bauchschmerzen, und als ich heute Morgen aufwachte, stellte ich fest, dass ich im Schlaf das Bett ein wenig beschmutzt hatte. Nach den unvermeidlichen Toilettengängen begann ich den Tag mit einer Dusche. Der Hauptwachtmeister, dem ich von meinem Problem berichtete, war hilfsbereit, und die Schwestern aus der medizinischen Abteilung kamen, als ich gerade draußen im kleinen Bewegungsbereich war, und gaben mir ein paar Tabletten, ehe ich hastig in meine Zelle zurückkehrte.

Zu Mittag habe ich nur eine Kleinigkeit gegessen, doch nach einiger Zeit wurde es besser, und ich habe einen ruhigen Tag verbracht, statt mich weiter durch die liegen gebliebenen Artikel hindurchzuarbeiten. Später am Nachmittag habe ich mir das Finale des Australian-Open-Golfturniers angesehen.

Father Martin Dixon trug bei der Messfeier wieder sein blaues Gewand und hielt eine gute, kurze Predigt über den Aufruf Johannes’ des Täufers, den Pfad der Buße und des Glaubens zu beschreiten, der uns in unsere eigene Mitte führt. Das ist oft ein weiter Weg, vergleichbar mit einer Reise von der australischen Küste zum Uluru – oder Ayers Rock, wie er früher genannt wurde.

Joseph Prince predigte über die heilende Macht des Abendmahls. Er war seriös gekleidet: dunkler Anzug, offenes weißes Hemd, dunkelblaue Freizeitschuhe und nur zwei Ringe. Er hat die neutestamentlichen Texte über die Eucharistie ausgelegt und erklärt, dass alle, die Christus nachfolgen, Priester seien. Wir könnten das Abendmahl selbst feiern und empfangen und es sei mehr als eine bloß symbolische Gegenwart. Als sein Sohn neulich mit einer Kopfverletzung im Krankenhaus lag, habe der Junge dreimal am Tag das Abendmahl empfangen. Wenn wir aus dem Kelch trinken, würden unsere Sünden durch den Kreuzestod Jesu vergeben. Allerdings hat Joseph mit keinem Wort erwähnt, dass wir unsere persönlichen Sünden ausdrücklich bereuen müssen. Ich habe zwar nicht so ganz verstanden, warum die Reihenfolge wichtig ist: Wir müssen aus dem Kelch trinken, bevor der Bund verkündet wird. Ausgehend von seinen eigenen evangelikalen Aussagen kämpft er mit der Offenkundigkeit des Neuen Testaments. Ich bin neugierig, ob er jemals über das Neue Testament hinausgeht und sich mit den anderen Quellen aus den ersten christlichen Jahrhunderten beschäftigt. Dieses Studium der Patristik hat viele ehemals protestantische Pastoren, Scott Hahn zum Beispiel, in die katholische Kirche geführt – genau wie den hl. John Henry Newman.

Joel Osteen drängte uns, »in der Hoffnung zu erwachen« und um unsere Zukunft zu kämpfen. Wir sollen in unserer Größe voranschreiten und weiterkämpfen wie Mose und David, denn die christenfeindlichen Kräfte sind kein Zufall. Sie spüren die Fähigkeit der Christen zum Guten und wollen sie zerstören. Stürme können Gott nicht aufhalten. Wir müssen entschlossen und standhaft sein, damit wir sehen, wie der Herr uns die Rettung bringt. Joel verkündet nicht die ganze Botschaft des Herrn, aber das, was er sagt, ist richtig, und seine Predigt ermutigt mich, standhaft zu sein.

In Songs of Praise ging es heute um Weihnachtslieder. Der entsprechende englische Begriff Carols leitet sich vom griechischen Wort für »tanzen« ab und wurde vor etwa 700 Jahren von den Anhängern des hl. Franz von Assisi nach Britannien gebracht. Im 17. Jahrhundert wurden Weihnachten und die Weihnachtslieder von den Puritanern verboten. Es wurde erwähnt, dass der traditionelle Weihnachtsgottesdienst mit dem Solo eines Chorknaben beginnt, der »Once in Royal David’s City« singt, ein Kirchenlied von 1848. Die drei irischen Priestertenöre The Priests haben gesungen, und das zentrale Thema war die Sheffielder Tradition, in den Kneipen Weihnachtslieder zu singen. Immer noch eine meiner wöchentlichen Lieblingssendungen.

Ich habe mit Bernadette Tobin1 in Sydney gesprochen und sie hat mir Terrys Version über die Geschichte im National Catholic Register2 erzählt, die wiederum vom italienischen Corriere dellaSera3 übernommen worden war und der zufolge das Staatssekretariat den Peterspfennig über einen dubiosen maltesischen Mittelsmann in eine Filmbiografie über Elton John investiert haben soll, die auch dessen homosexuelle Aktivitäten nicht ausspart. Es wäre schön, wenn man eine derart bizarre Möglichkeit aufgrund der jüngsten Erfahrungen kategorisch ausschließen könnte, doch es spricht einiges dafür, dass die Geschichte wahr ist. Es ist – wenn denn noch Beweise nötig sein sollten – eine weitere schlüssige Antwort auf die Frage, weshalb die Arbeit der externen Prüfer beendet, der oberste Rechnungsprüfer zum Rücktritt gezwungen und das Wirtschaftssekretariat daran gehindert wurde, sich Einblick in ihre Konten zu verschaffen.

In einer Adventsfürbitte heißt es:

Fürst des Friedens, verwandle unseren Groll in Leben – lehre uns zu vergeben, statt dem Zorn freien Lauf zu lassen.

Komm, Herr Jesus.

Montag, 9. Dezember 2019

Für heute waren 38° Celsius und dann für den Abend ein Wetterumschwung angekündigt. Während meiner zwei Stunden im Garten zogen Wolken auf und es war warm oder sogar heiß, aber ich glaube nicht, dass es (mit den alten im Britischen Empire gültigen Kategorien gesprochen) eine Jahrhunderthitze4 war.

Nach den gestrigen Verdauungsbeschwerden geht es mir heute wieder besser, aber ich fühle mich noch schwach und bin vorsichtig mit dem Essen. Ein solcher Verlauf ist für mich nach einer Magenverstimmung völlig normal. Wie vielen meiner australischen Freunde, die in den 1960er-Jahren am Kolleg der Propaganda Fide5 in Rom waren, hat das Essen dort meinem Magen geschadet oder ihn zumindest verändert. Er reagiert seither empfindlich auf allzu üppiges Essen oder Veränderung in der Ernährung. Damals konnte ich zu meinem Bedauern keinen Obstkuchen essen, ohne mir Beschwerden einzuhandeln. Gott sei Dank hat die Gefängniskost meinen Appetit bislang nicht beeinträchtigt, obwohl ich mich hauptsächlich von Salat ernähre. Vielleicht habe ich auch zu viel Schokolade gegessen.

Ich freue mich immer auf das Abschlussritual meines Tages: eine Tasse heißen Kamillentee und zwei Riegel Cadbury’s-Schokolade und das Beten der Komplet. Heute Abend werde ich, genau wie gestern, die Schokolade nicht anrühren.

In Trakt 8 war es auch heute ruhig, doch das galt offenbar nicht für das ganze Gefängnis. Der Hauptwachtmeister erklärte mir, dass es einen schwerwiegenden Vorfall gegeben habe und die Telefone deaktiviert worden seien, um zu verhindern, dass die Presse davon erfährt. Das MAP (»Untersuchungsgefängnis von Melbourne«) ist für Nachrichten, wie Tony Abbotts Besuch und meine kurze Gärtnerkarriere bewiesen haben, durchlässig wie ein Sieb.

Der griechisch-orthodoxe Gefängnisseelsorger, der mit Msgr. Charlie Portelli6 befreundet ist, hat mich mit seinem jüngeren Assistenten, beide in bodenlangen Gewändern, und dem muslimischen (sunnitischen) Geistlichen besucht. Wir haben fast eine halbe Stunde miteinander am Picknicktisch im Garten gesessen, bis die Sonne uns zwang hineinzugehen. Der Geistliche ist mit dem Bruder von Patriarch Bartholomaios von Konstantinopel befreundet, der in Mentone lebt. Bei seinem Besuch 1996 habe ich mit dem Patriarchen und seinen Begleitern dort zu Abend gegessen. Seine Nichte sang damals im Chor der St Patrick’s-Kirche in Mentone. Der Patriarch, so erzählte ich dem Gefängnisgeistlichen, habe gemeint, dass ich ihr Didaskalos7 sei, was ich tatsächlich nicht war, aber ich fühlte mich durch die Bemerkung dennoch gewürdigt. Der jüngere orthodoxe Geistliche bot an, mir ein neues Hemd zu kaufen, weil der Ärmel zerrissen ist und vorn ein paar Knöpfe fehlen, die beim Waschen in der Waschmaschine abgerissen wurden. Ich habe mich bedankt und gesagt, dass das nicht nötig sei, doch es war eine freundliche Geste, die ich zu schätzen wusste.

Mein Freund Father Bill Miscamble, der australische Historiker, der an der Universität Notre Dame in Indiana lehrt, hat mir ein beunruhigendes Zitat von C. S. Lewis weitergeleitet, das ihm von einem Professor für Katholische Theologie an der St.-Thomas-Universität in St Paul, Minnesota, zugesandt worden ist. Ich vermute, dass diese Worte, die ich bis dato nicht kannte, nach dem Tod von Lewis’ Frau geschrieben wurden.

Ich werde das Zitat im Zusammenhang wiedergeben:

[Es wäre schlimm,] sich jene, deren Gebet erhört wird, als eine Art Günstlinge vor[zu]stellen, als Leute, die Einfluss bei Hofe haben. Das abgewiesene Gebet Christi in Gethsemane gibt darauf hinreichend Antwort. Und ich darf das harte Wort nicht unterschlagen, das ich einst aus dem Munde eines erfahrenen Christen vernommen habe: »Ich habe viele auffällige Gebetserhörungen miterlebt und mehr als eine, die mir wunderbar schien. Aber gewöhnlich geschehen sie zu Anfang – vor der Bekehrung oder kurz danach. Im Verlauf eines Christenlebens werden sie seltener. Auch werden die Verweigerungen nicht nur häufiger; sie werden unmissverständlicher, betonter.«8

Er erklärt, dass wir keine voreiligen Schlüsse ziehen sollen, wenn unsere Gebete zuweilen erhört werden. »Wären wir stärker – wir würden vielleicht weniger zart behandelt. Wären wir tapferer – wir würden vielleicht mit weit geringerer Hilfe ausgesandt, in der großen Schlacht einen weit verzweifelteren Posten zu verteidigen.«

Meines Erachtens hat hier ein Denker, ein Mann des Glaubens und ein Meister der englischen Sprache, eine elegante theologische Erklärung für die Klage der hl. Teresa von Avila vorgelegt, die einmal gesagt hat, dass Gott so wenig Freunde habe, liege daran, wie er sie behandele!

Unser Herr hat uns gelehrt, dass wir im Gebet um unser tägliches Brot bitten sollen und dass es auf den Glauben des Betenden ankommt. Die Wunder Jesu sind für uns unvorhersehbar, doch er bestätigt und belohnt unseren Glauben. Ich bin mir sicher, dass Mut und Stärke wichtige Kriterien sind, wenn Menschen Ämter und Rollen übernommen haben, die sie nicht aufgeben können, ohne zu kapitulieren, sich ihrer Verantwortung zu entziehen oder ihre Pflicht zu verletzen. Wenn wir fallen, uns beklagen oder bittere Vorwürfe erheben würden, würde dies der Kirche nur weiteren Schaden zufügen. Deshalb wollen wir beten, dass Gott sich nicht verkalkuliert, dass er unsere Kräfte nicht überschätzt, sondern all jenen, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind, die Stärke und Weisheit verleiht auszuharren, sich etwas einfallen zu lassen und auf den großen Glauben all der vielen jungen und alten Menschen zu bauen, die für sie beten. Ich nehme an, dass viele, die sich in der großen Schlacht auf verzweifeltem Posten wiederfinden, sich darüber wundern, dass sie trotz ihrer Unzulänglichkeiten gerade dorthin gestellt worden sind.

Dienstag, 10. Dezember 2019

Ich denke noch immer über die Gedanken der hl. Teresa und des Schriftstellers C. S. Lewis nach, die ich gestern zitiert habe und die ich akzeptiere, die aber meiner Meinung nach durch andere typische Fakten der christlichen Geschichte und durch einige andere Lehren unseres Herrn ergänzt werden müssen. Er hat uns ermutigt, unser Kreuz auf uns zu nehmen und ihm nachzufolgen, aber das Joch ist sanft und die Last ist leicht (Mt 11,30); und er hat denen, die ihm nachfolgen, hundertfache Belohnung in diesem und ewiges Leben im Jenseits versprochen (Mt 19,29 und Mk 10,29–30). Das trifft auf mich bislang zu.

Auch wenn ich mehr als das übliche Maß an Feindseligkeit hinnehmen musste, ist mein Leben mit Segnungen überschüttet worden: einer guten Familie und Ausbildung, vielen echten Freunden, einer schönen und sinnvollen Arbeit in drei Ländern und mit drei Päpsten. Ein starker, guter Vater, eine liebevolle, gläubige Mutter und ihre Schwester Molly, die bei uns lebte, haben die Grundlagen für all das gelegt. Ich kann nicht behaupten, dass meine Jahre von Feindseligkeit beherrscht gewesen wären. Ich habe in jeder Hinsicht in diesem Leben das Hundertfache empfangen.

Ziemlich früh habe ich mir schon die Lehre des Herrn über die Talente zu Herzen genommen, dass von denen, die mehr erhalten haben, auch mehr erwartet wird. Deshalb entschloss ich mich zu tun, worum ich gebeten wurde, nicht nur von meinen Oberen, sondern von allen Menschen in meiner Umgebung, die mich um Hilfe baten. Das sollte meine wichtigste Bußübung sein, weil ich nie viel gefastet, sondern vor allem in der Fastenzeit lediglich auf Alkohol verzichtet habe. Mein Gebetsleben intensivierte sich, als ich Rektor des Priesterseminars wurde, ein Posten, an den ich keinen Gedanken verschwendet hatte, ehe ich von Bischof Ronald Mulkearns (der die Ernennung im Namen aller Bischöfe von Victoria vornahm) darauf angesprochen wurde. Genauso wenig hatte ich als Erzbischof von Melbourne damit gerechnet, nach Sydney zu gehen. Nachdem ich Erzbischof geworden war, wurde ich oft als möglicher Kandidat für verschiedene Kurienposten erwähnt: Vermutlich war ich in der engeren Auswahl für das Amt des Präfekten der Glaubenslehre, das dann von Kardinal Levada übernommen wurde, und beinahe wäre ich Präfekt der Bischofskongregation geworden. Doch vor meiner Arbeit im Kardinalsrat für Wirtschaftsfragen unter Papst Benedikt hätte ich nie gedacht, dass ich einmal als Präfekt des Wirtschaftssekretariats eingesetzt werden würde. Allerdings gab es auch kein wirklich hochklassiges Feld an ernsthaften alternativen Kandidaten.

Die Grabinschrift von Kardinal Newman – dem hl. John Henry, wie er inzwischen heißt – lautet: Ex umbris et imaginibus in veritatem (»Aus Schatten und Bildern zur Wahrheit«). Die Vorsehung des einen und wahren Gottes kann sich in der Geschichte nur durch die Taten von Männern und Frauen zeigen, die, im Großen und Ganzen frei, entweder Heilige oder Sünder oder lau und kurzsichtig sind. Gott in seiner Liebe weiß, was er vorhat, während unsere Aufgabe darin besteht, uns dem zu stellen, was jetzt und morgen getan werden muss, natürlich mit den Augen auf die Zukunft gerichtet, aber wir dürfen die ferne Zukunft nicht zum Vorwand nehmen, unserer unmittelbaren Verantwortung aus dem Weg zu gehen. Ich werde weiterhin das Vaterunser beten und um unser tägliches Brot bitten.

Die Temperatur hat gestern tatsächlich Höchstwerte von 38°C erreicht, doch in unseren klimatisierten Zellen lässt sich kaum beurteilen, wie warm es draußen ist, obwohl wir durch die Gitterstäbe und die getönten Glasscheiben hindurch immerhin erkennen können, ob es heiter oder bewölkt ist. Heute war es angenehm, ein unspektakulärer Tag mit Temperaturen zwischen 20 und 25 Grad.

Ein Zwischenbericht über mein allmähliches Altwerden: Mein Allgemeinzustand stabilisiert sich weiter, obwohl ich während meiner Stunde in der Turnhalle immer noch etwas phlegmatisch war (phlegmatischer als sonst). Meiner rechten Hüfte geht es viel besser, was nach meiner Meinung vor allem daran liegt, dass ich mich nicht mehr vorbeuge und versuche, meine Zehen zu berühren. Und ich mache mir keine Sorgen mehr darüber, wie lange ich wohl noch im Gefängnis bleiben muss. Wie ich schon des Öfteren festgestellt habe, sind meine Stimmungsschwankungen keineswegs immer durch die äußeren Umstände bedingt und folgen keiner erkennbaren Logik. Damit will ich nicht sagen, dass schlechte Nachrichten keine schlechten Nachrichten sind, aber »im Jahreskreis« zwischen den eindeutigen Höhen und Tiefen sind meine Stimmungen nicht immer logisch. Ich stelle fest, dass es mir guttut, immer wieder »Jesus, pace e bene«9 zu beten – eine Mischung aus zwei Stoßgebeten.

Die Briefe, die ich heute erhalten habe, waren Weihnachtskarten, und ich habe mich durch die liegen gebliebene Post gearbeitet. Außerdem habe ich bei der Anwaltskanzlei angerufen und Kartya gesagt, dass ich mehr als eine Wanne voller Post, ein paar Tagebuchbände und drei Ausgaben des Spectator an die Abteilung, die den persönlichen Besitz der Häftlinge verwaltet, gesandt habe und dass sie bitte mit einem Einkaufswagen kommen soll, um sie abzuholen.

Heute Abend habe ich auf ABC das Interview mit Lawyer-X, Nicola Gobbo, angesehen, die gleichzeitig als Informantin für die Polizei gearbeitet hat, während sie als Verteidigerin für ihre Klienten tätig war. Das hat die Royal Commission10 auf den Plan gerufen, die jetzt Anhörungen durchführt.

Ich bin neugierig, was meine Anwälte und Freunde von ihrem Auftritt halten, bei dem sie behauptet hat, dass all ihre Aktionen auf Anweisung oder zumindest mit Genehmigung der Polizei und sogar des Polizeipräsidenten erfolgt seien. Sie gab an, dass sie mit ihren beiden Kindern im Ausland lebe und dass die Polizei gedroht habe, ihr die Kinder wegzunehmen. Und sie sagte geradeheraus, dass sie Angst habe, von der Polizei getötet zu werden, und dass sie noch mehr erzählen könnte. Durch das Interview gerieten Ashton,11 Overland12 und die Polizeiführung in den Fokus. Jeder weiß, dass es solche und solche Polizisten gibt. Viele machen einen guten Job, doch die eigentliche Frage ist jetzt, wie weit und wie tief die Korruption reicht (und ob sie sich auch auf meinen Fall auswirkt). Die Strafverfolgungsbehörden in Victoria sind jedenfalls betroffen.

Zum Abschluss komme ich auf das Thema meiner früheren Überlegungen (die göttliche Vorsehung und wie wir darauf reagieren) zurück und zitiere einmal mehr mein Lieblingsgedicht »Führ, liebes Licht« von John Henry Newman. Ich behaupte nicht, dass es das schönste Gedicht in englischer Sprache ist; es ist einfach das Gedicht, das mir am besten gefällt:

Führ, liebes Licht, im Ring der Dunkelheit

führ du mich an!

Die Nacht ist tief, noch ist die Heimat weit,

führ du mich an!

Behüte du den Fuß; der fernen Bilder Zug

begehr ich nicht zu sehn – ein Schritt ist mir genug.13

Mittwoch, 11. Dezember 2019

Heute habe ich das Stundengebet zum Fest der Unbefleckten Empfängnis Unserer Lieben Frau gebetet, das verlegt wurde, weil der 8. Dezember in diesem Jahr auf einen Sonntag fällt, und das ich eigentlich am Montag hätte feiern müssen. Es ist wichtig, Unserer Lieben Frau zu geben, was ihr gebührt.

Das Fest, das häufig mit der jungfräulichen Geburt unseres Herrn verwechselt wird, stammt aus dem Mittelalter, und der hl. Thomas von Aquin hat seine zentrale Aussage nicht akzeptiert. Das Problem war, dass Maria nur durch das Handeln ihres Sohnes, des einzigen Erlösers, der aber noch gar nicht geboren war, unbefleckt, somit ohne Sünde, empfangen worden sein konnte. Der große schottische Theologe Duns Scotus, der in Oxford lehrte, schlug jedoch eine Begründung vor, die darin bestand, ausdrücklich anzuerkennen, dass Maria durch das Erlöserhandeln Gottes sündenlos empfangen worden war.

Da ich gerade von dieser beherzten Frau spreche – Maria –, fällt mir ein, dass Schwester Mary am kommenden Wochenende ihr 25-jähriges Dienstjubiläum als Gefängnisseelsorgerin feiert. Sie genießt höchsten Respekt und leistet nach wie vor einen wunderbaren Beitrag, weil sie genau wie Christus die Leiden der Menschen lindert. Die heilige Mutter Kirche sollte diesen Beitrag öffentlich anerkennen.

Ich habe eine Kopie von George Weigels kurzem Artikel in der amerikanischen Zeitschrift First Things (4. Dezember 2019) erhalten: »Eine letzte Chance für die australische Justiz«. Nicht nur im Ausland und nicht nur in der katholischen Welt teilen viele Georges Meinung, dass »das australische Strafrechtssystem in jeder Phase dieses (das heißt meines) Falls ins Straucheln geraten ist oder versagt hat«. Der Kläger und ich haben einen entscheidenden Vorteil: Wir wissen, dass das die Wahrheit ist. Aber wenn ich das behaupten würde, wie George es tut, würde es wenig nützen. Das Ansehen der beteiligten Juristen ist durch ihre Beiträge ohnehin schon gestärkt oder beschädigt worden, und die Geschichte ist noch nicht ausgestanden. In wenigen Fällen wurde das Beweismaterial jemals einer so umfassenden und peinlich genauen Prüfung unterzogen.

Mein Anwalt Paul Galbally hat letzte Woche zu mir gesagt, dass keine einzige fachkundige oder halbwegs fachkundige juristische Publikation die Mehrheitsposition des Berufungsgerichts stützt. Ich muss gestehen, dass ich nicht ganz unparteiisch bin, aber ich kann klar denken, und George hat absolut recht, wenn er schreibt, dass »bislang nicht die Spur eines erhärtenden Beweises geliefert wurde« und dass das »Verbrechen […] unter den Umständen und Bedingungen, unter denen es angeblich begangen wurde, schlichtweg nicht geschehen sein kann«.

Ich bewundere Richter Weinbergs abweichende Stellungnahme wie kein Zweiter, und doch war ich überrascht – und erfreut –, bei George zu lesen, dass »ein angesehener australischer Anwalt [sie] als den wichtigsten Schriftsatz in einem juristischen Verfahren in der Geschichte dieses Landes« bezeichnet hat.

Nicht alle meine Unterstützer sind theologische oder ideologische Verbündete; ich begrüße das. Weigel vergleicht meine Situation in seinem Artikel erneut mit der von Hauptmann Dreyfus14 im Frankreich des 19. Jahrhunderts, während meine Anhänger hier in Australien Parallelen zum Fall Lindy Chamberlain ziehen.15

Auch aus Rom sind ein paar Artikel angekommen, darunter Ed Pentins Story im National Catholic Register über die Gelder, die der Vatikan in den Film über Elton John investiert haben soll,16 und eine trotzige und entlarvende Aussage von Kardinal Becciu.17

[Laut Pentin] wurde eine Million Dollar – das Geld stammte angeblich aus dem Peterspfennig – in die Verfilmung von Elton Johns Lebensgeschichte mit dem Titel Rocketman investiert, die »erste größere Hollywood-Produktion mit einer homosexuellen Sexszene«, die in einigen Ländern verboten wurde. Die Zeitung Corriere della Sera behauptet, dass zahlreiche Investitionen über Enrico Crassos Centurion Global Fund getätigt worden seien. Crasso ist ein italienischer Finanzmakler, der in der Schweiz lebt, und die Verluste seines Fonds sollen sich Ende 2018 auf geschätzt zwei Millionen Euro belaufen haben.18

Außerdem erwähnte Pentin ein früheres Fiasko aus dem Jahr 2012, als Kardinal Bertone19 den IOR [das Institut für die religiösen Werke], die sogenannte Vatikanbank, gegen den Rat seines damaligen Direktors Ettore Gotti Tedeschi gedrängt hatte, 15 Millionen Euro in die italienische Filmgesellschaft Lux Vide zu investieren, die komplett abgeschrieben werden mussten: Das Geld war verloren.

Kardinal Becciu ist anders als die meisten Akteure in den vatikanischen Finanzdramen, die gerne den Kopf einziehen und stillhalten, bis der Sturm vorüber ist, ehe sie zur Tagesordnung zurückkehren. Dieser Kardinal bezieht häufig Stellung. Im vorliegenden Fall schrieb er an Sandro Magister von der Zeitung L’Espresso und erklärte erneut, er habe nichts mit der Finanzierung des IDI-Krankenhauses20 zu tun und die »gegenteilige Meinung von Kardinal Pell« über den Londoner Immobilienkauf sei für ihn nicht relevant: Pell sei in dieser Angelegenheit nie konsultiert worden, weil es »nicht in seiner Zuständigkeit lag, die Konten des Staatssekretariats zu kontrollieren«,21 diese Befugnis habe ihm der Papst nie erteilt. Die italienische Formulierung lautet »controllare i conti della Segreteria di Stato«,22 was mit »kontrollieren« übersetzt wird. Ich habe hier zwar kein italienisches Wörterbuch, aber laut Satzung unseres Sekretariats wird uns ausdrücklich die Befugnis erteilt, sämtliche vatikanischen Konten einschließlich der Konten des Staatssekretariats zu überprüfen (controllare). Außerdem musste jeder Ankauf von Immobilien usw. in einem Umfang von über 500 000 Euro von uns genehmigt werden. Das wurde bei uns nicht angefragt, aber die falsche Abrechnung der Transaktion hat unseren Widerstand hervorgerufen, weil darin gegen alle Buchführungsregeln das Darlehen verschleiert und mit dem (theoretischen) Wert der gekauften Immobilie ausgeglichen wurde. Wir konnten uns mit unserer Einschätzung nicht durchsetzen, aber drei Dinge sind klar:

1. In der Satzung war nie davon die Rede, dass das Staatssekretariat von der Beaufsichtigung durch das Wirtschaftssekretariat ausgenommen gewesen wäre.