Freud - Joel Whitebook - E-Book

Freud E-Book

Joel Whitebook

0,0
24,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach wie vor faszinieren die Ideen und das Leben Sigmund Freuds viele Leser. Joel Whitebook liefert ein großartiges Porträt dieser Jahrhundertfigur, indem er ihn in all seiner Vielschichtigkeit darstellt. Ihm gelingt ein erhellendes und aufschlussreiches Porträt mit neuen Erkenntnissen. Joel Whitebook beleuchtet in seinem Buch die Person Freud, seine Gedanken, aber auch Irrwege. Anders als alle bisherigen Biographien zieht er die neueren Entwicklungen der psychoanalytischen Theorie und Behandlung, der Philosophie, Kulturtheorie und der gender studies zu Rate. Sein Blick richtet sich auf Freuds Gedankengebäude, das zeitgenössischen Ideen und Haltungen radikal entgegenstand. Das Entstehen dieser neuen Ideen erklärt er nicht nur aus dem biographischen, sondern auch vor dem gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund der damaligen Zeit. Gleichzeitig untersucht Whitebook die enorme Wirkung der freudschen Ideen auf die heutige Psychoanalyse, die Philosophie und die Sozialwissenschaften. Die erste Biographie, die sich an Freuds Konzept orientiert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 929

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Joel Whitebook

Freud

Sein Leben und Denken

Aus dem Englischen von Elisabeth Vorspohl

Klett-Cotta

Impressum

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Buch wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Freud. An Intellectual Biography« im Verlag Cambridge University Press

© Joel Whitebook 2017

Für die deutsche Ausgabe

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © ullstein bild – Pictures from History

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96245-1

E-Book: ISBN 978-3-608-11024-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Dank

Einleitung

Wanderjuden

Freuds Bildung

Wissenschaft als Berufung

Aufbruch in Wien

Theoretischer Exkurs

»Lieber Zauberer«

Der erste Psychoanalytiker

Jung und die Gegenaufklärung

Austreibung des Odium Jungium

10 

»Auch das Schmerzliche kann wahr sein«:

11 

Den Todestrieb verstehen

12 

»Den Himmel überlassen wir / den Engeln und den Spatzen«:

13 

Der späte Freud und die frühe Mutter

Anmerkungen

Literatur

Namen- und Sachregister

Für Charlie

»Darum eile ich, meiner Befriedigung Ausdruck zu geben, daß Sie das Wichtigste an meinem Fall richtig erkannt haben. […] Sonst könnte ich es beanstanden, daß Sie das kleinbürgerlich korrekte Element an mir allzu ausschließlich betonen, der Kerl ist doch etwas komplizierter […].«

Freud an Stefan Zweig, 7. Februar 1931

»Aus den mühseligen Sammlungen der Kulturforscher kann man sich die Überzeugung holen, daß die Genitalien ursprünglich der Stolz und die Hoffnung der Lebenden waren, göttliche Verehrung genossen und die Göttlichkeit ihrer Funktionen auf alle neue erlernten Tätigkeiten der Menschen übertrugen. Ungezählte Göttergestalten erhoben sich durch Sublimierung aus ihrem Wesen, und zur Zeit, da der Zusammenhang der offiziellen Religionen mit der Geschlechtstätigkeit bereits dem allgemeinen Bewußtsein verhüllt war, bemühten sich Geheimkulte, ihn bei einer Anzahl von Eingeweihten lebend zu erhalten. Endlich geschah es im Laufe der Kulturentwicklung, daß so viel Göttliches und Heiliges aus der Geschlechtlichkeit extrahiert war, bis der erschöpfte Rest der Verachtung verfiel.«

Sigmund Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci

»Dummheit ist ein Wundmal. Sie kann sich auf eine Leistung unter vielen oder auf alle, praktische und geistige, beziehen. Jede partielle Dummheit eines Menschen bezeichnet eine Stelle, wo das Spiel der Muskeln beim Erwachsen gehemmt anstatt gefördert wurde. Mit der Hemmung setzte ursprünglich die vergebliche Wiederholung der unorganisierten und täppischen Versuche ein. Die endlosen Fragen des Kindes sind je schon Zeichen eines geheimen Schmerzes, einer ersten Frage, auf die es keine Antwort fand und die es nicht in rechter Form zu stellen weiß. […] Sind die Wiederholungen beim Kind erlahmt, oder war die Hemmung zu brutal, so kann die Aufmerksamkeit nach einer anderen Richtung gehen, das Kind ist an Erfahrung reicher, wie es heißt, doch leicht bleibt an der Stelle, an der die Lust getroffen wurde, eine unmerkliche Narbe zurück, eine kleine Verhärtung, an der die Oberfläche stumpf ist. Solche Narben bilden Deformationen. Sie können Charaktere machen, hart und tüchtig, sie können dumm machen – im Sinn der Ausfallserscheinung, der Blindheit und Ohnmacht, wenn sie bloß stagnieren, im Sinn der Bosheit, des Trotzes und Fanatismus, wenn sie nach innen den Krebs erzeugen. […] Wie die Arten der Tierreihe, so bezeichnen die geistigen Stufen innerhalb der Menschengattung, ja die blinden Stellen in demselben Individuum Stationen, auf denen die Hoffnung zum Stillstand kam, und die in ihrer Versteinerung bezeugen, daß alles Lebendige unter einem Bann steht.«

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung

Dank

An dieser Biographie habe ich in den vergangenen zehn Jahren gearbeitet, doch die Fragen, denen ich in ihr nachspüre, beschäftigen mich seit fast drei Jahrzehnten. Deshalb möchte ich nicht nur den Freunden und Kollegen danken, die einen unmittelbaren Beitrag zu diesem Buch geleistet haben, sondern auch all denen, die meine theoretische Entwicklung über die Jahrzehnte begleiteten. Einige von ihnen weilen nicht mehr unter uns. Ich danke Debbie Bookchin, Cornelius Castoriadis, Peter Dews, Stathis Gourgouris, Axel Honneth, Martin Jay, Joyce McDougall, Fred Pine, Christine Pries, Martin Saar, Inge Scholz-Strasser, Janine Chasseguet-Smirgel, Marcela Tovar, Marvin Wasserman, Albrecht Wellmer, Shoshana Yovel und Yirmiyahu Yovel.

Einen besonderen Dank schulde ich den Kolleginnen und Kollegen, die sich trotz voller Terminkalender die Zeit genommen haben, die verschiedenen Manuskriptfassungen vollständig oder auszugsweise zu lesen: Richard Armstrong, Richard J. Bernstein, Werner Bohleber, Raymond Geuss, Marsha Hewitt, Kevin Kelly und Robert Paul.

Ich habe die laufende Arbeit in den vergangenen zehn Jahren an verschiedenen Orten vorgestellt, und obgleich die Anzahl der Kollegen, die mir ein wertvolles Feedback gegeben haben, allzu groß ist, als dass ich sie hier allesamt namentlich nennen könnte, möchte ich ihnen für ihre Beiträge, die mir halfen, meine Position zu formulieren, herzlich danken.

Natürlich haben meine Studenten an der New School for Social Research und an der Columbia University eine wichtige Rolle gespielt. Teils in dem ödipalen Wunsch, ihrem Professor eine Niederlage beizubringen, teils mit genuiner intellektueller Leidenschaft haben sie mich regelmäßig mit anspruchsvollen Fragen traktiert, die mich zwangen, mein Denken weiterzuentwickeln und auszuformulieren.

Unbedingt zu erwähnen sind auch die Mitglieder zweier Gruppen, nämlich zum einen die Analytiker und Universitätsmitarbeiter, die an der Columbia University am Seminar on Psychoanalytic Studies teilgenommen haben, das ich sieben Jahre lang geleitet habe. Die unerschütterlichen Getreuen, die tapfer ein ganzes akademisches Jahr in das Studium von Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion investierten, haben mir in besonderem Maß dabei geholfen, aus diesem rätselhaften Text schlau zu werden. Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um erfahrene Kliniker, die sich zweimal jährlich im Center for Advanced Psychoanalytic Studies (CAPS) in Princeton treffen. Sie haben die Diskussionen über die Texte, die ich ihnen vorstellte, um eine wichtige außertheoretische Dimension bereichert.

Susanna Margolis ist eine erfahrene Lektorin, die in einer späteren Arbeitsphase in das Projekt eingestiegen ist und mir mit ihrer Intelligenz und ihrem Geschick geholfen hat, es fertigzustellen. Ich bin froh und dankbar, sie gefunden zu haben, denn in einer Welt der Blogs und Tweets ist Susanne eine Ausnahme: sie nimmt das Schreiben noch immer ernst. Ich danke auch Ariel Merkel für ihren zuverlässigen redaktionellen Beistand, auf den ich mich viele Jahre lang verlassen konnte.

Es fällt mir schwer, angemessene Worte des Dankes für Hilary Gaskin, meine Lektorin bei Oxford University Press, zu finden. Sie hat meine Arbeit zehn Jahre lang geduldig begleitet und immer an das Gelingen geglaubt.

Ausdrücklich danken möchte ich auch meiner Übersetzerin Elisabeth Vorspohl, die mir mit Einwänden und Vorschlägen hartnäckig zugesetzt hat. Elisabeths wissenschaftliches Über-Ich ist eindeutig weiterentwickelt als mein eigenes, und ich bin ihr aufrichtig dankbar dafür, allerlei Fehlern und Irrtümern den Eingang in die deutsche Ausgabe des Buches verwehrt zu haben.

Dr. Heinz Beyer vom Verlag Klett-Cotta danke ich für seine großzügige Bereitschaft, mein Buch übersetzen zu lassen.

Einleitung

Eine Wiederaneignung Freuds

Braucht die Welt eine weitere Sigmund-Freud-Biographie? Die Antwort ist ein nachdrückliches Ja. Eine neue Biographie, die von den Erkenntnissen der Freud-Forschung ebenso profitiert wie von den Weiterentwicklungen der psychoanalytischen Theorie, der feministischen Kritik an der Psychoanalyse, der Säuglingsforschung, der Bindungstheorie und der seit einem halben Jahrhundert kontinuierlich wachsenden klinischen Erfahrung mit »unklassischen Patienten«1, ermöglicht es uns, wichtige offene Fragen über Freuds Leben zu klären und strittige Themen der zeitgenössischen Psychoanalyse und Philosophie zu erörtern.

Bevor ich an diesem Buch zu arbeiten begann, habe ich das hermeneutische Prinzip, dass sich jede Generation die Klassiker neu aneignen müsse, stets mit einer gewissen Skepsis betrachtet.2 Die relativistischen Implikationen, die es in meinen Augen besaß, erschienen mir inakzeptabel. Im Laufe meiner Recherchen für diese Biographie hat sich meine Einstellung allerdings gewandelt. Zwar hatte ich zuvor schon mehr als drei Jahrzehnte lang über Freud geforscht, über Freud geschrieben und Freud gelehrt und ebenso lang als Psychoanalytiker praktiziert; systematisch studiert aber hatte ich sein Werk seit den 1970er und 1980er Jahren nicht mehr, als ich an meiner Dissertation arbeitete und meine psychoanalytische Ausbildung absolvierte. Darüber hinaus hatte ich mich gelegentlich in die aktuellere biographische Literatur und in das florierende Feld der Freud-Forschung vertieft, ohne jedoch ernsthaft mit diesen Entwicklungen Schritt zu halten. Als ich dann meine »zweite Fahrt« antrat und die systematische Lektüre von Freuds Texten wieder aufnahm, sprang mir buchstäblich etwas ins Auge, über das ich vorher hinweggesehen hatte: Wenn die (1)Mutterfigur – insbesondere die (1)frühe, prä-ödipale Mutter – in Freuds Denken nicht ganz und gar fehlt, spielt sie lediglich eine kleine Nebenrolle. Die Mutter taucht in Freuds Selbstanalyse und in der Traumdeutung, dem Werk, das aus ihr hervorging, praktisch nicht auf. Auch in seinen Fallgeschichten ist im Grunde kein Platz für sie vorgesehen, obwohl sie förmlich danach schreit, einbezogen zu werden. Gleiches gilt für Freuds Theorien der Entwicklung und der Pathogenese sowie für seine patriarchalen Kultur- und (1)Religionstheorien. In seiner von (1)Hans Loewald, einem philosophisch geschulten Psychoanalytiker, so genannten »offiziellen« Lehre richtete Freud das Augenmerk fast ausschließlich auf die Vaterfigur und erklärte, dass der (1)Ödipuskomplex der »Kernkomplex« nicht allein der Neurose, sondern auch der Kultur sei. Und insofern Freuds asketische Konstruktion des psychoanalytischen »Rahmens« und seine Theorie der Behandlungstechnik die Neutralität, Distanz, Abstinenz und Vernunft auf Kosten der Bezogenheit, der Befriedigung und des Erlebens betonen, kann man sogar sie als ödipal bezeichnen.

Indes wird diese Abwesenheit der Mutter in Freuds Werk an sich zu einer »Präsenz«. Die abwesend präsente Mutter, so die feministische Theoretikerin (1)Madelon Sprengnether in ihrer wichtigen Untersuchung The Spectral Mother, erfüllt eine »gespensterähnliche Funktion« und lauert in den Rändern, Schatten, Lücken und Zwischenräumen des Freud’schen Oeuvres.3 Tatsächlich steht die (2)frühe Mutter im Zentrum dessen, was Loewald als Freuds »inoffizielle« Position bezeichnet. Unsere Aufgabe wird es sein, sie auf die offizielle Bühne zu holen.

Nachdem mir das Fehlen der Mutter klar geworden war, musste ich mich fragen, weshalb ich es nicht schon drei Jahrzehnte zuvor bemerkt hatte. Ich kam zu folgender Antwort: Als ich meine Recherchen für diese Biographie in Angriff nahm, befand ich mich innerhalb eines anderen »hermeneutischen Horizonts« – in einem anderen historisch-biographischen Kontext – als in jenen fernen Jahren, in denen ich als Doktorand und Ausbildungskandidat Freuds Schriften las. Der Horizont von damals sah annähernd so aus4: Viele Lehrsätze der klassischen freudianischen Theorie besaßen weiterhin Gültigkeit. Das Ancien régime war noch nicht in Wanken geraten, auch wenn das psychoanalytische Establishment – insbesondere die New Yorker Ich-Psychologen – gleich aus mehreren Richtungen infrage gestellt wurde. Die zweite Welle des feministischen Angriffs auf die Psychoanalyse und ihre misogyne Schlagseite hatte sich zu voller Größe aufgebaut – mit Enragés wie (1)Kate Millett, Shulamith Firestone(1) und (1)Germaine Greer als Speerspitzen, die Freud als Erzideologen des Patriarchats dämonisierten. Die Säuglingsforschung steckte gewissermaßen in den Kinderschuhen; Psychoanalyse und Bindungstheorie hatten noch nicht zueinander gefunden. Die Frage, wie »der unklassische Patient« zu behandeln sei, stand ganz oben auf der klinischen Agenda, und die Theorien (1)Donald W. Winnicotts, (1)Margaret Mahlers sowie (1)Heinz Kohuts, die allesamt die (1)prä-ödipale Entwicklungsphase und die Bedeutsamkeit der (3)frühen Mutter, von der sich das Kind trennen muss, ins Zentrum rückten, wurden hitzig diskutiert. Kurzum, das gesamte Feld befand sich im Umbruch.

Um die Wende zum 21. Jahrhundert hatte sich die Aufregung wieder gelegt. Die Disziplin hatte einen tiefgreifenden Umbau hinter sich. (Was nicht heißt, dass die heutige Psychoanalyse all ihre großen theoretischen und klinischen Probleme gelöst hätte – weit gefehlt.) Unter dem Eindruck der feministischen Kritik und auch dank der Beiträge jener Feministinnen, die die Psychoanalyse mittlerweile selbst praktizierten – zum Beispiel (1)Juliet Mitchell, (1)Elisabeth Young-Bruehl, (1)Jessica Benjamin und (1)Nancy Chodorow –, waren die Vertreter des Fachs in eine ausgedehnte Phase intensiver Reflexion und Selbstkritik eingetreten. (Die Kritik aus den Schwulen- und Lesbenbewegungen, die auf die zweite Welle des Feminismus folgten, hat dem Feld ebenfalls sehr gut getan.) Infolgedessen verwarf die Mainstream-Psychoanalyse viele ihrer unangemessenen, irrigen Lehrsätze über die weibliche Psychologie und Sexualität und nahm radikale Veränderungen an ihren Auffassungen der Weiblichkeit vor. Erwartungsgemäß beließ diese Neukonzeptualisierung es nicht bei einer bloßen Korrektur der Abwesenheit der Mutter in der freudianischen Theorie; vielmehr rückte nun auch die (4)frühe Mutter ins Zentrum der Untersuchungen. Weil sich diese Veränderungen mit der Expansion der Säuglingsforschung zu einem breit gefächerten, fruchtbaren Feld ergänzten, bahnten sie der Wiederannäherung zwischen der Psychoanalyse und ihrer Nachbarwissenschaft, der Bindungstheorie, den Weg. Im Zuge dieser Entwicklungen erwarben Analytiker gründliche Kenntnisse über die frühen und frühesten Entwicklungsphasen sowie über die Mutter-Kind-Beziehung – Themen, mit denen sie sich bis dato wenig beschäftigt hatten.

Anlass zu der prä-ödipalen Wende der Psychoanalyse gab auch ein drängendes klinisches Problem, nämlich der sogenannte »erweiterte Anwendungsbereich der Psychoanalyse«5. Wie sollte man den vermeintlich »neuen«, nicht-neurotischen Patienten, die sich immer häufiger in den Praxen der Analytiker vorstellten, begegnen? Schon in den 1950er Jahren wurden Psychoanalytiker regelmäßig von Patienten konsultiert, die dem Bild des »klassischen« Neurotikers – Patienten, für die man die psychoanalytische Standardbehandlung entwickelt hatte – nicht entsprachen. Darüber hinaus war es oft schwierig, diese »unklassischen« Patienten mit einer unmodifizierten Version der klassischen Technik überhaupt zu erreichen, geschweige denn, ihnen zu helfen.6

Angeführt von Anna Freud, besetzten konservative Analytiker, die für den Erhalt und Schutz der klassischen Theorie und Technik eintraten, einen Pol der Diskussion über »den erweiterten Anwendungsbereich«.7 Sie plädierten dafür, dass Analytiker unbeirrt weiterhin das tun sollten, was sie am besten könnten, nämlich sich auf die Behandlung von Patienten im neurotischen Bereich des Psychopathologiespektrums zu konzentrieren und keine nicht-klassischen Patienten anzunehmen. Um den entgegengesetzten Diskussionspol versammelten sich Analytiker, die eine Erweiterung des Anwendungsbereichs der Psychoanalyse in zweierlei Hinsicht befürworteten: Sie setzten sich für die Erweiterung sowohl des psychoanalytisch zu behandelnden Patientenspektrums als auch des Theoriespektrums ein, das zum Verständnis dieser Patienten unabdingbar war.8 Analytiker, denen es gelang, die Ungewissheit, die in solchen Behandlungen herrscht, zu tolerieren, und die genügend Flexibilität, Neugier und Ausdauer besaßen, um durchzuhalten, fanden die Arbeit mit diesen Patienten oft ausgesprochen produktiv. Das Ergebnis war eine qualitative Erweiterung und Vertiefung des psychoanalytischen Verständnisses.

(2)Loewald schrieb, dass diese »unklassischen Patienten« bizarre psychotische und quasi-psychotische Eigenschaften aufweisen; weil sie die Realität, die den meisten von uns als selbstverständlich erscheint, entschieden ablehnen, kann die Arbeit mit ihnen extrem frustrierend – nachgerade zum Verzweifeln – sein. Aber wir können von ihnen, so (3)Loewald weiter, auch etwas über fundamentale Aspekte der menschlichen Natur lernen – »Themen, die diese Patienten lähmen« und mit »genetisch tiefreichenden und uralten Problemen zu tun haben«, die sich bei Menschen mit höherem Funktionsniveau nicht ohne Weiteres beobachten lassen. Dazu (4)Loewald: »Fraglos haftet ihrer Mentalität etwas Archaisches an – archaisch im Sinne von überlebt, aber auch in dem Sinne, daß dies zu den Ursprüngen menschlichen Lebens und damit zu seinem Lebenskern gehört.«9 Die nicht-klassischen Patienten »vermitteln einem oft das Gefühl, daß sie mit grundlegenden, primären Schwierigkeiten des menschlichen Lebens formal und inhaltlich kämpfen, die von den gewöhnlichen, uns vertrauten Wechselfällen des Lebens weniger verdünnt und gemäßigt, weniger eingeschränkt und überschattet zu sein scheinen, als dies im allgemeinen bei neurotischen Patienten der Fall ist«.10

Wenn diese Menschen fähig sind, ihr Erleben in Worte zu fassen, gewähren sie uns Einblick in den »psychotischen Kern« der Persönlichkeit, der bei Personen mit höherem Funktionsniveau fast unzugänglich ist, auch wenn jeder ihn in sich trägt.

Anders ausgedrückt: Die unklassischen Patienten lassen uns einen Blick in die ältesten, archaischen Schichten der Psyche werfen, in denen noch keine nennenswerte Differenzierung zwischen Subjekt und Objekt stattgefunden hat und der Separations-Individuationsprozess bestenfalls eben erst anhebt. Anders als den meisten von uns sind individuelles Leben und Getrenntheit diesen Menschen keineswegs »selbstverständlich«. Die »Objektivität des Objekts und die Subjektivität des Subjekts«, die eine jede konsensuell validierte öffentliche Realität voraussetzt, bleiben für sie problematisch.11 Umgekehrt bedeutete dies, dass die Natur des Subjekts und die Natur des Objekts durch die Begegnung mit dem »postklassischen Patienten« zu einem problematischen Thema der psychoanalytischen Theorie wurden – mit erheblichen Implikationen insbesondere für die moderne subjektzentrierte Philosophie. Wichtiger noch scheint mir, dass »teilweise dank analytischer Forschung« und Untersuchung der archaischen Dimension der (1)Psyche eine wachsende Anerkennung »der Kraft und Berechtigung eines anderen Strebens« zu verzeichnen war: des Strebens »nach Einheit, Symbiose, Verschmelzung oder Identifizierung – wie wir nun dieses Verlangen nach Nicht-Getrenntheit und Nicht-Differenzierung nennen mögen«12. Freud hat sich aus Gründen, die wir eingehend untersuchen werden, für solche Strebungen wenig interessiert, im Gegenteil: Er hegte eine mächtige Aversion gegen sie.

All diese Entwicklungen zeigen, dass für den hermeneutischen Horizont, vor dem sich meine »Rückkehr zu Freud« vollzog, zwei Dinge prägend waren: die Assimilation und das Durcharbeiten der feministischen Psychoanalysekritik und die »prä-ödipale Wende« des Feldes. Und genau dies legt auch die Antwort auf eine weitere Frage nahe, nämlich wie es möglich war, dass frühere Analytikergenerationen die in Freuds Denken und Werk »(1)fehlende Mutter« skotomisierten (ausblendeten), während die Abwesenheit der Mutter heute geradezu danach schreit, kommentiert zu werden. Dass unsere Vorgänger in einem anderen hermeneutischen Kontext arbeiteten als wir Heutigen – einem Kontext, der nicht nur von Freud selbst abgesteckt wurde, sondern die Bedeutsamkeit der prä-ödipalen Mutter aus noch zu klärenden Gründen systematisch ausschloss, vermag eine solche Skotomisierung teilweise zu erklären.

Diese Antwort auf die Frage, weshalb etwas, das heute ins Auge sticht, von früheren Analytikern skotomisiert werden konnte, trug ebenfalls dazu bei, mich von der Korrektheit des hermeneutischen Prinzips zu überzeugen.13 Als mir im Zuge meiner Recherchen immer klarer wurde, dass die Konzepte der Endlichkeit und der Omnipotenz in Freuds wissenschaftlichem Weltbild zentralen Stellenwert besitzen, erkannte ich, dass das hermeneutische Prinzip mit Freuds eigener Position nicht nur vereinbar ist, sondern auch von ihr gefordert wird. Ich hoffe, zeigen zu können, dass die Anerkennung der Endlichkeit – »die Unterordnung unter die Realität der Welt, die Ananke«14 – ein wesentliches Desiderat des Freud’schen Projekts ist. Die Kontextgebundenheit des stets in einem spezifischen Kontext verorteten menschlichen Wissens zu leugnen heißt, die Endlichkeit der menschlichen Existenz zu leugnen. Nur ein unendlicher, entkörperlichter Geist könnte Absolutes, von jedem spezifischen Kontext unabhängiges Wissen erwerben. Und entgegen der gängigen Karikatur Freuds als eines dogmatischen Positivisten werde ich zeigen, dass Wissenschaft im präskriptiven Sinn für ihn eben nicht in der Gewissheit »Absoluten Wissens« besteht, sondern dessen methodologischer Gegenspieler ist.

Die »(2)fehlende Mutter« erklären

Hat man das Faktum der (3)fehlenden Mutter einmal erkannt, stellen sich zwei Fragen. Wie sollen wir es erklären? Und welche Konsequenzen hatte es für Freuds Leben, sein Denken und, weitergedacht, für die Entwicklung der Psychoanalyse? Mit beiden Fragen muss sich ein Freud-Biograph heute auseinandersetzen. Sie zu beantworten wird eine zentrale Aufgabe meiner Untersuchung sein.

Eine weitere relativ junge Entwicklung bringt uns einer möglichen Antwort auf die erste Frage näher. Im selben Zeitraum, in dem die Psychoanalyse die oben skizzierten Veränderungen durchlief, bildete sich die moderne Freud-Forschung als eigenständige wissenschaftliche Disziplin heraus. In der Vergangenheit waren es zumeist Analytiker, die Freuds Leben und die Geschichte der Psychoanalyse zu ergründen und zu beschreiben suchten – gewöhnlich Mediziner ohne streng wissenschaftliche Ausbildung. Da sie außerdem einer wegen ihrer Streitsucht berüchtigten Zunft angehörten, zogen interne Querelen und Zerwürfnisse ihre Arbeit oft in Mitleidenschaft.

Die Vertreter der neuen Freud-Forschung hingegen sind weit besser qualifizierte, wissenschaftlich ausgebildete Fachleute. Doch auch wenn die Entwicklung dieser neuen Disziplin und die Früchte ihrer Arbeit zweifellos als Fortschritt zu begrüßen sind, ist Vorsicht geboten. Das akademische Feld der Freud-Forschung erzeugt eigene charakteristische Gefahren – die nun aus der entgegengesetzten Richtung kommen. Die Angehörigen des neuen Fachs mögen hervorragend qualifizierte Wissenschaftler sein, aber gewöhnlich fehlt ihnen die unmittelbare klinische Erfahrung, von der es gelegentlich heißt, dass sie für ein umfassendes Verständnis psychoanalytischer Phänomene und Ideen unabdingbar sei.15 Ihre Arbeit droht allzu professionell zu werden, allzu geordnet und aufgeräumt – will sagen, allzu intellektualisiert. Sobald dies passiert, läuft sie an der Unordnung, die im Unbewussten und im Triebleben herrscht, vorbei und verfehlt so den innersten affektiv-korporealen Kern der eigentlichen analytischen Erfahrung. Ironischerweise ist die Tendenz zum Intellektualisieren nirgendwo stärker ausgeprägt als in der spektakulären Theorieakrobatik der von Jacques Lacan inspirierten, eng mit dem Poststrukturalismus verwandten Entwicklungen der französischen Psychoanalyse, die doch gerade la jouissance, Unbestimmtheit, Verspieltheit, Begehren, Andersheit und so weiter feiert. Freilich bieten ihre theoretischen Feuerwerke die Möglichkeit, der Konfrontation mit dem, was Freud »die Lebensnot« nannte, aus dem Weg zu gehen.16

Wie dem auch sei – ein wichtiger Beitrag der modernen Freud-Forschung ist für unsere erste Frage besonders relevant. Während der vergangenen dreißig Jahre haben Historiker der Psychoanalyse Freuds ersten drei Lebensjahren beträchtliche Aufmerksamkeit gewidmet. Es waren die Jahre, in denen die Familie in der mährischen Stadt (1)Freiberg, etwa 250 km nördlich von Wien, lebte. Heute gehört Freiberg zur Tschechischen Republik. Bevor diese Historiographen ihre Arbeiten veröffentlichten, war über Freuds Kleinkindjahre nur wenig bekannt. Darüber hinaus ergänzten sich die aktuelleren sozio-historischen Untersuchungen über die Freiberger Phase mit einem weiteren neuen, durch die prä-ödipale Wende der Psychoanalyse und das Interesse an der (5)frühen Mutter angeregten Forschungsbereich, nämlich Sigmunds früher Beziehung zu seiner eigenen Mutter, (1)Amalie Freud. Die Zusammenführung der Erkenntnisse beider Felder weckte ernsthafte Zweifel an der herkömmlichen Schilderung von Freuds Entwicklung und seiner Mutterbeziehung in den ersten drei Lebensjahren. Überliefert worden war ein hochidealisiertes Bild seiner frühen Jahre, ein Bild, das ihn als den geliebten Sohn einer jungen, wunderschönen, ihn vergötternden Mutter zeigte – sozusagen der Mythos von Amalie und ihrem »goldenen Sigi«. Die neue Forschung lässt hingegen vermuten, dass Freuds erste Lebensjahre im Zeichen schwerer (1)Traumatisierung standen, die mit Eheproblemen der Eltern, dem frühen Tod seines kleinen Bruders Julius, finanziellen Schwierigkeiten, einer Depression und (4)Abwesenheit seiner Mutter, dem plötzlichen Verschwinden seiner geliebten Kinderfrau sowie dem Verlust der Großfamilie und des Zuhauses, in dem er seine ersten Jahre verbracht hatte, zusammenhing. All dies wiederum berechtigt zu der Annahme, dass das idealisierte Bild jener Zeit zu einem nicht geringen Grad eine Abwehrfunktion erfüllte, indem es den traumatischen Charakter dieser Jahre zu verleugnen half.17 Die Idealisierungen wurden zudem von Freud selbst verbreitet und dann von seinen Schülern übernommen.

Zwei seiner Biographen, (1)Max Schur und (1)Peter Gay, erwähnen, dass es in Freuds früher Beziehung zu seiner Mutter ernsthafte Schwierigkeiten mit »unergründliche[n] biographische[n] Implikationen«18 gegeben haben könnte; sie bringen diese Möglichkeit aber nur am Rande zur Sprache und messen solchen Schwierigkeiten und Implikationen in ihren Untersuchungen keine zentrale Bedeutung bei. So schrieb (2)Schur an (1)Ernest Jones, Freuds erstem offiziellen Biographen: »Alles in allem gibt es viele Hinweise auf komplizierte prägenitale Beziehungen zu seiner Mutter, die er vielleicht nie voll analysierte«19. Doch nicht nur vertraute (3)Schur seinen stark untertrieben formulierten Befund einem Brief an, statt ihn zu publizieren; er unterließ es auch, diese Schwierigkeiten selbst zu analysieren. Und während (2)Gay das Thema zwar aufs Tapet bringt, spielt es in seiner Lebensbeschreibung doch keine wesentliche Rolle, im Gegenteil. Es bleibt tief verborgen in dem gewaltigen Werk und taucht erst auf Seite 565 kurz auf.20

Eigentlich, so könnte man rückblickend vermuten, hätten Freuds extrem idealisierende Schilderungen die Alarmglocken schrillen lassen und aller Welt signalisieren müssen, dass etwas nicht stimmte. Die neuen Informationen über Freuds frühe Entwicklung ermöglichen es, eine These zu formulieren, um das Faktum der »(5)fehlenden Mutter« zu erklären. Die psychische Strategie, die Freud einschlug, um mit seinen (2)traumatischen frühen Erfahrungen fertig zu werden, beruhte auf der Verdrängung, Dissoziation oder Abspaltung nicht allein der Repräsentation der frühen Mutter, sondern – weit umfassender – der gesamten mütterlichen Dimension und des Gesamtbereichs der frühen Erfahrung. Das bedeutet nicht, dass die Erinnerungen, Bilder und Gefühle aus der Freiberger Ära einfach ausgelöscht worden wären. So funktioniert das Seelenleben nicht. Sie wurden vielmehr beiseitegeschoben – verbannt in die marginalen oder entlegenen Regionen von Freuds Psyche, wo sie fortan eine »extraterritoriale« Existenz fristeten. Aber sie übten von dort aus weiterhin einen gewaltigen Einfluss aus, auch wenn Freud sich dessen kaum bewusst war. So schreibt (1)Breger:

»Die traumatischen Erfahrungen aus Freuds ersten vier Lebensjahren verschwanden aus seinem bewussten Gewahrsein. Heute würden wir sagen, dass die Ereignisse und Bilder als körperliche und emotionale Empfindungen gespeichert wurden, die Erinnerungen an sie aber nicht ins Bewusstsein gelangten; sie blieben dissoziiert und wurden nicht in ein kohärentes Selbstgefühl integriert. In einem abgetrennten Teil [oder in abgetrennten Teilen – J. W.] seiner Persönlichkeit lebten sie fort.«21

Ein Psychoanalytiker kann seine Theorie normalerweise nur in dem Maße weiterentwickeln, in dem seine eigene Analyse Fortschritte macht. Was Freud in seinem Seelenleben abspaltete, wurde auch in seinem Denken abgespalten. Damit waren die Begrenzungen seiner »offiziellen« Position, die sich auf »den Vaterkomplex« konzentrierte, festgelegt. Doch während das Material, das in diese verleugneten und dissoziierten psychischen Regionen verbannt war, aus Freuds »offizieller« Lehre ausgeschlossen blieb, tauchte es in seiner »inoffiziellen Position« auf. Anknüpfend an Loewald, wird es unsere Aufgabe sein, es aufzuspüren und zu analysieren, um dann zu sehen, welche Weiterungen es für die psychoanalytische Theorie hat.

Mein zweites Thema

Das zweite Thema, das ich in dieser Untersuchung neben dem der »fehlenden Mutter« bearbeiten möchte, ist der »(1)Bruch mit der Tradition« – ein Thema, das auch für die großen Theoretiker der Moderne von zentralem Belang war. Freuds Interesse daran ergab sich unmittelbar aus seinen Lebensumständen, denn seine Familie erlebte die massiven sozialen und kulturellen Umbrüche mit, die den Modernisierungsprozess in Europa begleiteten. Im Laufe von nur drei Generationen verwandelten sich die Freuds von traditionellen Ostjuden aus Galizien, einer der östlichsten Provinzen des Österreichischen Kaiserreiches, in relativ moderne, säkulare Juden und Einwohner Wiens, der Hauptstadt. Die Art und Weise, wie Freud die Veränderung erlebte und sein spezifisches, doppeltes jüdisch-deutsches Erbe verarbeitete, hatte zur Folge, dass er sich als einen Vertreter der (1)Aufklärung verstand. Seine Einstellung zur Aufklärung war aber alles andere als unkompliziert und bedarf deshalb einer sorgfältigen Untersuchung. Mehr noch – die Komplexität seiner Position, die mit der Beschaffenheit seiner psychoanalytischen Entdeckungen zusammenhängt, ermöglicht es beiden Lagern, das heißt sowohl den Anhängern der Aufklärung als auch ihren Opponenten, ihn als einen der ihren zu vereinnahmen. Aufgrund dieser komplexen Situation wurde die Freud-Interpretation zu einem zentralen Streitpunkt zahlreicher Kontroversen über die Moderne und die Aufklärung.

Wie die Verteidiger der (2)Aufklärung Freud für sich reklamieren können, ist unschwer zu erkennen: Sie nehmen seine Selbstbeschreibung für bare Münze und verzichten auf jede weitere Überprüfung. (3)Peter Gays Versuch, Freud als einen Repräsentanten der Aufklärung schlechthin, als den letzten »philosophe« darzustellen, ist einseitig und wird den Nuancen seiner Position nicht gerecht.22 Die Aufklärung brachte von Anfang an oppositionelle Bewegungen hervor, die sich unter der Rubrik »Gegenaufklärung« zusammenfassen lassen und die mit ihrer Entwicklung konsequent Schritt hielten.23 Die Standardkritik der Gegenaufklärung – die sich vorwiegend gegen die kantianische Version der Aufklärung des 18. Jahrhunderts wandte, der sie exzessiven Rationalismus, abstrakten Universalismus, Eurozentrismus und whiggistischen Progressivismus vorwarf – ist ernst zu nehmen. Und insoweit Freuds »offizielle« Lehre ebendieser »kantianischen« Position entspricht, was in vielerlei Hinsicht der Fall ist, trifft dieselbe Kritik auch auf sie zu.

Doch Freud entsprach keineswegs dem Standardbild eines Aufklärers des 18. Jahrhunderts. Er schloss sich der (3)Aufklärung in einem späteren Stadium ihrer Entwicklung an und lässt sich – zumal in seinem reifen Erwachsenenalter – treffender als Vertreter der von (1)Yirmiyahu Yovel so genannten »dunklen Aufklärung« beschreiben, einer tiefer reichenden, in höherem Maß konflikthaften, trostlosen, sogar tragischen und dennoch emanzipatorischen Tradition innerhalb der breiteren aufklärerischen Bewegung:

»Von Machiavelli und Hobbes über Spinoza bis zu Darwin und Marx und weiter zu Nietzsche, Freud und Heidegger hat dieser Prozess der dunklen Aufklärung […] ein unsanftes Erwachen aus religiösen und metaphysischen Illusionen gezeitigt und dabei Schmerzen und Konflikte verursacht. Denn er stellte gewohnte Selbstbilder und geheiligte kulturelle Identitäten in Frage und gefährdete damit eine ganze Reihe verfestigter psychologischer Interessen. Doch gerade aus diesen Gründen war dieser Prozess auch eine Emanzipationsbewegung, die dazu diente, im Menschen eine intensivere und klarere Selbsterkenntnis zu evozieren, selbst um den Preis wenig schmeichelhafter Folgen, die oftmals schockieren und erschrecken. Das ist der wahre ›ödipale Trieb‹ – nicht des Freudschen Ödipus, sondern des ursprünglichen Protagonisten der Tragödie des Sophokles, einer von dessen eifrigsten Nachfolgern eben Freud selbst gewesen ist.«24

Als Vertreter der dunklen (4)Aufklärung setzte sich Freud mit den Wahrheitsansprüchen der Gegenaufklärung entschlossen auseinander und versuchte, sie in eine geläuterte, aber radikalisierte Verteidigung der Aufklärung zu integrieren. Im Gegensatz zu der hypomanischen »postmodernistischen« Feier des »Endes der Vernunft« und des »Endes des Subjekts« griff dieser Ansatz die Kritik der Vernunft und des Subjekts auf, um eine »erweiterte« Konzeption der Rationalität und Subjektivität zu formulieren, die breiter, reicher und geschmeidiger war als ihre Vorgängerin. Ebendiese Strategie befolgte Hegel, als er dem Wahrheitsgehalt der Romantik gerecht zu werden versuchte, um den einseitigen Rationalismus der kantianischen Aufklärung zu überwinden. Und dieselbe Strategie empfahl (1)Theodor W. Adorno der Kritischen Theorie mit der Begründung, dass die Psychoanalyse den Versuch exemplifiziere, sich mit »dem Irrationalen« auseinanderzusetzen und es in ein umfassenderes und weniger reifiziertes Verständnis der Rationalität zu integrieren.25

Worin besteht, so könnte man fragen, die Verbindung zwischen meinen scheinbar disparaten Themen »(6)Die fehlende Mutter« und »(2)Der Bruch mit der Tradition«? Ich habe die Ansicht vertreten, dass Freud in Reaktion auf sein Erleben des Bruchs mit der Tradition zu einem dunklen Aufklärer wurde und seine theoretische Aufgabe darin sah, das Irrationale zu untersuchen und in eine umfassendere Konzeptualisierung der Vernunft zu integrieren. Psychoanalytisch gesehen, ist das Irrationale nicht nur Teil des Unbewussten, sondern auch des Bereichs unseres archaischen prä-ödipalen und präverbalen, auf die frühe Beziehung zwischen Säugling und Mutter konzentrierten Erlebens. In dem Maße, in dem sich der »offizielle« Freud aufgrund seiner eigenen frühen Geschichte nicht auf die mütterliche Dimension des Seelenlebens einlassen konnte, war er auch nicht in der Lage, das Irrationale zu untersuchen und sein theoretisches Programm abzuarbeiten.

(1)Biographische Wahrheit

Freuds Diktum: »[…] die (2)biographische Wahrheit ist nicht zu haben«, gilt den meisten seiner Biographen als sakrosankt. Sie zitieren es pflichtbewusst in den Einleitungen ihrer Biographien des Mannes, der behauptete, wahrheitsgemäße Biographien seien unmöglich.26 (So viel zum Problem der Selbstreferenz.) Doch Freuds Behauptung ist keineswegs so unproblematisch, wie man gemeinhin annimmt, sondern bedarf der kritischen Prüfung. Einen entscheidenden Grund, weshalb die Bemühungen der Biographen zum Scheitern verurteilt sind, sieht Freud darin, dass sie das Bedürfnis, ihren Gegenstand zu idealisieren, gewöhnlich nicht hintanstellen können:

»(3)[…] Biographen [sind] in ganz eigentümlicher Weise an ihren Helden fixiert […]. Sie haben ihn häufig zum Objekt ihrer Studien gewählt, weil sie ihm aus Gründen ihres persönlichen Gefühlslebens von vornherein eine besondere Affektion entgegenbrachten. Sie geben sich dann einer Idealisierungsarbeit hin, die bestrebt ist, den großen Mann in die Reihe ihrer infantilen Vorbilder einzutragen […]. Sie löschen diesem Wunsche zuliebe die individuellen Züge in seiner Physiognomie aus, glätten die Spuren seines Lebenskampfes mit inneren und äußeren Widerständen, dulden an ihm keinen Rest von menschlicher Schwäche oder Unvollkommenheit […].«27

Freuds Skepis gegenüber der Biographik beruht, mit anderen Worten, auf seiner Vermutung, dass (4)Biographen ihr Idealisierungsbedürfnis nicht hinreichend unter Kontrolle bringen und deshalb keine mehr oder weniger reife Sicht auf ihren Gegenstand entwickeln können. Infolgedessen fallen ihre Porträts tendenziell eher vorteilhaft aus. Der Begründer der Selbstpsychologie, (2)Heinz Kohut, vertrat ebenso wie etliche andere Autoren die Auffassung, dass Freud – der noch bis in seine 50er Jahre hinein zu veritablen Idealisierungen neigte – aufgrund des Unbehagens, das sein eigenes frühes, narzisstisches Erleben ihm bereitete, über ein sehr begrenztes Verständnis der Idealisierung und ihrer analytischen Bearbeitung nicht hinausgelangte. Hier liegt die Quelle seiner (5)skeptischen Einschätzung unserer Möglichkeiten, die Idealisierungsbestrebungen »hinreichend gut« durchzuarbeiten, um affektiv besetzte Elternfiguren auf weniger verzerrte Weise wahrnehmen zu können. Letztlich spricht aus dieser Skepsis Freuds zutiefst pessimistische Beurteilung unserer Fähigkeit, zu psychischer Reife zu gelangen. Um zu reifen, müssen Kinder ihre infantilen, idealisierten Elternimagines aufgeben und Mutter und Vater als komplexe menschliche Wesen mit Fehlern und Widersprüchen anerkennen. Wenn alles gut geht, beginnt dieser Entidealisierungsprozess im kleinen Kreis der Familie und bewirkt sodann, dass die psychosoziale Realität generell weniger verzerrt wahrgenommen wird. Im Idealfall verliert unser Wunsch nach idealisierten großartigen Figuren – Cäsaren, Führern, Parteivorsitzenden, Prominenten und allwissenden Psychoanalytikern – an Intensität und wir können uns zu reifen demokratischen Bürgern im weitesten Sinn des Wortes entwickeln. Man hat auch zu zeigen versucht, dass die Psychoanalyse in ein nachapostolisches Zeitalter eingetreten sei. Generationen kommen und gehen – heute kann sich kein Psychoanalytiker mehr auf eine direkte Abstammung von Freud und den Gründerfiguren der Disziplin berufen. So gesehen, sind wir allesamt Waisen – und das ist gut so. Ich hoffe, dass wir uns dank dieses Umstands und dank der Zeit, die vergangen ist, sowie mithilfe unseres besseren Verständnisses der (6)Idealisierung ein reiferes Bild von Freud werden machen können, damit wir den Begründer unseres Feldes lieben können, ohne ihn zu idealisieren, und ihn gründlich kritisieren können, ohne ihn niederzumachen. Beispielhaft für eine solche Einstellung ist die folgende Passage aus einem Vortrag, den die deutsche Psychoanalytikerin und Freud-Expertin (1)Ilse Grubrich-Simitis über die Brautbriefe gehalten hat, die Freud an seine Verlobte schrieb:

»Beim Lesen des Brautbriefe-Konvoluts begegnet uns erwartungsgemäß der hinreißend energische, geniebegabte, ideensprühende, eroberungswillige und eroberungsfähige, so liebevolle wie zärtliche junge Mann. Zugleich aber treffen wir auf einen von äußerem Missgeschick Niedergedrückten und Überforderten, einen Zerrissenen, von heftigen Stimmungsschwankungen Geplagten, einen Jähzornigen, einen überaus Schroffen, einen hochgradig Empfindsamen und Verletzbaren. Mit anderen Worten, bei der Lektüre entsteht ein (7)vielgestaltiges, ein realistisches Bild, das sich von den flachen Idealisierungen der Freud-Hagiographie und erst recht von den grotesken Verunstaltungen des sogenannten Freud bashing deutlich unterscheidet.«28

Denkbar ist freilich, dass ich »einer Illusion nachjage«29.

Freud wusste noch mehr über die schwierige Arbeit des Biographen zu sagen:

»Wenn ein (8)biographischer Versuch wirklich zum Verständnis des Seelenlebens seines Helden durchdringen will, darf er nicht, wie dies in den meisten Biographien aus Diskretion oder aus Prüderie geschieht, die sexuelle Betätigung, die geschlechtliche Eigenart des Untersuchten mit Stillschweigen übergehen.«30

Für den hermeneutischen Horizont, der meine Rückkehr zu Freud entscheidend beeinflusste, war – wie schon erwähnt – nicht nur die zweite Welle des Feminismus bestimmend, sondern auch die daraus hervorgegangene Schwulen- und Lesbenbewegung. Diese hat ebenfalls wichtige Konsequenzen für die heutige Freud-Forschung. Sie erleichtert es, mit einigen der Stigmata aufzuräumen, die das Thema (1)Homosexualität belasten, und es offener, direkter zu diskutieren. Und sie bringt die Möglichkeit mit sich, die Stärke von Freuds »androphile[r] Strömung«31, wie er sich euphemistisch ausdrückte, und die Intensität der homosexuellen Dynamik in seinen Beziehungen zu Wilhelm Fließ und C. G. Jung deutlicher herauszuarbeiten. Mit der denkwürdigen Ausnahme von Peter Gay haben frühere Freud-Biographen dieses Thema weitgehend skotomisiert. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich werde nicht versuchen, Freud zu »outen«, halte es aber für notwendig, seine »geschlechtliche Eigenart« gründlicher zu verstehen.

Eines muss klar sein: Das Ziel meiner Untersuchung über Sigmund Freud ist nicht etwa eine erschöpfende Lebensbeschreibung. Ein solches Unternehmen ist überflüssig, denn mehrere exzellente Freud-Biographien liegen bereits vor. Mein Ziel ist es vielmehr, die Beziehung zwischen Freuds Leben und seiner Arbeit unter einer spezifischen Perspektive zu schildern, nämlich mit Blick auf die beiden oben erläuterten Themen »Die fehlende Mutter« und »Der Bruch mit der Tradition«. Eine gewisse Vertrautheit meiner Leserinnen und Leser mit den wesentlichen lebensgeschichtlichen Fakten ist der Lektüre zweifellos zuträglich; sie ist aber keine notwendige Voraussetzung dafür, meine Argumentation nachzuvollziehen. Wer diese Fakten besser kennenlernen möchte, sollte die klassischen Freud-Biographien von Ernest Jones, Peter Gay und Ronald W. Clark zur Hand nehmen.32 Die Entwicklung der Freud’schen Theorie wurde von Richard Wollheim in seinem exzellenten Werk Sigmund Freud prägnant und luzide dargestellt.33

Ich möchte diese Einleitung mit einem letzten Hinweis beschließen. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, Freuds intellektuelle Biographie – die Beziehung zwischen der Entfaltung seines Denkens und entscheidenden Entwicklungen seiner Lebensgeschichte – überzeugend darzulegen, einige seiner wichtigen Theorien einleuchtend zu erklären und meinen theoretischen Widersachern den einen oder anderen kräftigen Schlag zu versetzen. (Ich habe nicht versucht, meine Parteilichkeit zu verhehlen.) Abgesehen von diesen Zielen hoffe ich auch, dass es mir geglückt ist, Freud »mit all seinem Widerspruch«34 lebendig werden zu lassen. Der Schöpfer der Psychoanalyse war nicht bloß der bürgerliche Pater familias oder der hyperrationale Mann der Wissenschaft, als der er so oft dargestellt wird – auch wenn seine Persönlichkeit entsprechende Eigenschaften aufweist. Darüber hinaus aber war er ein leidenschaftlicher, vitaler und durch und durch menschlicher Mann, der eine ungehemmte Vorstellungskraft auf beispiellose Weise mit der Fähigkeit zu messerscharfer, zupackender »euklidischer« Reflexion in sich vereinte – eine der kreativsten, faszinierendsten Gestalten der Moderne.

1

Wanderjuden

Von Galizien nach Wien

Der Bruch mit der Tradition

Der Bruch mit der Tradition, das Thema, das die großen Theoretiker der Moderne – (1)Hegel, (1)Nietzsche, (1)Marx, (1)Durkheim und (1)Weber – in Atem hielt, stand auch im Mittelpunkt von Freuds Leben und Werk. In seinem Fall kam ihm sogar eine besondere emotionale Bedeutung zu, denn Freuds Familie hatte all die Migrationsbewegungen, die durch diese historischen Umwälzungen ausgelöst wurden, selbst mitgemacht. Im Laufe von drei Generationen wurden aus provinziellen Ostjuden, die in der engen Welt des (1)galizischen Judentums am östlichen Rand des habsburgischen Reiches lebten, säkularisierte Juden, die in einer der weltoffensten Hauptstädte Westeuropas zuhause waren.

Für fromme Juden bedeutete Tradition die ununterbrochene Überlieferung der Thora, und in dieser Tradition wurde Freuds Vater (1)Jacob (1815–​1896) erzogen. Jacobs Vater (1)Schlomo wiederum war Rabbiner. Ob er die orthodoxe oder die chassidische Richtung vertrat, lässt sich heute nicht mehr mit Gewissheit sagen. In jedem Fall aber sorgte (2)Schlomo dafür, dass sein Sohn aufs Gründlichste in den heiligen Texten unterwiesen wurde. Wir wissen auch, dass (2)Jacob sich zeitlebens in die Schriften vertiefte. (3)Schlomo selbst, so berichtete seine Enkeltochter, las den Talmud noch als alter Mann in Wien auf Aramäisch.1

(3)Jacob wollte diese Tradition zweifellos an seinen Sohn, Sigmund, weitergeben. Doch sein unorthodoxes – oder post-traditionelles – Vorgehen bezeugt, dass die bis dato ununterbrochene Überlieferungskette bereits gerissen war. Dass sich an seinen Entscheidungen und Verhaltensweisen die inneren Spannungen eines Mannes ablesen lassen, der mit einem Fuß noch in der Welt des traditionellen Judentums und mit dem anderen schon in der säkularen Moderne stand, macht sie für uns unschätzbar aufschlussreich. (4)Jacob erwartete von Sigmund nicht, sich Stunde um Stunde über die Gemara, den Talmud und seine Kommentare zu beugen, wie er selbst es getan hatte. Als Sigmund sieben Jahre alt wurde, begann Jacob stattdessen, ihm aus der Familienbibel vorzulesen, und schon bald las der frühreife kleine Junge die biblischen Geschichten allein, ohne Hilfe. Bezeichnenderweise handelte es sich um die Israelitische Bibel, die (1)Ludwig Philippson, ein berühmter Gelehrter, gleichermaßen bewandert in religiösen wie weltlichen Fragen, zusammen mit seinem Bruder Phoebus veröffentlicht hatte. Aus der Wahl der (1)Philippson-Bibel spricht eine veränderte Einstellung zur Traditionskette. Sie sagt uns vieles über (5)Jacobs Beziehung zu den Bräuchen und Lehren seiner Vorväter.

Wie üblich enthielt auch die Freud’sche Familienbibel ein Gedenkblatt, auf dem die wichtigen Ereignisse der Familiengeschichte notiert wurden. Von Jacob stammen lediglich vier Einträge. Der erste betrifft den Erwerb der Philippson-Bibel am 1. November 1848, in einem für ganz Europa wichtigen Jahr also, in dem die Stürme der Revolution – und die reaktionären Gegenwinde – über den Kontinent tosten und das Leben vieler jüdischer Gemeinden auf den Kopf stellten. Damals lebte Jacob noch in seiner galizischen Geburtsstadt (1)Tysmenitz, die bis 1772 zu Polen gehört hatte und dann von der Habsburger Monarchie annektiert wurde, zu deren Gebiet sie bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zählte. In Galizien im Allgemeinen und in (2)Tysmenitz im Besonderen flossen zahlreiche der rivalisierenden Strömungen, die das jüdische Leben in der Mitte des 19. Jahrhunderts destabilisierten, zusammen. Es war eine »Zeit des Umbruchs, in der […] die Tradition des Glaubens und damit die Organisation der jüdischen Gemeinden in fundamentaler Weise in Frage gestellt wurde«2. Die drei Hauptströmungen des Judentums, das orthodoxe Rabbinertum, der Chassidismus und die Haskala, die jüdische Aufklärung, bekämpfen sich gegenseitig. Diese Konfrontation stellte die althergebrachte Autorität von Grund auf infrage.

Das galizische Judentum war eine durch und durch kommunale Angelegenheit. Die Halacha, das geheiligte jüdische Recht, schaffte Klarheit in sämtlichen Aspekten des Lebens. Die extreme Armut, die in den Schtetln herrschte, und die generell unsichere Existenz machten gegenseitige Hilfe und Solidarität schon im Interesse des physischen Überlebens unabdingbar. Es war, so die Psychoanalytikerin (1)Ana-Maria Rizzuto, keineswegs selbstverständlich, am Leben zu bleiben. In (2)Galizien »starben trotz aller Anstrengungen, die die Gemeinden unternahmen, viele Juden den Hungertod«3. Vor diesem Hintergrund war der Zusammenhalt des Kollektivs unverzichtbar, setzte das Individuum aber gleichzeitig unter massiven Druck, sich an die Gebote und Regeln, die so gut wie jeden Moment des Tages bestimmten, anzupassen. Jede Herausforderung des Zusammenhalts dieser in sich geschlossenen Gemeinschaft und ihres »althergebrachten Systems theologischen und ritualisierten Denkens und Handelns« bedrohte nicht nur die kollektive Identität der Gruppe, sondern auch die Existenz jedes einzelnen Mitglieds.4

Die erste Verunsicherung ging vom Chassidismus aus, einer Bewegung, die die Autorität der orthodoxen Rabbiner infrage stellte, indem sie deren Formalismus, ihre Schulgelehrsamkeit und ihren Legalismus kritisierte und als Alternative eine einfache, tröstliche Lehre vertrat, die das Gefühl, den Spiritualismus und die Alltagserfahrung betonte. Freud nahm an, dass sein Vater ursprünglich ein Chassidim gewesen war. Wie auch immer (6)Jacobs frühe Kontakte zum Chassidismus ausgesehen haben mögen – die entscheidende Rolle in seinem Leben spielte eine andere Bewegung, nämlich die Haskala, die jüdische Aufklärung, die sich die deutsche Aufklärung zum Vorbild nahm und die physische und spirituelle Entghettoisierung der Juden, die mit den Napoleonischen Reformen (1896–​1808) begonnen hatte, voranzutreiben suchte. Die Maskilim, die Anhänger der Haskala, wollten die jüdische Tradition transformieren und ihren Mitgliedern eine umfassendere Teilnahme an der aufgeschlossenen Welt der Moderne ermöglichen. Sie waren säkular und fortschrittlich, doch weder antireligiös noch antiklerikal, anders formuliert: Sie waren keine Jiddisch sprechenden »philosophes«, sondern verstanden sich lediglich als Bekämpfer der in ihren Augen atavistischen Elemente des traditionellen Judentums und traten dafür ein, die bürgerlichen Werte der Gastkultur sowie deren Bräuche und Kleidungsstil zu übernehmen.

Die Chassidim wiederum standen diesen radikalen, säkularen Strebungen absolut feindlich gegenüber. Umgekehrt wurden ihr Aberglauben und ihre magischen Bräuche von den Maskilim nicht weniger argwöhnisch betrachtet. Ironischerweise aber hatten die Chassidim, indem sie es wagten, Kritik an den Rabbinern zu üben, bewiesen, dass die traditionelle Autorität nicht absolut und unantastbar war; ohne es zu beabsichtigen, hatten sie der Kritik an der Orthodoxie im Allgemeinen und der rationalistischen Kritik der Haskala im Besonderen das Tor geöffnet.

Die Maskilim durchschritten dieses Tor und schickten sich an, ihren Glauben an Gott, das Judentum und die Thora mit den Fortschritten der Aufklärung in Einklang zu bringen – das heißt, »den Gehalt der Schriften und des Talmud im Lichte der Vision und der Weisheit der Aufklärung erglänzen zu lassen«5. Folgerichtig boten sie dem rabbinischen Verbot des weltlichen Lernens die Stirn und traten für die Unterweisung in den europäischen Naturwissenschaften, in der Philosophie, Sprache und Literatur als Bestandteil jüdischer Ausbildung ein. Doch auch die Anhänger der Haskala, die den kleingeistigen Talmudismus der orthodoxen Studien ablehnten, hielten an der Bibel als Herzstück des Bildungsprozesses fest. Das Studium der Bibel, die sie als einen humanistischen Text und Teil der Weltliteratur rühmten – ein der Odyssee und der Göttlichen Komödie ebenbürtiges Werk –, bot die Möglichkeit, das vielleicht kostbarste Gut der deutschen Aufklärung, nämlich die Bildung [deutsch im Original], zu fördern. Genau dafür stand die Philippson-Bibel ein, die der berühmte französische Psychoanalytiker (1)Didier Anzieu als ein Produkt der Haskala par excellence bezeichnete.6

Weil sie die herkömmliche, zentrale Bedeutung der Rituale und Zeremonien ablehnten, richteten die Maskilim neben ihrer besonderen Wertschätzung des weltlichen Lernens das Augenmerk auf die Ethik des Judentums, vor allem auf deren Betonung der Wahrheit und Gerechtigkeit. Ihre Auslegung dieser ethischen Lehre deckte sich weitgehend mit den fortschrittlichen Werten der Aufklärung. Die Schriften (1)Kants und (1)Moses Mendelssohns, des führenden Repräsentanten der Haskala, finden ein Echo in der zuversichtlichen Prognose des englischen Übersetzers der (2)Philippson-Bibel, die »geistige Bildung« der jüdischen Bevölkerung werde »unweigerlich« die Anerkennung des »Rechts auf persönliches Urteilen [das heißt des Rechts auf kritisches Denken] […] und die Forderung nach individueller Freiheit«7 nach sich ziehen.

(3)Tysmenitz blieb zwar, wie (3)Galizien überhaupt, eine Hochburg der rabbinischen Orthodoxie, doch zugleich blühte die Haskala dort auf.8 Tatsächlich stammten einige »der aktivsten Maskilim, der Vertreter der Haskala, […] aus Tysmenitz«9 – und viele von ihnen gehörten Jacob Freuds eigener Generation an. Die Blüte der Tysmenitzer Haskala hing zweifellos auch damit zusammen, dass der Ort eine Handelsstadt war, in der es lebhaft zuging. Wie schon die Erfahrung der griechischen Seemänner zeigte, trägt der Händler, der mit fremder Lebensart in Kontakt kommt, oftmals zur Erosion seiner eigenen, provinziellen Herkunftskultur bei, indem er die Saat der Aufklärung verbreitet. Gleiches geschah in (4)Tysmenitz, wo jüdische Kaufleute, die regelmäßig »die großen Märkte von Breslau, Leipzig und anderen deutschen Städten besuchten«10, über die Errungenschaften der europäischen Moderne berichteten und (5)Tysmenitz auf diese Weise dabei halfen, sich zu einem Zentrum der Haskala zu entwickeln.

Der Soziologin (1)Marianne Krüll zufolge gehörte (7)Jacob Freud »zu den ersten galizischen Juden, die aus dem traditionellen Milieu der ostjüdischen Gemeinde sowohl geistig wie materiell in ein neues Leben aufbrachen«11. Auch wenn man ihn vermutlich nicht als ausgemachten Repräsentanten der jüdischen Aufklärung betrachten kann, war er doch ein Jude neuen Typs, »tief verwurzelt in den Traditionen jüdischer Religion und Gelehrsamkeit«12 und zugleich fasziniert von den Modernisierungstendenzen der europäischen Kultur. Dokumente oder andere Quellen, die erklären könnten, wie es zu diesem »drastischen Wandel«13 in Freuds Vater kam, sind laut (2)Ana-Maria Rizzuto nicht überliefert. Für den Ausgang dieser Entwicklung gibt es aber ein bedeutungsträchtiges Belegstück, nämlich die zweisprachige (3)Philippson’sche Bibel, die Jacob im Jahre 1848 anschaffte.

Möglich wäre, dass (8)Jacob diese Bibel erwarb, um aktiv in einem »Lese- und Kulturverein« mitzuwirken, der 1848 in (6)Tysmenitz gegründet wurde und sich die Verbreitung der Lehren der Haskala zur Aufgabe machte.14 In jenem bemerkenswerten Jahr wirbelten, wie schon erwähnt, die Stürme der Revolution durch Europa und führten radikale Reformen mit sich. Für die Juden kündeten sie vom Beginn einer neuen Epoche. Das Feudalsystem wurde de jure, wenn auch nicht de facto, abgeschafft; den österreichischen Juden wurden im Zuge dieser Umbrüche uneingeschränkte politische und bürgerliche Rechte gewährt. Tatsächlich stellten die Ereignisse von 1848 die galizischen Juden, so (3)Rizzuto, vor die Entscheidung, »sich entweder in ein emanzipiertes und gebildetes Bürgertum zu integrieren oder sich in die Abgeschiedenheit der homogenen, gesetzesgläubigen jüdischen Gemeinschaft zurückzuziehen«15. (9)Jacobs Erwerb dieser speziellen Bibelausgabe in jenem ganz besonderen Jahr legt die Vermutung nahe, dass die Welle der fortschrittlichen Entwicklungen ihn bewog, sich für die Integration zu entscheiden.

Die Familie Philippson, die hinter der Edition der Israelitischen Bibel stand, spielte in der Haskala und im Reformjudentum eine führende Rolle. Die (4)Philippson-Bibel, deren Fertigstellung nicht weniger als 16 Jahre in Anspruch nahm, war ein »Werk ernster Gelehrsamkeit im Geiste der Wissenschaft des Judentums«16, einer Bewegung des 19. Jahrhunderts, die bestrebt war, die fortgeschrittenen Methoden der modernen Gelehrsamkeit auf das Studium des Judaismus anzuwenden. Die Seiten der neuen Bibel zeigten jeweils den hebräischen Text des Alten Testaments und in der Spalte daneben die deutsche Übersetzung. Ausführliche Anmerkungen am Fuß der Seite führten nicht nur die wichtigsten Werke der jüdischen und christliche Exegese und Kommentierung auf, sondern enthielten darüber hinaus wissenschaftliche Erläuterungen aus mannigfaltigen Disziplinen wie der Anthropologie, der Geschichte des Altertums, der vergleichenden Mythologie und Religion, der Medizin und sogar der Botanik des Nahen Ostens – all dies in der Absicht, dem Leser die Schätze, die das Alte Testament barg, vor Augen zu führen. Noch eindrucksvoller waren die 685 Illustrationen, die den historischen, kulturellen und natürlichen Kontext der biblischen Geschichten veranschaulichen sollten. Sie zeigten biblische Landschaften, Städte, Pflanzen, Tiere, Marktplätze, Münzen, nützliche Gebrauchsgegenstände und sogar ägyptische Gottheiten, also Bilder fremder Götter.17(10)Jacob Freud dürfte gewusst haben, dass die orthodoxe Welt des Judaismus, in der er groß geworden war, diese Ausstattungselemente des Textes, für dessen Kauf er sich entschieden hatte, als Frevel – präziser: als Götzenkult – verurteilt hätte.

Die (5)Philippson-Bibel, aus der Jacob seinem Sohn Sigmund vorlas, war letztlich das Medium, mittels dessen er ihn in die jüdische Tradition einführte. Die Wirkung war vermutlich eine doppelte: Der reiche Inhalt und der aufgeklärte Geist dieser einzigartigen Bibel-Edition haben die »Richtung« von Freuds Interessen »nachhaltig bestimmt«18, doch die entspannte, intime Atmosphäre, in der er die Bibel gemeinsam mit Jacob las, wird seine Entwicklung nicht weniger geprägt haben als der Inhalt der Lektüre.19

Wissenschaftlich war die (6)Philippson’sche Bibel zweifellos, doch ihr Ziel war es nicht, die Leser zu desillusionieren. Vielmehr sollten ihr religiöses Erleben vertieft und ihr Verständnis der Tradition erweitert werden, indem die Erläuterungen aus dem gesamten Wissensbestand der Menschheit schöpften. Ungeachtet ihrer Absicht aber trugen die Philippson-Brüder, indem sie den biblischen Text nicht als Gegenstand der Exegese, sondern der Wissenschaft behandelten, zur Untergrabung der Tradition bei. Es war nicht nur die fehlende weltliche Bildung, die die Juden vor dem 19. Jahrhundert daran gehindert hatte, über ihre grundlegenden Glaubenssätze nachzudenken. Vielmehr ließ ihr geschlossenes Weltbild dieses Nachdenken gar nicht zu – es war buchstäblich undenkbar. Die Orthodoxen hingen dem »tiefverwurzelten Glauben« an, dass die Thora »göttlichen Ursprungs und deshalb immun gegen eine derartige kritische Prüfung«20 sei. Streng genommen ist eine Tradition nur dann eine Tradition, wenn es ihr aus strukturellen Gründen unmöglich ist, Reflexionen – insbesondere von einer äußeren Warte aus – über ihre eigenen Dogmen, die »idola tribus«, anzustellen. In Anlehnung an (2)Winnicott könnte man sagen, die Dogmen seien so selbstverständlich, dass die Idee, sie zu hinterfragen, gar nicht erst nicht auftaucht.21 Die Tradition eines Volkes der Reflexion zu unterziehen, sie als eine spezifische soziale Formation und als ein Glaubenssystem unter vielen, von kontingenten historischen Kräften hervorgebrachten vergleichbaren Systemen zu betrachten – zum Beispiel die jüdische Tradition und ihre Glaubenslehre zu objektivieren, wie es die (7)Philippson’sche Bibel tat – heißt, sie ihres eigentlichen traditionalistischen Charakters zu berauben.

Als Medium, das (11)Jacob heranzog, um Sigmund sein Doppelerbe zu übertragen, konterkarierte die (8)Philippson-Bibel seine Absichten. Den Idealen der Haskala entsprechend, wollte Jacob seinen Sohn zu einem religiösen und gleichzeitig modernen Menschen erziehen. Indem er die Israelitische Bibel benutzte wie die Orthodoxen die Thora und andere heilige Texte, wollte er Sigmund nicht nur für die Glaubenslehren, die Geschichten, Bräuche, Werte und Gesetze sensibilisieren, sondern auch ein Gefühl der Frömmigkeit in ihm wecken. Freud selbst zweifelte als Erwachsener nicht daran, dass seine »[f]rühzeitige Vertiefung in die biblische Geschichte«22 einen nachhaltigen Einfluss auf ihn ausgeübt hatte. Indes gab (12)Jacob über die (9)Philippson’sche Edition nicht nur den Inhalt der Bibel an seinen Sohn weiter, sondern vermittelte Sigmund gleichzeitig auf indirekte Weise das reflektierte Verständnis der heiligen Schrift, für das die Brüder Philippson einstanden. Und ebendieses reflektierte Verständnis verschattete den Inhalt. Trotz seines jungen Alters werden die gelehrten Fußnoten auf den frühreifen Knaben, der Sigmund fraglos war, bereits Eindruck gemacht haben. Darüber hinaus müssen die Illustrationen, die »ein breites Panorama vieler anderer Nationen, anderer Völker und Landschaften« ausbreiteten, eine dezentrierende anthropologische Haltung im Sinne Herodots in Freud aktiviert haben. Sie trugen ihn hinaus über die engen Grenzen der (1)Leopoldstadt, des übervölkerten jüdischen Wiener Bezirks, in dem er aufwuchs. »Aus dem Kind, vor dessen Augen sich dieses malerische Universum ausbreitete, wurde der Mann, dessen Neugier keine Grenzen kannte«.23 Zwar vertiefte Freud sich in den Inhalt des Alten Testaments, doch er behandelte den Text als historisches, anthropologisches und sozialwissenschaftliches Material, mit anderen Worten: Er objektivierte ihn. Das Alte Testament wurde für ihn nicht zur Quelle religiöser Inspiration, sondern zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung und Interpretation, die wesentliche Fakten über die menschliche Natur ans Licht bringen konnten.

Als Anhänger der Haskala waren (13)Jacob und die Philippson-Brüder überzeugt, dass religiöser Glaube und Wissenschaft miteinander vereinbar seien und kritische Reflexion den Glauben nicht zwangsläufig untergraben müsse. Im Falle Freuds aber – wie auch in vielen anderen – mündete die wissenschaftliche Untersuchung der Religion in deren Ablehnung ein. Von der Wissenschaft des Judentums, die Freud durch die Fußnoten der (10)Philippson-Bibel kennenlernte, zu (1)Feuerbach, dem jungen Hegelianer, der sowohl der marxistischen als auch der psychoanalytischen (1)Religionskritik die Schablone lieferte und zum Lieblingsphilosophen des Studenten Freud avancierte, war der Schritt nicht allzu groß. Sigmund Freud ließ die spannungsreiche Position, die sein Vater zwischen der Welt des jüdischen Traditionalismus und der Welt der europäischen Moderne eingenommen hatte, hinter sich und wurde zu einem durch und durch weltlichen – einem »gottlosen« – Juden und damit zu einer Hauptfigur des Autonomieprojektes.

Jacobs »zweiter Erstgeborener«

Die Enge des osteuropäischen Schtetls ist nur eine Seite jüdischer Lebenswelt. Eine andere ist die Fähigkeit, aus freien Stücken oder gezwungenermaßen die Sicherheit und Vertrautheit des eigenen Heimes hinter sich zu lassen, die Reise ins Unbekannte anzutreten und zu versuchen, sich ein besseres Leben aufzubauen. Auffällig ist, dass (14)Jacob Freud wie so viele seiner Glaubensbrüder als »Wanderjude« registriert war – ein fast mythischer Begriff, den die galizischen Behörden zur Erfassung der Gewerbetreibenden benutzten, die ihren Geschäften jenseits der Provinzgrenzen nachgingen. Was Jacob zu seiner Entscheidung bewog, als Wanderjude umherzuziehen, wissen wir nicht, gesichert aber ist, dass er 1844, mit 29 Jahren, eine Partnerschaft mit (1)Siskind Hoffman, einem Großvater mütterlicherseits, einging, der sein Kaufmannsgewerbe damals seit schon vier Jahrzehnten in der Region zwischen (4)Galizien und der weiter westlich gelegenen Provinz (1)Mähren ausübte. Vielleicht war es für Jacob schon schwierig geworden, seinen Lebensunterhalt selbständig zu verdienen. Als Geschäftspartner pendelten die beiden fortan ständig zwischen (5)Galizien und dem mährischen Städtchen (2)Freiberg24 hin und her. Sie verkauften »Wolle, Erzeugnisse aus Wolle, Talg, Honig, Anis, Pelzwerk, Salz und ähnliche Rohprodukte«25. Selbst wenn die Reize der Moderne nicht dafür entscheidend waren, (15)Jacob aus Tysmenitz herauszulocken, musste er auf seinen Touren unweigerlich mit ihnen in Berührung kommen. (2)Mähren lag rund 250 km nordöstlich von Wien, war dem Zentrum des Reiches also näher als Galizien. Deshalb betrieben die Österreicher die Verwaltung und die Integration dieser Provinz in das habsburgische Rechtssystem energischer als im Osten, was auch bedeutete, dass sie die Juden aggressiver zur Assimilation drängten. Gleichzeitig wurden antijüdische Maßnahmen in (3)Mähren konsequenter durchgesetzt und kontrolliert. Infolgedessen waren »die neuen Lebensformen […] in den mährischen Judengemeinden wahrscheinlich weiter verbreitet […] als im rückständigen Galizien«26. Zudem war (3)Freiberg eine Marktstadt, also ein Ort, an dem (16)Jacob modernen nichtjüdischen Kaufleuten aus anderen Städten des Reiches begegnete und sie beobachten konnte. Wir können uns vorstellen, welchen Einfluss solche Erfahrungen auf diesen provinziellen Juden ausübten, der seine Geburtsstadt nie verlassen hatte, bevor er zum Geschäftspartner seines Großvaters wurde.

Wenn (17)Jacob durch (4)Mähren zog, blieben seine Ehefrau (1)Sally Kanner, die er 1832 geheiratet hatte, und die beiden gemeinsamen Söhne (1)Emanuel (geb. 1833) und (1)Philipp (geb. 1834) in Tysmenitz zurück. Über diese Söhne liegt eine Fülle an Informationen vor, weil sie als Sigmunds ältere Halbbrüder eine wichtige Rolle in seinem Leben spielten. Wenig ist indes über Sallys Hintergrund und ihr Schicksal bekannt. Starb sie? Ließ Jacob sich von ihr scheiden? In der Familie Freud wurde ihr Name in späteren Jahren offenbar von niemandem erwähnt. Manche Forscher glauben, sie sei Jacobs zweite Frau gewesen. Zudem ist dieses Rätsel nur Teil eines größeren Problems: Wir wissen kaum etwas über (18)Jacob aus den Jahren zwischen 1844, als er zu reisen begann, und 1852, als er sich mit der Familie in (4)Freiberg niederließ. Vor allem aber wissen wir nichts über die inneren Veränderungen, die sich in ihm vollzogen.

Trotzdem gibt es, abgesehen vom Erwerb der Philippson-Bibel, ein weiteres Indiz, das (19)Jacobs Loslösung von der Welt, in der er groß geworden war, belegt. Vor den Reformen von 1848 war es Juden im Habsburger Kaiserreich nicht erlaubt, sich ohne behördliche Genehmigung in Städten ihrer Wahl anzusiedeln. Den erhalten gebliebenen (5)Freiberger Magistratsunterlagen ist zu entnehmen, dass die Geschäftspartner (2)Siskind Hoffman und (20)Jacob Freud regelmäßig die Erlaubnis beantragten, sich vorübergehend niederlassen zu dürfen, um ihren Geschäften nachzugehen. Das älteste Dokument dieser Art stammt von 1844. Am 19. Oktober 1847 schließlich stellte Jacob den Antrag auf Duldung nur für sich selbst. Weshalb er nicht länger gemeinsam mit seinem Großvater unterwegs war, wissen wir nicht. Am 10. Juli 1848 gestand das Kreisamt Jacob mit barschen Worten die »Duldung« zu, allerdings nicht für die beantragte Dauer von sechs Monaten, sondern lediglich für ein Vierteljahr. Aus den Unterlagen geht jedoch auch hervor, dass Jacob irgendwann vor dem Jahr 1852 sein Bürgerrecht erwarb und »seine neu gewonnene Niederlassungsfreiheit nutzte«, um die Welt des Schtetl hinter sich zu lassen und in der »überwiegend von Katholiken bewohnten Stadt (6)Freiberg«27 ansässig zu werden. Dort zählte er zu der Gruppe von etwa 100 Juden bei einer Gesamtbevölkerung von rund 4000 Einwohnern. Im Übrigen kultivierten die mährischen Katholiken die Marienverehrung mit solcher Inbrunst, dass die Provinz auch als »Mariengarten« bezeichnet wurde – ein Umstand, der Freuds Einstellung zur (2)Mutterfigur im Katholizismus beeinflusst haben könnte.28

Am 29. Juli 1855 heiratete (21)Jacob (2)Amalie Nathanson. Amalie war 1835 geboren und stammte wie ihr Ehemann aus dem Ostjudentum. Sie war in Brody, einer Stadt im Nordosten Galiziens nahe der russischen Grenze, zur Welt gekommen, hatte zwei Jahre bei ihren älteren Brüdern in Odessa gelebt und war als Kind mit ihren Eltern nach Wien gezogen. (22)Jacob Freud lernte sie in der Hauptstadt des Reiches kennen, wo er vermutlich mit ihrem (1)Vater, der ebenfalls Jacob hieß und zehn Jahre älter war als er, geschäftlich zu tun hatte. Es ist anzunehmen, dass die Heirat von den beiden Männern arrangiert wurde; über die näheren Umstände ihrer Einigung kann man nur spekulieren. (2)Krüll hält es für möglich, dass (23)Jacob seinen künftigen (2)Schwiegervater über seine finanzielle Situation täuschte und sich als Geschäftsmann in günstigem Licht präsentierte, um den großen Altersunterschied – er war 20 Jahre älter als Amalie – wettzumachen. Wenn es sich wirklich so verhalten hat, muss die junge Braut, so (3)Krülls Vermutung, über die Realität tief enttäuscht gewesen sein. Als sich dann im Laufe der Zeit herausstellte, dass ihr Ehemann gar nicht in der Lage war, sie angemessen zu versorgen, mögen Enttäuschung und Ärger noch gewachsen sein.29(3)Nathanson wiederum bot Jacob im Gegenzug zwar eine wunderschöne Jungfrau an, doch wurde (3)Amalies »Tauschwert« wahrscheinlich dadurch gemindert, dass sie unter einer chronischen, nicht näher spezifizierten tuberkulösen Erkrankung litt. Tatsächlich war die Tuberkulose damals auch unter der Bezeichnung »Wiener Krankheit« bekannt.30

Am 6. Mai 1856, zehn Monate nach der Eheschließung, brachte Jacobs Frau Sigmund – mit offiziellem Namen Schlomo Sigismund – zur Welt. Der Junge wurde in (24)Jacobs und (4)Amalies neuem Zuhause in (7)Freiberg geboren, wo(25) Jacob sich im Alter von 41 Jahren nach jahrelanger Wanderschaft niedergelassen hatte. Als »zweiter Erstgeborener« seines Vaters verkörperte der Säugling für Jacob zweifellos zahlreiche der Gefühle, die mit Neuanfängen gewöhnlich einhergehen.31 Dennoch war Jacobs Situation alles andere als einfach. Sein Vater (4)Schlomo war nur zehn Wochen vor der Geburt des Enkelsohnes gestorben. In derselben Zeit, in der Jacob eine neue Familie gründete und neues Leben in die Welt setzte, betrauerte er den Tod seines Vaters.

Bis zu diesem Zeitpunkt verzeichnete das Gedenkblatt [deutsch im Original] der Freud’schen Familienbibel lediglich das Datum, an dem Jacob sie gekauft hatte. Nun aber fügte er gleich zwei Neueinträge hinzu – er vermerkte den Tod (5)Schlomos, seines Vaters, und die Geburt Schlomos, seines Sohnes. Für ihn war die Verbindung zwischen diesen beiden Menschen völlig eindeutig. »Die drei Generationen«, so schreibt (4)Rizzuto, »treten gemeinsam auf dem Gedenkblatt in Erscheinung, durch Geburt und Tod von Generation zu Generation miteinander verbunden«32. Zudem ließ Jacob zwischen den beiden Einträgen so wenig Abstand, dass der zweite fast wie eine Fortsetzung des ersten anmutet.33 Der Inhalt beider Einträge schafft eine Verbindung zwischen den eng verwandten Gefühlen der Frömmigkeit und der Trauer. Wenn (26)Jacob das Datum vermerkt, an dem Freud »in den jüdischen Bund« eintrat, das heißt beschnitten wurde, ist die Bedeutung offensichtlich: Er hofft, dass sein Sohn gleich dem Großvater den »rechten Weg«34 als frommer Jude einschlagen wird. Dass Jacob seine frommen Wünsche aber der reformierten (11)Philippson-Bibel anvertraute, ist auch Zeichen eines Bruchs mit der Vergangenheit und Ausdruck seines optimistischen Ausblicks in die Zukunft seines Sohnes als emanzipierter Jude. Damit bekundete er seine Hoffnung, dass Schlomo Sigismund sich den »neuen Juden der Aufklärung«35 anschließen werde. (5)Rizzuto erläutert den bemerkenswerten Umstand, dass (27)