Freunde Plusminus - L. Mattis - E-Book

Freunde Plusminus E-Book

L. Mattis

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Beschreibung

Flo sucht nicht nach Liebe, er will unverbindlichen Spaß, ausgelassene Studentenpartys und wilde Affären. Dabei spielen weder das Geschlecht seiner Bekanntschaften noch ihre Gefühle eine Rolle, denn sein Herz verschenkt er nicht. Sein bester Freund Lars weiß das. Er ist die kühle Stimme der Vernunft, die dafür sorgt, dass Flos Höhenflüge kein böses Ende nehmen. Und nur er kennt die Wahrheit hinter der egoistischen Fassade seines Freundes – die dunklen Schatten, die in dessen Träumen lauern. Als die gegensätzlichen Freunde sich unerwartet näherkommen, geraten ihre Leben gefährlich aus dem Gleichgewicht. Mit jeder Grenze, die Flo überschreitet, wird das Eis unter seinen Füßen dünner und die Dunkelheit in ihm größer, bis er erkennen muss: Wer mit dem Feuer spielt, kann sein Herz verbrennen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltswarnung (Achtung: Spoiler!):
Über L. Mattis

 

 

WELTENBAUM VERLAG

Vollständige Taschenbuchausgabe

10/2023 1. Auflage

 

Freunde Plusminus – Opposites Attract

 

© by L. Mattis

© by Weltenbaum Verlag

Egerten Straße 42

79400 Kandern

 

 

Umschlaggestaltung: © 2023 by Magicalcover

Lektorat: Sarah Di Fabio Zeilensucht

Korrektorat: Daniel Greifer

Buchsatz: Giusy Amé

Autorenfoto: Privat

 

 

ISBN 978-3-949640-59-9

 

www.weltenbaumverlag.com

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

L. MATTIS

 

 

 

 

 

 

Freunde plusminus

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Romance

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Liebe/r Leser/in,

diese Geschichte handelt von Liebe, aber auch von Schmerz. Flo ist ein junger Mann, der in seiner unreflektierten Art manchmal etwas denkt, sagt oder tut, das man normalerweise nicht gutheißen kann. Sei dir dessen bitte bewusst, wenn du dieses Buch liest.

Da der Roman potenziell triggernde Inhalte enthält, findest du auf Seite 443 eine ausführliche Inhaltswarnung. Nimm sie ernst, wenn es Themen gibt, die dir beim Lesen Unwohlsein bereiten.

Achtung: Die Inhaltswarnung enthält Spoiler für den gesamten

Roman.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Flo. Ich liebe dich trotzdem.

Auch zerbrochen sind wir ganz.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»All the world’s a stage, and all the men

and women merely players.« (William Shakespeare)

 

Prolog

 

Zehn Jahre früher

 

 

»Bitte, Lars.«

»Nein.«

»Ist doch nichts dabei.«

»Nein.« Lars liegt bäuchlings auf der rot-weiß karierten Tagesdecke, die über meinem Bett ausgebreitet ist, umklammert den Controller mit beiden Händen und schenkt mir nur einen winzigen Funken seiner Aufmerksamkeit, ehe er sich wieder dem Bildschirm zuwendet.

»Komm schon«, bohre ich weiter. »Nur einmal.« Statt ebenfalls zum Fernseher zu schauen, wo Lars gerade einen Affen Lianen hinaufklettern lässt und durch ein Labyrinth aus Ästen dirigiert, halte ich den Blick fest auf ihn gerichtet, um keine Regung in seinem Gesicht zu verpassen.

Und tatsächlich. Jetzt reagiert er. Er stöhnt auf, pausiert das Spiel mit einem Tastendruck und wendet mir den Kopf zu. In seinen eisblauen Augen liegt ein wütendes Funkeln. »Du nervst, Flo. Ich will dich nicht küssen.«

»Warum nicht?« Die Frage ist blöd, aber ich stelle sie trotzdem.

Lars schaut mich weiterhin an, als müsste er mir erklären, warum Atmen gut für die Gesundheit ist. »Weil du mein bester Freund bist und ich nicht auf Typen stehe?«

Ich zucke mit den Schultern. »Ist doch egal.«

»Ist nicht egal.«

»Ist wohl egal. Ich erzähl auch niemandem davon, versprochen.«

»Es gibt nichts zu erzählen, weil ich dich nicht küssen werde. Information angekommen?«

Ich bin mir sicher, dass er als Erwachsener eine ziemlich zerfurchte Stirn haben wird, wenn sich die steile Falte weiter so tief zwischen seine Augenbrauen gräbt. Einen Jungen, der so genervt guckt, will ich gar nicht küssen.

Okay, will ich doch. Aber nicht, weil ich in ihn verliebt wäre. Das wäre total schräg. Sondern, weil ich – anders als er – nicht ganz so überzeugt davon bin, dass es mir nicht doch gefällt. Und warum sollte ich es nicht ausprobieren, wenn ich neugierig bin?

»Du musst nichts tun. Ich könnte dich küssen«, biete ich an, obwohl das nicht der Kern der Diskussion ist, die wir seit einer Viertelstunde führen.

Jeder andere würde mich jetzt wahrscheinlich schlagen. Lars nicht. Statt sich zu einer Prügelei herabzulassen, würde er eher den Controller fallen lassen und ohne ein Wort des Abschieds aus meinem Zimmer stolzieren. Hoch erhobenen Hauptes und todesbeherrscht. Aber bevor das passieren kann, schleicht sich etwas anderes in seinen Blick. Neugier?

»Warum ist dir das so wichtig?«, fragt er.

»Weil ich wissen will, wie das ist. Weißt du doch.«

»Aber warum mit mir? Frag jemand anderen.«

»Wen soll ich denn fragen? Ich hab nur dich.«

Lars blinzelt. Er öffnet den Mund ein Stück und schließt ihn wieder. Ich beobachte gespannt, wie sein Blick erst gen Zimmerdecke huscht, dann von einem Poster an der Wand zum nächsten springt, als wären es die Punkte in meiner genialen Argumentationskette. Schließlich kehrt er resigniert zu mir zurück. In dem Moment, in dem wir uns ansehen, weiß ich, dass ich gewonnen habe.

Verglichen mit Lars habe ich zwar viele Freunde, aber mit keinem von ihnen würde ich darüber reden. Er weiß das. Trotzdem kommt er manchmal nicht damit klar, wie ehrlich ich zu ihm bin.

Ich grinse breit. »Na? Naaa?«

»Von mir aus«, brummt er. Begeisterung klingt anders, aber ich rücke beschwingt näher. Doch ehe ich meine Lippen auf seinen platzieren kann, packt er mich am Kragen und hält mich zurück. »Jetzt gleich?«, keucht er gepresst.

»Hä? Wann sonst?«

Lars setzt sich kerzengerade auf, der Controller landet neben uns auf der Decke. Und obwohl er ein Experte darin ist, sich nicht anmerken zu lassen, was in ihm vorgeht, sieht er plötzlich nervös aus. »Aber ... ich hab auch noch nie jemanden geküsst.«

»Und?« Bedeutet das, er muss sich erst darauf einstellen? Oder die Bedienungsanleitung für seine Lippen lesen? Oder beten?

Er kratzt sich am Kinn. Dort, wo die Haut rot und aufgeschürft ist, weil er letzte Woche im Sportunterricht eine unschöne Begegnung mit einer rauen Turnmatte hatte. »Hm«, macht er und mustert mein Gesicht. Meinen ... Mund.

Ich finde, ich habe einen schönen Mund. Noch schöner wäre es natürlich, wenn mir endlich ein Bart wachsen würde, aber den hat bisher nur einer aus unserer Klasse und der ist schon fünfzehn, weil er spät eingeschult wurde und einmal wiederholt hat.

Ich verliere mich in meinen Gedanken an Bärte, unsere Klasse und die Schule. Vielleicht bin ich selbst auch ein kleines bisschen nervöser, als ich zugeben will. Und bevor ich noch nervöser werden kann, sage ich kurzentschlossen: »Jetzt bereit? Also los.«

Mutig presche ich nach vorn und ziele mit meinem Mund auf seinen. Zuerst stoßen unsere Nasen aneinander, dann unsere Zähne.

Lars zuckt zurück. »Langsam«, raunt er. Sein Atem trifft mein Gesicht.

Wir sind uns so nah, dass mein Herz einen aufgeregten Satz macht. Und nein, ich stehe immer noch nicht auf ihn. Aber er ist der Erste, der mir so nah ist. Und der Erste, den ich küsse.

Vielleicht war es doch keine gute Idee. Vielleicht sollte man seinen besten Freund nicht um so etwas bitten, selbst wenn man wissen will, ob man nun eigentlich auf Männer oder auf Frauen steht. Oder auf beides. Oder auf nichts.

Meine Bedenken kommen zu spät, denn nun übernimmt Lars die Initiative. Ich spüre seine Hand in meinem Nacken, die mich wieder in seine Richtung zieht. Er legt den Kopf leicht zur Seite, um eine weitere Kollision unserer Nasen zu vermeiden, und während ich den Atem anhalte, tut er es.

Seine Lippen legen sich auf meine. Sie sind überraschend weich und warm. Ich habe erwartet, dass wir erst einmal austesten müssen, in welchem Winkel man den Kopf halten sollte und wie genau sich welcher Druck gut anfühlt, aber es passt auf Anhieb. Auch die vorsichtigen Bewegungen, mit denen Lars’ Mund meinen ertastet, wirken nicht unbeholfen.

Schnell finden wir den richtigen Rhythmus. Für den Druck. Für das Öffnen und Schließen unserer Lippen. Für die kurzen Berührungen mit der Zunge.

Als unsere Zungenspitzen das erste Mal direkt aufeinandertreffen, spüre ich, wie etwas in mir zusammenzuckt. Doch damit endet es nicht. Wir lassen sie fester gegeneinanderstoßen, aneinander vorbeigleiten, einander umtanzen.

Wow, hämmert es in meinem Kopf. Ich mag das. Ich glaube, ich mag das.

Es sprengt meine Erwartungen. An meinen ersten Kuss. An einen Kuss überhaupt. Und an Lars. Er schmeckt nach dem Minzkaugummi, den er vorhin gekaut hat, und irgendwie heiß.

Während ich noch darüber nachdenke, wie lange man sich küssen kann, ohne einmal geatmet zu haben, ist es auch schon vorbei. Meine Lippen fühlen sich taub an. Lars sieht ein wenig zerzaust aus; das schwarze Haar hängt ihm wirr in der Stirn. War ich das? Ich kann mich nicht daran erinnern. Stumm starre ich ihn an. Er schluckt.

»Und? Bist du schwul?«, fragt er.

Ich brauche einen Moment, bis ich meine Sprache wiedergefunden und mich ausgiebig geräuspert habe. »Muss ich mich entscheiden?«

Sein linker Mundwinkel zuckt. »Nee.«

Hinter uns ertönt ein Klacken, das Lars’ Kopf erschrocken in Richtung des Geräuschs zucken lässt. Ich muss nicht hinsehen, um zu wissen, dass sich gerade die Zimmertür öffnet.

»Hallo Jungs!«

Auch ich drehe mich zu meinem Vater um. Zum Glück haben Lars und ich bereits ausreichend Abstand zwischen uns gebracht. Ich glaube zwar nicht, dass meine Eltern über einen kleinen Kuss besonders geschockt oder verärgert wären, aber ein unangenehmes Gespräch würde es mir sicher einbrocken. Wie hätte ich das überhaupt erklären sollen? Und an Lars’ Reaktion will ich gar nicht denken.

»Hockt ihr immer noch vor der Kiste?« Mein Vater zieht belustigt die Augenbrauen in die Höhe. »Ist das ein Tier?« Er mustert das haarige Männchen auf dem Bildschirm, das in seiner Bewegung eingefroren an der Liane hängt und sich bestimmt Besseres vorstellen kann, als blöd in der Gegend herumzubaumeln, während Spieler 1 und 2 sich küssen.

»Ein Gorilla«, belehre ich ihn.

»Aha. Dann bringt den Gorilla mal zum Baum seines Vertrauens zurück, die Nudeln sind fertig. Du bleibst zum Abendessen, Lars?«

»Wenn das in Ordnung ist?«

»Was für eine Frage! Mi casa es tu casa.« Es ist nicht das erste Mal, dass mein Vater das zu Lars sagt. »In fünf Minuten seid ihr am Tisch.« Damit verschwindet er wieder.

Die Stille, die danach zwischen uns einkehrt, ist so unangenehm, dass ich den Drang verspüre, etwas zu sagen. »Äh, ... das war ...«

»Ich will nicht mehr darüber reden«, fährt Lars dazwischen, speichert den Spielstand und schaltet den Fernseher aus, ohne mich anzusehen.

Was wollte ich sagen? Interessant? Gut? So gut, dass ich es noch einmal tun will?

Ich mustere meinen besten Freund genau, kann aber nicht durch seine Maske blicken. Sein verdammtes Pokerface ist der Knaller.

Ein paar Minuten später ruft mein Vater erneut und wir rappeln uns auf.

An diesem Abend versuche ich noch dreimal, Lars auf den Kuss anzusprechen, aber er blockt ab, sobald ich das Thema ansatzweise in die Richtung lenke. Lars ist stur. Und er scheint fest entschlossen zu sein, nie wieder darüber zu reden.

Aber nicht reden heißt nicht nicht küssen.

 

1

 

 

Der Alarm meines Weckers schrillt und zwei Dinge dringen mir ins Bewusstsein. Erstens: Mein rechtes Ohr juckt. Zweitens: In meinem Schädel pocht es, als hätte ich heute Nacht versucht, mit der Stirn Nägel in die Wände zu hämmern.

Ich stöhne. Das kratzige Geräusch aus meinem Mund hört sich genauso verkatert an, wie ich mich fühle. Während ich die Hand schlaftrunken über das raue Bettlaken wandern lasse, bis sie zielsicher auf der Schlummertaste des Weckers landet, will ich die Augen öffnen, doch mehr als einen millimeterbreiten Spalt bringe ich meine verklebten Lider nicht auseinander. Verdammte Kiste, was habe ich gestern getrieben?

Ein zweites Stöhnen schlüpft aus meiner Kehle. Ich klappe die Lider wieder zu und rolle mich aus der Seitenlage in die deutlich bequemere Rückenposition. Sobald die Abstände zwischen den Trommelschlägen in meinem Kopf länger werden, versuche ich, meine Gedanken zu sortieren. Aus dem wolkigen Wirrwarr steigt einer der roten Plastikbecher auf, die in meinem Regal stehen. Nein, zwei Plastikbecher. Die Flasche Bacardi. Gespräche. Lachen. Braune Augen. Und ein Kuss. Sommersprossen quer über einem schmalen Nasenrücken, viel zu nah und viel zu bekannt.

Mein Herz macht einen Satz. Unmöglich. Ein unruhiges Zucken in der Schläfe gesellt sich zu den Kopfschmerzen.

Der nächste Blitz der Erinnerung schickt mir das Bild eines nackten Körpers. Das Bild meiner Hände, die über weiche Haut wandern, sich auf Brüste legen, über Schultern streichen. Schmale Schultern, die genau in meine Handflächen passen.

Ich reiße die Augen auf. Scheiße. Langsam, ganz langsam drehe ich den Kopf nach rechts. Okay, da ist der Nachttisch, so weit, so gut. Nach kurzem Zögern drehe ich ihn nach links. Und zucke zusammen. Unter der Bettdecke lugt besprenkelt von hellen Lichttupfen, die durch die Lamellen der Jalousien fallen, braunes Haar hervor. Ein Arm hat sich um das Kissen geschlungen. Ich starre Haar und Arm ungläubig an. Widerwillig strecke ich die Finger nach der Decke aus, hebe sie ein paar Zentimeter an und lasse sie sofort fallen, als hätte ich mich an ihr verbrannt.

»Boah, fuck, Paula!«, stoße ich aus und es klingt noch kratziger als mein Stöhnen zuvor.

Die menschliche Beule unter der Decke bewegt sich und grummelt. Ein Kopf wühlt sich an die Oberfläche.

»Was?«, nuschelt sie.

Paula scheint die gleichen Orientierungsprobleme zu haben wie ich. Ihre Augen sind zu Schlitzen zusammengekniffen; Eyeliner und Mascara haben sich schwarzfleckig rundherum verteilt. Als sie mich registriert, wird ihr Gesichtsausdruck verwirrt, bevor er in Schrecken übergeht.

»Oh, Flo«, gibt sie gequetscht von sich und setzt sich hastig auf. Gleichzeitig rutscht ihr die Bettdecke vom Oberkörper, entblößt die nackten Brüste. Rasch zieht sie die Decke wieder hoch. »O shit.«

Ich verziehe meine Lippen zu einem schiefen Grinsen.

»Hatten wir ...«, beginnt sie, bricht ab und muss zu einem zweiten Versuch ansetzen. »Hatten wir ...« Ihre Hände pressen den Stoff fest an ihre Blöße.

»Sex?«, frage ich und spähe unter meine eigene Decke. Wie erwartet, bin auch ich nackt. »Ich glaub schon.«

»Scheiße.« Ihr Blick wird glasig.

»Ja.«

Was soll ich sagen? Ich kenne Paula nun seit knapp einem Jahr. Sie jobbt in einem Altstadtcafé in der Nähe der Uni, macht dort den ganzen Tag abwechselnd Latte macchiato und Chai Latte mit Sojamilch und wartet auf einen Studienplatz in Medizin. Sie ist zwar nicht aufregend, aber hübsch. Schlimm finde ich es also nicht, mit ihr im Bett gelandet zu sein. Es gibt nur ein Problem an der Sache. Ein klitzekleines Problem. Paula ist vergeben. Und das nicht an mich.

In Paulas Kopf scheinen ähnliche Gedanken zu kreisen, denn sie starrt wortlos vor sich hin und knetet wie in Trance mit beiden Händen den Bettbezug.

Als mir ihre Reaktion zu lange dauert, schäle ich mich aus den Laken und strecke mich. Mein rechter Arm knackt. Es wird Zeit für eine Kopfschmerztablette.

»Flo?«, kommt es leise von hinten.

Ich schaue über meine Schulter und unsere Blicke begegnen sich. Paula sieht ängstlich aus.

»Was machen wir jetzt?«, fragt sie.

Ich runzle die Stirn. »Was sollen wir machen? Ich zieh mich an, du ziehst dich an. Du gehst zur Arbeit, ich geh zur Uni. Ende der Geschichte.«

Ein unwirsches Kopfschütteln. »Mann, du weißt, was ich meine. Wegen der Sache hier.« Sie fuchtelt mit ihrem Zeigefinger zwischen uns hin und her. Dann quetscht sie mühsam hervor: »Das ist ... eine Katastrophe.«

»Hey, Paula. Alles wird gut.« Ich beuge mich zu ihr hin und lege meine Hand beruhigend auf die Ausbuchtung der Decke, unter der ich eins ihrer Beine vermute. »Hätte schlimmer kommen können. Stell dir mal vor, du wärst mit Henning in der Kiste gelandet.«

Henning ist einer ihrer Stammgäste im Café – Dauerstudent, eins siebzig hoch, doppelt so breit, unverschämt aufdringlich und überzeugt davon, in Paula seine Herzensdame gefunden zu haben.

Sofort schüttelt sie meine Hand ab. »Du bist ein Arsch.«

»Aber ein scharfer Arsch.«

Sie schnaubt. »Meine Güte, ich bin so dumm. Lars hat mal gesagt, ich soll mich besser von dir fernhalten. Und was mach ich?«

»Das hat er gesagt?« Ich stehe auf und schaue mich suchend auf dem Fußboden um. Irgendwo im Kleidergewühl müssen meine Boxershorts liegen. »Bisschen spät für die Erkenntnis.«

Mit den Zehen schiebe ich ein grünes Knäuel zur Seite, unter dem ein spitzenbesetzter schwarzer BH zum Vorschein kommt. Nein, der gehört ziemlich sicher nicht mir. Neben ihm glänzt etwas.

»Oh, schau mal. Da liegen die Kondome«, stelle ich fest und klaube die Packung vom Boden auf.

Paula stößt ein gequältes Stöhnen aus. »Halt einfach die Fresse, Flo. Halt die Fresse und zieh dir, verdammt nochmal, endlich was an!«

»Bin dabei.«

Einen Moment später finde ich die Boxershorts, die in meiner umgestülpten Jeans hängen. Wir waren gestern wohl in Eile. Sobald ich sie über die Hüften gestreift habe, wende ich mich zu Paula um. Sie hat sich keinen Zentimeter bewegt.

»Ich geh in die Küche. Du kannst ins Bad, wenn du willst.« So viel Anstand, dass ich ihr den Vortritt lasse, besitze ich dann doch. Ich öffne die Tür zum Flur und kontrolliere den Gang. Es ist gleich neun Uhr, aber von meinen beiden Mitbewohnern ist nichts zu hören oder zu sehen. Ich erinnere mich vage daran, dass Kerstin sich am Wochenende darüber beschwert hat, mit mehreren Frühschichten hintereinander in die neue Woche starten zu müssen. Sie sollte daher schon lange unterwegs sein.

Und Arthur? Ich werfe einen kurzen Blick zu seiner Tür direkt nebenan. Ich habe tatsächlich keinen blassen Schimmer, was Arthur neben seinem Philosophiestudium macht. Seit er hier wohnt, pennt er bis in die Puppen und beschränkt die gemeinsame Kommunikation auf ein mürrisches »Isst du das noch?«, wenn ich beim Essen etwas übrig lasse.

Eigentlich kümmert mich herzlich wenig, was Kerstin oder Arthur zu meinen nächtlichen Gästen sagen. Überrascht wären sie sicher nicht, immerhin herrscht bei mir reges Kommen und Gehen. Vor allem Kommen. Aber diesmal ist die Situation anders, diesmal ist es Paula. Und Paula sollten sie besser nicht aus meinem Zimmer huschen sehen. Nicht dienstags um kurz vor neun. Und schon gar nicht nackt.

Ich schließe die Zimmertür hinter mir und drücke mich an Arthurs Kleiderständer vorbei, den er unerlaubterweise wieder mitten im Gang aufgestellt hat. Bevor ich seine großen, weißen Feinripp-Unterhosen zum ersten Mal feucht tropfend auf den Stangen gesehen habe, war ich überzeugt gewesen, dass niemand solche Dinger trägt. Inzwischen weiß ich es besser.

In der Küche reiße ich als Erstes das kleine Fenster auf, um den penetranten Geruch nach Essensresten zu vertreiben. Keiner von uns dreien achtet besonders auf Ordnung und Sauberkeit. Zwei Löffel Kaffeepulver landen im Filter der Kaffeemaschine. Ein paar Handgriffe später lasse ich eine Aspirintablette in ein Glas Wasser fallen, wo sie sich zischend und sprudelnd auflöst. Dann lehne ich mich mit geschlossenen Augen und verschränkten Armen gegen die Küchenzeile und versuche zu rekapitulieren, was zur Hölle gestern passiert ist.

An meinen Besuch bei Annika und die Schicht im Fitnessstudio kann ich mich ziemlich genau erinnern – Beinpresse, Rudergerät und freies Training mit den Hanteln. Ich weiß sogar noch, welche Farbe die Leggins der hübschen Blonden hatten, der ich die Übungen gezeigt habe: dunkelgrün mit einem gelben Streifen an den Seiten. Außerdem sehr schöner Arsch. Nach der Schicht ging es mit der Bahn die zwei Haltestellen zurück zur Wohnung. Und jetzt ... wird es schwieriger. Nur unscharf dümpeln die folgenden Etappen des Abends durch mein Hirn. Ein Klingeln an der Tür, als ich gerade die Sportsachen ins Zimmer werfe. Vor der Tür ... Verschwommen kommt mir Paulas angespanntes Lächeln in den Sinn. Was wollte sie hier?

»Ist Lars bei dir? Oder ist er immer noch im Theater?«, echot ihre Stimme in meinem Kopf, der vorwurfsvolle Ton ist unüberhörbar. »Oben macht keiner auf.«

Ich muss ihr angeboten haben, bei mir auf ihn zu warten, denn in der nächsten Erinnerung sitzt sie auf meinem Bett, ich auf dem Boden vor ihr, jeder von uns mit einem roten Plastikbecher in der Hand. Offenbar haben die beiden sich gestritten, jedenfalls ist ihre Stimme lauter und energischer als sonst. Sie trinkt zu viel. Mir kommt das gelegen, so kann ich mittrinken. Ich schenke ihr ein, zuerst Bacardi, dann Cola. Und wieder Bacardi, wieder Cola. Wenn mich keiner stoppt, kann ich ewig weitermachen.

Es folgen Erinnerungsfetzen. Ich küsse sie. Oder küsst sie mich? Meine Hände auf ihrem Hintern. Ich, wie ich zu ihr ins Bett steige. Sie, wie sie am Verschluss meiner Jeans nestelt.

Der Kaffee ist durchgelaufen. Als ich die Kanne aus der Halterung ziehe, taucht Paula in der Tür auf. Sie ist komplett angezogen, hat sich sogar schon die Jacke übergestreift. Nur das zerzauste Haar und ihr verschmiertes Make-up erinnern an letzte Nacht.

»Kaffee?«, frage ich und schwenke die Kanne in ihre Richtung.

Irritiert sieht sie hin, bevor ihr Blick zu mir zurückwandert. »Ich gehe jetzt.« Sie kaut unschlüssig auf der Unterlippe, als wollte sie noch etwas hinzufügen, von dem sie nicht genau weiß, wie sie es formulieren soll. »Erzähl Lars nichts davon«, kommt es schließlich leise.

Ich hebe die Augenbrauen. »Du willst ihm nichts sagen?«

Sie schaut zu Boden, die Handtasche an ihre Brust gedrückt. »Doch. Aber ich will es ihm selbst sagen.«

»Okay«, erwidere ich.

Was bleibt mir anderes übrig? Ich reiße mich nicht darum, ihr die Aufgabe streitig zu machen. Im Gegenteil – bis jetzt habe ich erfolgreich verdrängt, was das für uns bedeutet.

Paula verabschiedet sich nicht. Sie dreht mir den Rücken zu und verschwindet. Die Tür fällt beinahe lautlos ins Schloss.

Ich nehme eine Tasse aus dem Schrank über der Spüle, fülle sie bis zum Rand mit Kaffee und trinke einen Schluck. Die Mischung ist zu stark und bröckelig auf meiner Zunge. Rasch schütte ich die Aspirin-Brause hinterher.

Lars’ Gesicht taucht in meiner Vorstellung auf. Ernste hellblaue Augen blicken über die gekrümmte Nase hinweg. Kurzes schwarzes Haar. Er hat etwas von einem Feldherrn, etwas von ‚Ave Caesar‘ und von ‚Verbeugt euch, ihr Unwürdigen‘. Ich kenne sein Gesicht fast so gut wie mein eigenes, und das betrachte ich wirklich oft im Spiegel. Aber ich will mir nicht ausmalen, welcher Ausdruck sich dort ausbreiten wird, wenn er erfährt, was passiert ist.

Lars ist mein bester Freund. Und ich hatte Sex mit seiner Freundin.

 

2

 

 

Lars und ich kennen uns schon ewig. Und ‚ewig‘ ist in diesem Fall wörtlich gemeint. Ich kann mich an keine Zeit ohne ihn erinnern – nicht, weil wir uns von Anfang an so unfassbar gut verstanden hätten, sondern weil er einfach da war. Unsere Mütter haben sich im Geburtsvorbereitungskurs kennengelernt und fanden sich zwischen Gymnastikbällen und Atemübungen trotz ihrer Unterschiede sympathisch genug, um in kürzester Zeit enge Freundinnen zu werden. Seine Mutter, still und schüchtern, und meine, die Naturgewalt. Lars ist nur achtzehn Tage jünger als ich, daher kann es nicht lange gedauert haben, bis wir als hässliche Säuglinge das erste Mal nebeneinanderlagen.

Wären wir Freunde geworden, wenn man uns nicht von Kindsbeinen an zusammengesteckt hätte? Wahrscheinlich nicht. Wir sind uns etwa so ähnlich, wie sich unsere Mütter ähnlich sind. Gar nicht. Und doch haben wir es bis heute miteinander ausgehalten. Er ist meine Stimme der Vernunft, ich bin sein LSD. Er sorgt dafür, dass ich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkomme, wenn ich mich auf einer wilden WG-Party nackt in einen Umhang aus Bettlaken gehüllt aus dem Fenster stürzen will. Ich stelle sicher, dass er sein Theaterskript beiseitelegt und realisiert, was es heißt, an einem Samstagabend dreiundzwanzig zu sein und einen Scheiß auf die Welt zu geben.

Auch was die Partnerwahl angeht, ist unser Geschmack grundverschieden. Er mag die Frauen nett, popcornklebrig süß und freundlich. Ausreichend Grütze in der Birne, aber bodenständig. Prototyp Paula eben. Ich will lieber die Rampensau, die sich nicht lange bitten lässt. Ob sie sich am nächsten Morgen an mich erinnert, ist mir relativ wuppe – gewöhnlich bin ich dann sowieso weg. Und gegen einen Mann habe ich auch nichts einzuwenden. Normalerweise kommen Lars und ich uns also nicht in die Quere. Ich fand seine bisherigen Freundinnen zwar ansehnlich, hätte aber nie ernsthaft daran gedacht, dass zwischen ihnen und mir etwas laufen könnte. Schon allein, weil sie zu Lars gehören.

Während die Gedanken kreisen, lasse ich das heiße Wasser der Dusche auf mich niederprasseln. Die weißen Fliesen unter meinen Füßen sind grau und schmierig, in der Ecke liegt eine leere Flasche Duschgel. Sie bleibt liegen, wo sie ist. Arthur hat diese Woche Baddienst und freiwillig krümme ich keine Zehe mehr als notwendig für ihn. Nach der Dusche und einer gründlichen Rasur folgt meine tägliche Haargel-Routine. Zu guter Letzt ein zufriedener Blick in den Spiegel und ich fühle mich deutlich besser. Es wird sich bestimmt alles klären.

Kaum bin ich aus dem Bad in den Flur getreten, klingelt es an der Tür. Mein Blick huscht zur Wanduhr, die Viertel nach zehn anzeigt. Ich muss nicht öffnen, um zu wissen, wer draußen steht.

Obwohl ich es unterdrücken wollte, steigt ein Tick Nervosität in mir auf. Dabei ist mir herzlich egal, dass Paula Mist gebaut hat, und ich bin mir trotz lückenhafter Erinnerung inzwischen fast sicher, dass wir gar nicht über Blowjob und Fummeln hinausgekommen sind. Dennoch weiß ich im selben Moment, in dem das durchdringende Klingeln einsetzt und das schlechte Gewissen hinter meiner Stirn pocht, dass mich das Ganze nicht so kalt lässt, wie ich es gern hätte.

»Mach auf, du Depp«, ertönt es dumpf und Lars hämmert gegen das Holz der Wohnungstür, als wüsste er, dass ich ihn hören kann.

Zögernd schlappe ich in den Flur, in der Hoffnung, auf den letzten zwei Metern käme mir noch die blitzartige Erkenntnis, wie ich am besten mit der Situation umgehen soll. Ich öffne die Tür, die Erkenntnis bleibt draußen.

Stattdessen steht da Lars mit zum Klopfen erhobener Hand und gerunzelter Stirn. Er sieht immer ein bisschen grimmig aus, selbst wenn er eine neutrale Miene aufsetzt. Gerade wirkt er besonders grimmig. Die Ledertasche, in der er seinen Unikram verstaut hat, baumelt an einem braunen Riemen von seiner Schulter.

»Was ist los, Flo? Warum bist du noch nicht fertig?«, fragt er und blickt auf das Handtuch um meine Hüften.

»Ah, verpennt«, brumme ich, kratze mich am Hinterkopf. Scheiße, ich kann ihn kaum anschauen.

Er schweigt kurz, dann kommt ihm ein naheliegender Gedanke. »Wart mal ... Hast du Besuch?« Er beugt sich ein Stück zur Seite, um an mir vorbei in den Flur zu linsen.

»Nee.« Immerhin keine weitere Lüge. Paula ist ja schon weg. »Geh ruhig vor, ich komm nach.«

»Von mir aus«, meint er und zuckt mit den Schultern. »Musst du wissen, wenn du Stress mit Plauze willst.«

Herr Prof. Plauzmann hält dienstags von elf bis ein Uhr die Vorlesung ‚Steuerlehre‘ und ist allergisch gegen jegliche Störung seiner drögen Monologe. Laut Atmen oder Zuspätkommen verboten, Arschkriechen ausdrücklich erlaubt. Doch das ist mir gerade recht. Hauptsache, Lars verschwindet wieder. Paula klärt es. Paula wird ihm sagen, dass nichts dabei war.

»Alles okay?« Lars schaut mich prüfend an. Er hat eine feine Nase für Stimmungsnuancen.

»Ich bin noch nicht richtig wach«, lautet meine fadenscheinige Ausrede.

Er gibt nicht zu erkennen, ob er mir glaubt, nickt nur und sagt: »Bis dann.«

Bevor er im Treppenhaus um die Ecke gebogen ist, habe ich die Tür geschlossen.

 

Ein bleicher Arm winkt mir über die Menschenmenge hinweg zu. Der dazugehörige Körper drängelt sich durchs Gewühl und wenige Sekunden später steht Toni vor mir. Flugs hängt sie mir in einer stürmischen Umarmung um den Hals.

»Flo!«, ruft sie und zieht das ‚o‘in die Länge, als wären es mindestens drei Vokale und nicht nur einer.

Ich drücke sie an mich. Besonders fest zudrücken darf ich allerdings nicht, denn Toni ist spindeldürr und versinkt förmlich in ihrer Latzhose aus Jeansstoff. Es ist unfassbar, was für eine Energie in einem so zierlichen Wesen stecken kann.

Sobald sie aus meinen Armen geschlüpft ist, huscht ihr fragender Blick rechts und links an mir vorbei.

»Wo ist Lars?«

Gewöhnlich gehen wir zu dritt in die Mensa. Ab und zu schließen sich ein paar Kommilitonen an, aber wir sind der harte Kern. Heute ist es anders. Wäre ich jetzt ehrlich zu Toni, müsste ich zugeben, dass ich keine Ahnung habe, wo Lars ist. An einem normalen Dienstag kommen wir zusammen aus der Vorlesung bei Plauze oder schreiben uns spätestens danach, wo wir uns in der Mensa treffen werden. Diesmal habe weder ich geschrieben noch er. Letzteres ist zwar ein bisschen merkwürdig, aber es wäre nicht das erste Mal, dass Lars für seinen Hilfskraft-Job länger als geplant mit Plauze tratscht und sich zum Essen verspätet. Gerade bin ich erleichtert darüber. Ein weiterer Aufschub für mein Gewissen.

»Der muss noch was erledigen«, erwidere ich. Es ist nur eine halbe Lüge, weil Lars immer irgendetwas erledigt.

»Alles klar.« Toni springt vor mir her Richtung Büfett. »Heute gibt’s Chicken Nuggets. Boah, ich hab da so unnormal Lust drauf.«

Mit einem Lächeln im Mundwinkel folge ich ihr.

Kurz darauf stellen wir unsere schwer beladenen Tabletts auf einen freien Tisch. Toni lässt sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen und zieht ihre Beute mit gierig glänzenden Augen zu sich. Auf ihrem Teller häufen sich zwei Dutzend panierte Hähnchenteile, garniert mit einem fetten Klecks Ketchup. Mir wird allein vom Anblick schlecht.

»Ich frag mich, wohin du den ganzen Kram isst«, staune ich und greife nach meinem eigenen Teller. Eine Handvoll Salat, eine große Portion Reis mit Paprika und dazu ein Stück gebratenes Fleisch ohne Panade.

»Willst du auch eins?«, fragt Toni, sieht aber nicht aus, als wäre das Angebot ernst gemeint.

Ich schüttele den Kopf. »Nee, danke.« Training und Fast Food vertragen sich nicht. Meine Gabel landet im Salat.

»Wie war’s gestern mit Annika? Du hast gar nichts erzählt.«

Ich überhöre den vorwurfsvollen Ton in ihrer Stimme. »Das mit uns ist Geschichte.«

Sie blinzelt verwundert. »Was? Lief doch prima. Hast du sie abgeschossen?«

»Diesmal war’s umgekehrt.«

Die lockere Affäre zwischen Annika und mir hat etwa vier Wochen gehalten. Bis ich gestern in der Erwartung eines heißen Nachmittagsquickies bei ihr aufgekreuzt bin, nur um postwendend wieder vor die Tür gesetzt zu werden. »Richard will, dass ich mich zwischen euch entscheide«, hat sie mir verkündet. »Sorry, Flo.«

»Schlimm?«, hakt Toni nach.

»Geht«, antworte ich.

Am meisten bedauere ich, dass mir der unkomplizierte Zugang zu solidem Sex flöten gegangen ist. Es hatte eindeutig Vorteile, nur bei ihr durchklingeln zu müssen und – schwupp – löste sich der Druck in Wohlgefallen auf. Dass ungewollter Samenstau Probleme macht, hat sich gestern ja beispielhaft gezeigt. Hätte Annika mich rangelassen, wäre bestimmt nichts mit Paula passiert. Ach, verdammt.

Ob ich Toni davon erzählen soll? Wenn ich über etwas reden will, ist sie nach Lars meine erste Wahl. Sie kennt mich fast so gut wie er und ist mit all meinen Macken bestens vertraut. Schon in der Schule waren wir drei ein eingeschworenes Team und es ist kein Zufall, dass wir nach dem Abitur an derselben Universität angefangen haben zu studieren – Toni Anglistik, Lars und ich BWL.

»Sag mal, wie wichtig ist Treue in einer Beziehung?«, frage ich möglichst beiläufig.

Tonis dünne, aufgemalte Augenbrauen schießen in die Höhe. Keine Ahnung, warum sie sich die echten Haare wegrasiert hat; ist wohl aktuell schick. Ich stehe jedenfalls nicht darauf.

»Das ist eine super komische Frage, wenn sie aus deinem Mund kommt. Hat Annika Schluss gemacht, weil du letzte Woche Malte abgeschleppt hast? Ich dachte, das war so ein offenes Ding bei euch.« Sie knibbelt mit neugierigem Blick die Panade von einem Chicken Nugget.

»Annika hat damit nichts zu tun«, weiche ich aus. »Malte auch nicht.«

»Wer dann?«

»Vielleicht war ich gestern mit Paula im Bett«, versuche ich die Information unauffällig zwischen einem Schluck Wasser aus meiner Flasche und einer Gabel Reis zu verpacken.

»Du warst was?«, poltert Toni und ein paar Fleischstückchen landen auf dem Tisch zwischen uns. Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie mich an. Ihr Mund steht offen.

Ich klopfe mit der Gabel unangenehm berührt auf meinen Tellerrand.

»Hey, so wild ist das nicht«, wiegele ich ab. »Sie hat mir nur einen geblasen.«

»Nicht so wild? Weiß Lars davon? Ist er deshalb nicht da?«

»Der weiß noch nichts, also reg dich ab, sonst fällt dir gleich das halbe Huhn aus dem Mund.«

»Das ist nicht lustig, Flo! Wie konntest du nur?«

»Ist nicht so, als hätte ich groß nachgedacht«, entgegne ich abwehrend.

Toni rutscht angestrengt überlegend auf ihrem Stuhl hin und her. Die hektische Reaktion macht mich nervöser, als ich eigentlich bin.

»Scheiße«, murmelt sie. »Der arme Lars. Meinst du, er macht mit Paula Schluss?«

Ich starre sie an. Auf den Gedanken bin ich noch nicht gekommen. »Wieso sollte er?«

»Ich glaub nicht, dass er das einfach so wegsteckt.«

Ich weiß, dass Lars anders tickt als ich. Ich liebe Sex – egal welcher Art und in allen Farben und Formen. Ich liebe den Kick, den Rausch und den Moment, wenn der Druck nachlässt. Ob ich jemanden aus dem Fitnessstudio mitnehme, in der Uni oder auf einer Party kennenlerne – wenn es passt, passt es. Was meine Bekanntschaften zuhause tun und ob sie mit anderen schlafen, ist mir gleich. Genauso wenig darf es sie interessieren, mit wem ich neben ihnen Spaß habe. Der Sex mit Paula hat im Grunde ... keinerlei Bedeutung für mich.

Es fühlt sich merkwürdig an, zu wissen, dass etwas, das für mich so bedeutungslos ist, für Paula und Lars ein Drama sein muss. Weil zwischen ihnen mehr ist. Weil die beiden sich lieben. Ein Wort, das für mich nur eine hohle Floskel ist.

Während ich darüber nachdenke und gedankenverloren mit dem Messer die letzten Reiskörner vom linken Tellerrand zum rechten schiebe, kommt die Einsicht: Ich muss mich bei Lars entschuldigen. Und vielleicht sollte ich eben nicht warten, bis er es von Paula erfahren und sich irgendwelche Theorien über meine nicht vorhandenen Beweggründe zusammengesponnen hat.

»Ich muss mit ihm reden«, schlussfolgere ich und ernte heftiges Kopfnicken von Toni.

»Mann, absolut! Ich hoffe, das klärt sich.« Sie zögert kurz. »Also nicht nur zwischen euch, sondern auch bei Lars und Paula. Die passen so gut zusammen.«

Nach dem Essen trennen sich unsere Wege. Toni hat Feierabend für heute und kann verduften, für mich steht noch ein Seminar in Strategic Management an. Nachdem ich am Morgen die Steuervorlesung habe ausfallen lassen, wäre es nicht ratsam, erneut mit Abwesenheit zu glänzen.

»Ruf mich an, wenn du mit Lars gesprochen hast, okay?«, vergewissert sich Toni mit Nachdruck. »Bieg das wieder gerade! So weit es irgendwie geht.«

»Ja, ja.«

Obwohl ich gern Zeit mit Toni verbringe, bin ich erleichtert, als sie weg ist. Vielleicht hätte ich die Klappe halten und ihr nichts von meiner Nacht mit Paula erzählen sollen. Es war klar, dass die Info sie schockiert.

 

Im Anschluss an das Seminar fahre ich auf direktem Weg nach Hause, diesmal ohne Umweg übers Fitnessstudio. Im Treppenhaus überlege ich kurz, ob ich zuerst bei Lars’ WG im Stockwerk über mir klingeln oder davor meine Sachen abwerfen soll. Da sich alles in mir gegen die Aussprache sträubt, fällt die Wahl nicht schwer.

Geschäftiges Treiben dringt aus unserer Küche. Kerstin wuselt zwischen Herd, Spüle und Tisch herum. Unbemerkt schleiche ich an ihr vorbei, denn ich habe keine Lust auf Smalltalk.

Als ich die Tür zu meinem Zimmer öffne, zucke ich zusammen.

Auf meinem Schreibtischstuhl sitzt Lars.

Ich weiß sofort, dass Paula mit ihm geredet hat. Ich sehe es an seinem eiskalten Blick, den verschränkten Armen und der bitteren Wut, die von ihm ausgeht.

Fuck, das ging schnell.

»Ah, hey«, sage ich.

Er schweigt.

Unschlüssig verharre ich im Türrahmen, trete dann ein und schließe die Tür hinter mir. Mit dem Rücken zum Holz bleibe ich stehen.

»Äh ... Alles okay?«, frage ich.

Es ist nicht so, als wäre zwischen uns immer Friede, Freude, Eierkuchen. Tatsächlich geraten wir verdammt oft aneinander, vielleicht sogar öfter als andere. Aber heute ist die Lage ein bisschen anders. Ich kann nicht einschätzen, wieanders.

»Flo.« Lars’ Stimme ist knapp über dem Gefrierpunkt. »Du kannst rumhuren, so viel du willst. Du kannst von mir aus ganz Regensfeld flachlegen. Aber ...« Er macht eine vielsagende Pause und die Luft wird noch kälter. »... aber dass du meine Freundin anfasst, das ist das Aller-, Allerletzte. Ist dir das klar?«

Ich atme tief ein. »Hör mal. Ich ... ähm ... Das war nicht geplant, ja? Ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung, was da passiert ist.«

»Keine Ahnung?«, spuckt er aus. »Dafür weiß ich ganz genau, was war.« Er beugt sich vor, stützt die Ellbogen auf die Oberschenkel und durchbohrt mich mit seinem Blick.

Jetzt wird es ungemütlich. Unter normalen Umständen bin ich nie um einen Kommentar verlegen, aber gerade fehlen mir die Worte. Und irgendetwas gibt mir das Gefühl, als würde Lars gar keine überzeugende Erklärung von mir erwarten.

Er schüttelt den Kopf. »Ich begreif es nicht.« Neben der Kälte ist noch etwas anderes in seinen Blick. Ist er verletzt? »Dir ist gar nichts heilig, was? Dich kümmert das alles nicht. Dir ist völlig egal, wie es mir geht. Hauptsache, du hattest deinen Spaß.«

»Hä, nein, das stimmt nicht, ich war ...«

»War sie hier, als ich heute Morgen an der Tür geklingelt habe?«, unterbricht er mich und seine Lippen zittern, als er die Worte ausspricht. »War sie hier in deinem Zimmer?«

»Nein!«

»Du hattest nicht mal die Eier in der Hose, mir die Wahrheit zu sagen. Ziemlich erbärmlich.«

»Paula wollte nicht, dass ich mit dir rede«, verteidige ich mich schnell. »Sie hat gesagt, sie will es dir erzählen.«

»Ah ja. Dann musst du mir natürlich nichts sagen. Wie praktisch. Und du kannst auch nichts dafür, ist klar. Sie muss dich ausgezogen haben, als du nicht aufgepasst hast. Kein Ding.«

Ich stoße mich von der Tür ab und trete einen Schritt auf Lars zu. »Ich hab zu viel gesoffen. Nachdem Annika Schluss gemacht hat, war ich einfach ...«

»Ihr wart nicht mal zusammen!«

»Nicht richtig, aber irgendwie ja doch.«

Lars’ Faust kracht mit solcher Wucht auf meinen Schreibtisch, dass der Plastikbecher mit den Kugelschreibern umkippt und sie in verschiedene Richtungen über die Tischplatte kullern.

»Erzähl keinen Bullshit«, knurrt er. »Du kannst doch gar keine normale Beziehung führen. Alle, die in deinem Bett landen, sind dir scheißegal.« Ich habe ihn noch nie so wütend gesehen.

Mein schlechtes Gewissen wird langsam überlagert vom zornigen Pochen in meinen Schläfen. Ich bin nicht der Typ Mensch, der Beleidigungen gut wegsteckt, und schon gar keiner, der sich das ohne Widerworte gefallen lässt. Für Lars habe ich mich in den letzten Minuten zusammengerissen, aber irgendwo ist die Grenze. Bevor mein Geduldsfaden endgültig reißt, hat Lars sich jedoch wieder unter Kontrolle.

»Ich gehe.« Er steht auf.

»Jetzt wart mal.«

»Nein. Lass mich durch.«

Ich bin kräftiger als er. Wenn ich wollte, könnte ich mich ihm in den Weg stellen. Aber ich weiß, dass das keine kluge Idee wäre. Also trete ich zur Seite.

»Bist ein toller Freund.« Die Worte tropfen wie Gift auf mich herab, während er an mir vorbeigeht.

In mir zieht sich etwas zusammen. Ich folge ihm ein paar Schritte in den Flur und bleibe dann stehen. Er dreht sich nicht um, reißt die Wohnungstür auf und pfeffert sie hinter sich zu.

Kerstin streckt den Kopf aus der Küche. »Hey Flo. Ist Lars schon weg? War doch in Ordnung, dass ich ihm vorhin die Tür aufgemacht habe, oder?«

»Ja, klar.« Ich kann den Blick nicht von der Tür lösen.

Erst jetzt fällt mir auf, dass ich mich gar nicht entschuldigt habe.

 

3

 

 

»Mann, Flo, du bist so ein sturer Sack«, kläfft Toni in den Hörer. »Du hättest ihm zumindest hinterherlaufen können!«

»Hinterherlaufen? Bin ich ein Hund?«

»Du bist sein bester Freund.«

»Und deswegen klärt sich das wieder.«

Sie stöhnt genervt auf. »Ich glaub, du hast noch nicht kapiert, was du angestellt hast.«

Zu einem gewissen Teil mag sie damit recht haben, doch Lars’ Gesichtsausdruck hat mir – auch wenn ich es nicht zugeben will – gezeigt, dass die Angelegenheit diesmal nicht mit einem einfachen Handschlag erledigt sein wird. Da ich aber keinen blassen Schimmer habe, wie ich die Sache stattdessen aus der Welt schaffen soll, habe ich die letzte halbe Stunde Counter-Strike gespielt. Bis mein Handy Sturm geklingelt hat und mir nichts anderes übriggeblieben ist, als Tonis brennende Neugier zu befriedigen.

»Du gehst jetzt sofort hoch und entschuldigst dich!«

»Was soll das bringen? Glaubst du, ich sag dreimal lieb ‚Verzeihung‘ und Lars geht’s wieder prächtig?« Ich kann es ja nicht rückgängig machen, selbst wenn ich auf blutigen Knien zu Kreuze krieche.

»Immerhin zeigst du damit, dass es dir leidtut.«

»Das weiß er doch.«

»Woher soll er das wissen, wenn du es nicht gesagt hast?«

»Lars ist nicht blöd. Natürlich weiß er das. Ich fang doch nicht absichtlich was mit Paula an.«

»So klar ist das nicht! Und man kann sich ja wohl entschuldigen, wenn man Mist gebaut hat.«

»Mach ich auch noch. Aber nicht jetzt.«

»Scheiße, Flo, du bist so ein gottverdammter ...«

Es dudelt in der Leitung. »Sorry, Fred ruft an.«

Ich beende das Gespräch mit Toni, indem ich den neuen Anruf mit einem Tippen aufs Display annehme. Weg ist Toni. Sehr praktisch.

»Hey Fred«, sage ich stattdessen. »Was gibt’s?«

»Kannst du heute Abend auf Mila aufpassen?« Fred spart sich die Begrüßung und kommt gleich zur Sache.

»Schon wieder?« Ich schaue zur Funkuhr über meinem Schreibtisch, deren Stundenzeiger knapp hinter der Fünf steht. »Sie war doch erst am Sonntag da.«

Meine Schwester schnaubt. »Entschuldigung, der feine Herr hat wohl Besseres zu tun. Wie konnte ich es wagen, Eure Hoheit an Ihren königlichen Pflichten zu hindern.« Ungeduld und aufbrausendes Temperament liegen bei uns in der Familie. Die kleine Mila ist zwar erst vier, dank ihrer explosiven Gene aber ebenfalls eine süße Zeitbombe.

Ich verdrehe die Augen, obwohl Fred mich nicht sehen kann. »Komm mal runter. Wenn’s sein muss, komm ich vorbei. Was hast du denn vor?«

»Ich muss an der Bar aushelfen.«

Fred arbeitet dreimal die Woche im Smokehouse, einem Szeneclub in der Altstadt. An den meisten Abenden kann sie Mila bei Jakob, dem Vater der Kleinen, abladen; an den anderen Tagen muss ich einspringen.

»Sei um sechs da. Aber pünktlich«, befiehlt sie mir. Kein ‚Bitte‘, kein ‚Danke‘. Aber hey, das ist Fred.

»Alles klar, Chef.« Ich lege auf.

Die spontane Planänderung hat etwas Gutes: Ich kann mir die Gewissensbisse sparen, weil mir keine Zeit mehr bleibt, um Lars einen Besuch abzustatten.

 

Eine Stunde später stehe ich vor Freds Tür. Im selben Moment, in dem sie mir öffnet, trappeln mir Kinderbeine in gelber Strumpfhose entgegen.

»Onkel Flo!«, quietscht Mila.

Ich packe sie und wirbele sie durch die Luft. »Hey Stinkwanze.«

»Du bist zu spät«, tadelt mich Fred. Sie lehnt mit verschränkten Armen an der Wand, trägt eine Bluse und einen knappen Rock, ihre Beine stecken bis zu den Knien in schwarzen Stiefeln. Das kurze Haar ist mit viel Wachs streng nach hinten gekämmt.

»Fünf Minuten. Das ist doch nichts.«

Fred murmelt etwas Unverständliches, wahrscheinlich eine Beleidigung, und fährt lauter fort: »Wie auch immer. Mila hat eben zu Abend gegessen und darf heute ein bisschen länger aufbleiben, damit du ihr noch vorlesen kannst.« Sie beugt sich zu ihrer Tochter hinunter und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. »Bis morgen, Schatz.« Dann wedelt sie unwirsch mit der Hand in meine Richtung, klemmt sich die Handtasche unter den Arm und geht.

Ich lasse mich von Mila ins Wohnzimmer ziehen. Der Raum ist gerade groß genug für das alte Ledersofa, den niedrigen Holztisch davor und die hüfthohe Kommode, die zusätzlich als Abstellfläche für den Fernseher dient. Den dunkelbraunen Teppichboden, mit dem alle Zimmer bis auf Bad und Küche ausgelegt sind, fand ich vom ersten Tag an hässlich.

Mila hopst aufs Sofa und schnappt sich das oberste Buch vom Stapel auf dem Wohnzimmertisch.

»Lies vor«, verlangt sie und hält es mir entgegen.

Ich setze mich gehorsam zu ihr, nehme das Buch und schlage die erste Seite auf. Ich will nicht wissen, wie oft wir die ‚Abenteuer der Schnecke Kunigunde‘ schon durchgeackert haben, aber selbst beim fünfzigsten Durchgang scheinen sie nicht langweilig zu werden.

Mila kuschelt sich in meinen Arm. Ihre blonden Locken sind mit rosafarbenen Haargummis zu zwei Zöpfen gebunden und in ihren Mundwinkeln kleben Brotkrümel. Gespannt lauscht sie meinen Worten.

Schnecke Kunigunde ist für Schneckenverhältnisse außerordentlich rebellisch eingestellt. Nachdem sie tagein, tagaus die efeubewachsene Hauswand im Vorgarten der Familie Rechenfelder hoch und wieder hinunter gekrochen ist, sehnt sie sich nach der großen, weiten Welt und beschließt, aus ihrem Alltagstrott auszubrechen. Das Bild auf der ersten Seite zeigt die Schnecke mit unglücklichem Gesichtsausdruck neben einer Tulpe. Auf der zweiten hat sie sich ein Paket mit Proviant geschnürt und verlässt den Garten durch ein hölzernes Türchen, was eine Reihe an Begegnungen mit Tieren verschiedenster Art in Gang setzt. Als Kunigunde einen Hund trifft, der ihr mit seiner Zunge neugierig übers gelbe Häuschen leckt, kichert Mila, als würde sie der Geschichte zum ersten Mal lauschen.

»Warum hat der Hund so große Ohren?«, fragt sie.

‚Warum‘ ist aktuell ihr Lieblingswort. Warum ist der Himmel blau? Warum muss ich schon ins Bett? Warum wird Käse matschig, wenn man ihn zwischen den Fingern zerdrückt?

»Damit er die kleine Schnecke hören kann. Die kann nämlich nur ganz leise reden.«

»Ah.« Die Antwort genügt ihr. »Essen Hunde Schnecken?«

»Nein«, versichere ich, ohne es zu wissen.

»Ich esse auch keine Schnecken.«

»Ich schon. Aber nur in Weißweinsoße.«

»Soße?«

»Alles gut. Vergiss es.«

Wir schaffen weitere fünf Seiten, bis Mila von meinem Schoß rutscht und lieber Memory spielen will. Ich verliere dreimal. Nicht, weil ich sie absichtlich gewinnen lasse, sondern weil sie verflixt clever ist. Danach gibt es ein bisschen Geschrei und Gezappel, als ich verkünde, dass es Zeit fürs Bett ist. Um Viertel vor acht habe ich sie schließlich mit geputzten Zähnen und in geringeltem Pyjama im Kinderbett verstaut.

Ich hole mir ein Bier aus dem Kühlschrank und kehre aufs Sofa zurück. Meine Füße landen auf dem Wohnzimmertisch, der Fernseher wird eingeschaltet und ich zappe durch die Kanäle. Bei einem Actionfilm halte ich inne. Ich würde mir gern einen Schnaps gönnen, aber Fred ist strikt gegen Saufgelage in der Wohnung. Das letzte Mal, als ich das Verbot in den Wind geschossen habe, hat sie mich so laut angebrüllt, dass die Nachbarn ihr fast die Polizei auf den Hals gehetzt hätten.

Allgemein ist Fred launischer geworden, seit Jakob sie vor eineinhalb Jahren verlassen hat. Dass sie hier praktisch in einer Sardinendose lebt, macht die Sache nicht einfacher. Es ist nicht leicht, als Alleinerziehende ohne Berufsausbildung über die Runden zu kommen. Die Lehre zur Bürokauffrau hat Fred sofort abgebrochen, als sie schwanger wurde. Seitdem kellnert sie und arbeitet in Bars für einen Hungerlohn. Ohne Jakobs Hilfe könnte sie ihre Wohnung niemals finanzieren und das muss man ihm lassen: Obwohl er ein Arschloch ist, kümmert er sich um die beiden.

Bei mir sieht es ähnlich mau aus. WG-Zimmer und Studium kann ich mir nur dank staatlicher Unterstützung und dem Nebenjob im Fitnessstudio leisten. Dass ich dort regelmäßig trainiere, ist ein Luxus, der definitiv nicht drin wäre, wenn das Personal nicht freien Eintritt hätte. Ab und zu steckt mir Fred einen Zehner dafür zu, dass ich so häufig als Babysitter einspringe. Ich nehme ihn nur ungern an, aber ich tue es.

Ich klaube mein Handy vom Tisch und werfe einen Blick darauf. Die zwei Anrufe in Abwesenheit sind von Toni, ebenso die Sprachnachricht, in der sie mir unmissverständlich mitteilt, dass sie mich notfalls dazu zwingen wird, mich mit Lars auszusprechen. Ich bin gespannt, wie sie das anstellen will.

Der Gedanke an Lars löst ein unangenehmes Ziehen in meiner Magengegend aus. Es ist zwar nicht schlimm, dass er findet, ich hure durch die Gegend. Vermutlich hat er sogar recht damit. Mich stört die Ebene, auf die er es übertragen hat. Was ich treibe, hat aus meiner Sicht nichts mit unserer Freundschaft zu tun. Auch nicht das, was zwischen Paula und mir passiert ist. Ja, die Aktion war daneben, aber er benimmt sich, als hätte ich ihn absichtlich verletzen wollen ... Natürlich wollte ich das nicht.

Sein zweiter Vorwurf ärgert mich nicht weniger. Nur weil ich keine Beziehung will, heißt das nicht, dass mir meine Partner scheißegal sind. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich niemanden gezwungen, mit mir zu schlafen. Das haben sie immer freiwillig getan.

Ist es ein Verbrechen, gut auszusehen? Im Gegensatz zu ihm kümmere ich mich wenigstens um mein Äußeres. Läppische zwei Mal hat Lars mich ins Fitnessstudio begleitet. Kein Wunder, dass seine Arme und Beine so dünn sind.

Missmutig wechsele ich das Fernsehprogramm.

 

Ich rechne nicht damit, dass Lars am nächsten Morgen auf mich wartet, wie er es sonst jeden Mittwoch tut, und liege richtig. Wahrscheinlich hat er die frühere Straßenbahn genommen, denn auch an der Haltestelle steht er nicht.

Während die Bahn über die Hella-Brücke rattert, starre ich aus dem Fenster. Rechts und links erstreckt sich der Fluss in seinem breiten Bett. Das Nordufer der Hella ist gesäumt von weitflächigen Wiesen. Es ist erst neun und entsprechend wenig los, nur ein paar Gänse staksen übers Gras. Bei Sonnenschein füllen sich die Wiesen ab elf Uhr mit Menschenmassen.

Zwei Stopps weiter steige ich aus und trete kurz darauf pünktlich zum Vorlesungsbeginn in den Hörsaal. Frau Prof. Haberländer steht bereits am Pult und sortiert ihre Unterlagen, ich husche an ihr vorbei.

Lars und ich haben unsere Stammplätze auf mittlerer Höhe der ansteigenden Sitzreihen außen am Rand. Es war ein Kompromiss, weil Lars am liebsten ganz vorn sitzt, um kein Wort zu verpassen, ich es aber hasse, im Fokus der Professoren zu sein. Heute ist nichts von ihm zu sehen. Auch ich halte nicht in der Mitte an, sondern erklimme die Stufen bis zur letzten Reihe und rutsche dort auf den vordersten Klappsitz.

»Hey Flo!«

Ich schaue mich um.

Drei Reihen vor mir hat Justin sich umgedreht und hebt grüßend die Hand. »Hast du die Präsentation für Empirical Finance schon fertig?«, ruft er mir über die Köpfe der anderen zu.

»Nee, du?«

Er lacht. »Spinnst du? Ich wollte mir deine anschauen, damit ich eine grobe Ahnung bekomme, wie die aussehen soll.«

»Sorry.« Ich erwidere sein Grinsen und zucke mit den Schultern. »Ich hab auch noch nichts gemacht.«

Er dreht sich zurück und wendet sich Christian zu, der neben ihm sitzt. Obwohl dieser das Gespräch mitbekommen hat, würdigt er mich keines Blickes. Die abweisende Reaktion juckt mich nicht. Im ersten Semester haben wir uns ein-, zweimal getroffen, aber ich kann mich kaum daran erinnern und das ist ein Indiz dafür, dass der Sex mit ihm nicht der Rede wert war.

»Ihnen allen einen guten Morgen«, schallt die Stimme unserer Professorin nun durch den Raum und sie öffnet die erste Folie ihrer Präsentation auf der Leinwand.

Mein Blick fällt auf ein grünes Shirt mit weißem Kragen direkt vor dem Rednerpult, das mir verdächtig bekannt vorkommt. Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich soeben Lars entdeckt. Der schwarze Haarschopf und seine Größe lassen keinen Irrtum zu; er überragt die meisten Studierenden in seiner Reihe. Ich war also nicht der Einzige, der sich entgegen unserer Gewohnheit einen neuen Platz gesucht hat. Nachdenklich kaue ich am hinteren Ende meines Stifts.

Gut, dass sich unsere Stundenpläne nach der aktuellen Vorlesung heute nicht mehr überschneiden. Da wir unterschiedliche Schwerpunkte im Master gewählt haben – Lars ‚Taxation und Accounting‘, ich ‚Management‘ – besuchen wir nur die Hälfte der Kurse zusammen. Dröges Rechnen und Zahlenjonglieren im stillen Kämmerlein reizen mich nicht; ich will mehr. Vor allem mehr Geld. In meiner Idealvorstellung sitze ich in ein paar Jahren in irgendeiner Chefetage und gebe irgendwelchen Angestellten irgendwelche Anweisungen. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich mir keine Sorgen mehr darüber machen muss, woher ich am Monatsende das Geld für die Miete zusammenkratzen soll. Und eventuell bleibt sogar etwas übrig, um auf den Putz zu hauen.

Natürlich sind das nur Gedankenspiele, aber es gilt: Wer tiefstapelt, kann nicht hoch bauen. Dumm ist leider, dass mein Hirn nicht mit den ambitionierten Träumen mithalten kann. Mein Notenschnitt ist gelinde gesagt verbesserungswürdig, und ohne die Hilfe von Lars hätte ich es nicht einmal bis zur Bachelorarbeit geschafft. Mit unendlicher Geduld und eiserner Beharrlichkeit hat er mich über Tausende von Lernsitzungen durch alle Prüfungsphasen manövriert. Wenn er wollte, könnte er es weit bringen – er hat die nötige Intelligenz –, aber von den wilden Fantasien, von denen ich zu viele habe, hat er zu wenige. Dass er als Hilfskraft am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre die Drecksarbeit machen und Plauze den Hintern pudern kann, reicht ihm.

»Ich bin für eine andere Bühne gemacht«, sagt er, wenn ich ihn jedes Vierteljahr aufs Neue für die fette Karriere begeistern will. Die Theaterbühne.

Mein Stift kratzt übers Papier.

Lars träumt nicht von Macht und Geld. Lars träumt von Luft, Liebe und Kleinfamilienidylle. Und vielleicht habe ich ihm das vorgestern versaut.

 

4

 

 

Obwohl ich keine Lust habe, stehe ich abends vor Lars’ WG. Toni hat mich eine halbe Stunde lang bequatscht, bis ich endlich nachgegeben und versprochen habe, zum netten Zusammensitzen bei Lars aufzukreuzen. Uneingeladen. Ganz ehrlich, was mache ich hier?

Ich drücke auf die Klingel.

Es ist nicht Lars, der die Tür öffnet, sondern Connor.

»Hi Flo. Schön, dich zu sehen«, sagt er mit britischem Akzent und lächelt breit. Er ist Fremdsprachenassistent aus England und arbeitet im Sprachenzentrum der Universität. »Komm rein. Die anderen sind schon bei Lars.«

Er tritt zur Seite und gibt mir den Weg frei. Die oberen drei Knöpfe seines hellblauen Hemds sind offen, doch das täuscht nicht darüber hinweg, dass er wie immer einen Tick zu ordentlich und geleckt aussieht. Von der Statur her ist er groß und schlank wie Lars, abgesehen davon haben sie wenig gemeinsam. Zwar wohnen sie seit zwei Jahren Zimmer an Zimmer, herzlich ist ihr Verhältnis aber nie geworden.

Im Flur streife ich mir die Schuhe von den Füßen. In meiner WG würde niemand darauf achten, bei Connor, Lars und Simon hingegen herrscht ein strenges Regiment der Sauberkeit, was für einen reinen Männerhaushalt eher ungewöhnlich ist. Gleich hinter der Türschwelle stehen die Schuhe aller Besucher fein säuberlich aufgereiht; die Schuhspitzen deuten zur Wand. Aktuell sind es fünf Paare.

»Willst du was trinken?«, fragt Connor, tritt in die Küche und schaut in den Kühlschrank. »Bier?«

»Klar.«

Er reicht mir die Dose, trägt dabei weiter sein einnehmendes Lächeln auf den Lippen. »Viel Spaß.«

Statt schnurstracks zu Lars zu marschieren, trödele ich erst einmal im Flur herum. Durch die geschlossene Tür seines Zimmers dringt lautes Stimmengewirr. Shit, ich bin nervös. In der Regel ist mir egal, was andere von mir halten und wer gerade aus welchem Grund sauer auf mich ist; bei Lars ist das ein bisschen anders.

Zögerlich klopfe ich. Sofort schwingt die Tür auf.

»Ah, Flo, da bist du ja!« Toni schnappt meinen Arm und zieht mich eilig hinein.

Mit mir sind wir zu siebt im Raum, wodurch bei der Zimmerfläche von nur knapp vierzehn Quadratmetern langsam die Grenze der Gemütlichkeit erreicht ist. Karsten und Lisa haben es sich mit Sitzkissen auf dem Boden bequem gemacht. Derya und Johann hocken auf dem Bett. Auf dem Drehstuhl vor dem Schreibtisch sitzt Lars und sieht nicht erfreut aus. Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass er nicht in Tonis Plan eingeweiht war.

Kaum bin ich eingetreten, schnellt er auf, packt Toni und schiebt sie kommentarlos an mir vorbei aus dem Zimmer. Mich würdigt er keines Blickes.

»Hi«, werfe ich in die Runde. »Bin gleich wieder da.«

Flink trete ich zurück in den Flur. Sollen die anderen doch merken, dass ich lauschen will. Ich muss einfach wissen, was Lars zu sagen hat.

Ich pirsche zum Bad, in das sich die beiden zurückgezogen haben, und bücke mich, um meine Ohren möglichst nah ans Lüftungsgitter der Tür zu bringen. Die Worte aus dem Inneren klingen dumpf, sind aber problemlos zu verstehen.

»Kannst du mir erklären, was dieses dumme Arschloch hier verloren hat?«, zischt Lars. »Ich hab dir klar und deutlich gesagt, ich will nicht, dass er kommt. Was hast du daran nicht kapiert?«

»Hey, überleg doch mal«, bemüht sich Toni, ihn zu beschwichtigen. »Früher oder später müsst ihr miteinander reden. Das ist die Gelegenheit.«

»Verdammt, Toni ... Kannst du dir gar nicht vorstellen, dass ich seine scheiß Visage gerade nicht sehen will?«

»Natürlich versteh ich das. Aber meinst du nicht, dass es dir besser geht, wenn ihr euch ausgesprochen habt? Ihr müsst euch ja nicht vertragen.«

»Und wie stellst du dir das vor? Sollen wir ein Interventionsgespräch führen, während ihr alle um uns herumsitzt und uns anstarrt?«

Toni schweigt einen Moment, als merke sie erst jetzt, dass ihr Plan einen Schönheitsfehler hat. Zögernd nuschelt sie: »Und jetzt?«

Lars schnaubt. »Vor den anderen kann ich ihn schlecht rausschmeißen. Ich hoffe einfach, dass er so schnell wie möglich von selbst wieder abhaut.«

Ich habe genug gehört und husche zurück ins Zimmer, wo ich von verwirrten Blicken empfangen werde.

»Was genau war das?«, fragt Karsten, als ich mich neben ihm auf dem Boden niederlasse. Weil kein Sitzkissen mehr übrig ist, hocke ich ohne Hinternpolsterung auf dem Parkett.

»Wir mussten alle drei ganz dringend aufs Klo«, gebe ich im Brustton der Überzeugung zurück.

Offenbar hat Lars ihm nichts von Paulas Ausrutscher mit mir erzählt und ich habe nicht vor, ihn aufzuklären. Karsten studiert mit uns BWL und ist seit Beginn des Bachelors Teil der lockeren Clique. Bei einem unserer ersten Treffen hat er Tonis beste Freundin Lisa kennengelernt; seitdem sind die beiden ein Paar. Derya und Johann gehören zu Lars’ Theatergruppe. Zwar weiß jeder von ihnen über meinen wilden Liebesstil Bescheid, aber ich ahne, dass ich in der momentanen Konstellation nicht gut dastehen würde. Außerdem bin ich bei Derya einmal übel abgeblitzt und ich habe keine Lust, wieder als ‚notgeiler Drecksack‘ beschimpft zu werden.

In diesem Augenblick kehren Lars und Toni zurück. Während Lars stumm zu seinem Stuhl stampft, sichert sich Toni die letzte freie Stelle auf dem Bett und beginnt, betont unbeschwert über die kommende Theateraufführung zu plaudern. Es tut fast körperlich weh, mitanzusehen, wie sehr sie sich bemüht, uns alle ins Gespräch zu integrieren.

Keine Ahnung, wie die Stimmung vor meiner Ankunft war, aber nun ist sie scheiße. Ich kann nicht fassen, dass Toni ernsthaft gedacht hat, Lars und ich würden in Gegenwart unserer Freunde in Windeseile Frieden schließen und uns in den Armen liegen. Tatsächlich tun wir das Gegenteil. Wir ignorieren uns weiterhin konsequent und machen ein angefressenes Gesicht. Ich hatte gar nicht vor, mich so miesepetrig aufzuführen, aber sein Verhalten nervt und lässt mir nichts anderes übrig.

Am Ende ist es nicht überraschend, dass die Runde sich schneller auflöst als sonst.

---ENDE DER LESEPROBE---