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Ein Lehrer. Sein Schüler. Und die wichtigste Regel von allen: Liebe verboten!
Als angehender Lehrer hat Marius es nicht leicht: in der Schule der harte Arbeitsalltag, zuhause Stress mit dem Freund. Und dann ist da noch dieser nervtötende Schüler, der seinen Unterricht sabotiert …
Der siebzehnjährige Ludo ist frech, uneinsichtig und fest entschlossen, seinem neuen Deutschlehrer das Leben zur Hölle zu machen. Wie weit seine Späße gehen? Ihm egal. Dass er Marius damit in Gefahr bringt? Ahnt er nicht.
Während Marius versucht, all das Chaos zu ordnen und den rebellischen Teenager endlich auf den richtigen Weg zu bringen, erkennt er viel zu spät, wie gefährlich Ludo wirklich ist. Denn wer die wichtigste Schulregel bricht, riskiert mehr als einen Tadel:
Verlieb dich nie in einen Schüler!
MM Romance zwischen Lehrer und Schüler / Haters to lovers + Opposites attract mit Herz, Humor und einer Liebe gegen jede Regel.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Ludo
Teach me – love you
L. Mattis
Über den Roman
Hinweis zur Inhaltswarnung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Inhaltswarnung
Zum Autor
Cover
Impressum
Ludo: Teach me – love you
Copyright © 2025 L. Mattis – alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: L. Mattis (lizenziertes Bildmaterial von © innervision – Depositphotos.com, eigene Illustrationen)
Innenillustrationen: L. Mattis
L. Mattis
c/o WirFinden.Es
Naß und Hellie GbR
Kirchgasse 19
65817 Eppstein
Als angehender Lehrer hat Marius es nicht leicht: in der Schule der harte Arbeitsalltag, zuhause Stress mit dem Freund. Und dann ist da noch dieser nervtötende Schüler, der seinen Unterricht sabotiert …
Der siebzehnjährige Ludo ist frech, uneinsichtig und fest entschlossen, seinem neuen Deutschlehrer das Leben zur Hölle zu machen. Wie weit seine Späße gehen? Ihm egal. Dass er Marius damit in Gefahr bringt? Ahnt er nicht.
Während Marius versucht, all das Chaos zu ordnen und den rebellischen Teenager endlich auf den richtigen Weg zu bringen, erkennt er viel zu spät, wie gefährlich Ludo wirklich ist. Denn wer die wichtigste Schulregel bricht, riskiert mehr als einen Tadel:
Verlieb dich nie in einen Schüler!
Liebe/r Leser/in,
dieser Roman beschäftigt sich – neben der Liebesgeschichte zwischen Lehrer und Schüler – mit verschiedenen Aspekten des Erwachsenwerdens und äußeren Widerständen. Da hierzu Inhalte gehören, die potenziell triggern können, findest du am Ende des E-Books eine ausführliche Inhaltswarnung. Nimm sie ernst, wenn es Themen gibt, die dir beim Lesen Unwohlsein bereiten.
Achtung: Die Inhaltswarnung enthält entscheidende Spoiler für den gesamten Roman.
Für alle, die uns zeigen,
dass wir schon immer Flügel hatten.
Marius
Ich muss wahnsinnig sein, schießt es mir durch den Kopf, als ich in die vierundzwanzig leeren Gesichter blicke, die aus ebenso leeren Augenpaaren zurückstarren. Ich habe völlig den Verstand verloren.
Nur deshalb sitze ich gerade in Raum 110 vor zwei Dutzend Zwölftklässlern und frage mich, wie ich die nächsten Monate überleben soll. Denn wäre ich bei Sinnen, hätte ich im Büro unseres Schulleiters ganz sicher nicht brav genickt und gelächelt, als er wissen wollte, ob ich einen zusätzlichen Deutsch-Grundkurs unterrichten könnte. Absolut wahnsinnig, eindeutig. Ich bin bereits jetzt am Limit.
Mein Name steht mit Kreide an der Tafel hinter mir, die Mailadresse auch. Abgeschrieben hat sie nur das dunkelhaarige Mädchen vorne links, während der Rest der versammelten Schüler unbeeindruckt auf meinen Begrüßungsspruch wartet. Ich kann die Worte inzwischen auswendig, da ich sie in jeder Klasse aufsage, die ich neu kennenlerne.
„Guten Morgen, ich bin Marius Miller, Referendar für Deutsch und Biologie. Ich unterrichte seit Mai hier am Gabrielengymnasium und bin gespannt auf ein aufregendes Schuljahr mit euch.“Die ersten drei Punkte sind wahr, der vierte je nach Publikum gelogen.
Ich lasse meinen Blick über die Jugendlichen schweifen. Etwa ein Drittel mustert mich neugierig, die anderen tuscheln oder haben sich alternative Beschäftigungen gesucht. Sie schauen aus dem Fenster, beobachten die Ziffern ihrer Armbanduhren, kramen in den Federmäppchen.
Heute ist es eine Lüge.
„Habt ihr Fragen an mich?“
Das Mädchen vorne links meldet sich. „Wann kommt Frau Barkel wieder? Oder unterrichten Sie uns bis zum Abitur?“
„So genau weiß ich das selbst nicht.“ Ich lächele ihr zu. „Wahrscheinlich bleibt sie ein paar Monate in der Reha-Klinik, bis dahin werde ich sie vertreten. Aber zu euren Prüfungen im April sollte sie zurück sein.“
„Wen juckt’s?“, tönt es aus der letzten Reihe. „Die Barkel ist sowieso scheiße.“
Ich sehe streng in Richtung der fünf Jungen, die sich dort hingefläzt haben. „Das habe ich nicht gehört!“
„Na dann ist ja gut“, grunzt einer von ihnen. Sein blondes Haar ist an den Seiten abrasiert, das Kinn reckt er provokant in die Höhe.
Hitze steigt in mir auf. Ganz ruhig, Marius, das sind nur Teenager. Gelangweilte Teenager mit mehr Hormonen als Verstand. Eine pampige Reaktion ist kein Drama, sondern Alltag.
Als hätte ich seinen Kommentar tatsächlich nicht gehört, lächele ich weiter tapfer in die Runde. „Noch etwas, das euch interessiert?“
Eine lockige Rothaarige hebt die Hand. Sie trägt ein weit ausgeschnittenes Oberteil und kreisrunde Ohrringe. „Wie alt sind Sie?“, fragt sie. Ihre Augen wandern über meine Kinnlinie und den Dreitagebart. „Und sind Sie verheiratet?“
Kurz verrutscht mein Lächeln. „Sechsundzwanzig, aber nicht verheiratet. Ich habe eine Freundin.“ Wieder gelogen.
Die Rothaarige nickt und sieht ein bisschen enttäuscht aus.
Immerhin hat die private Frage das Eis gebrochen, denn weitere Finger steigen empor. „Benoten Sie uns?“ – „Schreiben wir die nächste Klausur bei Ihnen?“ – „Nennen Sie uns vor der Klausur auch drei Textstellen aus dem Buch, von denen eine drankommt?“
Bei der letzten Meldung runzele ich irritiert die Stirn. „Warum sollte ich euch die Klausuraufgabe vorher verraten?“
„Nicht die Aufgabe, nur die Stelle“, korrigiert mich der Junge mit dem lila Hoodie, der die Frage gestellt hat. „Wir wissen ja nicht, welche der drei Stellen Sie nehmen. Frau Barkel hat das immer gemacht. Sie meinte, dass wir so besser für die Klausur lernen können.“
Ja, klar. Weil sie dann sichergehen kann, dass alle gute Noten schreiben, und sie keinen Stress mit panischen Eltern hat, die um das Abi ihrer Sprösslinge fürchten. Ziemlich praktisch. Und ziemlich verboten.
„Ich gebe euch die Stellen nicht vor, aber ich werde euch gut vorbereiten. Ihr müsst euch also keine Sorgen machen, ihr schafft das.“ Die Gesichter werden lang. „Wir lesen das Drama Nathan der Weise. Die Bücher habt ihr schon besorgt, oder? Bringt sie ab der nächsten Stunde mit. Und stellt bitte Schilder mit euren Namen auf, damit ich sie mir schneller merken kann.“
Jemand prustet. Natürlich finden die Siebzehn- und Achtzehnjährigen Namensschilder albern, aber ich muss nach jedem Strohhalm greifen, der mir das Leben erleichtert.
„Wenn Sie wollen, zeichne ich Ihnen einen Sitzplan“, bietet das Mädchen vorne links an.
Ich will gerade dankbar zustimmen, da lässt mich eine Bewegung aus dem Augenwinkel zusammenzucken. Etwas fliegt durch den Raum, schießt nur wenige Zentimeter an ihrem Kopf vorbei und landet klappernd auf dem Boden. Ein Stift?
Für einen Moment herrscht atemlose Stille, dann passiert alles auf einmal: Das Mädchen wirbelt mit einem wütenden „Hey!“ herum, lautes Lachen brandet auf, alle Blicke wandern nach hinten.
Wieder ist es der blonde Junge, auf den sich die Aufmerksamkeit konzentriert. Dass er als Täter entlarvt wurde, scheint ihn nicht zu stören. Im Gegenteil. Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkt zufrieden grinsend die Arme vor der Brust.
„Wow, Jana“, höhnt er. „Brauchst du ’ne Taschenlampe? So tief in seinem Arsch ist es garantiert dunkel.“
Die Jungen neben ihm grölen. Einer schlägt ihm anerkennend auf den Rücken, doch er beachtet ihn kaum. Stattdessen bohrt sich sein Blick in meinen. Und nicht nur seiner. Fast der ganze Kurs hat sich zu mir umgedreht.
Hastig löse ich mich aus der Starre und stehe auf. Keine gute Idee. Meine Knie zittern heftiger als erwartet.
„Schluss damit!“, herrsche ich ihn an. „Ich will hier nichts durch den Raum fliegen sehen!“
Der Blonde grinst weiter. „Sie können ja die Augen zumachen.“
In meiner Brust wird es eng. Ich hatte nicht vor, direkt nach dem Kennenlernen des Kurses jemanden zu ermahnen, aber die Situation ist gefährlich. Statuiere ich jetzt kein Exempel, habe ich verloren. Dabei weiß ich gar nicht, wie ein Exempel auszusehen hat. Ich bin zwar schon vier Monate an der Schule, doch richtigen Ärger hatte ich bisher nur mit jüngeren Schülern.
Wie geht man mit einem fast Volljährigen um? Soll ich ihm eine Strafarbeit verpassen? Soll ich ihm drohen, mit seinen Eltern zu reden? Oder wäre das übertrieben? Ich kenne ihn nicht, nicht einmal seinen Namen.
„Wie heißt du?“, blaffe ich, um zumindest Letzteres zu ändern.
„Franz Ferdinand, Freiherr von Sachsenhausen.“
Erneutes Gelächter.
Ich muss nicht in die Kursliste schauen, um herauszufinden, dass ich dort keinen Franz finden werde. Warum habe ich überhaupt gefragt, verdammt?
„Alles klar, Franz. Wir sprechen uns nach dem Unterricht.“
„Uuuh, nice. Das erste Einzeldate“, johlt er.
Ich beiße die Zähne zusammen.
Obwohl die Stimmung aufgeladen ist, ziehe ich die restliche halbe Stunde wie geplant durch und stelle die Planung der nächsten Wochen vor. Als der Schulgong ertönt, flutet Erleichterung meine Adern und ich atme geräuschvoll aus. Das war’s. Die letzte Stunde für heute.
Den Schülern scheint es ähnlich zu gehen, sie stürzen regelrecht aus dem Raum. Manche nicken mir zu, die meisten ignorieren mich. Wahrscheinlich können sie es nicht abwarten, ihren Freunden zu berichten, was für eine unterhaltsame Deutschstunde sie gerade erlebt haben.
Ich rechne fest damit, dass auch der blonde Querulant den Moment des Trubels nutzen wird, um kommentarlos zu verschwinden, doch er bleibt stehen, sobald er das Pult erreicht.
Dass er so groß ist wie ich, war ihm im Sitzen nicht anzusehen. Mit der hünenhaften Statur, den breiten Schultern und den stechend blauen Augen stellt er eine imposante Erscheinung dar, die mich vielleicht eingeschüchtert hätte, wenn ich das nicht selbst lächerlich fände. Wieso sollte ich Angst vor einem Schüler haben?
„Also? Dein Name?“, frage ich noch einmal, bemüht kühl und ruhig. „Ich rate dir, diesmal keinen Quatsch zu erzählen.“
„Ich bin Ludo“, sagt er und sieht mir unbeirrbar in die Augen. „Ludo van Peters. Bin schon gespannt, was Sie mit der Info vorhaben. Wird bestimmt lustig.“ Auf seinen Lippen entspinnt sich ein unheilvolles Lächeln.
Der kalte Schauer, der mir über den Rücken rieselt, straft meine vorherigen Gedanken Lügen. Okay, ich habe Angst. Und ich will es mir nicht eingestehen, aber sein Grinsen verrät mir zwei Dinge.
Erstens: Ludo kann mir gewaltigen Ärger bereiten.
Und zweitens: Genau das hat er vor.
Ludo
„Peters, du Idiot“, knurrt Ben und wedelt mit seinem Joint in meine Richtung. „Ich schwör dir –“ Er niest, räuspert sich und muss neu ansetzen. „Ich schwör dir, wenn das ein Bluff ist, wirst du das hart bereuen.“ Er taxiert die Karten auf dem Gartentisch und verzieht mürrisch das Gesicht.
„Wer kein Pokerface hat, ist selbst schuld“, gebe ich zurück, schiebe die letzten Plastikchips in die Mitte und lache leise, als mein bester Freund grummelnd seine Karten ablegt.
Das Paar Siebener, das ich daraufhin enthülle, lässt ihn die Faust fluchend auf den Tisch knallen. „Mit dir zu spielen, ist die Hölle.“ Er klemmt sich den glimmenden Stängel in den Mundwinkel, um die Hände zum Kartenmischen frei zu haben. „Warum mach ich das eigentlich?“
„Weil du ein mieser Verlierer bist und dich rächen willst.“ Ich recke mich vor, schnappe seinen Joint und nehme einen tiefen Zug, ehe ich ihn wieder zwischen seine Lippen stecke. Das süßliche Aroma breitet sich auf meiner Zunge aus.
„Du musst nicht schnorren. Ich hab dir gesagt, du kriegst deinen eigenen.“
„Nee, lass mal. Morgen vor der Schule ist Schwimmtraining. Und du willst nicht, dass ich da absaufe, nachdem mir dein billiges Gras den Kopf zerschossen hat, oder?“
„Nichts gegen mein Gras.“ Ben fixiert mich aus zusammengekniffenen Augen. „Das ist erstklassig.“
„Du bist erstklassig“, erwidere ich. „Ein erstklassig schlechter Pokerspieler.“
„Sagt derjenige, der früh ins Bettchen geht, damit er am nächsten Morgen keine Schwimmflügel braucht.“
„Bin ich gerade im Bett oder sitze ich hier?“
„Ja, als verkniffene Spaßbremse.“
Ich will ihm die Meinung geigen, komme aber nicht mehr dazu, weil Ruby sich neben mich auf die hölzerne Sitzbank quetscht. „Ganz unrecht hat er nicht. Dein Trainer sieht dich öfter als ich.“
„Siehst du? Sag ich ja.“ Ben bildet vier Kartenpaare, von denen er eins behält und die anderen drei zu Tobi, Jess und mir schiebt. Ruby lässt er aus, sie ist sowieso zu beschäftigt damit, an mir herumzufummeln.
„In den letzten Tagen hast du echt was verpasst“, mischt sich sogar Tobi ein, der alte Verräter. „Die Nacht auf der Baustelle war mega.“ Er beugt sich über Jess’ Schoß zum Kasten auf dem Boden und zieht ein neues Bier heraus. „Auch eins?“, fragt er seine Freundin. Als sie den Kopf schüttelt, zuckt er mit den Schultern und öffnet die Flasche mit einem Schlag gegen die Tischkante.
„Jedenfalls lohnt sich das harte Training“, bemüht sich Ruby eifrig um meine Verteidigung. Offenbar hat sie gemerkt, dass sie mir in den Rücken gefallen ist, und buhlt nun wieder um meine Gunst. Ihre Fingerspitzen tanzen über meinen Bizeps. „Hinter solchen Muskeln steckt viel Arbeit. Dagegen bist du ein Witz, Ben.“
Ich lächele selbstgefällig. „Kann nicht jeder gut aussehen.“
Ben prustet. „Ja, nee, dein Ernst, Ruby? Wenn du geile Muskeln sehen willst, schau dir Tobi an, nicht Ludo.“
Ich folge seinem Fingerzeig zum Kopfende des Tischs und bleibe einen Moment an Tobis verschränkten Armen hängen. Früher war er der Schmächtigste von uns dreien, aber seit er vor zwei Jahren mit dem Krafttraining angefangen hat und tagtäglich Proteinshakes säuft, ist er heftig in die Breite gegangen. Und ja, der Wichser hat mich inzwischen knapp überholt.
Ich bin nicht der Einzige, der ihn mustert, auch seine Freundin lächelt ihn an. Man sieht, dass Jess auf die dicken Muckis abfährt.
„Du machst schon viiiel länger Sport als Tobi“, bohrt Ben weiter. „Warum ist der trotzdem schneller?“ Langsam geht er mir wirklich auf die Eier.
„Ich schwimme, das ist Ausdauersport. Tobi trainiert nur auf Masse. Würde ich das machen, wär ich viermal so breit.“ Ich klopfe mit den Karten auf den Tisch, um ihm klarzumachen, dass unser Gespräch beendet ist und ich für eine neue Runde bereit bin.
Doch ich habe die Rechnung ohne Ruby gemacht. „Ich finde dich perfekt, wie du bist“, schnurrt sie von der Seite und zupft am Ärmel meines schwarzen Shirts.
Als ich den Fehler begehe, sie anzusehen, reckt sie mir prompt die vollen, rot geschminkten Lippen hin. Brav küsse ich sie und habe mein Gesicht gut genug unter Kontrolle, um zu verbergen, dass ich den Geschmack ihres Lippenstifts hasse.
Jess kichert im Hintergrund. „Sollen wir euch allein lassen?“
„Wir hauen schon rechtzeitig ab, wenn wir allein sein wollen.“ Ruby tauscht einen verschwörerischen Blick mit ihrer besten Freundin.
Ich würde gern kotzen.
Dabei mag ich die Abende in der Gartenlaube von Tobis Großeltern eigentlich. Hier können wir tun und lassen, was wir wollen, rauchen, saufen, Party machen. Die beiden Senioren sind senil und denken, wir sitzen bei Pfefferminztee und Keksen zusammen und tauschen uns über tagespolitische Neuigkeiten aus. Anders kann ich mir nicht erklären, dass auf dem Regal in der Ecke eine volle Glaskanne mit Teebeuteln bereitsteht. Angerührt hat sie bisher keiner.
Tobi, Ben und ich haben unsere ganze Jugend in der Laube verbracht. Hier haben wir an der ersten Zigarette gezogen, den ersten Joint gedreht, die ersten Mädchen geküsst und – wenn man Tobi glauben will – hat er auf ebendieser Bank, auf der ich gerade sitze, mit vierzehn seine Unschuld verloren. Hoffentlich hat er danach die Sitzkissen gewechselt.
Ich weiß nicht mehr, wann sich das gute Gefühl verändert hat. Wahrscheinlich fing es mit den Mädchen an. Seit Tobi die ersten Freundinnen mitgebracht hat, waren wir selten zu dritt. Immer saß jemand mit am Tisch. Mal rothaarig, mal blond, mal lockig. Mal eine, mal zwei, mal drei auf einmal. Am Anfang war mir das egal, denn die Mädchen interessierten sich ja auch für mich. Es hat mir gefallen, umschwärmt zu werden und im Mittelpunkt zu stehen. Bis mir klar wurde, dass ich ihre Aufmerksamkeit nicht wollte. Nicht so.
Inzwischen kann ich das Gefühl meisterhaft verstecken und es spielt keine Rolle, was in mir vorgeht. Meine Maske sitzt fest, selbst hier in der beschissenen Gartenlaube unserer Kindheit.
Dank einer glücklichen Hand beim Kartenverteilen gewinne ich auch die nächste Spielrunde, danach luchst Jess mir den Titel ab. Sie kreischt, als sie gewinnt, und bekommt zur Belohnung einen innigen Kuss von Tobi. Ben ist mittlerweile zu knülle, um wegen der wiederholten Niederlage beleidigt zu sein. Er friemelt an der Musikbox herum und kurz darauf schallen harte Beats durch Laube und Garten. Ich hoffe für Tobis Großeltern, dass sie nicht nur senil, sondern auch schwerhörig sind.
Ruby zieht mich lachend von der Sitzbank und schmiegt sich eng an mich. Zusammen bewegen wir uns im Takt der Musik, die zu schroff und laut für einen romantischen Tanz ist, aber das stört meine Freundin nicht. Sie wiegt sich in meinen Armen, als wäre das Kreischen der E-Gitarre eine stimmungsvolle Geigensonate.
Neben uns zappelt Ben. Er tanzt nie gut, aber wenn er gekifft hat, verdoppeln sich sowohl seine Unfähigkeit zur Muskelkontrolle als auch seine Überzeugung, der beste Breakdancer auf Erden zu sein. Eine ungesunde Mischung, die heute ausnahmsweise niemand kommentiert, da wir alle entweder genauso weggetreten oder anderweitig beschäftigt sind.
Mein Blick gleitet zu Jess, die sich auf Tobis Schoß platziert hat. Während seine Finger unter ihrem Shirt umherwühlen, stochert sie mit der Zunge nach seinen Mandeln. Die beiden sind so versunken in ihre Fummelei, dass sie weder die Musik noch den Rest der Welt um sich herum wahrnehmen. Tobi schiebt Jess’ Shirt nach oben, streicht über den hervorblitzenden Streifen nackter Haut.
„Neidisch?“, raunt Ruby mir zu. Ihre Arme schlingen sich um meinen Nacken und sie zieht meinen Kopf zu sich herab, bis ich weiche Lippen am Ohrläppchen spüre. „Das kannst du auch haben.“
Ihr Mund wandert von meiner Schläfe zum Kinn, streift den Kehlkopf und beendet die feuchte Reise in meiner Halsbeuge. Sie saugt und knabbert und ich hoffe inständig, dass sie mir keinen Knutschfleck verpasst.
Über ihr schwarzes Haar hinweg beobachte ich Tobi und Jess weiter, die sich aus der Umklammerung gelöst haben. Jess flüstert ihm etwas zu. Er lacht, rau und tief.
Mein Magen verkrampft sich und ich packe Rubys Taille, presse sie an mich. Der gurrende Laut an meinem Hals verrät mir, dass sie die plötzliche Initiative scharf findet. Sie krallt die Finger in den Bund meiner Jeans und drückt mir ein Knie zwischen die Beine.
Erneut krampft mein Magen.
„Hey.“ Da ist es wieder, ihr süßes Säuseln an meinem Ohr. „Soll’n wir abhauen?“ Sie reibt den Oberschenkel gegen mich.
„Klar“, brumme ich und würde wirklich gern verduften, allerdings lieber allein und nicht an ihrer Hand.
Schnell greife ich nach meinem Bier, trinke es in einem Zug. Warum habe ich Bens Angebot, mir einen dicken Joint zu drehen, nicht angenommen?
Keiner der Jungs bemerkt, dass wir verschwinden, aber selbst wenn sie es mitbekämen, wäre das egal. Weil es keine Rolle spielt, ob ich mit einem Mädchen ins Dunkel hineinstolpere. Sie würden höchstens lachen und uns anzügliche Pfiffe hinterherschicken.
Ruby ist nicht meine erste Freundin und wird nicht die letzte sein. Ich glaube nicht, dass sie ernsthaft in mich verliebt ist, obwohl sie es behauptet. Verliebtsein stelle ich mir anders vor – irgendwie … echter. Ohne Liebesschwüre mit wildem Wimpernflattern oder demonstrativ auf Instagram veröffentlichten Herzchenfluten. Aber was soll’s. Wenn sie denkt, sich mit mir dekorieren zu können, werde ich dasselbe mit ihr tun.
Angeblich ist sie übertrieben sexy. Zumindest erzählen das Ben, Tobi und jeder Kerl, mit dem ich über sie geredet habe. Und ja, ihre Haut ist makellos, weich und schimmert im Licht, als hätte sie sich mit Glitzerpuder eingerieben. Eventuell tut sie das sogar. Pralle Titten, schlanke Taille, ein verführerischer Augenaufschlag umrahmt von dichten Wimpern. Tobi nennt sie Hammergerät, wenn sie nicht in der Nähe ist. Ich bin der Einzige, den das nicht beeindruckt.
Auch jetzt, als sie mich mit sich zieht, wir über die dunkle Wiese laufen und eng umschlungen an der Hauswand landen, hämmert in mir nur der Wunsch, dass der Abend hoffentlich bald vorbei ist. Bisher haben wir noch nicht miteinander geschlafen. Offiziell, weil ich ihre Bitte respektiere und warte, bis sie dazu bereit ist. Inoffiziell, weil ich mich dann von ihr trennen muss.
Wenn meine Freundin – wie sie es gerade tut – mit dem Mund in meinem Schritt abtaucht, kann ich die Augen schließen, sie ausblenden und mir vorstellen, was ich will. Wen ich will. Ich weiß nicht, was ich tun soll, sobald das nicht mehr funktioniert.
Marius
„Also ich will ja nichts sagen …“ Annemarie sieht sich prüfend im dicht besetzten Lehrerzimmer um und beugt sich zu mir hin. Das belegte Brötchen in ihrer Hand kippt gefährlich in Richtung meiner Knie. „Aber das ist nicht in Ordnung, dass sie dir direkt nach den Sommerferien einen zusätzlichen Kurs aufladen, Marius. Klar, du bist als Referendar hier die billige Arbeitskraft, die sich nicht wehren kann, aber du hast sicher genug zu tun, oder etwa nicht? Weißt du eigentlich, dass Dorothee jetzt schon zum zweiten Mal in drei Jahren in Reha geht? Nein, kannst du nicht wissen, du bist ja erst seit Mai bei uns. Die macht sich das Leben leicht und wir dürfen ihre Klassen übernehmen. Kein Wunder, dass wir mit der Arbeit nicht hinterherkommen. Wie soll das funktionieren, wenn ständig jemand meint, sich auf den Rücken der anderen eine feine Auszeit nehmen zu können? Trotzdem kann man euch Referendare doch nicht so belasten – das bringt am Ende keinem was. Du hast noch mehr Stress und die Schüler werden von unfähigen Anfängern nicht ordentlich aufs Abi vorbereitet.“ Nachdenklich beißt sie in ihr Brötchen und fährt, ohne zu bemerken, dass sie mich soeben beleidigt hat, mit vollem Mund fort: „Wie war denn deine erste Stunde mit den Zwölfern? Die sind nicht einfach, die Pappenheimer, was? Ich habe ein paar von denen in Religion und die haben sich gar nicht gut entwickelt. Muss an den ganzen Medien liegen. Handy hier, Handy da.“
Ihr Redeschwall verebbt und ich brauche einen Moment, um zu registrieren, dass sie auf meine Antwort wartet.
„Es war in Ordnung“, versichere ich schnell. Dass man im Referendariat sparsam mit Ehrlichkeit umgehen sollte, habe ich früh gelernt. Man wird für jeden Schritt und Tritt bewertet. „Nur einer der Schüler ist negativ aufgefallen.“ Ich tippe mit dem Finger auf die entsprechende Zeile der Kursliste, die ich zusammen mit den anderen Deutschunterlagen auf meinem Tisch ausgebreitet habe. „Kennst du Ludo?“
Annemarie blickt flüchtig auf den Namen und verdreht die Augen. „Und wie ich den kenne.“ Sie wischt sich Mayonnaise aus den Mundwinkeln. „Eingebildeter Schnösel. Ist sich zu fein für eine normale Schule, nachdem man ihm immer alles auf dem Silbertablett präsentiert hat. Aber wehe, du sagst was gegen ihn.“ Wieder dreht sie den Kopf nach beiden Seiten, als wäre sie eine Undercover-FBI-Agentin auf geheimer Mission. „Dann macht die Schulleitung dir die Hölle heiß. Und das nur, weil Ludos Eltern die Renovierung der Turnhalle finanziert haben. Offiziell war das natürlich eine großzügige Spende des Fördervereins.“ Sie lacht gackernd. „So eine Spende käme mir gerade recht. Damit könnte ich auch ein paar Monate in Reha.“
Bevor sie zu einer weiteren Tirade ansetzen kann, schallt ein lautes „Anne, an der Tür steht ein Schüler für dich!“ durch den Raum, was sie mit einem genervten Schnauben quittiert.
„Nicht mal in Ruhe essen kann man hier.“ Widerwillig stemmt sie sich in die Höhe und wirft mir dabei noch einen mitleidsvollen Blick zu. „Ich gebe dir einen Tipp: Zeig den Zwölfern, wer das Sagen hat. Die tanzen dir sonst auf der Nase herum, das kann ich dir versprechen.“
Mit diesen Worten stampft sie davon, ihre graue Lockenpracht wippt bei jedem Schritt.
Die Tische, zwischen denen sie ihre üppige Körperfülle hindurchmanövriert, sind restlos belegt. Während der großen Pause herrscht im Lehrerzimmer das wildeste Treiben. Nicht alle Lehrkräfte haben zur ersten Stunde Unterricht, doch spätestens zum Pausengong versammeln sie sich hier, um den neuesten Tratsch auszutauschen. Sie beschweren sich über Jason aus der 8b, lästern über den faulen Schulsozialarbeiter oder die nervige Schulpraxissemesterpraktikantin und belagern den Kopierer im Nebenraum. Der Lärmpegel ist höher als in jedem Klassenzimmer, der soziale Druck ebenfalls.
Man sollte denken, mein Lampenfieber wäre am größten, wenn ich vor den Klassen stehe, wo dreißig Augenpaare auf mich gerichtet sind, doch das stimmt nicht. Der Spießrutenlauf, der hier stattfindet, ist unerträglich. Ich habe den Gerüchten nie geglaubt, aber sie sind wahr: Lehrer sind die schlimmeren Schüler.
Das zeigt sich jetzt beispielhaft, als Ellie den Raum betritt und das Getuschel schlagartig zunimmt. Als Referendare sind Ellie und ich sowohl die Staubschicht auf dem Boden der sozialen Hierarchie als auch die hübschen Schillerwanzen, die man interessiert beäugt und danach lieber ignoriert. Gefangen im merkwürdigen Widerspruch aus Störfaktor und Handlanger. Die meisten Referendare, die ich kenne, berichten dasselbe.
Im Gegensatz zu mir gibt sich Ellie allerdings keine Mühe, der Aufmerksamkeit auszuweichen, dabei steht sie tausendmal mehr im Fokus als ich. Sie heißt eigentlich Elisabeth, verbietet aber jedem, sie beim vollen Namen zu nennen. Er würde auch gar nicht zu ihr passen, denn sie ist definitiv nicht konventionell. Nicht nur, weil sie blaue Haare hat, am liebsten dunkle Kleidung mit Nietengürteln trägt und durch ihre große, stämmige Figur eine beeindruckende Erscheinung abgibt, sondern weil sie denkt und sagt, was sie will. Wäre Ludo in ihrem Unterricht auf die Idee gekommen, sich danebenzubenehmen, hätte sie ihn zu einem Radieschen zurechtgeschnitzt.
Die Schüler vergöttern sie für ihre Art. Herr Jennsen, unser Schulleiter, verachtet sie. Ellie ist alles, was er nicht an seiner Schule haben will: Feuer, Freigeist und Extravaganz.
Mit einem Poltern fällt sie auf den Stuhl mir gegenüber, lässt den Kopf in den Nacken kippen und stößt ein tiefes Stöhnen aus. Dann verharrt sie regungslos in der Position. Sie sieht so erschöpft aus, wie ich mich fühle.
Ein paar Sekunden später ruckt sie wieder nach vorn und pustet sich eine blaue Haarsträhne aus der Stirn. Eine Mischung aus Euphorie und Wahnsinn funkelt in ihren Augen.
„Ich hasse die Siebener“, verkündet sie, klingt jedoch eher fasziniert als zornig. „Ich hab sie eben an Stationen arbeiten lassen.“
Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Lass mich raten. Zwei Tische sind umgefallen, die Wand muss neu gestrichen werden und drei Schüler liegen blutüberströmt im Sanitätsraum.“
Sie zieht eine Grimasse. „Nee, aber kurz vor der Pause wäre einer dieser kleinen Idioten fast aus dem Fenster gefallen, weil er einen Papierflieger auf den Pausenhof werfen wollte.“
„Hatte er keine Angst, dass du ihn hinterherwirfst?“
Diabolisch kichernd knallt sie ihren Wochenplaner neben meine Kursliste. „Oh, spätestens jetzt hat er Angst. In der nächsten Stunde darf er nämlich ein Kurzreferat über verschiedene Methoden der Empfängnisverhütung halten. Er sah begeistert aus.“
„Du bist der Teufel.“
„Und ich liebe es.“
Während ich ihr dabei zusehe, wie sie ihren Wochenplaner aufschlägt und mit flinken Fingern kleine Plus- und Minuszeichen in eine Notenliste einträgt, kann ich nicht anders, als sie heimlich zu beneiden. Obwohl ständig über sie geredet wird, ist sie die Letzte, die sich darum kümmern würde.
Und ich? Ich bin für jedes unverfängliche Gespräch dankbar, das man in den Pausen mit mir führt, selbst wenn es nur meine Tischnachbarin Annemarie ist, die sich wasserfallartig über Gott und die Welt beschwert. Weil für mich alles besser ist, als hier zu sitzen und sichtbar unsichtbar zu sein.
Kaum hat Ellie das letzte Doppelplus in eins der Kästchen gekritzelt, kehrt Annemarie von ihrem unfreiwilligen Ausflug an die Tür zurück. Ohne uns eines Blickes zu würdigen, lässt sie sich wieder neben mir nieder, schlägt ein Religionsbuch auf und bemüht sich, enorm beschäftigt zu wirken. Das tut sie in Ellies Gegenwart immer.
Wie wäre wohl ihre Reaktion, wenn sie erfahren würde, dass auch ich nicht in ihr Weltbild passe? Würde sie mir das gleiche frostige Schweigen und die hochgezogenen Augenbrauen schenken? Gerade sieht sie einen unauffälligen jungen Mann vor sich, in Hemd und Stoffhose, mit ordentlich gekämmten dunklen Locken und gestutztem Bart. Einen Referendar, der tut, worum man ihn bittet, morgens überpünktlich kommt und seine Unterlagen einen Tick zu sauber sortiert. Aber was würde sie sehen, wenn sie von Viktor wüsste?
„Marius, sag mir bitte, dass du heute nochmal Kekse dabeihast.“ Ellie schaut auf ihre neongrüne Armbanduhr, die einen wunderbaren Kontrast zu den schwarzen Armbändern und schwarz lackierten Fingernägeln bildet. „Wir haben genau fünf Minuten und ich brauche dringend Zucker, bevor es zurück in die Hölle geht.“
Ich angele in meinem Rucksack nach der Packung und werfe sie ihr hin.
„Du bist mein Held.“ Gierig greift sie zu und schiebt sich zwei Kekse auf einmal in den Mund. „Auch einen Keks, Annemarie?“
Annemarie starrt die Krümel an, die Ellie beim Reden auf den Tisch gespuckt hat. Ein Schütteln erfasst sie, dann drückt sie den Rücken durch und quittiert das Angebot mit einem missbilligenden Blinzeln über den Brillenrand. „Für Sie immer noch Frau Eilfink, Frau Landbrecht.“
Ellie formt mit ihren Lippen ein übertrieben rundes „Oh!“ und korrigiert sich: „Entschuldigung. Möchten Sie einen Keks, FrauEilfink?“
„Danke, nein. Ich achte auf meine Figur.“ Annemaries Blick huscht zu Ellies Oberkörper. Man kann förmlich riechen, wie gern sie ergänzt hätte, wer ihrer Meinung nach erst recht Gewichtsprobleme hat.
Da dröhnt der Schulgong durch den Raum und löst die Spannung auf, die wie eine dunkle Wolke über dem Tisch hängt. Annemarie schnappt ihre Tasche und verschwindet kommentarlos. Ellie und ich schultern unsere Rucksäcke.
„Als Sportlehrer hat man’s gut“, murrt sie. „Die können in den Pausen unten in der Turnhalle hocken, wenn sie keine Lust auf social Shit-chat haben. Das muss so entspannt sein. Ich habe gehört, die bunkern da sogar Bier. Wir sollten ihnen mal einen Besuch abstatten.“ Als ich nur flüchtig nicke, stößt sie mir den Ellbogen in die Seite. „Kopf hoch, Marius. Der Tag ist fast geschafft. Und heute Abend erwartet uns – was?“
Nun lächele ich doch. „Pizza.“
„Welche Pizza?“
„Spezialscharfe Ellie-Chili-Pizza mit doppelt Jalapeños und Käserand.“
„Ganz genau. Das gibt eine Eins plus mit Sternchen.“ Ein weiteres Zwinkern, bevor sie sich zu mir beugt und flüsternd ergänzt: „Bring deinen Mister mit.“
„Ich frage ihn.“
„Nee, du befiehlst es ihm.“ Typisch Ellie, sie duldet keinen Widerspruch. „Es wird Zeit, dass ich das Herzblatt von meinem Leidensbuddy endlich kennenlerne.“
***
Viktors Reaktion auf den Befehl, mich zu Ellies Pizzaparty zu begleiten, fällt mäßig begeistert aus. Ich lese seine Antwort erst, als ich auf dem Lehrerparkplatz in meinem Auto sitze, und starre die drei Sätze reglos an, die er vor einer halben Stunde im Chat geschickt hat.
Viktor:Du weißt, dass wir heute verplant sind, oder?
Viktor: Caribbean Night im Pink Peach.
Viktor:Wieder vergessen?
Ich habe es nicht vergessen. Aber mein Freund hat offenbar vergessen, dass ich ihm während der letzten Monate zweihundertmal erklärt habe, warum ich nicht im Pink Peach auftauchen werde.
Mein Daumen schwebt über der Tastatur. Schon bevor ich die Nachricht abgeschickt habe, weiß ich, dass ich Öl ins Feuer gieße.
Ich:Ich hab dir gesagt, dass ich nicht mitkommen kann.
Seine Antwort folgt prompt und wie erwartet.
Viktor: Dein Ernst?
Am liebsten würde ich ihn anflehen, mich zu verstehen, doch ich verkneife es mir.
Viktor: Du kannst dich nicht ewig verstecken.
Ich:Ich verstecke mich nicht.
Viktor:Wirkt auf mich anders.
Der Kloß in meinem Hals fühlt sich mittlerweile vertraut an. Ich presse die Lippen aufeinander und wende den Blick vom Display ab. Draußen ergießt sich eine Flut aus Schülern durch die geöffneten Flügeltüren des Schulgebäudes auf Parkplatz und Straße.
Was soll ich ihm antworten? Wir führen dieses Gespräch wöchentlich und jedes Mal endet es damit, dass wir uns darauf einigen, uns nicht einig zu sein. Bis das Problem wieder unter dem Teppich hervorkriecht und uns höhnisch entgegengrinst. Hello again.
Ich atme tief durch.
Ich:Viktor, bitte … Kommst du heute mit zu Ellie? Ich würde mich wirklich freuen.
Nach kurzem Zögern klicke ich auf den Sendebutton.
Die hüpfenden Punkte im Chat haben verraten, dass Viktor bereits getippt hat. Nun verschwinden sie. Ein paar Sekunden lang passiert nichts und ich verfluche mich dafür, ihm die wehleidige Frage gestellt zu haben. Wenn er keine Lust hat, hat er keine Lust. Es ist sinnlos, ihn zu etwas zu drängen.
Viktor:Wenn’s sein muss.
Das habe ich davon. Ich habe meinen Willen bekommen und fühle mich keinen Deut besser.
Erschöpft lehne ich den Kopf gegen die Nackenstütze und schließe die Augen. Vielleicht hat er recht und ich verhalte mich albern. Aber ich kann es nicht ändern.
Es ist zu riskant.
Ludo
„Nicht einschlafen, Ludo!“, brüllt Harry vom Beckenrand.
Übersetzt bedeutet das: Du schwimmst wie ein Stück besoffene Scheiße, Ludo. Und es stimmt.
Auf meinem Plan steht intensives Intervalltraining, doch als ich zum zwölften Mal die fünfundzwanzig Meter zurückgelegt habe, ist mein Puls zu hoch und Harrys Kopf rot, weil er zu oft geflucht hat.
Vor einer halben Stunde war er noch zufrieden. Im Gegensatz zum letzten Termin bin ich pünktlich aufgetaucht und habe auch das Einschwimmen brav absolviert. Viel konnte ich da nicht falsch machen. Danach ging es stetig bergab.
Mein Timing ist daneben, die Rollwenden am Beckenrand sind unsauber. Ich gebe mir wirklich Mühe und versuche, mich zu konzentrieren, aber bloße Willenskraft genügt nicht, wenn die Beine zu schwer sind und das Hirn aus Wackelpudding besteht.
„Hast du getrunken?“, knurrt Harry, als ich mich nach einer weiteren Dreiviertelstunde Blamage mit Sahnehäubchen und Cocktailkirsche neben ihm am Rand hochstemme. „Geraucht?“
Sein feuerrotes Haar leuchtet im kühlen Licht der Neonröhren. Dass ich nicht antworte, ist meinem Trainer Geständnis genug.
„Das geht so nicht, Ludo. Entweder ganz oder gar nicht. Was wir hier machen, ist reine Zeitverschwendung, solange du dich nicht an Absprachen hältst.“
Ich kenne die Leier auswendig, weil ich sie mindestens einmal in der Woche höre. Zum Glück ist Harry ein eher ruhiger, entspannter Typ, sonst käme er aus dem Schimpfen gar nicht mehr heraus. Aber sogar seine Geduld hat irgendwann ein Ende und das Ende heißt Ludo van Peters.
Ich reibe mir übers Gesicht und schnäuze Chlorwasser in meine Hand. „Sorry“, sage ich dann. „Echt. Ich … bin nicht bei der Sache.“
Auch wenn er nervt und ständig etwas an mir auszusetzen hat, mag ich ihn. Es ist sein Job, mich anzubrüllen; das hat nichts mit mir persönlich zu tun. Er wird unverschämt gut bezahlt und macht es deshalb gründlich. Außerdem hat er Schiss, sich als mein Haupttrainer zu blamieren, sollte meine Leistung abfallen. Ich bin nicht der Einzige, der hier einen Ruf zu verlieren hat.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, weicht die harte Miene einem resignierten Ausdruck. „Was ist los? Stress daheim?“
Ich rolle mit den Augen.
„Mehr Stress als sonst?“, präzisiert er und erhält ein Schnauben als Antwort. „Soll ich mit deinen Eltern –“
„Boah, nein!“, fahre ich dazwischen, obwohl mir klar ist, dass es kein ernst gemeintes Angebot war.
Er schlägt es aus Solidarität und Mitleid vor, weiß aber erstens, dass ich sowieso ablehne, und zweitens, dass es schiefgehen würde. Meine Alten lassen sich von niemandem etwas sagen. Nicht von mir und schon gar nicht von ihm.
„Bei dir ist einiges los“, fährt Harry fort, der sich wohl denken kann, was seine Worte in mir auslösen. Immerhin kennen wir uns seit fünf Jahren und er hat mehr von meinen Höhen und Tiefen miterlebt als meine Eltern. „Aber das hier“, er fuchtelt mit dem Zeigefinger in Richtung Becken, „wird uns um die Ohren fliegen, wenn du es nicht schaffst, dich zusammenzureißen.“ Sein Ton wird eindringlich. „Du arbeitest so hart. Wirf das nicht weg für ein bisschen Schnaps und Weiber.“
Ich funkele ihn zornig an. Bullshit!, will ich ihn anschnauzen, halte jedoch die Klappe, weil es nichts bringt, ihn dafür zu bestrafen, dass ich mich scheiße fühle.
Ja, es war dumm, dass ich mir gestern nach dem Intermezzo mit Ruby noch zwei Joints von Ben habe drehen lassen und im Bierkasten versackt bin. Aber ich musste raus. Raus aus meinem Kopf, raus aus meinem Körper. Schnaps und Weiber, schön wär’s. Harry hat keine Ahnung, was hinter meiner Stirn passiert.
„In acht Monaten ist die Eignungsprüfung in Lenz.“
„Ich weiß“, brumme ich. Wie könnte ich es vergessen? Er erzählt es mir jeden Tag.
„Und wenn du dich nicht an den Plan hältst –“
„Ich weiß, Mann“, fauche ich erneut. „Dann versaue ich die Prüfung, bekomme kein Stipendium und keinen Studienplatz an der Sporthochschule und stehe nächstes Jahr nach dem Abi auf der Straße, weil ich ein fauler Sack ohne Zukunft bin. Danke, ich bin informiert.“
Er blinzelt verwirrt. „Das habe ich nicht gemeint.“
„Ach nein? Aber stimmt doch, oder?“ Shit, jetzt bin ich wütend. „Ich klär das, ja? Ich brauch deine Hilfe nicht und ich schmeiße nichts weg.“ Er öffnet den Mund, als wollte er noch etwas hinzufügen, aber ich lasse ihn nicht zu Wort kommen. „Kann ich jetzt gehen?“
Harry stöhnt so tief, dass ich förmlich höre, wie seine Seele den Körper verlässt, und nickt. „Geh dich ausnüchtern. Heute Abend erscheinst du hier fit und voll konzentriert. Wir holen alles nach, was wir nicht geschafft haben, klar?“
„Klar, Chef.“ Ich salutiere und mache mich vom Acker.
Kein Blick zurück, kein Zögern, Harry kennt das. Wahrscheinlich verdreht er die Augen.
Binnen drei Minuten bin ich notdürftig abgetrocknet, habe mir meine Sachen übergestreift und schwinge mich auf den Sattel. Während ich die sieben Querstraßen heimwärts radele, braust mir der Fahrtwind durchs nasse Haar und kühlt die brodelnde Glut in meinen Adern.
Es ist nie klug, wütend nach Hause zu kommen. Vor allem nicht, wenn die Chance besteht, dass ich dort meinem Vater begegne. Sie ist klein, da wir uns auf den zweihundertfünfzig Quadratmetern unseres Hauses nur etwa einmal jedes Schaltjahr über den Weg laufen, aber sie liegt nicht bei null.
Wie kommt Harry überhaupt auf die bescheuerte Idee, ich könnte das Schwimmen wegwerfen? Allein der Gedanke ist lächerlich – dieser Sport ist mein Leben. Ich liebe ihn und tue praktisch nichts anderes. Wenn ich nicht gerade in der Schule festsitze oder mit Ben und Tobi durch die Stadt ziehe, drehe ich Runden im Becken, lasse mir von Harry ein Ohr abkauen, von den Physiotherapeuten die Muskeln durchkneten und stemme Gewichte im Fitnessraum. Tag für Tag der gleiche Trott.
Vielleicht eher Hassliebe.
Zuhause angekommen schleudere ich mein Rad in die Einfahrt, drücke die Haustür auf und brülle „Bin wieder da!“ in den leeren Eingangsbereich. Leider kann ich die Tür nicht geräuschvoll hinter mir ins Schloss pfeffern, weil sich das massive Eichenholz nur millimeterweise bewegen lässt. „Hey, schön euch zu sehen. Danke der Nachfrage, mein Tag war kacke und eurer?“
Die Augen meines Vaters mustern mich irritiert vom zwei Meter hohen Ölgemälde herab, das an der Wand neben dem breiten Treppenaufgang hängt. Das Bild ist so alt wie ich – fast achtzehn –, sieht aber aus, als wäre es im vorletzten Jahrhundert gemalt worden. Der Maler wurde bestimmt angewiesen, Papa möglichst düster und grimmig darzustellen, damit man sich vor Ehrfurcht einnässt, sobald man unser Haus betritt. Er hat einen guten Job gemacht.
Mein alter Herr trägt dort eine harte Miene, graues Haar und den Ludo-hast-du-etwa-wieder-gekifft-Blick. Alternativ auch den Die-Schule-hat-zweimal-angerufen-Blick. Mit einer Extraportion Reiß-dich-zusammen und einer Prise Was-sollen-die-Leute-sagen. Heute passt der Blick besonders gut. Ich werde bereits für meine Fehler getadelt, ohne jemandem aus Fleisch und Blut begegnet zu sein.
Obwohl meine Begrüßung nicht erwidert wurde, ist das Kratzen und Winseln unüberhörbar, das von links durch den Korridor zu mir herüberschallt.
„Keine Panik“, murmele ich und sprinte los. „Bin gleich bei dir.“
Mit jedem Schritt über den spiegelglatten Parkettboden wird das Geräusch lauter und hektischer. Als ich die Küche erreiche, gesellt sich ein keuchendes Schnappen dazu. Zwei Meter trennen mich noch von der Glastür des Wintergartens, ein Meter, dann reiße ich sie auf und – werde überrollt von einer warmen Masse aus Hundespeck, braun-weißem Fell und Sabber.
Jack ist wie immer völlig aus dem Häuschen. Er balanciert auf den Hinterbeinen, die Vorderpfoten wuchtig gegen meine Brust gestemmt, und kläfft und kläfft und kläfft begeistert und ohrenbetäubend.
„Wer freut sich? Wer freut sich, dass er mich sieht?“ Ich greife seine Pfoten und imitiere ein Tänzchen, bevor ich ihn wieder absetze. Sein Schwanz rotiert wie ein Propeller kurz vor dem Abflug. „Du willst dringend wissen, was bei mir passiert ist, oder?“ Lächelnd nehme ich die Leine vom Haken. „Sitz.“
Er gehorcht. Zur Belohnung gibt es drei Kräcker und Streicheleinheiten unter dem Kinn. Bei der Gelegenheit klinke ich auch den Karabiner an seinem Halsband ein.
„Anscheinend hab ich die Erdkundeklausur doch bestanden. Die konnten mir die Schummel-Aktion nicht nachweisen. Ben hat’s erwischt, aber wer sein Handy nicht lautlos stellt, ist selbst schuld.“
Ich gebe Jack einen Klaps auf den fetten Hintern und scheuche ihn durch den Wintergarten, vorbei an den beiden Lesesesseln und zahllosen Blumentöpfen. Das Sofa mit den zerwühlten Decken, das im toten Winkel hinter der Tür zur Küche steht, war meine Idee. Wenn ich meinen Hund schon einsperren muss, soll er wenigstens einen gemütlichen Platz haben. Am liebsten würde ich ihn frei im Haus herumlaufen lassen, aber meine Mutter erlaubt ihm das nicht, während er allein ist. Was ständig der Fall ist.
Gemeinsam treten wir nach draußen auf die Terrasse. Zwei zusammengeklappte Liegen stehen hier, ein breiter Tisch und vier Stühle, die ich ab und zu mit Freunden belagere. Sehr zum Missfallen meiner Eltern, die fest davon überzeugt sind, ein Haus sei nur dann ein gutes Haus, wenn sich möglichst wenige Menschen darin aufhalten.
„Was es sonst noch Neues gibt?“ Jack und ich streifen an den Hecken entlang, die den Garten blickdicht einrahmen. „Wir haben einen neuen Deutschlehrer. Aufgesetzte, feige Sau durch und durch.“ Ich lege den Kopf zur Seite, als würde ich den Worten des Hundes lauschen, der soeben an die hellblauen Blütenstauden meiner Mutter pinkelt. „Was? Du findest, wir sollten dem Spacko ordentlich Feuer unterm Stock-im-Arsch machen? Du bist so gemein, Jack!“
Als der Kerl in unser Klassenzimmer stolperte wie ein Staubsaugervertreter, der sich in der Tür geirrt hat, habe ich nicht damit gerechnet, dass er so empfindlich auf meine Kommentare reagieren würde. Aber dann hat er mich angestarrt und angeblafft, als würde er nur darauf warten, dass ich noch eins draufsetze. Was ich natürlich getan habe. Und noch eins. Und noch eins. Und es hat sich verdammt gut angefühlt.
Nachdenklich wiege ich die Leine in der Hand. So ein bisschen Chaos tut diesem sauber geleckten Spießer doch gut. Genau, wie unserem Garten ein bisschen Hundepisse guttut, damit er nicht länger sauber und sterbenslangweilig schönist wie die Hintergrundkulisse einer Liebesromanze. Eine Liebesromanze, in der sehr viele Blumen in sehr ähnlichen Farben eine zentrale Rolle spielen und keine Hundehaufen vorkommen. Deshalb lasse ich Jack besonders lange und ausgiebig pinkeln.
Es gibt nur eine einzige Stelle im Garten, die nicht in die perfekte Kulisse passt. Das graue Gartentor lugt zwischen den Hecken hervor und verrät, was sich in Wahrheit unter dem ach so hübschen grünen Vorhang verbirgt: ein Zaun aus Stahl und Beton. Story of my life.
Nachdem ich den sechsstelligen Code auf dem Nummernfeld eingetippt habe, ertönt ein mechanisches Summen und das Tor lässt sich aufdrücken. Doch erst, als es zugefallen ist und ich die wild wuchernden Gräser auf der Wiese vor mir überblicke, kann ich wirklich frei atmen.
Marius
Der Abend könnte schön sein. Ellie hat nicht zu viel versprochen; ihr selbstgemachter Pizzateig schmeckt wie von Götterhand geknetet. Welche geheimen Zutaten sie auch untergemischt hat, sie entfalten ein regelrechtes Geschmacksfeuerwerk auf meiner Zunge. Ich kann nicht genug davon bekommen.
Zu viert sitzen wir in Ellies und Pauls gemütlichem Wohnzimmer, in dem kein Möbelstück zum anderen passt. Sogar der Tisch hat aus irgendeinem Grund nur drei Beine und wackelt jedes Mal gefährlich, wenn sich jemand zu schnell bewegt. Was ständig passiert, denn Ellie isst mit vollem Körpereinsatz.
Während sie mit beiden Händen zupackt, als könnten wir auf die Idee kommen, ihr das Pizzastück zu entreißen, operiert der schmächtige Paul penibel mit Gabel und Messer. Trotz der äußerlichen Unterschiede funktionieren sie wie ein gut geöltes Uhrwerk, das seit Jahren im selben Rhythmus tickt. Ab und zu schnappt er sich eine Jalapeño-Schote von ihrem Teller, sie legt ihren Käserand bei ihm ab.
Auf meiner Tischseite geht es ruhiger zu. Viktor ist beim dritten Stück, also scheint es ihm zu schmecken. Er hat zwar nicht sonderlich viel gesagt, seit wir hier sind, aber die Begrüßung der drei ist harmonisch verlaufen.
Dass ich schwul bin, weiß Ellie schon lange. Da ich sie vom ersten Augenblick an mochte, habe ich es ihr früh anvertraut und mittlerweile einiges über Viktor erzählt. Doch es ist etwas anderes, sich zum ersten Mal live und in Farbe gegenüberzustehen.
Glücklicherweise hat Viktor sich erfolgreich geschlagen, war nett und interessiert und hat sich sogar nach Ellies Schulfächern und Klassen erkundigt. Außerdem sieht er heute unverschämt gut aus. Ich liebe das moosgrüne Hemd, das seine ebenso grünen Augen zum Leuchten bringt. Er hat gelächelt, als ich ihm das vorhin gesagt habe.
Im Prinzip könnte alles nett sein. Trotzdem sitzt dieser ekelhafte Konjunktiv mit uns am Tisch, unsichtbar und doch für alle spürbar. Es ist … angespannt. Und ich bin mir sicher, die Anspannung kommt nicht von Ellie oder Paul, sondern von uns.
Nach unserem missglückten Chat am Mittag haben wir getan, als wäre nichts passiert. Haben uns an der Tür geküsst und im Auto über Belanglosigkeiten gesprochen. Vielleicht ist das unser Problem. Oder es liegt an seinem Ärger darüber, dass er hier mit mir und meinen Freunden hockt, statt im Pink Peach oberkörperfrei an einer Stange zu tanzen.
„Wie lange seid ihr eigentlich zusammen?“, ergreift Ellie das Wort und schiebt sich eine Tomatenscheibe in den Mund, die von ihrem Pizzastück auf den Teller gerutscht ist. Ihr Lächeln wirkt ein wenig gezwungen. Ich bin wohl nicht der Einzige, der die merkwürdigen Schwingungen empfangen hat.
Ich werfe Viktor einen schnellen Blick zu. „Ein halbes Jahr.“
„Oh, erster halber Jahrestag!“ Sie klatscht in die Hände. „Ist er schon vorbei oder kommt er noch? Und wie seid ihr euch begegnet? Ich glaube, ich habe nie gefragt.“
„Äh, kommt noch. Wir haben uns in einem Club kennengelernt. Ich stand an der Bar, Viktor hat getanzt.“
Und wie er da tanzte. Umgeben von unzähligen Körpern auf der Tanzfläche, aber kaum hatte ich ihn entdeckt, gab es für mich nur noch ihn. Mit seinem verschlingenden Charisma und den wilden Tattoos. Ich habe mir damals nichts mehr gewünscht, als dass dieser Mann auf mich zukommt und tut, wozu ich den Mut nicht hatte. Viktor ist mutig. Deshalb sitzen wir jetzt hier, Seite an Seite.
„Er hat mich auf einen Cocktail eingeladen.“ Und mich im Sturm erobert.
Das war zwei Monate vor meinem Referendariat und ich hätte mir nie träumen lassen, dass mein Leben sich so ändern würde. Nicht nur der anstrengende Alltag, auch das zwischen uns. Aber in Augenblicken wie diesem, wenn ich meinem Freund tief in die Augen sehe, seine Mundwinkel sich heben und Wärme meinen Magen flutet, bin ich mir sicher, dass kein Streit etwas bedeutet. Dass wir ein gutes Team sein können. Dass wir alles schaffen, wenn wir zusammenhalten. Wie Ellie und Paul.
„Geht ihr noch ab und zu aus?“, fragt Ellie.
„Nicht mehr so oft.“
„Jaaa, bei uns genauso. Für Partys bleibt nicht viel Zeit. Alles nicht so einfach im Ref, was?“
Als hätte sie ihm das passende Stichwort geliefert, verfinstert sich Viktors Miene und er lacht freudlos auf. „Alles nicht so einfach“, echot er.
Etwas in mir zieht sich zusammen. Shit, exakt ins Schwarze.
Ungeachtet des Stimmungsumschwungs plappert Ellie weiter: „Meine Fachleiterin in Geschichte hat direkt in der ersten Seminarsitzung gesagt, das Ref sei die beste Probe für eine Beziehung. Stressiger wird das Leben nicht mehr und wenn man danach noch zusammen ist, weiß man, dass man bis zum Tod zusammengehört.“
Was in aller Welt redet sie da?! Ich möchte ihr den Mund zuhalten. Erzähl ihm das nicht. Warum erzählst du ihm das?
„Aber das gehört wohl dazu. Mein Spargel kann sowieso nicht ohne mich.“ Sie wechselt einen halb verliebten, halb theatralisch übertriebenen Blick mit Paul.
„Als ob, Babe“, schnurrt Paul.
Bei unserem ersten Treffen dachte ich noch, das mit den Kosenamen sei ein Scherz, aber die beiden meinen es bitterernst. Spargelstängel und Schweinchen Babe. Es ist romantisch und grotesk zugleich. Das komplette Gegenteil zu meinem Freund, der solche Dinge hasst. Vermutlich würde ich jetzt lachen, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass mir der Boden unter den Füßen wegbricht.
„Hast du keinen Hunger mehr?“, frage ich Viktor, um irgendetwas zu sagen.
Auf seinem Teller liegt noch die Hälfte des dritten Stücks, doch er hat seit fünf Minuten nichts angerührt. „Nee.“
„Ich bin auch satt. War aber sehr lecker, Ellie. Du musst mir unbedingt das Rezept für den Teig geben. Wir kaufen ihn sonst immer fertig aus dem Supermarkt, aber das ist kein Vergleich zu deiner Pizza.“ Fuck. Vor lauter Nervosität fange ich an zu schwafeln.
„Freut mich, dass es euch geschmeckt hat.“ Ellie stapelt unsere Teller aufeinander. Vom knallgelben Suppenteller bis zur eckigen Platte in dunkelblau sind jede Form und Farbe dabei. „Wollt ihr noch was trinken? Cola? Fanta? Sekt? Wein? Met?“
„Met?“
„Honigwein. Frisch vom letzten Mittelaltermarkt in Maien.“ Mein fragender Gesichtsausdruck lässt sie nach Luft schnappen. „Sag nicht, den habt ihr verpasst!“ Rasch nimmt sie ihr Handy. „Moment, das muss ich euch zeigen. Wir haben toll ausgesehen.“
„Ellie und Paul verkleiden sich gern“, erkläre ich Viktor, während sie energisch durch ihre Fotogalerie scrollt.
„Nicht verkleiden.“ Ellies Ton ist tadelnd. „Das ist unsere Gewandung. Was glaubst du, was die Sachen kosten? Das ist nicht nur ein Hobby.“ Aus ihrem Mund klingt das Wort nach einer Beleidigung.
„Funktioniert das überhaupt mit den blauen Haaren? Damit hätte man dich im Mittelalter doch direkt als Hexe abgestempelt.“
Sie verdreht die Augen, grinst aber breit. „Du hast meine Perückensammlung noch nicht gesehen. Obwohl ich mir ein Leben als Hexe auch gut vorstellen kann, solange mich niemand verbrennt. Oder was meinst du, Spargel?“
Paul nickt und zuckt mit den Schultern gleichzeitig. „Hexe passt.“
Es scheint ein Kompliment zu sein, denn Ellie wirkt zufrieden.
Sie schiebt uns das Handy hin. „Das bin ich mit meiner letzten Kreation. Ich habe sie Die Schmiedin genannt.“
Im ersten Moment ist sie auf dem Bild nicht wiederzuerkennen. Ihre Brust ist umhüllt von einer Art lederner Schürze, darunter trägt sie ein weites Hemd mit Rüschen aus Spitze. In der einen Hand hält sie einen mächtigen Hammer, mit der anderen stützt sie sich lässig auf einen Amboss. Vom leuchtenden Blau auf ihrem Kopf ist nichts zu sehen, stattdessen wallt eine dunkle Mähne unter der braunen Kappe hervor.
„Wow.“ Ich hebe die Augenbrauen. „Nicht schlecht.“ An Paul gerichtet ergänze ich: „Und was warst du?“
„Er war mein Blasebalg“, grätscht Ellie dazwischen, bevor Paul antworten kann, und die beiden brechen in wildes Lachen aus.
Ich lache mit, sehe aber aus dem Augenwinkel, dass Viktor irritiert blinzelt.
„Nein, Scherz.“ Ellie wischt ein paar Fotos weiter. „Da ist er.“
Paul sieht ebenfalls passabel aus, wenn auch schlichter gewandet. Vermutlich soll er einen Knecht oder irgendetwas in die Richtung darstellen.
„Aber was ist jetzt? Wollt ihr Met?“
„Von mir aus können wir gern –“
„Ich bin ziemlich müde“, unterbricht mich Viktor.
Überrascht sehe ich ihn an, doch als er meinen Blick auf seine unnachgiebige Art erwidert, setzt sich mein Mund von allein in Bewegung. „Ja, stimmt. Ich bin auch erschöpft.“
Ellie runzelt die Stirn, verkneift sich allerdings ihren Kommentar.
„Alles okay?“, flüstert sie mir wenige Minuten später beim Abschied ins Ohr. „Ich hoffe, wir haben nichts Falsches gesagt.“
„Nein. Natürlich nicht.“ Lüge ich? Ich weiß es selbst nicht.
Die Rückfahrt verbringen Viktor und ich schweigend. Ich starre aus dem Fenster hinaus in die pechschwarze Nacht und umklammere die in Alufolie eingewickelten Pizzastücke, die Ellie mir in die Hand gedrückt hat.
Viktor ist kein Mann großer Worte, aber dass er gar nichts sagt, bis wir aus dem Auto gestiegen sind, ist ein eindeutiges Zeichen dafür, dass ihn etwas stört. Ich frage nicht nach, weil mir die Antwort vermutlich nicht gefallen wird.
Still steigen wir die Treppenstufen zu meiner Wohnung hinauf, treten ein und streifen uns die Schuhe von den Füßen. Als ich mich danach zur Küchenzeile umwende, die sich aus Platzgründen direkt gegenüber der Garderobe befindet, packt er mein Handgelenk und zieht mich zu sich.
„Lass mich nur schnell die Pizza in den –“
Sein Griff wird härter. „Kannst du später machen.“ Er nimmt mir die Alupackung aus der Hand und wirft sie achtlos auf die Abtropffläche der Spüle. „Willst du mich nicht lieber entschädigen?“
„Was? Wofür?“
„Wäre ein lustiger Abend gewesen im Peach.“
„Aber es war doch auch so ein schöner –“
„Come on, du weißt, was ich meine.“ Er schnaubt. Obwohl er zu mir hochsehen muss, weil ich ihn um mehr als zehn Zentimeter überrage, fühle ich mich plötzlich klein. „Reicht dir das ständige Gequatsche nicht auch irgendwann? Du machst den ganzen Tag nichts anderes in der Schule.“
„Ja, aber –“
„Marius …“
Mein Name klingt so drängend, so verlangend von seinen Lippen, dass ich ihm nachgebe und mich ins Zimmer Richtung Bett ziehen lasse.
Er hat ja recht. Auch das gehört zu einem schönen Abend.
Marius
Da sind sie wieder. Die leeren Gesichter meines neuen Deutsch-Grundkurses. Von den ursprünglich vierundzwanzig Exemplaren zähle ich heute nur siebzehn, als hätte sich ein Teil von ihnen nach unserem ersten Treffen gegen mich entschieden. Leider sind ausgerechnet diejenigen anwesend, auf die ich hätte verzichten können.
Während Jana – das Mädchen, das mir in der letzten Stunde bereitwillig seine Hilfe angeboten hat – diesmal nicht zu sehen ist, glänzen Ludo und seine Schergen mit unheilvoller Präsenz. Das Feixen, das mich aus der hintersten Reihe begrüßt, löst ein unangenehmes Ziehen in meiner Magengegend aus.
Natürlich habe ich mich nicht über ihn beschwert. Es wäre albern, direkt zum Oberstufenkoordinator zu dackeln, nur weil mich ein Schüler schräg anschaut und einen Stift wirft. Wenn ich mit solchen Lappalien nicht allein umgehen kann, habe ich im Lehrerjob nichts verloren. Das weiß Ludo wahrscheinlich auch.
Trotzdem habe ich zur Sicherheit möglichst viel über ihn in Erfahrung gebracht. Es kann nicht schaden, für das gewappnet zu sein, was mich hier erwartet. Von ihm und seinem Fußvolk. Anders lässt es sich nicht ausdrücken, denn in seinem Königreich hat Ludo van Peters das Sagen. Die Jungen tanzen nach seiner Pfeife, die Mädchen himmeln ihn an. Seine Eltern, ein bekanntes Regensfelder Anwaltspaar, verteidigen ihn mit Zähnen und Klauen vor allem, was seine große Sportkarriere gefährden könnte. Das ist offenbar das Einzige, was Ludo neben Spaß im Kopf hat: sein Schwimmtraining. Schule, Klausuren oder Hausaufgaben stehen hintan. Die Reaktionen der Lehrer, die ich nach ihm gefragt habe, waren kaum anders als die von Annemarie. Augenrollen, genervtes Schnauben und der dringende Rat, mir bloß nichts gefallen zu lassen.
Ich hatte also genau den richtigen Start mit ihm. Verdammt. Immerhin belässt er es für den Unterrichtsbeginn bei ein paar Grunzlauten, sodass ich ungehindert anfangen kann.
Nach einer kurzen Kontrolle aller mitgebrachten Taschenbücher sammele ich an der Tafel Erwartungen an Nathan der Weise. Passend zur Lektüre leite ich anschließend zum Thema Toleranz über, indem ich die Schülerinnen und Schüler auf bunten Papierstreifen notieren lasse, welche intoleranten Ansichten oder Aussagen ihnen im Alltag schon begegnet sind. Die Zettel pinnen sie an die Tafel, wodurch ein wildes Konglomerat an Beleidigungen entsteht. Wenn alles klappt, werden sie daraus am Ende ableiten können, was Toleranz für sie bedeutet.
Sich für diese Methode zu entscheiden, war ein Risiko, umso euphorischer bin ich, sobald ich realisiere, dass sie gelingt. Obwohl einige Bemerkungen an der Tafel landen, die hämisches Gelächter hätten auslösen können, bleibt der Kurs überraschend ruhig. Interessiert lauschen sie jedem, der seinen Punkt vorträgt.
Natürlich kommt irgendwann auch Intoleranz gegenüber Homosexualität zur Sprache und mein Herz klopft schneller, als der entsprechende Zettel aufgehängt wird. Fast intuitiv huscht meine Aufmerksamkeit in die letzte Reihe, um zu überprüfen, ob Ludo sich darüber lustig macht. Doch sogar er bleibt still. Sein Blick klebt förmlich am gelben Zettel an der Tafel, auf dem in großen Druckbuchstaben SCHWUCHTEL steht.
Ist es albern, dass mich mein Mut, dieses Thema vor ihnen anzusprechen, derart mit Endorphinen überschwemmt? In den jüngeren Klassenstufen bin ich vorsichtiger und gerade in meinem zweiten Fach Biologie will ich keine Grundsatzdiskussion lostreten. Aber nirgends fühlt sich ein Gespräch über Toleranz so richtig an wie in einem Oberstufenkurs in Deutsch, in dem die Jugendlichen alt genug sind, eigene und fremde Ansichten zu reflektieren. Und am Ende gelangen wir tatsächlich zu einem runden Fazit.
Die letzten zehn Minuten nutze ich für Organisatorisches, sammele Rückmeldebögen mit Elternunterschriften ein und verkünde die Hausaufgabe. Danach verlasse ich mit einem guten Gefühl den Raum. Vielleicht war es doch keine Fehlentscheidung. Vielleicht wird alles gut.
Im Lehrerzimmer lasse ich meine Unterlagen schwungvoll auf den Tisch fallen und hole mir eine Tasse Kaffee aus der überdimensionalen Kanne in der kleinen Küche. Von den zweiundsiebzig Leuten im Kollegium trinkt etwa die Hälfte Kaffee, daher ist die Maschine pausenlos im Einsatz.
Als ich zu meinem Platz zurückkomme, steht dort Annemarie und schaut auf etwas hinab.
„Ähm. Marius?“ Sie klingt pikiert.
„Ja?“
Mit der Tasse in der Hand trete ich neben sie und blicke, wohin ihr ausgestreckter Finger zeigt. Sofort setzt mein Herz einen Schlag aus. Hitze schießt mir in die Wangen, während ein Feuerschub durch meine Adern rauscht.
Hastig beuge ich mich nach vorn, ignoriere den heißen Kaffee, der über meine Hand schwappt, und schiebe die aufgefächerten Elternzettel wieder übereinander, um die Zeichnung vor Annemaries Augen zu verbergen. Ein leiser Fluch rutscht mir über die Lippen.
„Sicher, dass du mit den Zwölfern klarkommst?“ Ihre Skepsis ist unüberhörbar.
„Ja. Ja, natürlich. Das …“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll. „Das ist doch nur ein blöder Scherz.“
„Hm“, macht Annemarie und sieht auf die Stelle, an der eben noch die maßstabsgetreue Bleistiftskizze eines verdammt realistischen männlichen Genitals lag. „Ich meine nur. Zieh früh genug die Zügel an, sonst musst du dich alle drei Tage mit so einem Unfug herumschlagen.“
Ludo
Eigentlich ist es schade, dass meine Zeichenkünste nur von Ben und Radik gewürdigt wurden, die im Deutsch-Kurs neben mir sitzen und vor Lachen fast von den Stühlen gefallen sind. Dabei ist der Schwanz wirklich hübsch geworden. Ein echtes Prachtexemplar mit einer prallen Eichel und dicken Venen.
Normalerweise verkneife ich mir alles, was als Hinweis auf meine sexuelle Orientierung verstanden werden kann, aber in dem Fall musste ich einfach eine Ausnahme machen. Und ich würde zu gern Herrn Millers Gesicht sehen, wenn er das mächtige Ding in seinen Unterlagen entdeckt. Falls er es entdeckt.
Die Vorstellung, dass er die Blätter vorher jemand anderem gibt, ist auch nicht schlecht. Dann fällt der Monsterschwanz erst dem nächsten unnötigen Lehrer beim unnötigen Einordnen der unnötigen Zettel in einen unnötigen Ordner auf. Bestimmt sprechen Lehrer über sowas. Was für ein geniales Gespräch wird das sein?
Hören Sie mal, ich habe Ihren Penis gefunden. Der muss versehentlich bei mir reingerutscht sein.
Unglaublich, dass Deutschunterricht so witzig sein kann. Dagegen war das gesamte letzte Schuljahr mit Frau Barkel grenzenlos öde. Monotone Stimme, zeitlupenartige Bewegungen, nervtötendes Lispeln. Sie hat jeden meiner Zwischenkommentare entweder ignoriert oder vor lauter Schwerhörigkeit nichts mitbekommen, was mir irgendwann den Spaß verdorben hat.
Herr Miller ignoriert mich nicht. Im Gegenteil. Er lässt sich so schön aus der Fassung bringen, dass mich die Überlegung, wie ich ihn als Nächstes reizen kann, sofort in Hochstimmung versetzt. Mir ist wohl wirklich, wirklich langweilig.
Wenn er derart bescheuerte Aktionen wie das mit den Zetteln bringt, ist mein Drang danach besonders stark. Wie hat er es zulassen können, dass jemand Schwuchtel an die Tafel pinnt? Und wer – verdammt nochmal – hat das Wort überhaupt aufgeschrieben?
Immer und immer wieder spielt sich der Moment in meinem Kopf ab. Das Tuscheln um mich herum, das leise Kotzgeräusch von Radik. All das war plötzlich unfassbar laut. Auf jeden Mucks habe ich gelauscht. Wer hat da eben gekichert? Hat Ben abfällig geschnaubt? Was denkt er darüber? Findet mein bester Freund Schwule auch eklig? Oder sind sie ihm egal und er hätte kein Problem, mit jemandem befreundet zu sein, der vielleicht …
Ich schlucke.
Scheiß-Miller. Während ich Blut und Wasser geschwitzt habe, stand er da vorn am Pult und hat gegrinst wie ein Spinner. Fand er das etwa lustig? Geschieht ihm recht, dass er passend zum Thema ein kleines Souvenir von mir bekommen hat. Das sorgt für Abwechslung in seinem beschissenen Spießerleben.