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Freundschaft gilt vielfach als Motor und Movens frühchristlicher Gemeinschaftsbildung. Auch die Beziehung zwischen Jesus und seinen Schülern wird häufig, insbesondere in religionspädagogischen und liturgischen Kontexten, als Freundschaft gedeutet. Dabei werden nicht selten moderne Konzepte der Freundschaft an die Texte des Neuen Testaments herangetragen. Allerdings stellt eine breit angelegte Untersuchung freundschaftsbezogener Diskurse, Konzepte und Praktiken in den Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments, auch vor dem Hintergrund des relational turn, ein Desiderat der neutestamentlichen Forschung dar. Der vorliegende Band füllt nun diese Lücke und untersucht Konzepte und Praktiken der Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments aus unterschiedlichen fachlichen und methodischen Perspektiven. Die Beiträge verknüpfen dabei die neutestamentlichen Texte mit aktuellen Freundschaftsdiskursen in Universität, Kirche und Gesellschaft.
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Seitenzahl: 354
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Dominic Blauth / Michael Rydryck / Michael Schneider
Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments
Eine Festschrift für Stefan Alkier zum 60. Geburtstag
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
ISSN1862-2666
© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-7720-8734-9 (Print)
ISBN 978-3-7720-0144-4 (ePub)
Stefan Alkier
in Freundschaft
zum 60. Geburtstag
Zum 30. Band der Reihe NET
Der hiermit vorliegende 30. Band von NET gibt – 20 Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes – Gelegenheit zum Rückblick und Ausblick.
Die NET-Reihe wurde im Jahre 2001 durch François Vouga (Bethel), Oda Wischmeyer (Erlangen) und Hanna Zapp (Darmstadt) begründet. Im Jahr 2004 kam Friedrich Wilhelm Horn (Mainz) in den Herausgeberkreis hinzu, im Jahr 2010 traten Jens Herzer (Leipzig) und Eve-Marie Becker (damals Aarhus) an die Stelle von François Vouga in den Herausgeberkreis ein. Von Band 21 bis 27 war Kathy Ehrensperger (damals Basel) Mitherausgeberin von NET. Bei dem hier vorliegenden Band 30 erfolgt ein erster Generationswechsel: An die Stelle von Oda Wischmeyer, Hanna Zapp und Friedrich Wilhelm Horn treten Angela Standhartinger (Marburg) und Florian Wilk (Göttingen) in den Herausgeberkreis ein.
Im ersten Band („Was ist ein Text?“, hg. v. Oda Wischmeyer/Eve-Marie Becker, 2001) wurde das Profil der Reihe durch deren Herausgeber und Herausgeberinnen seinerzeit u.a. wie folgt beschrieben (S. V):
„Wir Herausgeberinnen und Herausgeber denken, dass das Neue Testament für das Gespräch über die Bedeutung des Christentums in der Gesellschaft, über die zukünftigen Aufgaben der Kirchen und über die ethische Verantwortung in der europäischen Kultur auch in Zukunft von unbedingter Wichtigkeit ist. […] Wir sind der Meinung, wissenschaftliche Exegese sei eine theologische Kunst, wesentliche Aussagen neutestamentlicher Texte und Themen mit gegenwärtigen Fragen des Glaubens und Lebens ins Gespräch zu bringen.“
Diesem Anspruch blieb NET in verschiedener Hinsicht verbunden: Neben der Veröffentlichung exegetischer Spezialmonographien und Aufsatzsammlungen sowie grundlegender Arbeiten zur neutestamentlichen Hermeneutik (zur Übersicht über die Einzeltitel s. die Verlagshomepage) hat die NET-Reihe regelmäßig auch den Brückenschlag zur Vermittlung neutestamentlicher Wissenschaft in die kirchliche, schulische und allgemein-gesellschaftliche Öffentlichkeit unternommen. Zu der Veröffentlichung deutschsprachiger Forschung trat ab 2018 (Band 28) auch die anglo-amerikanische Perspektive hinzu.
Der hiermit vorliegende 30. Band nimmt mit dem Titel „Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments“ wichtige Grundfragen auf, die die NET-Reihe seit ihrer Gründung motivierten. Zukünftige Veröffentlichungen werden u.a. noch einmal verstärkt die globale Bedeutung neutestamentlicher Exegese bedenken.
Als gegenwärtige Reihenherausgeberinnen und -herausgeber freuen wir uns, dass NET 30 als eine Festschrift für Stefan Alkier (Frankfurt) erscheint, einen mehrfachen Autor der NET-Reihe, und mit dem Thema „Freundschaft“ – einem wesentlichen Motor frühchristlicher Gruppen- und Gemeindebildung – kulturwissenschaftliche Fragen zur Erforschung der antiken Welt mit theologischer Exegese verbindet.
Zugleich möchten wir anlässlich des runden Geburtstags – 20 Jahre NET und 30 Bände – vielfachen Dank aussprechen: Wir danken den Gründungsvätern und -müttern der NET-Reihe, auf deren Schultern wir gewissermaßen stehen; wir danken allen Beiträgerinnen und Beiträgern zur NET-Reihe in 20 Jahren, die NET konkrete Gesichter verliehen haben; und wir danken dem Francke Verlag (Tübingen/Basel) für die stets vertrauensvolle und produktive Zusammenarbeit.
Eve-Marie Becker, Jens Herzer, Angela Standhartinger, Florian Wilk
Münster, Leipzig, Marburg, Göttingen im März 2021
Vorwort der Herausgeber
Spannungen und Konflikte, Feindschaften und Antagonismen prägen Texte und Kontexte des Neuen Testaments. Mit den Konstellationen und Modalitäten dieser Gegensatzbeziehungen hat sich Stefan Alkier in den Jahrzehnten seines akademischen Wirkens in Forschung und Lehre intensiv auseinandergesetzt. Beginnend mit seiner Dissertation beschäftigten ihn differente und diverse, aber auch dialogische Konstellationen sowie deren produktive wie destruktive Implikationen in Literaturwissenschaft, Semiotik und Kirchengeschichte, in der neutestamentlichen Wissenschaft und der kirchlichen Praxis. Kurzum: Stefan Alkier ist mit seiner wissenschaftlichen Haltung und Praxis stets für eine relevante Theologie in Universität, Schule, Kirche und Gesellschaft eingetreten.
Was liegt also näher, als der Spannung die Symmetrie, dem Konflikt die reziproke Übereinstimmung, der Feindschaft die Freundschaft an die Seite zu stellen und genau diesen Fragestellungen einen Sammelband zu widmen? Wir freuen uns, dass im vorliegenden Band nunmehr sechs ganz unterschiedliche und zugleich dialogische Perspektiven auf das Thema Freundschaft eröffnet werden: Kristina Dronsch entfaltet das Thema der Gottesfreundschaft im Lukasevangelium und nimmt dabei die Figur des Theophilus in den Blick. Sylvia Usener fragt nach dem Idealbild des Freundes in der griechischen Tragödie und blickt aus dieser Perspektive auf die neutestamentlichen Texte. Tobias Nicklas beleuchtet die besondere Freundschaft zwischen Pilatus und Herodes Antipas im Lukasevangelium und der Rezeptionsgeschichte. Thomas Paulsen fragt nach der Bedeutung von Freundschaft in der Philosophie Epikurs. Der Beitrag von Werner Kahl betrachtet die Freundschaftsthematik ausgehend von Lukas 11 und seinen Parallelen. Eckart Reinmuth thematisiert im abschließenden Aufsatz Zumutungen der Freundschaft und das Recht der Freundschaft. Die drei Herausgeber führen mit ihren Beiträgen auf unterschiedliche Weise in die Konzepte, Praktiken und Konstellationen von Freundschaft in den Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments ein.
Der hier vorgelegte Sammelband erscheint im Kontext des vom LOEWE-Programm des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst geförderten Forschungsschwerpunkts „Religiöse Positionierung. Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten“ an der Goethe-Universität Frankfurt und der Justus-Liebig-Universität Gießen. Dem Center Religionsforschung und Theologie (RuTh) der Goethe Research Academy For Early Career Researchers (GRADE) und dem Fachbereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität danken wir herzlich für die Unterstützung der Arbeit an diesem Band.
Wir danken den Herausgeberinnen und Herausgebern der Neutestamentlichen Entwürfe zur Theologie (NET) für die Aufnahme in die Reihe als doppelter Jubiläumsband im zwanzigsten Jahr des Bestehens und als dreißigster Beitrag zur Reihe. Unser besonderer Dank gilt Kristina Dronsch, Valeska Lembke und Corina Popp vom Verlag Narr Francke Attempto. Unserer langjährigen Weggefährtin Kristina Dronsch verdanken wir auch die Anregung für das Thema dieses Bandes. Zu Dank verpflichtet sind wir darüber hinaus Ricarda Bosse und Simon Dittmann für ihre Unterstützung bei den Korrekturarbeiten.
Der 60. Geburtstag und die wissenschaftliche Arbeit von Stefan Alkier haben den Anlass zu diesem Sammelband gegeben sowie die Auswahl der Thematik und der Beitragenden bestimmt. Ihm sei dieses Buch gewidmet.
Dominic Blauth, Michael Rydryck, Michael Schneider
Frankfurt am Main im März 2021
Aspekte des Freundschaftsdiskurses im Neuen Testament
Social Media, insbesondere Facebook, hat in der Gegenwartskultur zu einer Inflation der Freundschaften geführt.1 Die meisten Profile verzeichnen hunderte oder sogar mehr als tausend Freunde. Viele Freundschaften verweisen auf eine tatsächliche natürliche Person oder sogar eine ‚Person des Öffentlichen Lebens‘ hinter dem Account. Ein Konto mit sehr wenigen Freunden wird dagegen schnell als Fake Account entlarvt, der eine Freundschaft lediglich für bestimmte Zwecke – Veröffentlichung mehr oder weniger wirrer politischer Botschaften und Kommentare, Ausspähen anderer oder gar Verbreiten von Schadsoftware – missbraucht. Die große Zahl veranlasst Facebook wiederum zu einer Differenzierung, Strukturierung und Klassifizierung innerhalb der Freundschaften: Ich soll markieren, welche Freunde zur Familie gehören und welche Freunde der Kategorie ‚Enge Freunde‘ zuzurechnen sind. Diesen besonderen Freunden kann ich auch besondere Rechte zuweisen; ich kann entscheiden, welche Informationen welche Gruppe von Freunden sehen kann. Und verschiedene Algorithmen helfen mir dabei, neue Freunde zu finden – über möglichst viele Gemeinsamkeiten, den gleichen Wohn- oder Geburtsort, den gleichen Arbeitgeber oder die Zugehörigkeit zu den identischen Gruppen. Und natürlich bieten sich solche Personen als Freunde an, mit denen ich möglichst viele gemeinsame Freunde habe, also Freunde von Freunden. Und auch für den Prozess des Anfreundens hält das System bestimmte Mechanismen bereit und prägt seine ganz eigenen Neologismen wie ‚Freundschaftsanfrage‘ oder ‚Freundschaftsvorschlag‘. Und schließlich gibt es unterschiedliche Bewertungen dieser Freundschaften: Sind solche Facebook-Freunde überhaupt ‚richtige Freunde‘, ist eine Social Media-Freundschaft eine ‚echte Freundschaft‘? Hat sich im Vergleich zur Brieffreundschaft lediglich das Medium geändert oder setzt eine ‚echte Freundschaft‘ wie auch immer gearteten persönlichen Kontakt im ‚echten Leben‘ voraus?2 Die Pandemie-Situation im Jahr 2020 hat diese Fragen noch einmal zugespitzt: Welche Beziehungsebenen des analogen Lebens (Arbeit, Unterricht, Freizeit, Freundschaft) lassen sich überhaupt in die digitale Welt verlagern? Funktioniert diese Verlagerung ‚verlustfrei‘ oder verändern sich Arbeit, Unterricht, Freizeit und eben auch Freundschaft dadurch?
Diese kurzen assoziativen Überlegungen ließen sich noch einmal vertiefen, indem man auf verschiedene Social Media-Dienste und deren jeweiliges System von Beziehungen schaut. Einige führen den Freundesbegriff direkt im Namen (wie z.B. Stayfriends), andere, wie die insbesondere bei Jugendlichen3 noch beliebtere Plattform Instagram sprechen statt von ‚Freunden‘ und ‚Freundschaft‘ von ‚Follower‘ und ‚Folgen‘. Wenn ich als Theologe von ‚Freundschaft‘ oder ‚Nachfolge‘ spreche, und auch wenn ich als Neutestamentler über die Semantik von φιλία oder ἀκολουθέω nachdenke, stehen diese enzyklopädischen Aspekte der Gegenwart im Hintergrund. Auch ohne dass Facebook einen Entwurf von Freundschaft offenlegt oder gar philosophisch diskutiert, lassen sich relativ schnell einige Merkmale des zugrundeliegenden Freundschaftskonzepts zusammenstellen. Zugleich zeigt sich, dass diese implizite Konzeption von Freundschaft einigermaßen typisch für unser gegenwärtiges Alltagsverständnis von Freundschaft insgesamt ist.
Ein solches Alltagsverständnis von Freundschaft lässt sich im Anschluss an Svenja Wiertz in fünf wesentlichen Aspekten umreißen.4 Zunächst einmal bezeichnen wir mit Freundschaft grundlegend ein gegenseitiges, reziprokes und in gewissem Sinne auch symmetrisches Verhältnis. Schon sprachlich ist offensichtlich, dass ‚befreundet sein‘ das gegenseitige Verhältnis von wenigstens zwei Personen bezeichnet. Ohne dass ein Gegenüber benannt (‚Ich bin befreundet.‘) ist, kann das Verb nicht sinnvoll gebraucht werden. Am Beispiel Facebook ist dieser Aspekt unmittelbar evident: Freundschaften bilden sich jeweils in zwei Freundeslisten ab – mein Freund hat für mich denselben Status wie ich für den Freund. Etwas umstrittener als die Gegenseitigkeit und die Reziprozität ist die Notwendigkeit einer Symmetrie innerhalb eines freundschaftlichen Verhältnisses. Wenn in der Alltagssprache auch die Begriffe Tierfreund oder Kunstfreund vorkommen, so ist unklar, ob damit eine reziproke Freundschaft gemeint sein kann. Problematisch ist dabei die Frage, ob ein Tier oder ein Kunstwerk eben auch umgekehrt den Tierfreund oder den Kunstfreund freundschaftlich zugewandt sein kann, die Beziehung also als symmetrisch und reziprok bezeichnet werden kann. Im theologischen Kontext stellt sich die Frage nach der Symmetrie insbesondere beim Topos der Gottesfreundschaft. Lässt sich in diesem Sinne von Freundschaft zwischen Gott und Mensch sprechen, ohne dass dies notwendigerweise zur Vermenschlichung Gottes bzw. der Aufhebung einer kategorialen Unterscheidung führt?
Zweitens beschreibt Freundschaft eine Beziehung, die prinzipiell positiv besetzt ist und auf Zuneigung basiert. Demgegenüber etabliert das Konzept der Feindschaft zwar auch eine Beziehung,5 die aber gerade auf einem Gegensatz bzw. auf Abneigung fußt. Sodann setzt Freundschaft eine Form der Vertrautheit, wenigstens aber die gegenseitige Kenntnis voraus; mit dem gänzlich Fremden und Unbekannten kann ich nicht befreundet sein.6 Gerade in der Gegenwart wird Freundschaft von anderen Verbindungen, etwa denen innerhalb der Familie, dadurch abgegrenzt, dass hier (vermeintlich) eine freiwillig gewählte Beziehung vorliegt – „Freunde kann man sich aussuchen“. Und schließlich geht es beim Phänomen der Freundschaft um eine Beziehung auf persönlicher Ebene. Es handelt sich also um „Beziehungen, die Personen untereinander als genau diese und nur diese Personen haben: nicht aufgrund bestimmter Rollen, die sie erfüllen.“ 7
Im Anschluss an diese alltagssprachlichen Beobachtungen schlägt Wiertz vor, den Begriff der Freundschaft in der Gegenwart nach Bindungsstil (eher vorläufig/eher verbindlich) und Praxisausrichtung (Spaß/Kommunikation/Nutzen) zu differenzieren. Im weiteren Verlauf ihrer Studie skizziert sie sodann drei stereotype Freundschaftsformen der „komplexen Spaßfreundschaft“, der „kommunikationsorientierten Anerkennungsbeziehung“ und der „quasi-familiären Beistandsgemeinschaft“8.
Das Beispiel aus dem Bereich Social Media sowie der kurze Blick auf einen Alltagsbegriff von Freundschaft sollen genügen, um den enzyklopädischen Rahmen abzustecken, der auch für eine gegenwärtige Lektüre biblischer Texte gilt.1 Bleibt dieses gegenwärtige Verständnis von Freundschaft bei der theologischen Betrachtung von Freundschaft in den biblischen Texten unberücksichtigt, werden diese zu historischen Dokumenten einer längst vergangenen Zeit.2 Natürlich sind die biblischen Texte aber in einem bestimmten zeitlichen und kulturellen Kontext entstanden und erhalten durch die dort wirkmächtigen Texte einen bestimmten intertextuellen Deutungsraum.
Der relativ umfangreiche Freundschaftsdiskurs im antiken Griechenland wurde geprägt von den philosophischen Überlegungen des Aristoteles. Umfangreiche Diskussionen zur φιλία finden sich insbesondere in der Nikomachischen Ethik, wo er Freundschaft als „Wohlwollen, das auf Gegenseitigkeit beruht / εὔνοιαν γὰρ ἐν ἀντιπεπονθόσι“ (1155b) bezeichnet. Auf den immer wieder zur Bestimmung des aristotelischen Freundschaftsbegriffs herangezogenen Abschnitt 1168b sei auch hier verwiesen:
οἷς ὁ φίλος ὁρίζεται: εἴρηται γὰρ ὅτι ἀπ᾽ αὐτοῦ πάντα τὰ φιλικὰ καὶ πρὸς τοὺς ἄλλους διήκει. καὶ αἱ παροιμίαι δὲ πᾶσαι ὁμογνωμονοῦσιν, οἷον τὸ μία ψυχὴ καὶ κοινὰ τὰ φίλων καὶ ἰσότης φιλότης3
Für Aristoteles sind die hier genannten drei Aspekte von Freundschaft Allgemeingut, das sich bereits in festen Redewendungen bzw. Sprichwörtern (παροιμίαι) wiederfindet:
Freunde sind „ein Herz und eine Seele“ (μία ψυχή),
Freunde teilen gemeinsamen Besitz (κοινὰ τὰ φίλων) und
Freundschaft drückt sich durch Gleichheit (ỉσότης φιλότης) aus.
Während verschiedene Arbeiten, die die aristotelische Bestimmung des Freundschaftsbegriffs für die Auslegung biblischer Texte heranziehen, auf diese Eigenschaften von Freundschaft verweisen, bleibt der Kontext von Abschnitt 1168a/b häufig unbeachtet. Aristoteles nimmt nämlich die φιλία hier unter einer ganz bestimmten Leitfrage in den Blick:
ἀπορεῖται δὲ καὶ πότερον δεῖ φιλεῖν ἑαυτὸν μάλιστα ἢ ἄλλον τινά.
Es geht zunächst also einmal um eine Klärung, inwieweit sich φιλία auf die eigene Person erstrecken kann und wie dann das Verhältnis dieser Selbst-Freundschaft zur Freundschaft mit anderen bestimmt ist. Deshalb fügt Aristoteles den drei Redewendungen eine weitere hinzu (καὶ γόνυ κνήμης ἔγγιον·) und schreibt resümierend:
πάντα γὰρ ταῦτα πρὸς αὑτὸν μάλιστ' ἂν ὑπάρχοι· μάλιστα γὰρ φίλος αὑτῷ· καὶ φιλητέον δὴ μάλισθ' ἑαυτόν.
Somit ist der Einzelne nach Aristoteles sich selbst am meisten Freund (μάλιστα γὰρ φίλος αὑτῷ) und muss sich daher selbst am meisten lieben (φιλητέον μάλισθ' ἑαυτόν). Dieser grundlegende Gedanke ist bereits zu Beginn des Abschnitts 1166a angelegt:
τὰ φιλικὰ δὲ τὰ πρὸς τοὺς πέλας, καὶ οἷς αἱ φιλίαι ὁρίζονται, ἔοικεν ἐκ τῶν πρὸς ἑαυτὸν ἐληλυθέναι. τιθέασι γὰρ φίλον τὸν βουλόμενον καὶ πράττοντα τἀγαθὰ ἢ τὰ φαινόμενα ἐκείνου ἕνεκα, ἢ τὸν βουλόμενον εἶναι καὶ ζῆν τὸν φίλον αὐτοῦ χάριν· ὅπερ αἱ μητέρες πρὸς τὰ τέκνα πεπόνθασι, καὶ τῶν φίλων οἱ προσκεκρουκότες.
Das freundschaftliche Verhalten zu den Menschen, die uns nahestehen, und das, was für die Arten der Freundschaft bestimmend ist, scheint sich aus dem Verhalten zu uns selbst zu ergeben. Denn als Freund gilt, wer das Gute oder was ihm als solches erscheint, um des anderen willen wünscht und tut, oder wer um des Freundes willen wünscht, dass es diesen gibt und dieser lebt. So geht es Müttern mit ihren Kindern und Freunden, die sich zerstritten haben.
[…]
τούτων δέ τινι καὶ τὴν φιλίαν ὁρίζονται. πρὸς ἑαυτὸν δὲ τούτων ἕκαστον τῷ ἐπιεικεῖ ὑπάρχει
Durch eines dieser Merkmale bestimmt man auch die Freundschaft. Jedes davon findet sich beim Guten in Bezug auf sich selbst.
Genauso wie unser Verhalten im Verhältnis zu uns selbst nach dem Guten strebt,4 sieht Aristoteles also Freundschaft als Grundlage für das Handeln für andere. Umgekehrt ist das persönliche Glück auch abhängig vom Schicksal der Freunde.
Für das Verständnis der aristotelischen Freundschaftskonzeption, und damit auch einer enzyklopädischen Voraussetzung von Leserinnen und Lesern der neutestamentlichen Schriften im 1.Jahrhundert, lohnt sich ein weiterer Blick in Buch 8 und 9 der Nikomachischen Ethik. In dem auf den eben zitierten Textabschnitt folgenden (1169a) wird noch offensichtlicher, dass Freundschaft hier als Topos einer nach dem Guten strebenden Tugendethik verstanden wird:
Der Gute soll sich selbst lieben (τὸν μὲν ἀγαθὸν δεῖ φίλαυτον εἶναι).
Für den Schlechten besteht ein Zwiespalt zwischen dem, was er tun soll und dem, was er tatsächlich tut (τῷ μοχθηρῷ μὲν οὖν διαφωνεῖ ἃ δεῖ πράττειν καὶ ἃ πράττει·), während für den Guten Tun und Sollen zusammenfällt (ὁ δ' ἐπιεικής, ἃ δεῖ, ταῦτα καὶ πράττει·).
Die Vernunft eines jeden Menschen wählt das für sie Beste (πᾶς γὰρ νοῦς αἱρεῖται τὸ βέλτιστον ἑαυτῷ) und der Gute gehorcht eben dieser Vernunft (ὁ δ' ἐπιεικὴς πειθαρχεῖ τῷ νῷ.).
Der gute Mensch tut vieles für die Freunde und das Vaterland (καὶ τὸ τῶν φίλων ἕνεκα πολλὰ πράττειν καὶ τῆς πατρίδος) bis hin zur Inkaufnahme des eigenen Todes (κἂν δέῃ ὑπεραποθνήσκειν·).
Obwohl es für Aristoteles im Allgemeinen erstrebenswert scheint, Freundschaften aufzubauen und zu pflegen, bleibt für ihn zunächst offene Frage, ob glückliche bzw. selige und autarke Menschen der Freundschaft bedürfen:
ἀμφισβητεῖται δὲ καὶ περὶ τὸν εὐδαίμονα, εἰ δεήσεται φίλων ἢ μή. οὐθὲν γάρ φασι δεῖν φίλων τοῖς μακαρίοις καὶ αὐτάρκεσιν· ὑπάρχειν γὰρ αὐτοῖς τἀγαθά· αὐτάρκεις οὖν ὄντας οὐδενὸς προσδεῖσθαι, τὸν δὲ φίλον, ἕτερον αὐτὸν ὄντα, πορίζειν ἃ δι' αὑτοῦ ἀδυνατεῖ· ὅθεν ὅταν ὁ δαίμων εὖ διδῷ, τί δεῖ φίλων;
Eine Streitfrage ist es auch, ob der Glückliche Freunde braucht oder nicht. Man sagt nämlich, dass die glückseligen und autarken Menschen keiner Freunde bedürften, da sie ja schon alle Güter hätten; weil sie also autark wären, bräuchten sie zusätzlich nichts mehr, der Freund aber, der ein anderes Ich sei, verschaffe einem, was man von sich aus nicht erreichen kann. Daher auch das Sprichwort: ‚Wenn die Gottheit Gutes gibt, was bedarf es der Freunde?‘
Gleichzeitig möchte Aristoteles auch den Glückseligen das Glück der Freundschaft nicht vorenthalten:
ἔοικε δ' ἀτόπῳ τὸ πάντ' ἀπονέμοντας τἀγαθὰ τῷ εὐδαίμονι φίλους μὴ ἀποδιδόναι, ὃ δοκεῖ τῶν ἐκτὸς ἀγαθῶν μέγιστον εἶναι.
Andererseits erscheint es unlogisch, dass man dem Glücklichen, wenn man ihm schon an allen Gütern Anteil gibt, Freunde vorenthält, was doch als das größte unter den äußeren Gütern gilt.
Neben dieser grundlegenden Bestimmung von Freundschaft bietet die Nikomachische Ethik (jeweils in Abschnitt 1156a) unterschiedliche Differenzierungen der φιλία. Neben der tugendhaften Freundschaft, die auf das Gute zielt und somit als wahre φιλία bezeichnet werden kann, grenzt Aristoteles die Nutz- und die Lustfreundschaft ab:
οἱ μὲν οὖν διὰ τὸ χρήσιμον φιλοῦντες ἀλλήλους οὐ καθ' αὑτοὺς φιλοῦσιν, ἀλλ' ᾗ γίνεταί τι αὐτοῖς παρ' ἀλλήλων ἀγαθόν.
Diejenigen, die einander wegen des Nutzens lieben, lieben einander nicht als solche, sondern nur sofern ihnen Gutes vom anderen zuteilwird.
ὁμοίως δὲ καὶ οἱ δι' ἡδονήν· οὐ γὰρ τῷ ποιούς τινας εἶναι ἀγαπῶσι τοὺς εὐτραπέλους, ἀλλ' ὅτι ἡδεῖς αὑτοῖς.
Dasselbe gilt für jene, die wegen ihrer Lust lieben; denn sie lieben die Umgänglichen nicht wegen ihrer persönlichen Eigenschaften, sondern weil sie ihnen angenehm sind.
Explizit grenzt Aristoteles noch einmal diese Freundschaftsformen um der Lust bzw. des persönlichen Nutzens wegen von der tugendhaften Freundschaft ab. Diese kann als vollkommen gelten, da die Freunde am Guten teilhaben (1156b):
τελεία δ' ἐστὶν ἡ τῶν ἀγαθῶν φιλία καὶ κατ' ἀρετὴν ὁμοίων·
Vollkommen ist die Freundschaft zwischen Menschen, die gut sind und in ihrer Tugend einander gleichen.
Die wenigen Abschnitte aus der Nikomachischen Ethik ordnen den Freundschaftsdiskurs in eine Anthropologie ein, deren Ideale die großen Konzepte des Guten, des Vollkommenen, des Tugendhaften sind. Nicht umsonst betont der Text abschließend (Abschnitt 1177a), dass diese Ideale im Besonderen durch eine philosophische Existenz und weniger in anderen Lebensbereichen wie der Politik erreicht werden können.5 Insbesondere ist in der theoretischen bzw. philosophischen Existenz die o.g. Autarkie, die nicht mehr auf Freundschaft angewiesen ist, zu erreichen. Sieht man aber von dieser besonderen, nur von wenigen erreichten Lebensform ab, prägt Aristoteles die Vorstellung, dass Freundschaften gut und erstrebenswert sind und gibt in der φιλία zugleich ein Idealbild der zwischenmenschlichen Beziehung vor. Freundschaften sind idealerweise auf Dauer angelegt und dienen nicht in erster Linie dem persönlichen Nutzen oder der Lust, sondern der Tugendhaftigkeit. Freundschaften sind Ziel und zugleich Ausdruck eines Lebens in εὐδαιμονία. Freundschaft bezeichnet somit eine Haltung und ein bestimmtes Verhalten gegenüber den Anderen, aber auch gegenüber sich selbst.
Näher an der Entstehungszeit der neutestamentlichen Schriften ist Ciceros Laelius. De amicitia6 zu verorten. Dieser Text formuliert grundlegend thetisch in Abschnitt 20:
Est enim amicitia nihil aliud nisi omnium divinarum humanarumque rerum cum benivolentia et caritate consensio.
Es ist nämlich die Freundschaft nichts anderes als Übereinstimmung in allen göttlichen und menschlichen Dingen, verbunden mit Sympathie und Liebe.
Das Streben nach Gutem, nach Vollkommenem und die Vorstellung der Freundschaft als eine Form der Liebe wie bei Aristoteles tritt hier zugunsten eines weitgehenden consensio in nahezu allen vorstellbaren Lebensbereichen zurück. Allerdings schließt diese Übereinstimmung innerhalb des Freundschaftsverhältnisses nicht aus, dass differente Positionen kritisiert werden und auch der Freund selbst kritisiert werden kann.
Haec igitur prima lex amicitiae sanciatur, ut ab amicis honesta petamus, amicorum causa honesta faciamus, ne exspectemus quidem, dum rogemur; studium semper adsit, cunctatio absit; consilium vero dare audeamus libere. Plurimum in amicitia amicorum bene suadentium valeat auctoritas, eaque et adhibeatur ad monendum non modo aperte sed etiam acriter, si res postulabit, et adhibitae pareatur.
Das also soll als oberstes Gesetz der Freundschaft gelten, dass wir von Freunden nur Ehrenhaftes fordern, nur Ehrenhaftes Freunden zuliebe tun, ja dass wir damit gar nicht abwarten, bis wir darum gebeten werden. Wir halten uns stets bereit, da gibt es kein Zögern; auch freimütig unseren Rat zu erteilen sollen wir uns keineswegs scheuen. Größtes Gewicht soll in einer Freundschaft das Ansehen wohlmeinender Freunde haben, dieses Ansehen soll eingesetzt werden, um nicht nur offen, sondern auch, wenn es sein muss, mit Nachdruck zu ermahnen, und wo es geltend gemacht wird, soll man ihm auch gehorchen. (Abschnitt 44)
Überhaupt scheint es bei Cicero ein wesentliches Merkmal der Freundschaft zu sein, sich gegenseitig auf Fehler hinzuweisen, dort die Wahrheit zu sagen, wo der Freund im Irrtum ist (Abschnitte 88f.):
nam et monendi amici saepe sunt et obiurgandi, et haec accipienda amice, cum benevole fiunt. […] Molesta veritas, siquidem ex ea nascitur odium, quod est venenum amicitiae, sed obsequium multo molestius, quod peccatis indulgens praecipitem amicum ferri sinit; maxima autem culpa in eo, qui et veritatem aspernatur et in fraudem obsequio impellitur.
Freunde müssen öfter ermahnt und auch zurechtgewiesen werden, und das hat man freundschaftlich hinzunehmen, wenn es in wohlwollender Absicht geschieht. […] Unangenehm ist die Wahrheit, zumal wenn aus ihr Hass entsteht, ein wahres Gift für die Freundschaft, doch Nachgiebigkeit ist noch unangenehmer, weil sie durch Nachsicht mit Verfehlungen den Freund in sein Unglück rennen lässt. Die meiste Schuld aber liegt bei dem, der zuerst die Wahrheit nicht hören will und sich dann durch die Nachgiebigkeit zum Selbstbetrug verleiten lässt.
Ciceros Position zur Freundschaft umfasst also durchaus das Aussprechen ‚unangenehmer Wahrheiten‘. Innerhalb der Freundschaftsbeziehung besteht sogar die Pflicht, Kritik offen zu verbalisieren, um eine Meinungs- oder Verhaltensänderung zu erreichen und somit vor einem noch größeren Unglück zu bewahren. Eine solche Kritik scheint Cicero insbesondere dann angebracht, wenn sich die Pflichten gegenüber Freunden und die Pflichten gegenüber dem Staat widersprechen. Durchaus in Unterscheidung zu Aristoteles ist der Freundschaftsdiskurs klar im Politischen angesiedelt (Abschnitt 40):
Haec igitur lex in amicitia sanciatur, ut neque rogemus res turpes nec faciamus rogati. Turpis enim excusatio est et minime accipienda cum in ceteris peccatis, tum si quis contra rem publicam se amici causa fecisse fateatur.
Das soll uns also als unverbrüchliches Gesetz in der Freundschaft gelten, dass wir etwas Unehrenhaftes weder erbitten noch es auf Bitten hin tun. Schändlich und keineswegs annehmbar ist nämlich die Entschuldigung – schon bei anderen Verfehlungen, besonders aber bei solchen gegen den Staat –, wenn jemand erklärt, er habe um des Freundes willen so gehandelt.
Freundschaft ist schließlich eine Form des Beziehungsverhaltens, die nicht aus Schwäche, sondern gegenseitiger Stärke resultiert. Die ‚wahre Freundschaft‘ basiert auch bei Cicero auf der hohen Tugend der Wahrheit und des freien Willens:
Saepissime igitur mihi de amicitia cogitanti maxime illud considerandum videri solet, utrum propter imbecillitatem atque inopiam desiderata sit amicitia, ut dandis recipiendisque meritis quod quisque minus per se ipse posset, id acciperet ab alio vicissimque redderet, an esset hoc quidem proprium amicitiae, sed antiquior et pulchrior et magis a natura ipsa profecta alia causa. Amor enim, ex quo amicitia nominata est, princeps est ad benevolentiam coniungendam. Nam utilitates quidem etiam ab iis percipiuntur saepe qui simulatione amicitiae coluntur et observantur temporis causa, in amicitia autem nihil fictum est, nihil simulatum et, quidquid est, id est verum et voluntarium.
Je öfter ich also über die Freundschaft nachdenke, desto mehr scheint mir das folgender reiflicher Überlegung wert: Sucht man Freundschaft nur aus Schwäche und Bedürftigkeit, damit im Geben und Empfangen von Wohltaten ein jeder das, was er von sich aus weniger vermag, von einem anderen erhält und dafür Gegenleistungen erbringt? Oder ist dies zwar ein charakteristisches Merkmal der Freundschaft, aber es gibt doch noch einen anderen Grund, der ursprünglicher und edler ist und mehr der menschlichen Natur entstammt? Die Liebe nämlich, amor, von der der Ausdruck Freundschaft, Freundesliebe, amicitia, gebildet wird, ist ja der erste Antrieb, ein Band gegenseitiger Sympathie zu knüpfen. Vorteile gewinnt man auch oft von denen, die man mit erheuchelter Freundschaft umwirbt und nur bestimmter Umstände wegen achtet. Bei einer echten Freundschaft aber ist nichts erdichtet, nichts erheuchelt, und alles beruht auf Wahrhaftigkeit und freiem Willen.7 (Abschnitt 26)
Für das griechische wie das lateinische Denken, wären φιλία und amicitia wohl zutreffend mit ‚Freundschaftsliebe‘ zu übersetzen, da sie jeweils semantische Aspekte der deutschen Begriffe ‚Freundschaft‘ und ‚Liebe‘ miteinander verbinden. Und auch schon im Lateinischen selbst zeigt sich die Verbindung bereits in der etymologischen Verwandtschaft von amor, amicitia und amare.8
Ein kurzer Blick in alt- und zwischentestamentliche Texte lohnt zunächst einmal aufgrund einer Fehlanzeige: Das hebräische Alte Testament kennt im Grunde weder einen Begriff für ‚Freund‘, noch für ‚Freundschaft‘, der vergleichbar wäre mit φίλος und φιλία. Gerade im Vergleich zu den philosophischen bzw. politischen Reflexionen in der griechischen und lateinischen Literatur fällt auf, dass die hebräischen heiligen Texte Israels keinen Diskurs über das Abstraktum der Freundschaft führen. Dort, wo Übersetzungen der Texte vom Freund oder von Freundschaft sprechen, verwendet das Alte Testament zumeist den Begriff רֵעַ, oft übersetzt mit ‚Nächster‘, aber auch im Sinne von ‚Nachbar‘ oder weiter gefasst ‚Mitmensch‘.1 Das Wort kann aber auch vom Eigenen abgrenzen und den Anderen bezeichnen, der in einer zunächst nicht weiter bestimmten Weise nahe, aber doch jenseits einer Grenze verortet wird.
כִּ֣י יְסִֽיתְךָ֡ אָחִ֣יךָ בֶן־אִ֠מֶּךָ אֹֽו־בִנְךָ֨ אֹֽו־בִתְּךָ֜ אֹ֣ו׀ אֵ֣שֶׁת חֵיקֶ֗ךָ אֹ֧ו רֵֽעֲךָ֛ אֲשֶׁ֥ר כְּנַפְשְׁךָ֖ בַּסֵּ֣תֶר לֵאמֹ֑ר
᾿Εὰν δὲ παρακαλέσῃ σε ὁ ἀδελφός σου ἐκ πατρός σου ἢ ἐκ μητρός σου ἢ ὁ υἱός σου ἢ ἡ θυγάτηρ σου ἢ ἡ γυνὴ ἡ ἐν κόλπῳ σου ἢ ὁ φίλος ὁ ἴσος τῆς ψυχῆς σου λάθρᾳ λέγων […]
Wenn dich dein Bruder, deiner Mutter Sohn, oder dein Sohn oder deine Tochter oder deine Frau in deinen Armen oder dein Freund, der dir so lieb ist wie dein Leben, heimlich überreden würde und sagen […] (Dtn 13,7)
Die Stelle hebt, wenigstens in der LXX-Fassung (ὁ ἴσος τῆς ψυχῆς), Gleichheit als wesentliches Merkmal von Freundschaft hervor. Der kurze Abschnitt aus dem Deuteronomium zeigt aber auch die enge Verknüpfung zwischen Verwandtschafts- und Freundschafts-/Nächstenbeziehungen im alttestamentlichen Kontext. Und so werden auch umgekehrt familiäre Beziehungsbegriffe wie Vater, Mutter, Bruder, Schwester auf freundschaftliche Beziehungen übertragen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es um die Auszeichnung als besonders enge Freundschaften geht. Aber auch hier unterbleibt die Diskussion des Abtraktums ‚Verwandtschaft‘. Wenn der Sache nach Freundschaft thematisiert wird, wird die Geschichte einzelner Freundesbeziehungen narrativ entfaltet: Zweier-Freundschaften wie zwischen David und Jonathan im 1. Samuelbuch oder Rut und Noomi im Buch Rut sowie die Freundschaft kleiner Gruppen, etwa bei Hiob und seinen Freunden in der Rahmenerzählung des Hiob-Buchs oder Daniel und seinen Freuden im Daniel-Buch.
Während das Griechische ἔρως und φιλία sprachlich wie systematisch trennen und noch einmal jeweils differenzieren kann, begegnen in hebräischen Texten Formen von אָהַב für sexuelle und freundschaftliche Liebesbeziehungen. So wird etwa die im Hohelied angesprochene Geliebte in Hhld 1,9 als רֵעַ (LXX: πλησίον) bezeichnet, also mit dem Begriff, der klassischerweise auch den Freund bzw. Nächsten bezeichnet. Zugleich wird durch den Wortgebrauch deutlich, dass Freundschaft und Liebe in gewisser Weise auf einer Stufe stehen und beide als „intensive, personale Liebe“2 verstanden werden. Für den φίλος wie ihn die griechische Literatur beschreibt, fehlt jedoch das klare hebräische Äquivalent; vielmehr begegnen verschiedene Begriffe, die Aspekte der Freundschaft in bestimmten Kontexten bezeichnen können.3
Zu diesen Kontexten gehört auch der Bereich der Politik: Freundschaften begegnen der Sache nach auch bei der Bezeichnung politischer Ämter bzw. politischer Beziehungen.4 Genausowenig wie die Abstrakta ‚Liebe‘ und ‚Freundschaft‘ im Alten Testament in einer der griechischen Welt vergleichbaren Weise entfaltet werden, wird aber der Topos der ‚politischen Freundschaft‘ als solcher reflektiert. Die alttestamentlichen Texte entfalten vielmehr narrativ bestimmte Freundschaftstopoi, die durchaus Parallelen etwa zu den oben dargestellten Überlegungen des Aristoteles aufweisen. Der Aspekt der Gleichheit wurde bereits mit Blick auf Dtn 13 erwähnt. Häufig begegnet in den alttestamentlichen Texten eine theologische Qualifizierung des Freundschaftsdiskurses, am offensichtlichsten vielleicht in der Zusage der Freundschaft durch Rut (Rut 1,16): Dein Gott ist mein Gott. Unter dem Einfluss griechischer Texte formulieren spätere weisheitliche Schriften wie Jesus Sirach dann noch expliziter den Zusammenhang zwischen Gottesfurcht und Freundschaft:
φίλος πιστὸς φάρμακον ζωῆς, καὶ οἱ φοβούμενοι κύριον εὑρήσουσιν αὐτόν. ὁ φοβούμενος κύριον εὐθυνεῖ φιλίαν αὐτοῦ, ὅτι κατ᾽ αὐτὸν οὕτως καὶ ὁ πλησίον αὐτοῦ.
Ein treuer Freund ist ein Trost im Leben; wer Gott fürchtet, der bekommt einen solchen Freund. Denn wer Gott fürchtet, der wird auch gute Freundschaft halten; und sein Nächster wird so werden, wie er selbst ist.
(Sir 6,16f.)
Eine gewisse Parallele zur griechischen Vorstellung der Freundschaft unter den Tugendhaften ist die besonders deutlich im Psalter (z.B. Ps 26,4f.) auftretende Gegenüberstellung zwischen ‚Gerechten‘ und ‚Gottlosen/Frevlern‘. Als anzustrebendes Ziel wird die Gemeinschaft unter den Gerechten genannt. Bei einigen der o.g. Freundschaften, explizit bei Rut/Noomi und David/Jonathan, wird die Bedeutung der dauerhaften, lebenslangen, auch den Tod überdauernden Gemeinschaft betont. Doch auch wenn es in diesen Aspekten – Gleichheit, Gemeinschaft, gerechtes/tugendhaftes Leben – Übereinstimmungen gibt, kann das griechische Freundschaftsethos für die Vielfalt der alttestamentlichen Zeugnisse nicht einfach als Voraussetzung angenommen werden.5 Die Texte des Alten Testaments entwickeln vielmehr ein eigenes System sozialer Beziehungen, das in der späteren Zeit zunehmend in intertextuellen Bezügen zu griechischen Texten steht.
An zwei exponierten Stellen im Alten Testament sowie häufiger in zwischentestamentlichen Texten begegnet der besondere Topos der Gottesfreundschaft.6 In Ex 33,11 wird wiederum der Begriff רֵעַ verwendet, hier zur Beschreibung einer Begegnung Gottes mit dem Menschen Mose:
καὶ ἐλάλησεν κύριος πρὸς Μωυσῆν ἐνώπιος ἐνωπίῳ, ὡς εἴ τις λαλήσει πρὸς τὸν ἑαυτοῦ φίλον.
Der HERR aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet.
Stärker von der hebräischen Semantik ausgehend übersetzt die Einheitsübersetzung hier wie Menschen miteinander reden und vermeidet damit die Vorstellung einer ‚Freundschaft mit Gott‘, ohne gleichwohl die Vorstellung einer Kommunikation zwischen Mose und Gott auf einer Ebene aufzugeben.
Über die Vulgata-Fassung von 2Chr 20,7 (Abraham amici tui) wird auch Abraham als ‚Freund Gottes‘ bezeichnet. Im Blick scheint aber sowohl bei Mose als auch bei Abraham nicht die klassisch griechische Freundschaftstopik zu sein, sondern vielmehr das besondere Offenbarungsgeschehen, das diesen beiden Figuren zuteilwird: Gott wendet sich ausgewählten Menschen in der Offenbarung so zu, dass in gewisser Hinsicht von ‚Kommunikation auf Augenhöhe‘ gesprochen werden kann.
Beeinflusst vom griechischen Denken entwickelt das Weisheits-Buch v.a. im 7. Kapitel die Vorstellung der Gottesfreundschaft ermöglichenden Weisheit (Weish 7,14.27):
ὃν οἱ κτησάμενοι πρὸς θεὸν ἐστείλαντο φιλίαν διὰ τὰς ἐκ παιδείας δωρεὰς συσταθέντες.
die ihn erwarben, erlangten Gottes Freundschaft, weil die Gaben sie empfahlen, die die Unterweisung verleiht.
ἐν αὑτῇ τὰ πάντα καινίζει καὶ κατὰ γενεὰς εἰς ψυχὰς ὁσίας μεταβαίνουσα φίλους θεοῦ καὶ προφήτας κατασκευάζει·
Und obwohl sie bei sich selbst bleibt, erneuert sie das All, und von Geschlecht zu Geschlecht geht sie in heilige Seelen ein und macht sie zu Freunden Gottes und zu Propheten.
In diesem späten alttestamentlichen Text wird über die Figur der Weisheit die Bezeichnung ‚Gottesfreund‘, die bislang höchstens den besonderen Personen Mose und Abraham zuteilwurde, auf alle Weisheit Besitzenden bzw. Weissagenden/Propheten übertragen. Zugleich wird damit die Figur des Propheten in einem für den griechischen Kontext anschlussfähigen Konzept als weiser Gottesfreund übersetzt.
In der Theologie insgesamt und auch in der neutestamentlichen Exegese wird das Thema Freundschaft eher am Rande betrachtet.1 Wie schon im Alten Testament sind Verwandtschaftsbeziehungen – man denke nur an Gott, den Vater oder die Brüder und Schwestern innerhalb der Gemeinde – und die Rede vom ‚Nächsten‘ die weitaus gebräuchlichere Terminologie. Hinzukommt, dass im Neuen Testament von den verschiedenen im griechischen Sprachgebrauch üblichen Konzepten für liebende Beziehungen die ἀγάπη bzw. die Derivate von ἀγαπᾶν die absolut dominierenden sind. Gegenüber dem eher eingeschränkten semantischen Spektrum von ἔρως und dem umfangreichen Diskurs über die φιλία war der Begriff der Begriff ἀγάπη in gewissem Sinn ‚neutraler‘ und konnte mit neuen, spezifischen Inhalten gefüllt werden. Dabei konnten sowohl zwischenmenschliche Beziehungen als auch die Beziehung zu Gott beschrieben werden.
Anders als die genannten Texte aus dem griechischen und lateinischen Sprachraum, die über die φιλία bzw. die amicitia ganze Abhandlungen verfassen, begegnet der Ausdruck Freundschaft im Neuen Testament nur an einer Stelle (Jak 4,4). In dieser geht es zudem nicht um die philosophische Diskussion dieses Begriffs. Eine Bestimmung ergibt sich höchsten indirekt, da φιλία und ἔχθρα bzw. φίλος und ἐχθρός als Gegensatzpaare verwendet werden. Gegenübergestellt werden allerdings primär die Begriffe κόσμος und θεός:
μοιχαλίδες, οὐκ οἴδατε ὅτι ἡ φιλία τοῦ κόσμου ἔχθρα τοῦ θεοῦ ἐστιν; ὃς ἐὰν οὖν βουληθῇ φίλος εἶναι τοῦ κόσμου, ἐχθρὸς τοῦ θεοῦ καθίσταται.
Ihr Ehebrecher, wisst ihr nicht, dass Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott ist? Wer der Welt Freund sein will, der wird Gottes Feind sein.
Ebenfalls im Jakobusbrief (Jak 2,23) wird der Topos der Gottesfreundschaft Abrahams zitiert, allerdings in einem für die protestantische Theologie nicht einfachen Kontext: Abraham, der ‚Freund Gottes‘ genannt wird, wird an dieser Stelle als ein Beispiel eines aus Werken Gerechten genannt. Jürgen Moltmann hat diese Stelle im Blick, wenn er vom engeren Begriff des ‚Gottesfreundes‘ spricht und blickt demgegenüber auf johanneische Schriften, wenn er von der Erweiterung dieses Konzepts spricht:
„In classical Christianity, then, the expression ‚friend of God‘ has had two meanings. First, it was used in a narrow, exclusive sense. […] But at the same time, a broad, inclusive formulation has always been there too; that is, that through Christ’s friendship, all Christians have become friends of God.“2
Während φιλία explizit nur im Jakobusbrief genannt ist, begegnet φίλος neben dem Jakobusbrief an einigen Stellen im lukanischen Doppelwerk, im Johannesevangelium und den Johannesbriefen.3
John T. Fitzgerald,4 Luke Timothy Johnson,5 Thomas Söding6 und Ekkehard W. Stegemann7 haben in ihren Untersuchungen mit je unterschiedlichen Perspektiven instruktive Überblicke über die Relevanz des Konzepts der Freundschaft im Neuen Testament gegeben. Insbesondere Johnson macht darauf aufmerksam, dass die relativ sparsame Verwendung der Begriffe φιλία und φίλος nicht bedeuten muss, dass die entsprechenden Konzepte – sei es mit neuer Profilierung oder mit Rückgriff auf die erwähnten griechischen und lateinischen Quellen – wenig relevant waren:
„[…] the presence of common conceptions about friendship shows that friendship is a pervasive theme in the New Testament even when the term itself is not used. The themes commonly associated with friendship occur so frequently that ancient readers or hearers would have understood them within that context.“8
Das Konstatieren einer generellen expliziten oder impliziten Präsenz der Freundschaftsethik bzw. Freundschaftstopik in den neutestamentlichen Schriften lässt die jeweilige Relevanz in einzelnen Texten noch offen. Diese Beurteilung bleibt dem Blick in einzelne Schriften vorbehalten; dabei ist jeweils zu entscheiden, ob griechische Konzeptionen der φιλία vorausgesetzt, weiterentwickelt, theologisch profiliert oder kritisiert und verworfen werden. Die folgenden zwei exegetischen Skizzen greifen in diesem Sinne einzelne neutestamentliche Texte exemplarisch heraus und beleuchten das Thema ‚Freundschaft‘ vor dem intertextuellen Hintergrund griechischer, lateinischer und hebräischer Texte.
Vielfach wird das Johannesevangelium als der Text genannt, der im neutestamentlichen Kanon am explizitesten und zudem in affirmativer Weise auf den griechischen φιλία-Diskurs Bezug nimmt.1 Das Johannesevangelium bezeichnet etwa in der Rede seiner Schwester Lazarus als den, der mit Jesus persönlich befreundet ist (κύριε, ἴδε ὃν φιλεῖς ἀσθενεῖ. Joh 11,3). Und auch Jesus selbst bezeichnet ihn explizit als Freund (ὁ φίλος ἡμῶν Joh 11,11), so dass auch das ἠγάπα in Joh 11,5 als Ausdruck dieser Freundschaft gegenüber der ganzen Familie des Lazarus verstanden werden muss.
Die christologisch bzw. theologisch zentralen Aspekte der Freundschaftsthematik finden sich aber in Joh 15,12–17:
Αὕτη ἐστὶν ἡ ἐντολὴ ἡ ἐμή, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς. μείζονα ταύτης ἀγάπην οὐδεὶς ἔχει, ἵνα τις τὴν ψυχὴν αὐτοῦ θῇ ὑπὲρ τῶν φίλων αὐτοῦ. ὑμεῖς φίλοι μού ἐστε ἐὰν ποιῆτε ἃ ἐγὼ ἐντέλλομαι ὑμῖν. οὐκέτι λέγω ὑμᾶς δούλους, ὅτι ὁ δοῦλος οὐκ οἶδεν τί ποιεῖ αὐτοῦ ὁ κύριος· ὑμᾶς δὲ εἴρηκα φίλους, ὅτι πάντα ἃ ἤκουσα παρὰ τοῦ πατρός μου ἐγνώρισα ὑμῖν. οὐχ ὑμεῖς με ἐξελέξασθε, ἀλλ’ ἐγὼ ἐξελεξάμην ὑμᾶς καὶ ἔθηκα ὑμᾶς ἵνα ὑμεῖς ὑπάγητε καὶ καρπὸν φέρητε καὶ ὁ καρπὸς ὑμῶν μένῃ, ἵνα ὅ τι ἂν αἰτήσητε τὸν πατέρα ἐν τῷ ὀνόματί μου δῷ ὑμῖν. Ταῦτα ἐντέλλομαι ὑμῖν, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους.
Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. Ich nenne euch hinfort nicht Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich Freunde genannt; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan. Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, auf dass, worum ihr den Vater bittet in meinem Namen, er’s euch gebe. Das gebiete ich euch, dass ihr euch untereinander liebt.
Die Freundschaftsbeziehung zwischen Jesus und den Jüngern wird hier als Liebesbeziehung qualifiziert. Diese drückt sich insbesondere darin aus, dass innerhalb dieser Beziehung Wissen geteilt wird (alles […] habe ich euch kundgetan) und durch die Aufhebung der Knechtschaft eine hierarchische Ordnung in gewissem Sinn in Gleichheit aufgeht. Gleichwohl betont gerade das Johannesevangelium die bleibende Ungleichheit, die Asymmetrie, ja die Hierarchie zwischen Jesus und den Jüngern bzw. allen Menschen. Die Gleichheit innerhalb der Gemeinschaft Jesu mit den Jüngern besteht also nur in gewisser Hinsicht, und auch nur aufgrund der aktiven Preisgabe des göttlichen Wissens durch Jesus.
Vor allem aber wird hier ganz im Sinne des oben dargestellten aristotelischen Ideals das Hingeben des eigenen Lebens für die Freunde als höchste Stufe des Freundschaftsdienstes genannt. Und damit liegt in Joh 15 ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis des johanneischen Passionsgeschehens:
„Anthropologisch betrachtet stempelt diese Deutung des Todes Jesu all jene, für die Jesus gestorben ist, – ganz im Gegensatz zur sühnesoteriologischen Deutung des Todes Jesu – nicht zu Sündern, sondern zu Freunden Jesu. […] Jesus stirbt für seine Freunde. Das transformiert seine Schülerinnen und Schüler zu Freunden Jesu. […] Zugespitzt formuliert: Weil Jesus den Tod des Sklaven stirbt, deshalb sind seine Nachfolgerinnen und Nachfolger nicht mehr Sklaven, sondern Freunde.“2
Zugleich verbindet sich bei Johannes griechische Freundschaftsethik mit Aspekten der Freundschaft aus dem Alten Testament: Die Freundschaft Jesu mit seinen Jüngern ist nicht – wie etwa bei Rut und Noomi – durch die gleichzeitige Treue zu Gott bzw. zum Bund Gottes gekennzeichnet, sondern direkt mit dem inkarnierten λόγος selbst möglich. Gleichzeitig ist die Freundschaft zwischen Jesus und seinen Jüngern durchaus vergleichbar mit Beziehungen im Alten Testament, in denen jemand seinen Nächsten/Freund liebt wie sein eigenes Leben.3 Auf diese Weise verbindet Johannes zugleich die Vorstellung einer Freundschaft als zwischenmenschliche Beziehung mit dem Topos der Gottesfreundschaft. Während Gottesfreundschaft im Alten Testament auf Abraham und Mose beschränkt bleibt, wird diese über das Kreuz universalisiert und auf alle in der Nachfolge Jesu übertragen.
Das Motiv der Freundschaft liefert hier in jedem Fall im Vergleich zu den Paulusbriefen oder den Synoptikern ein Alternativmodell zur Deutung des Kreuzes. Dabei wird ein in der Enzyklopädie der frühen Christen verbreiteter Topos auf die Jesus-Christus-Geschichte bezogen und zudem noch mit alttestamentlichen Vorstellungen verschränkt. Im Johannesevangelium geht es dabei weniger um eine Freundschaftsethik als um Theologie, Christologie und auch Ekklesiologie: Die Gemeinde ist in dieser johanneischen Perspektive weniger eine ‚Gemeinschaft der Heiligen‘ oder eine ‚Gemeinschaft der Sünder‘ als eine ‚Gemeinschaft der Freunde‘.
Während die johanneische und lukanische Literatur aufgrund des Gebrauchs des φίλος-Begriffs in verschiedenen Untersuchungen zur Freundschaft in den Blick gerät, ist dies beim Matthäusevangelium weniger der Fall. Zumeist wird Mt 11,19 auf eine einzige einschlägige Stelle verwiesen, die zudem noch einen Paralleltext bei Lukas besitzt:
ἰδοὺ ἄνθρωπος φάγος καὶ οἰνοπότης, τελωνῶν φίλος καὶ ἁμαρτωλῶν.
Sieh, ein Mensch, Fresser und Weinsäufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern.
Das, was dem Volk hier vom sprechenden Jesus selbst in den Mund gelegt wird, ist ein Vorwurf, der verfängt und zugleich auf der Reziprozität von Freundschaft aufbaut. ‚Freund‘ ist ja hier gerade deswegen pejorativ zu verstehen, weil dahinter die Vorstellung des Sich-Gleich-Machens mit den genannten Gruppen der Zöllner und der Sünder steht. Jedenfalls ist das Tun des Schlechten, die Ausbeutung anderer das Gemeinsame, das hinter diesem Vorwurf der Freundschaft steht und von dem sich der Text abgrenzt:
„He becomes the friend of sinners and tax collectors because of his joy in their common freedom – God’s future. When ‚respectable society‘ calls him a ‚friend of sinners and tax collectors,‘ however, it wants only to denounce and compromise him. In keeping with the law according to which ist ranks are organized, respectable society identifies people with their failings and speaks of sinners […] From this society speaks the law, which defines people always by their failings. Jesus, however, as the Son of Man without this inhuman law, becomes the friend of sinful and sick persons. By forgiving their sins he restores tot hem their respect as men and women.“1