Frieden - Anders Lustgarten - E-Book

Frieden E-Book

Anders Lustgarten

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Beschreibung

 Vor der Küste Englands treffen in tiefer Nacht v erzweifelte Flüchtlinge auf selbsternannte Patrioten.  Die schicksalhafte Begegnung löst eine irrwitzige Verkettung von Ereignissen aus, wobei es allen Beteiligten nur um eines geht: endlich - endlich - Frieden zu finden.  Ein Boot mit Flüchtlingen stottert auf dem Ärmelkanal in Richtung englische Küste. Die Männer sind am Ende ihrer Kräfte, einer ist Omar, er ist neunzehn und hofft, seine Asha bald wiederzusehen. Auch eine Truppe von britischen Patrioten in einem Festrumpfschlauchboot ist unterwegs, um ihr Land vor Flüchtlingen zu schützen. Tags darauf erwacht Cherry am Strand. Sie hat sich in der Nacht die Kante gegeben, die Ehe ist ein Scherbenhaufen, ihr Sohn Liam hat sich das Leben genommen. Sie entdeckt die Leiche eines dunkelhäutigen Mannes, vom Meer angespült, das Genick gebrochen, ein laminiertes Foto  in der steifen Hand . Er erinnert Cherry so sehr an Liam, dass sie sich schwört, die junge Frau auf dem Foto zu finden und ihn zu beerdigen. Welchen Preis wird Cherry bezahlen? 

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Seitenzahl: 328

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Anders Lustgarten

Frieden

Roman

Aus dem Englischen von Hannes Meyer

Hoffmann und Campe

Erster Teil

1

Omar

Sie sind zu siebt im Boot.

Ein Afghane, der schwört, dass er weiß, wie man es übers Meer steuert. Seltsam für jemanden aus einem staubtrockenen Binnenland, aber sonst kann es eben keiner, also lässt man ihn machen. Drei Iraner und ein Senegalese. Aber die sind bloß dabei, damit das Geld für den Kahn zusammenkam. Auf die Beine gestellt haben Omar und Abdi Bile die Sache. Sie haben das Lager nach den besten Kandidaten abgesucht. Sie sind zu den französischen Fischern gegangen und mit dem wiedergekommen, was sie sich eben leisten konnten: mit einem Ruderboot samt rostigem Außenborder, das es nie über den Hafendamm rausgeschafft hat. Omar und Abdi Bile haben den Mut und die Hingabe, Omar und Abdi Bile lassen die anderen an die Sache glauben.

Es herrscht gute Laune, als Omar und Abdi Bile sie vom Ufer abstoßen, über die Kälte an den Beinen kichern und die anderen mit Schaum bespritzen wie zwei Kinder. All die Wochen der Trägheit, der Enttäuschung und Ungewissheit verfliegen in der Seeluft. Sie ziehen es durch. Sie schaffen es.

Die Begeisterung hält, bis sie im tiefen Wasser sind und die Strömung sie packt.

Die Nussschale schaukelt und ruckt und springt aus dem Wasser wie ein Lachs. Alle halten sich an irgendetwas Stabilem fest, doch es gibt nichts als ein Werfen und Zerren und Schleudern. Der Sog reißt ihnen immer wieder die Pinne aus den klammen Händen und lässt den Motor hier- und dorthin schieben. Sie ducken sich tief an den Holzboden, und Panik brandet über sie. Absolute Machtlosigkeit. Die Erkenntnis, dass sie ihr Schicksal nicht mehr selbst in der Hand halten. Die Männer starren voran wie Sprinter in den Startblöcken, die Finger ins Holz gekrallt, als könnten sie sich mit der Kraft ihrer Blicke übers Meer ziehen.

Omar macht den Ausguck. Er kniet im Bug und hält sich gegen die Gischt die Hand über die Augen. Neben ihm ist Abdi, der Navigator. Er hat Google Maps auf dem Handy offen mit dem blauen Punkt inmitten von endlosem, hellerem Blau. Der Wind nimmt zu, drückt sie zurück wie eine Riesenhand. Will sie zum Wenden zwingen.

Auf einmal ist Omar wieder zu Hause und trainiert mit seinem Vater. Der Wind treibt sich ihm wie ein Ellenbogen in die ächzende Brust, der Sand wirbelt über die staubige Bahn. Sein Vater steht an der Ziellinie, starrt finster die Stoppuhr an, als gäbe sie Widerworte, und bellt Zwischenzeiten. Die Verheißung von Stipendien in Amerika, von internationalen Wettkämpfen und Agenten, von einer Möglichkeit, seine Familie zu unterstützen, doch all das löste sich in Luft auf, als sein Vater krank wurde und zwei Tage vor Omars fünfzehntem Geburtstag starb.

Omar hat Abdi Bile auch den Spitznamen gegeben. Denn er sah dem berühmtesten Sportler Somalias, dem Weltmeister auf 1500 Meter in den Achtzigern, dem großen Helden von Omars Vater, wirklich ein bisschen ähnlich (im Gesicht, nicht am pummeligen Körper). Sein Vater trainierte Omar in Biles Stil: der Mördersprint um die letzte Kurve, die Negative Splits, also die zweite Hälfte schneller laufen als die erste, die letzte Runde am schnellsten – das ist der brutalste Weg zum Mittelstreckensieg. Das schaffen nur die Härtesten. Die Lunge explodiert, das Laktat lässt die Muskeln brennen, du willst nur noch, dass es aufhört, aber gegen jeden Instinkt gibst du noch mehr Druck. Das ist auch eine mentale Sache. Man muss die Nerven behalten. Und das hat Omar gelernt.

Auf einmal wallen Heimweh und Trauer in ihm auf. Er beißt die Zähne zusammen. Die Zukunft wartet. Asha wartet.

Das Boot kämpft sich weiter voran.

Jakubiak

Er bibbert und kauert in seiner dünnen Jeansjacke. DI Barratt hatte einen warmen, trockenen Abend versprochen. Deshalb sind sie ja hier draußen. Warmes, ruhiges Wetter mögen die Illegalen für die Überfahrt, also müssen die Verteidiger des Königreichs ran und das tun, was eigentlich Pflicht der Regierung wäre: die Migrantenboote abfangen und zurückschicken. Aber jetzt faucht und spuckt der Regen wie eine fiese Katze, die Jacke ist durchgeweicht, und der Wind pfeift einem um die Ohren. Andy sieht die fetten Regentropfen im nassen Stoff verschwinden und fragt sich wieder und wieder, warum er es nicht genauso machen kann.

Andy Jakubiak ist ziellos und hasst sich dafür. Aus irgendeinem Grund hat man ihm nicht seinen Platz in der Welt zugewiesen, ihn in der Schule nicht in eine der zufällig gewählten Schubladen gesteckt, aus denen unsere Identitäten werden: witzig, sportlich, schlau, sexy, Bad Boy, nicht mal Nerd oder Freak, was ja immerhin überhaupt schon mal etwas wäre. Heutzutage hat er seinen gestählten Körper, den Muskelpanzer gegen die Welt, aber einen Platz hat er immer noch nicht. Er ist ein unerwarteter Gegenstand im Einpackbereich des Lebens.

Der Vater in Polen bei seiner echten Familie. Die Mutter ein Fußabtreter. In der Schule übersehen: weder gelobt noch geschimpft, bloß ignoriert. Die Lehrer suchten richtig nach den schwarzen Jungs, nach den asiatischen Mädchen, schoben sie für Auszeichnungen vor, nahmen sie dran, wenn auch er sich gemeldet hatte. Der Berufsberater ermahnte ihn, sich keine »unrealistisch hohen« Ziele zu setzen. Eine Freundin war schwer zu kriegen, bei Frauen kam er schnell ins Stolpern. Die Wut köchelte allmählich immer höher. An den Gewichten konnte er sie rauslassen, der harten Musik von schepperndem Eisen zuhören. Der muskelbepackte Mann verbirgt das verletzte Kind im Innern.

Direkt von der Schule ist er zur Polizei gegangen. Hat sich eine Identität von der Stange ausgesucht, irgendetwas, wo er dazugehören konnte. Das respektvolle (oder ängstliche, egal, nehmt mich bloß irgendwie zu Kenntnis, seht mich) Nicken auf der Straße. Die Kameradschaft, das Geplänkel. Aber auch da war es wieder das Gleiche. Es gab die Coolen und die Schlauen und die Beliebten, und Andy war nichts davon. Ab und zu mal wem auf die Fresse geben bringt natürlich Spaß, aber eigentlich ist der Job zu achtzig Prozent Schriftkram, und insgeheim weiß Andy, dass ihm das nicht reicht, er lebt nicht fürs Austeilen. In Wahrheit sucht er, sehnt er sich nur nach einem, nämlich Liebe, auch wenn er es nicht weiß. Nach Wärme, nach Zugehörigkeit.

Er hat im bitteren Saft der Kantine geschmort, die Vorurteile und den Hass in sich aufgesaugt. Wurde bei Beförderungen übergangen, denn Unterstützung gab es nur für Minderheiten und Frauen. Jahre als Streifenbulle, während halb so Gute wie er die Karriereleiter hochstiegen. Und immer weiter hat er die Wut runtergeschluckt, es wird dann ja nur umso schöner, wenn es bei dir endlich so weit ist, Andy, und der Ärger wurde schlimmer und schlimmer, bis er ihm schließlich nachts in seinem kleinen Bett den Hals hochkam und ihn fast erstickte und er nirgendwo hinkonnte damit, einfach keine Linderung fand.

Bis jetzt. Bis DI Barratt ihn ansprach.

Andys Stolz, als Barratt ihn auf die Mission einlud. Ausgewählt zu sein. Vertrauen zu erfahren. Teil von etwas Bedeutsamem sein zu dürfen. Während tausend Illegale am Tag rüberkamen. Anderthalbtausend. Zweitausend. Aber die Regierung, gewählt für das Versprechen von Schlagstock und Stacheldraht, unternahm einen Scheiß. Das ist unser Land. Ein weißes Land. Wenn die offiziellen Stellen also nichts machen, müssen eben wir ran. Eine Freiwilligeneinheit, um die Illegalen zurückzudrängen. Um unsere Grenzen zu schützen. Unsere Seelen.

Ein Grollen im Bauch. Er schaut auf. Barratt hat den Motor angelassen. Er blinzelt Andy zu. Andy salutiert. Aye, aye, Skipper.

»Hol die Kamera raus!«, brüllt Detective Inspector Freddie Barratt. Das ist Andys Aufgabe heute Abend. Die Migranteninvasion belegen. Der Welt die Ausmaße des Problems zeigen. Die Leute wachrütteln. Er zückt sein Handy. Das Neueste vom Neuesten, brillante Bildqualität. Hat ihn fast ein Monatsgehalt gekostet, aber man muss ja was hermachen.

Er drückt auf das rote Quadrat. Barratt lacht und spannt den Bizeps an. Sie trainieren zusammen. Mehr Unter- als Oberkörper. Split Squats, RDLs. Gewichtheben: Standumsetzen, Reißen. Die Kraft aller Körperbereiche baut auf dem Unterkörper auf.

Das Festrumpfschlauchboot sticht in See. Irgendwo in Andys Herz schwingt eine Saite. Vielleicht hat er endlich seinen Platz gefunden.

Omar

Er gönnt sich noch einen kurzen Blick auf Ashas Bild, aufgenommen, als sie gerade in London angekommen war, das Grinsen von Ohr zu Ohr. Das Dorf hätte er sowieso zurückgelassen, den Hunger und die Hitze und die Milizen, aber vor allem das Schluchzen seiner Mutter im Dunkeln und das Versprechen an den Vater, sie nicht verhungern zu lassen. Aber das Ziel hat Asha festgelegt.

Er drückt die Lippen auf das zerfranste Plastik um ihr Foto. Seinen Talisman. Abdi Bile hat ihn ewig aufgezogen deswegen, als er es gesehen hat.

»Laminiert? Alter, in welchem Jahrhundert lebst du eigentlich?«

»Mit einem Handy kann alles Mögliche passieren. Verloren. Geklaut. Ins Wasser gefallen. Wir fahren übers Meer, okay? Und zack, sind all die Fotos und Erinnerungen weg. Bei einem laminierten Foto kann das nicht passieren. Plastik bleibt, Bruder.«

Das Boot fährt nicht mehr. Omar glaubt, dass der Motor wieder verreckt ist, aber alle anderen schauen in seine Richtung. Er späht über die Schulter, und auf einmal bleibt sein Herz stehen. Der Tanker kommt von rechts auf sie zu. Wie eine Stadt in voller Fahrt. Als er versucht, das Heck auszumachen, wird ihm schwindlig, als würde er in ein schwarzes Loch ohne Boden blicken. Vor ein paar Minuten hatte er das Schiff weit weg am Horizont gesehen. Drei, vier Kilometer entfernt. Und jetzt ist es da und ragt vor ihnen auf.

Es gibt ein Erdbeben. Omar hat schon das eine oder andere erlebt. Die Vibrationen trommeln einem auf die Ohren ein, das Grollen macht einem die Eingeweide zu Brei, alles hängt in der Schwebe, und man kann sich nicht bewegen. Bloß verändert sich das Meer nicht, die Wellen schlagen nicht höher. Auf einmal kommt eine ohrenbetäubende Stille, und seine Ohren tun weh, eine erdrückende Last hebt sich von seiner Brust, und er versteht, dass das Erdbeben nur das Schiffshorn war.

Sie alle schnappen gleichzeitig nach Luft und sind von dem Bann befreit. Der Motor hustet wie ein sterbendes Maultier, dann schnurrt er wieder. Sie gleiten weiter übers Wasser und dem Tanker aus dem Weg, und alle lachen und verarschen Omar. »Was für ein Ausguck sieht denn so ein Mörderschiff nicht? Bist du blind, du Pfosten?!« Doch, ich sehe was, sagt er ihnen, da am Horizont: einen blaugrünen Streifen. Land. England.

Und darüber eine gewaltige dunkle Wolke.

Jakubiak

Der Wind beschimpft Andy für seine Dummheit. Die tobende Strafpredigt lässt Salzsplitter auf ihn einpeitschen, bevor ihn ein eiskalter Schwall in die Knie zwingt. Er klammert sich mit beiden Händen an der Halteleine fest und verbirgt seine Angst, so gut es geht. Noch eine Welle bricht über den Bug herein, lässt sie seitwärtsrollen, das Boot um fünfundvierzig Grad kippen, bevor es wieder runterkracht. Er wischt sich die Augen und hockt sich tiefer hin, während sie die Wellenberge erklimmen und dann wieder grob in die steinharten Täler stürzen, dass seine Zähne aufeinanderkrachen und ihm ein Scheibchen aus der Zunge schälen. Er spuckt Blut. Der Regen prasselt jetzt in fast waagerechten Nadelspitzen.

Er schaut zu dem einzigen anderen Freiwilligen rüber, einem Graphikdesigner namens Roger mit fliehendem Kinn, der gerade ausgiebig über die Seite kotzt und die blasse Arschritze gen Himmel reckt. Zum ersten Mal fragt Andy sich, ob er ausgewählt wurde, weil er etwas Besonderes ist, oder ob es nicht doch einen anderen Grund hatte. Er wirft einen suchenden Blick in Richtung von DI Barratt, der über die Armaturen gebeugt ist und am Scanner herumfummelt. Der kahlrasierte Schädel, das gemeißelte Profil. Andere Bullen haben Andy beiseitegenommen und von den Sachen geraunt, die Barratt veranstaltet. Von seinen außerdienstlichen Aktivitäten und seinem, hüstel, zur Schau gestellten Patriotismus. Wir denken so was ja vielleicht auch, Kumpel, aber der Kerl macht es wirklich. Ein guter Rat: Abstand halten. Die Anabolika machen es auch nicht unbedingt besser, oder was auch immer Barratt nach dem Training mit seinem Shake runterspült, das Andy nicht sehen soll. Aber Barratt ist gut zu ihm gewesen. Hat ihm als Mentor zur Seite gestanden und ihn für seine Fälle angefordert. Wirklich.

Und als könnte er Andys Gedanken lesen, sieht Freddie Barratt sich nach ihm um, erwidert im Tosen seinen Blick. Ein langes Starren in dunkle Tunnel. Ein furchtsames Frösteln in Andys Innerem. Und dann wieder das große Zwinkern, das väterliche Lächeln, und Andy wird wieder warm ums Herz.

»Alles gut, Junge?«, brüllt er.

»Alles super, klar.«

»Raue See für deine erste Ausfahrt.«

»Kein Ding.«

Barratt deutet mit dem Daumen in Richtung des unglücklichen Roger. »Schlägst dich auf jeden Fall besser als der Wichser da, das sag ich dir. Der kommt mir nicht noch mal an Bord.«

Sie lachen, und Andy fühlt sich wieder wie jemand Besonderes, und dann gibt es einen Treffer. Ein Ping auf dem Scanner. Andy beugt sich begeistert vor. Barratt schaut auf die Anzeige.

»Hol die Kamera raus.« Diesmal kein Geplänkel. Kein Geprotze. An die Arbeit.

Andy zückt das Handy und filmt, das Herz schlägt ihm bis zum Hals. Barratt passt den Kurs an und lässt den Motor röhren. Sie nehmen Fahrt auf.

Omar

Die Welt ist auseinandergebrochen. Alles ist Wasser. Das Meer brodelt und wallt wie ein überkochender Topf, beißt um sich wie ein angekettetes Tier, geifert, zerrt und kratzt wie eine wütende Hexe. Jetzt schäumen Schneeberge auf, eiskalt und erbarmungslos. Jetzt gewaltige Zähne in einem klaffenden Maul. Jetzt Erdrutsche, enorme Schollen, die ineinanderkrachen. Die Männer werden gewirbelt und geschleudert und geworfen. Unter der Nussschale verschwinden riesige Wassermassen, und sie alle stürzen in einen tiefen Brunnen, zu allen Seiten umgeben von hohen grünschwarzen Wänden, dann werden sie hoch in die Luft gespuckt und knallen wieder auf die harte Oberfläche. Am fürchterlichsten ist es, wenn sich die Wellen auftürmen und dabei die unfassbaren Tiefen darunter offenbaren. Ein unmöglicher, flüssiger Abgrund, durch dessen nassen Raum man ewig stürzen würde.

Eigentlich fürchtet Omar sich nicht, bis Abdi Bile ihm sagt, wen er zu Hause anrufen soll, falls er es nicht schafft. Auf ihrer ganzen Reise haben sie noch nicht darüber geredet. Aber jetzt beharrt Abdi darauf und lässt ihn den Namen wiederholen. Jetzt bekommt auch Omar Angst. Er lässt Abdi Ashas Nummer auswendig lernen. Lässt sie ihn viermal wiederholen, bis Abdi genug hat und ihn angiftet, er soll sich verpissen, er bringt ihnen Unglück.

Bald ist Omar zu erschöpft, um sich zu fürchten. Das Meer gibt keine Ruhe. Die Wellen kommen und kommen. Sie brechen über das Boot herein, drücken es unter die Oberfläche, und er glaubt, das war’s, aber dann tauchen sie auf, und es geht wieder von vorne los. Er denkt an Asha und greift nach dem Foto. Es ist noch da, sein Talisman.

Sie sind bis auf die Haut nass und durchgefroren bis auf die Knochen. Der Motor ist abgesoffen, und das kleine Boot treibt ohne jede Chance auf Kontrolle. Abdi murmelt immer wieder das Schutz-Du’a. Bi-smi-llahi-lladhi laa yadurr maa-smihi schai’un fi-l-ard wa laa fi-s-sama’ wa huwa-s-samii’u-l-alim … Er hält das nasse Handy in die Luft, stellt sich auf die Zehenspitzen und hofft vergeblich, dass die Karte wieder lädt.

Omar denkt: Wessen tote Finger sind das denn?, und es sind seine eigenen, die sich in das Holz krallen. Er spürt es nicht, und die Hand ist gelb wie altes Wachs. Er will sie bewegen, aber sie reagieren erst nicht, dann doch, aber er spürt sie immer noch nicht, und sie sehen trotzdem aus, als würden sie einer Leiche gehören.

Und dann sieht er zur Linken etwas zwischen den Wellen. Einen scharf umrissenen Lichtkegel, der immer greller wird.

Hilfe. Alhamdulillah. Hilfe naht.

Jakubiak

Der grelle Kegel des Suchscheinwerfers strahlt über das wilde Wasser, über Wellen, die auf sie zurauschen wie wütende Geister. Andy kann nicht weiter sehen als bis zum nächsten Berg aus Wasser, doch der Scanner besteht darauf, dass die Illegalen ganz nah sind. Das Boot pflügt voran. Barratt lässt den Scheinwerfer hin und her streifen. Hört Andy da etwas? Stimmen? Andy horcht, die Anspannung stärkt seine Sinne, aber wenn da etwas war, hat es der Wind wieder fortgerissen. Und dann haben sie das Migrantenboot auf einmal vor sich.

Erschöpft zusammengekauerte Gestalten. Zwei hocken vorne, drei sitzen in der Mitte, zwei hinten. Nass und bibbernd blinzeln sie gegen den Scheinwerfer an und wedeln mit den Armen, als aus Verzweiflung Freude über die Rettung wird. Plötzlich sind es echte Menschen und nicht mehr bloß Vorstellungen, und Andy ergreift der mächtige Instinkt, ihnen zu helfen. Wie von selbst geht er einen Schritt vorwärts, und Barratt packt ihn am Arm.

»Bleib hinter mir«, ruft er. »Dann sieht’s aus, als ob es mehr wären. Außerdem kriegst du so meine Schokoladenseite drauf«, und ein drittes Zwinkern, und auch wenn es nicht mehr ganz so sehr wirkt wie vorher, fällt Andy wieder ein, warum er hier ist. Um die Wahrheit festzuhalten. Das große Ganze. Er tritt wieder einen Schritt zurück und filmt weiter.

Barratt hält die Flüstertüte vor den Mund. »Wir sind die Verteidiger des Königreichs. Wir sind autorisiert, illegale Migration ins Vereinigte Königreich aufzuhalten. Kehren Sie um. Ich wiederhole: Kehren Sie UM.« Rufe und Schreie von den Illegalen, aber der Wind peitscht die Worte fort. Das Schlauchboot ruckt und wirft Barratt fast über die Seite.

Er fängt sich, schaut, dass die Kamera noch auf ihm ist, richtet sich wieder zu voller Größe auf und fährt mit tieferer Stimme fort. »Wir sind die Verteidiger des Königreichs. Sie werden aus Geldgier anderer ausgenutzt. Drehen Sie um.« Das andere Boot regt sich nicht. Barratt schwenkt den Scheinwerfer direkt auf die Männer.

Omar

Eine Lichtexplosion wie ein Schlag ins Gesicht. Omar stolpert zurück, das Meer greift nach ihm, die Wellen wie entfesselte Sirenen, die ihn in die Tiefe ziehen wollen. Die schwarzen Umrisse der anderen, die sich mit den Händen vor dem grellen Licht schützen. Ein Wortschwall, den keiner von ihnen versteht. Die Augen zusammengekniffen und den Kopf eingezogen drängen sie auf die Rettung zu und lassen ihr gesamtes Englisch los, Abdi Bile schreit: »König! König! Wir lieben euren König!« Das Boot kippt furchteinflößend zur Seite. Eine Welle packt es und schlägt es heftig gegen den harten Rumpf des Schlauchboots, und das alte Holz splittert.

Abdi Bile steigt mit einem Fuß auf die Kante des eigenen Kahns und hebt den anderen dem Schlauchboot entgegen. Er eiert einen Augenblick in der Schwebe, traut sich nicht und kippt wieder zurück. Die drei schwarzen Silhouetten im anderen Boot regen sich nicht. Niemand streckt ihnen eine Hand entgegen. Sie starren bloß. Es ist unheimlich. Ein Aal aus Angst windet sich in Omars Eingeweiden.

Abdi versucht es noch mal, ein Hochseilartist auf Zehenspitzen über der Leere. Diesmal schafft er es und klammert sich am glitschigen Schlauchbootrand fest, während seine Beine im eiskalten Meer baumeln. Er zieht sich hoch, streckt hilfesuchend eine Hand aus – und der größte der Schatten tritt ihm, ohne zu zögern, in die Brust. Abdi fliegt durch die Luft und landet hart im Holzboot. Ein Schmerzensschrei, ein Knacken von Holz oder Rippen.

Sie wollen, dass sie umkehren. Die anderen sind vor Angst und Verblüffung erstarrt, aber Omar erkennt die Wahrheit. Die wütenden Umrisse gestikulieren feindselig. Die Männer wollen sie nicht retten. Sie wollen, dass sie umkehren. Sie wollen, dass sie ertrinken.

Omar muss an die griechischen Faschisten denken, die sein Zelt niedergebrannt haben, an den italienischen Polizeischlagstock, der ihm den Schneidezahn abgebrochen hat. Er denkt daran, wie die knochigen Hände seines Vaters nach ihm griffen und ihm das Versprechen entrangen, die Mutter und die Schwestern nicht verhungern zu lassen. An das blutbesudelte Laken, in dem sie ihn noch am selben Abend forttrugen. Er denkt an Asha, die auf ihn wartet. Er powert auf die Ziellinie zu, wie es ihm sein Vater beigebracht hat.

Er springt ins andere Boot.

Jakubiak

Noch einer springt! Ein Schlaks mit abgebrochenem Zahn. Er landet auf Barratt. Die beiden umklammern sich wie in einem verrückten Tanz, bis Barratt ihn abwirft. Der Junge schlingert, fängt sich aber wieder. Andys Handylinse folgt ihm. Barratt legt wieder mit seiner Ansprache los. »Wir sind die Verteidiger des Königreichs. Verlassen Sie umgehend britische Gewässer.«

Der Junge fletscht die Zähne, macht sich klein und packt eine Halteleine. Barratt wedelt Andy zu, er soll aufhören zu filmen, doch der sieht es nicht, denn er ist zu gebannt von dem Drama, das sich vor ihm abspielt. Barratt packt den Jungen. »Raus. RUNTER. AB.« Er reißt ihm an der Jacke, aber der Junge kauert sich noch tiefer hin. »Fuck you. Ich bleib, ich bleib.«

Was hat er da gerade gesagt? Bei Barratt brennt eine Sicherung durch. Er riskiert hier draußen sein Leben, und die kleinen Scheißer sagen was zu ihm? Er hebt den Jungen auf die Füße, das Beintraining macht sich bezahlt, der Junge strampelt und fuchtelt, aber Barratt treibt ihn zurück. Er hat ihn schon fast über Bord, aber der Junge hakt sich mit den Beinen unter dem Rand ein, während sein Oberkörper über dem Wasser hängt.

Barratt zögert für den Bruchteil einer Sekunde. Der Junge sieht ihm mitten ins Gesicht, während die Wellen auf sie einbrechen. Andys Handylinse beobachtet sie beide gebannt.

Omar

Ein Sturz durch unendliche Kälte. Es ist kein grünes Wasser mehr, sondern flüssige Schwärze, uferlos und eisig. Der Schock und der Salto reißen ihm den Mund auf, und das Salz sticht und kratzt in der Kehle. Er würgt und hustet, aber es kommt nur noch mehr Wasser. Er weiß nicht, wo oben und unten ist, weiß nicht, wo er ist, und ist dem tosenden Wasser gänzlich ausgeliefert. Wo geht’s an die Luft? Er schaut nach einem Schimmer, irgendetwas, das ihm zeigt, wohin er muss, aber es gibt nichts, bloß unergründliches Dunkel. Die Panik packt ihn. Omar schlägt und tritt auf sein flüssiges Gefängnis ein. Er will nach Hilfe schreien, und es kommt noch mehr Wasser rein. Ich sterbe. Ich ertrinke hier, und Asha wird mich niemals finden, nicht mal wissen, dass ich tot bin, dass ich zu ihr wollte, dass ich mein Versprechen gehalten habe.

Ruhe. Ruhe bewahren. Es ist ein Rennen. Genau dasselbe. Die Lunge brennt, die Luft ist weg, die Glieder krampfen. Im Rennen hält man die Form. Man muss nur Ruhe bewahren, die Kontrolle behalten. Keine Panik kriegen. Das kann Omar.

Da. Ein Lichtfleck. Omar ignoriert die Höllenqualen in der Brust und schwimmt darauf zu.

2

Cherry

Der Atem des Meeres weckt sie. Das Zischen und Rauschen der Kiesel, die angespült und wieder fortgezogen werden. Ein steiniger Trostrhythmus, als gäbe es keinen Schmerz, keine Sorgen auf der Welt. Sie liegt da, lässt sich von der Sonne das Gesicht wärmen, ein grüngoldenes Leuchten strahlt ihr durch die Lider, erfüllt ihr Sichtfeld mit Lila und Rot, während sie versucht, sich zu erinnern, wo sie ist.

Und dann dreht sich Cherry Bristow, Oberschwester und Heldin der Gesundheitsversorgung, auf die Seite und kotzt sich die Seele aus dem Leib. Brüllende Krämpfe, als wollten ihre Eingeweide Reißaus nehmen, als müsste sie etwas Giftigeres aus ihrem System speien als die Zweidrittelflasche Wodka. Was natürlich stimmt.

Liam.

Endlich ist ihr Magen fertig mit seinem dreifachen Salchow plus Rückwärtssalto, 9,95 vom slowakischen Preisrichter, und köstlich salzige Luft strömt ihr in die Lunge. Cherry lebt. Das heißt leider auch, dass sie ihren Kater spürt, als würde ihr jemand mit einem Kantholz rhythmisch auf den Hinterkopf einprügeln. Im Einklang mit dem Meer pulsiert die Übelkeit durch ihren Körper. Sie hört ein Klimpern von Glas auf Stein, nimmt die kühle Flasche und drückt sie sich an die Stirn.

Einatmen. Ausatmen. Ruhig und langsam. Liam und alles, was mitschwingt, wieder in die Bleikiste in ihrem Herzen stecken, für die nur Einsamkeit und Alkohol den Schlüssel haben.

Schließlich öffnet Cherry die Augen und setzt sich auf. Es ist ein wunderschöner Morgen. Die Sonne leuchtet wie ein frisch aufgeschlagenes Ei. Das Meer glitzert wie eine Million polierter Glasscherben. Sie tastet nach ihrem Handy. In den Taschen ist es jedenfalls nicht. Ihre Handtasche ist auch nicht da, keine Ahnung, wo die gelandet ist. Aber worauf sitzt sie da? Sie greift vorsichtig danach. Sie hat das Handy in der Hose stecken. Beeindruckende Planung von einer Frau, die keinen Schimmer hat, wie sie hier gelandet ist.

Siebzehn verpasste Anrufe und sieben Textnachrichten. Hauptsächlich Robert. Zwei von Michael. Einer von Danielle, was ungewöhnlich ist. Da wird auch Robert dahinterstecken. Aber um all das kann sie sich später noch kümmern.

Sie stemmt sich hoch und sucht nach ihren Schuhen. Der eine liegt in der Nähe, vom anderen fehlt jede Spur. Gekrümmt in den klammen Klamotten hinkt sie den steinigen Strand entlang. Sturm und Regen der Nacht haben vielleicht nicht unbedingt ihre Seele reingewaschen und auch ihrer Uniform nicht gutgetan, aber sie haben die trockene Kruste des Alltags von der Welt gespült. Das flache Wasser strahlt türkis und geht in ein prächtiges Smaragdgrün über, wo es tief wird. Seetangklumpen pulsieren hellgrün. Überall liegen tolle Muscheln. Die chirurgische Klarheit des Lichts. Alles ist wach und lebendig und verheißt Erlösung.

Und da ist auch der andere Schuh! Wunderbar. Der Absatz ist angeknackst, aber den kann sie kleben, wenn sie zur Arbeit kommt. Frische Klamotten aus dem Spind holen, heiß duschen, ein bisschen Schminke ins Gesicht, und es kann weitergehen. Vielleicht noch mal eben mit einer Packung Kaffeebohnen runter in die Dialyse und ein paar Liter von ihrem verseuchten Blut mit einer schönen Infusion dunkler Röstung austauschen. An diesem Morgen ist alles möglich.

Die Möwen oben machen selbst für ihre Verhältnisse einen Mordsradau. Cherry schaut hoch. Vorne am Strand ist noch etwas anderes. Die Möwen picken daran.

Ein Bündel Klamotten.

Jakubiak

Einatmen. Ausatmen. Ruhig und langsam.

Andy Jakubiak hebt und senkt die Stange und nimmt die Anstrengung kaum wahr, so sehr ist er damit beschäftigt, seine Panik und Angst im Griff zu behalten. Das Fitnesscenter war immer schon sein Schutzraum, der einzige Ort, den er kontrollieren kann. Er war gleich um sechs Uhr früh da, als sie aufmachten, und als Erster drinnen.

Hoch. Runter. Hoch. Runter. Ruhig und langsam. Er hat drei Zwanzig-Kilo-Scheiben auf jeder Seite und zieht für seinen flüssigen Bewegungsablauf bewundernde Blicke auf sich. Das fällt Andy normalerweise auf, eigentlich lebt er dafür: das Zunicken, die männliche Wertschätzung, die Anfragen, ob sie zwischen seinen Sets ans Gerät können, der Respekt, das Gefühl, dazuzugehören. Aber gerade spürt er nichts als puren Schrecken, und er will einfach nur, dass es aufhört.

In der Wärme des Pubs hatte alles Sinn ergeben. DI Barratt mit der Hand auf Andys Schulter. Bier auf dem Tisch. Leise, eindringliche Stimmen. Barratt, der ihm zuhört. Ihn ernst nimmt. Der erste Mann, der Andys Entfremdung und Frustration versteht.

Ein paar der Sachen von der Leseliste waren ein bisschen hart. Anders Breivik über die Verwässerung des Weißen. Das Manifest von Brenton Tarrant, dem Typen von Christchurch. Hier und da schon etwas zu viel, ehrlich gesagt. Nicht unbedingt Andys Ding. Aber grundsätzlich stimmt es doch. Alle anderen kriegen ein Stück vom Kuchen ab, und wir, die weißen Ureinwohner, die seit Generationen unser Blut für diese Nation vergießen, kriegen einen Scheiß. Also müssen wir etwas unternehmen.

Aber er wusste doch nicht, dass Barratt das machen würde. Woher denn?

Ein und aus. Ruhig und langsam.

Aber dabei zu sein. Zuzusehen. Und nichts zu machen …

In einem plötzlichen Anfall von Selbsthass hängt Andy die Stange ein und setzt sich auf. Nichts scheint echt. Die alberne Elektromucke. Der aufgesetzte Flirt am Empfang. Die Heber in Muscleshirt und Jogginghose. Das ist doch alles aus Plastik, alles künstlich. Wissen die das denn nicht?

Zum fünften Mal, seit er da ist, gleitet Andys Hand magnetisch und verstohlen in die Tasche wie bei einem Raucher, der nicht aufhören kann. Andy holt das Handy raus, das er im Flugmodus hat, weil DI Barratt ihm heute Morgen schon drei fröhlich-kumpelige Texte geschickt hat, ob er ihn nicht zum Frühstück einladen soll, aber er ist der Letzte, mit dem Andy jetzt reden will.

Er startet noch mal das Video, das er nicht in Ruhe lassen kann.

Von danach.

Der Junge ist nämlich nicht ertrunken.

Erst sieht man nichts als Gewaber. Dann bricht der Junge auf einmal aus dem Wasser wie König Artus’ Schwert aus dem Stein. Er keucht und würgt erschöpft, sucht nach Halt, und diesmal tritt Andy vor, streckt die Hand aus, da ist sie im Bild, denn mit der anderen filmt er automatisch weiter, er fasst den Jungen an der Hand, und dann WUMM!, kracht dem Jungen von der Seite ein gewaltiger Stiefel ins Gesicht und die Aufnahme wackelt. Kaum eine Sekunde später noch mal WUMM!, und Detective Inspector Frederick John Barratts Stiefel Größe achtundvierzig trifft den Jungen mitten ins Gesicht. Ein unerträgliches Knacken, der Kopf klappt grauenvoll zurück, und der Junge ist weg. Nur noch das düster wogende Wasser ist zu sehen.

»Alles gut, Kumpel?«

Andy schaut über die Schulter und versteckt das Handy instinktiv. Es ist Neville, ein gelegentlicher Trainingspartner, dem es ebenfalls die schweren Gewichte angetan haben. Sie haben sich ein paarmal gut über exzentrische und konzentrische Phasen unterhalten. Und sonst über nicht viel anderes.

Neville steht ein Stück weiter hinten mit so einem schiefen Halbgrinsen von einem, der den Witz nicht ganz verstanden hat. Oder eigentlich einem, der sich nicht ganz sicher ist, ob es überhaupt ein Witz war.

»Gut. Bloß Bullensachen.«

»Ah, okay.«

»Ein Fall, an dem ich arbeite. Darf aber leider nicht darüber reden.«

»Ja, klar, natürlich.«

Eine unangenehme Pause.

»Bist du mit der Bank fertig?«

»Klar, klar, bin schon weg.«

Cherry

Die Steine knirschen unter Cherrys Sohlen, als sie rennt, sie hat immer noch die Leichtfüßigkeit der Läuferin, aber es spielt keine Rolle. Sie weiß schon vorher, was es ist. Cherry und der Tod waren zwei Jahre lang beste Freunde während der Zeit, die alle anderen kollektiv aus ihrer Erinnerung getilgt haben, die sich ihr aber so tief in die Seele gebrannt hat, dass sie die Narben jeden Tag spürt.

Der Tod lehnte auf der Intensivstation im Türrahmen, ein mildes Lächeln im Gesicht, während er zuschaute, wie sie die an Covid Sterbenden umdrehte. Während der Heimfahrt machte er es sich auf der Rückbank gemütlich, legte die Füße hoch an die Kopfstütze, summte vor sich hin, während sie am Lenkrad hemmungslos schluchzte. Dann glaubte sie eine Weile, der Tod hätte sie für jemand anderen verlassen, doch dann kam er mit den Erbsenzählern und Privatisierern zurück und lachte leise, als wollte er sagen, ich wusste doch, dass wir uns wiedersehen, mich wirst du nicht los.

Also keine Spur von Angst oder Verunsicherung, als sie den Haufen Klamotten sanft umdreht, nur um zu sehen, ob es sich noch lohnt, eine Wiederbelebung zu versuchen. Der Körper ist schlaff, keine Totenstarre, also ist vielleicht noch Hoffnung. Doch dann sieht sie den Hals, den hängenden Kopf wie eine versehrte Blüte am gebrochenen Stengel, und die Hoffnung war vergeblich. Die Haare, die Kleider, die ganze Aufmachung wirkt fremd. Also ist es wahrscheinlich einer von den Flüchtlingen.

Die letzten drei, vier Jahre ist regelmäßig ein neues Geräusch tief über der Stadt zu hören. Ein hartnäckig klapperndes Surren, zu laut für die Heckentrimmer oder Rasenmäher der Gemeinde, nicht dass die Gemeinde sie bei der Haushaltslage noch allzu oft rausholen würde. Sondern ein Hubschrauber, der wie ein großer Raubvogel aus Metall an einer Stelle rüttelt, lauert und dann niederstößt auf seine Beute: kleine Schlauchboote, die von der Strömung herübergetrieben werden.

Cherry und die anderen Schwestern wurden schon ein paarmal hinunter an den Hafen gerufen, um etwas zu tun gegen Unterkühlung und Dehydrierung und um Wunden zu versorgen. Dann sind die Leute aus den kleinen Booten schon in uralte Reisebusse verladen worden wie die, mit denen Cherry früher auf Schulausflüge gefahren ist. Wie seltsam, dass solche langen Reisen durch Afrika und den Nahen Osten und Kriegsgebiete und Flüchtlingslager ausgerechnet hier enden, zwischen den verschlissenen Sitzen mit Paisleymuster in Braun-Orange, während der Fahrer seine Pastete von Greggs mampft und Steve Wright In The Afternoon hört und Noten von Meerwasser, Blut und Motoröl in die stickige Luft steigen.

Sie spürt also eine allgemeine, aber begrenzte Trauer. Sie sieht die Leiche des jungen Mannes, der viel zu früh starb, was für eine Schande, aber davon hat es die letzten Jahre so viele gegeben, so viel weggeworfenes Leben, dass man im Alltag nicht mehr allzu viel mitfühlen kann, bevor man nichts mehr spürt.

Und dann sieht sie das Gesicht. Und ein Blitz durchzuckt sie, dass ihr wieder übel wird.

Der Tote ist Liam. Dieselben eleganten, langen Glieder, dieselbe Haltung, selbst im Tod noch. Es könnte ihr Sohn sein. Er hat einen abgebrochenen Zahn, ansonsten gleicht er ihrem Fleisch und Blut. Sofort steht Cherry wieder in Liams Zimmer, hört das Ächzen des verdrehten Lakens unter der schweren Last, hebt die Arme, um den baumelnden Umriss zu drehen, hofft, betet, dass das Gesicht doch irgendjemand anderem gehört. Sie stolpert zurück und keucht, ein röchelndes Japsen, über das sie keine Kontrolle hat, und schaut sich hektisch um. Soll das ein …? Wo sind die Kameras? Was ist hier los?

Plötzlich sitzt sie auf dem Arsch. Aus dieser Perspektive sieht der Junge sie an. Direkt in die Augen. Bittet inständig. Instinktiv greift sie nach seiner Hand und oh Gott, sie ist noch warm, obwohl sie im Wasser war. Nicht mehr richtig warm wie ein Mensch, nicht als wäre er noch da, doch es gibt noch eine letzte Spur von vorher, als in dieser Hülle noch ein lebender Junge steckte. Sie drückt fest zu, als könnte sie diesen winzigen Rest Leben so bewahren. Und jetzt kann sie ihn nicht mehr sehen, weil sich ihr Blick verschleiert und sich Salzwasser über ihr Gesicht ergießt und sie heult und heult und alle Wände einstürzen, alle Mauern, die sie zwischen sich und ihrem Herzen hochgezogen hat, und die Trauer und die Reue und der mulmige Schuldknoten im Bauch quellen hervor, und sie heult und heult und lässt seine Hand nicht los.

Jakubiak

Zurück in der Sicherheit des Streifenwagens, verriegelt Andy zuerst die Türen. Nevilles Reaktion hat ihm die Entscheidung abgenommen.

Die ganze Nacht über hat Andy an der Bettkante gesessen und abgewogen, ob er Barratt melden soll. Eine schwierige Frage. Barratt ist auf der Wache nicht beliebt. Gefürchtet, sicher. Respektiert, von weitem. Aber nicht beliebt. Er wird bei den WhatsApp-Geplänkel-Threads gerne mal übersehen, bei den Einladungen in den Pub auch. Das mit den Verteidigern des Königreichs ist bekannt und geduldet, viele finden es sogar richtig, sie sind ja überhaupt zur Polizei gegangen, weil sie eine eindeutige Meinung haben zum Thema Integration. Doch es gibt nicht unbedingt viele, die Barratt selbst den Rücken stärken würden.

Aber man kann keinen Vorgesetzten verpfeifen. Das macht man nicht. Man pinkelt keinem von den eigenen Leuten ans Bein. Denn wer weiß, wann man mal selbst dran ist und die Unterstützung der Kollegen braucht, die einem den Arsch retten? Als Polizist muss man zuallererst zeigen, dass die anderen sich auf einen verlassen können.

Wenn er irgendwo oben etwas sagt wegen Barratt, selbst wegen einer Sache wie der hier, dann hört er in Zukunft nichts mehr als Rauschen, wenn er Verstärkung anfordert, während er in irgendeinem dunklen Sozialbau voller Messer die vollgepisste Treppe hochsteigt. Es will ja sowieso schon keiner mit ihm fahren. Eigentlich gehören zwei Mann in jeden Streifenwagen, aber die letzten drei Wochen ist er allein unterwegs. Sparmaßnahmen, sagt der Detective Superintendent.

Trotzdem hatte er es eigentlich vorgehabt. Mit dem Handy in der Hand wollte er beim Chef ins Büro marschieren. Aber Nevilles Gesicht hat ihn eines Besseren belehrt, die Missbilligung, der Abscheu. Er kann die Fragen schon hören: »Und was genau haben Sie dort gemacht, PC Jakubiak? Was ist Ihre Rolle in der Angelegenheit?« Wen nehmen sie eher hops deswegen, einen DI mit zwanzig Dienstjahren, oder einen Streifenbullen ohne jegliche Aussichten?

Also sagt er nichts. Er hat keine andere Wahl. Die Dunkelheit, der Regen, das Sturmgeheul, da konnte doch keiner ein Gesicht erkennen. Und vielleicht hat der Junge ja überlebt. Es zurück in sein Boot geschafft. Und selbst wenn nicht, es gibt keine Verbindung zu ihnen, außer natürlich, Andy stellt selbst eine her, wenn er aufmuckt.

Er startet den Motor und spürt, wie sich sein wummerndes Herz beruhigt. Er hat sich entschieden. Er wird DI Barratt nicht verpfeifen, aber er muss von ihm wegkommen. Den Detective Superintendent um eine Versetzung bitten. Sich ein neues Fitnesscenter suchen. Alles wird gut. Er rollt an Costa und Waterstones und William Hill vorbei, standardisierte Plastikfronten in der banalen Alltagssonne, und zwingt sich zurück in eine Art von Normalität.

Das Funkgerät rauscht und fragt nach seinem Standort. Er gibt ihn an.

Ein Vorfall am Strand. Er sei am nächsten, würde er sich bitte darum kümmern?

Was für ein Vorfall? Die Zentrale weiß es nicht.

»Was soll das denn heißen, ein ›Vorfall‹?«

Die leicht verwirrte Kollegin wiederholt, mehr wisse sie nicht. Ob er also bitte –

Er beendet das Gespräch. Die Angst quillt ihm aus den Eingeweiden hoch wie aus einem verstopften Gully. Das kann doch nicht sein. Keine Chance.

Andy überlegt kurz, ob er sich ein Loch in den Reifen stechen soll. Stattdessen biegt er ab Richtung Strand.

Cherry

Nachdem sie den Notruf gewählt hat, bleibt sie bei dem toten Jungen sitzen und hält ihm weiter die Hand, hält Wache. Es gibt ein paar frühmorgendliche Jogger, und sie lässt niemanden mal kurz gucken, gaffen, Fotos hochladen. Sie lässt nicht zu, dass man ihm auch noch die letzte Würde raubt. Dass Leute Selfies machen. Sogar die Bullen. Bullenselfies mit Leichen wie bei den armen Schwestern in London.

Sie hätte den Notruf lieber nicht abgesetzt. Sie will nichts mit der Polizei zu tun haben. Cherry Bristow und die Ordnungshüter seiner Majestät haben nichts füreinander übrig, sie passen zusammen wie Salafismus und Frühstücksbier. Viel zu viele feuchtfröhliche Abende mit den Kollegen von der Wache in stickigen Pubs mit klebrigem Teppich, erst in London, dann später hier unten, und Robert jedes Mal der einzige Schwarze weit und breit, der sich gelallte Heldentaten anhören musste und als Geplänkel getarnte Sticheleien, meist superoriginelles Zeug über die Schwanzlänge. Und unter alldem fragte sie sich, warum Robert überhaupt bei den Scheißbullen bleiben musste, während allmählich auch ihre Abneigung gegen ihn wuchs.

Sie sieht auf die Uhr. Sie wird zu spät kommen. Mal wieder. Sie schreibt Jackie, ihrer Vorgesetzten. Die Antwort ist … nicht hilfreich. Es ist doch wohl nicht zulässig, dass einem die Vorgesetzte drei Flaschen-Emojis und die lila Aubergine zurückschickt. Aber Jackie hat natürlich recht. Keine von ihnen hat zurzeit viel Geduld für eine Kollegin, die ihre Arbeit nicht erledigt. Und doch: Cherry ist schon ausgelastet mit ihren privaten Schuldgefühlen, da kann sie sich nicht auch noch berufliche leisten.

Der Junge hat etwas in der anderen Hand.

Die Finger sind um ein zerdrücktes Stück Plastik geschlossen, das bunt schimmert. Sie zieht vorsichtig daran. Aber er hält es so fest, dass sie es nicht rausbekommt, also gibt sie auf. Minuten vergehen und immer noch kein Zeichen von den Jungs in Blau. Spontan packt sie der Drang, es trotzdem hervorzuholen, auch wenn sie es besser weiß.

Einen nach dem anderen biegt sie die Finger zurück und zieht schließlich ein knittriges laminiertes Foto heraus. Sie streicht es auf dem Oberschenkel glatt. Ein Mädchen Anfang zwanzig, braune Haut, wunderschöne lange Locken und ein fröhliches Lächeln. Sie sieht glücklich und hoffnungsvoll aus, als könnte sie die Zukunft kaum erwarten. Hinter ihr ist die Hälfte von einem Londoner Straßenschild zu sehen: …son Street, NW10.

Dass er sich so an diesem Bild festgekrallt hat, als wäre es das Letzte auf der Welt, was er freiwillig hergeben würde … Und schon verschwindet alles wieder hinter dem Schleier.