Friedensbewegung in der DDR - Melanie Riechel - E-Book

Friedensbewegung in der DDR E-Book

Melanie Riechel

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Beschreibung

Herbst 1989 – und alles wurde anders. Die Bürger der DDR gingen auf die Straße und engagierten sich für Reformen in ihrem Land. Dass ihr Protest mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten enden würde, ahnte zu diesem Zeitpunkt wohl kaum jemand. Doch welche Menschen waren es, die sich gegen die Führung der DDR aufl ehnten? Welche Ziele verfolgten sie? Und vor allem: Warum engagierten sie sich? Dem Obereichsfeld kam damals eine Sonderrolle zu, denn diese geteilte Region mit dem Untereichsfeld im Westen zeichnete sich durch eine katholische Diasporastellung und eine Geschichte des Widerstands aus. Melanie Riechel gibt in ihrer Studie, unterstützt von fünf Zeitzeugen, Einblicke in die Friedensbewegung dieser Region. Auf diese Weise macht sie anhand von persönlichen Erlebnissen einen wichtigen Aspekt der jüngeren deutschen Geschichte zugänglich. Dabei deckt sie auf, wie ähnlich die Motivationen aller Engagierten der DDR doch waren, abgesehen von einem zentralen Faktor: Der christliche Glaube spielte im Eichsfeld eine besondere Rolle. Für das Fachpublikum bietet Riechels Studie zudem neue politikwissenschaftliche Perspektiven, indem sie einen qualitativen und interdisziplinären Ansatz vertritt und einen wichtigen Beitrag zur bislang inkonsistenten Begriffsbestimmung im Kontext der Friedensbewegung in der DDR leistet.

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Seitenzahl: 468

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhalt

Vorwort
1 Einleitung: Die DDR im Laufe der Zeit und ihre Analyse
1.1 Zur theoretischen Basis: Neue Soziale Bewegungen in Osteuropa
1.2 Qualitative Methoden und Oral History
1.3 Opposition – Widerstand – Bewegung: Eine Begriffsbestimmung
2 Die Friedensbewegung in der DDR: Von der Opposition zur Revolution
3 Das Eichsfeld und die Opposition
3.1 Der Bruch: Politik und Kirche im Konflikt
3.2 Zwischen Resistenz und Anpassung: Die Arbeit der katholischen Kirche
4 Menschen und Motive: Warum sich engagieren?
4.1 Motive, Ziele und Konsequenzen: Ist es das alles auch wert?
4.2 Motive im Obereichsfeld – Erfahrungen von fünf Zeitzeugen
5 Fazit: Was motivierte DDR-BürgerInnen zum Protest?
A Literatur- und Quellenverzeichnis
A.1 Verwendete Literatur und Quellen
A.2 Weiterführendes
B Interviews
B.1 Interview mit Herrn Alfred H.
B.2 Interview mit Herrn Fritz E.
B.3 Interview mit Herrn Herbert K.
B.4 Interview mit Herrn Siegfried K.
B.5 Interview mit Herrn Walter H.
B.6 Gruppeninterview mit den Herren Alfred H., Fritz E., Herbert K. und Siegfried K.

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

die strukturellen Bedingungen und die politische Führung in der DDR ließen kaum oppositionelle Kräfte zu, die in der Lage waren,gesellschaftliche Diskurse anzustoßen und zu verwirklichen. Das repressive System der DDR sah sich immer im Recht und attackierte permanent nicht-sozialistische Haltungen und Einstellungen. Dennoch gab es widerständische Menschen und Gruppierungen, die sich unter schwierigen Bedingungen trafen, Themen entwickelten, Aktionen planten und durchführten. Besonders seit den1980er Jahren fanden wichtige Entwicklungen im Hinblick auf die Friedensbewegung statt, die sich spätestens seit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 mühsam Legitimationspotenziale erarbeiten konnte. Die Themenpalette reichte in dieser Zeit vom Wettrüsten der beiden Systeme über die Problematik der Militarisierung der Gesellschaft in der DDR bis hin zu umweltpolitischen und kirchlichen Themen innerhalb der Friedensbewegung, die sich eben auch geeignete Schutzräume im feindlichen Umfeld suchen musste. Nach 1989 verschwandendanndie jeweiligen Gruppen, schlossen sich politischen Parteien an oder suchten ihr Glück inNon-governmental organizations(NGOs). Bis jetzt liegen einige Studien über die Friedensbewegung in größeren Kontexten vor. Die Autorin hat einen Mikroansatz gewählt, um so die wesentlichen Linien der Friedensbewegung auch in der Provinz näher zu beleuchten. Dabei geht sie vor allem der Frage nach, was motivierte Bürgerinnen und Bürger dazu ermutigte, sich am Protest gegen eine Diktatur zu beteiligen, ohne dabei die jeweiligen Gruppenprozesse aus den Augen zu verlieren. Als ein Resultat dieser Arbeit kann sicherlich eine ganze Reihe von Motiven eruiert werden;zusätzlichnimmt sieBezug auf einen besonderen geografischen Kontext, indem sie eine Lücke schließt zwischen der Friedensbewegung in den Großstädten und den oppositionellen Kräften in der ländlichen Region Eichsfeld.Außerdemwird ein interdisziplinärer Ansatz gewählt, der sowohl historische als auch politikwissenschaftliche Zugangsweisen beinhaltet wie auch soziologische Perspektiven eröffnet. Im weiteren Verlauf der Arbeit geht die Autorin mithilfe von Zeitzeugeninterviews ihrer Leitfrage weiter nach und kann daraus wesentliche Aspekte sozialer Konstruktion von Geschichte, kollektiver Identitätsmuster und deren Orientierung vorstellen. Dabei leistet sie auch einen Beitrag zur Abgrenzung, Differenzierung bzw. Definition wichtiger Begriffe im Kontext der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der oppositionellen Friedensbewegung in der DDR.

Teistungen,im November 2015

Ben Thustek, Pädagogischer Leiter

1Einleitung: Die DDR im Laufe der Zeit und ihre Analyse

Es ist der 9. November 1989 – die Grenzen der DDR werden geöffnet. Es ist ein historischer Moment, den niemand angesichts der staatlich-militärischen Drohkulisse und nach nur wenigen Monaten der massenhaften Proteste vorausgesehen hätte. Genauso wenig hätte jemand die wiederum in nur wenigen Monaten vollzogene Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten erwartet.

Die Deutsche Demokratische Republik, kurz DDR, wurde am 7. Oktober 1949 gegründet. Sie entstand aus der in den Jahren 1945 bis 1949 sowjetisch besetzten Zone, welche ein Gebiet von etwa 108.000 Quadratkilometern umfasste. In ihr lebten etwa 17 Millionen Menschen[1]zwischen Mitmachen, Anpassen und Widerstehen. Viele von ihnen nutzten die Möglichkeit der Flucht oder Ausreise in den Westen. Bereits 1961 mit dem Mauerbau und der Befestigung der Grenze versuchte der Einparteienstaat, seine Bevölkerung im Land zu behalten (vgl.Sandford1983, S.1ff.). Eine Perfektionierung der Grenze sah in diesem Fall – ganz ähnlich wie heutzutage zwischen Nord- und Südkorea – so aus, dass die seit 1952 existierenden Grenzzäune aus Maschendraht durch Streckmetallzäune ersetzt und mit elektronischen Warnmechanismen ausgestattet wurden. Zudem wurden bis in die 1970er Jahre Selbstschussanlagen, sogenannte SM-70 Splitterminen, in drei Höhen angebracht. Sie mussten aufgrund der unterzeichneten Menschenrechtserklärung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) im Jahr 1975 in Helsinki zurückgebaut werden. Die Grenzzäune fanden sich an den Fünf-Kilometer-, Fünfhundert-Meter- und Zehn-Meter-Abschnitten, die 1952 eingerichtet wurden, im gesamten Sperrgebiet der DDR. Ergänzt wurde die Sicherung durch Streckmetallzäune, Kfz-Sperrgräben, Hundelaufanlagen und Beobachtungstürme verschiedener Größen. Die Ausrichtung ins Inland der Grenzsperranlagen belegt deutlich die Absicht des Staates, die Flucht seiner Bevölkerung zu verhindern[2].

Die DDR ist deshalb ein Staat der Sowjetunion, der von besonderer Bedeutung ist, weil er – im Vergleich zu den anderen Ostblockstaaten – relativ offen gegenüber dem Westen war: Es bestand Kontakt zwischen den Menschen in Ost- und Westdeutschland durch eine gemeinsame Sprache, FreundInnen und die Möglichkeit von Familienzusammenführungen (vgl.Sandford1983, S.5). Darüber hinaus kam der DDR durch diese Verbindung zum Westen eine wichtige strategische Rolle in der Politik der Sowjetunion, als Bündnispartner im Warschauer Vertrag und im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), dem Wirtschaftsbündnis der Ostblockstaaten, zu (vgl.Kowalczuk2009, S.67). Der „Musterschüler“ glänzte mit vorbildlichen Lebensbedingungen, effizienter Wirtschaft, hervorragender Infrastruktur und innerer Stabilität – zumindest im Vergleich zu den anderen Schwesterstaaten (Kowalczuk2009, S.69). Dafür garantierte die Sowjetunion, beziehungsweise die Moskauer Regierung, wirtschaftliche und politische Überlebensfähigkeit basierend auf Subventionen. Dies währte bis in die 1980er Jahre. Verschiedene Krisen, wie die Drosselung der Erdölexporte durch Leonid Breschnew in Folge der Ölkrise und einiger wirtschaftlicher Fehlkalkulationen der DDR, erschütterten die Verbindung zu Moskau und ließen die DDR zu einem unsicheren Bündnispartner werden. Besiegelt wurde die Abwendung von Moskau durch die Reformen Gorbatschows ab 1986 (vgl.Kowalczuk2009, S.72).

Die ideologische Basis des DDR-Staates bildete der Marxismus-Leninismus. Die Sowjetunion verfolgte die Umsetzung des Zieles der Demokratisierung, das unter anderem auf der Konferenz von Jalta vereinbart worden war, durch die Einführung des eigenen sozialistischen Staatssystems. Dies zog tiefgreifende Umbaumaßnahmen nach sich: Boden-, Industrie- und Staatssystemreformen wurden durchgeführt, um den Realsozialismus in der DDR zu etablieren (vgl.Sandford1983, S.1 und S.8). Dieser stand auf drei Säulen der Legitimation: Pazifismus, Antifaschismus und Chancengleichheit. Der staatliche Antifaschismus erfüllte dabei die wichtigste Funktion, indem er nicht nur politische, historische und moralische Legitimierung versprach, sondern auch als ein erstrebenswertes Lebensprinzip und juristisches Instrument vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Zeit des Nationalsozialismus darstellte. Der Staatsantifaschismus konnte als Vergemeinschaftungsfaktor fungieren, da er der gesamten Bevölkerung die RolledesOpfersundderBekämpfendendes Nationalsozialismus zuteilte (vgl.Kowalczuk2009, S.53f. undNeubert1999, S.18). Darüber hinaus ließ sich damit die Friedensrhetorik rechtfertigen: Während der Nationalsozialismus und seine Angriffskriege Produkt des Kapitalismus gewesen seien, garantierte der Kommunismus, als Überwindung des Kapitalismus, den Frieden. Er müsse nur deshalb bewaffnet sein, weil der kommunistische Frieden von äußeren Feinden bedroht werde (vgl.Kowalczuk2009, S.55).

Daraus entstand ein Wertekanon, der in ähnlicher Art und Weise in allen Industriegesellschaften vorzufinden ist, der Frieden und Gleichheit, Solidarität und soziale Sicherheit, Arbeitsethos und Produktivitätsorientierung hervorhebt. Mit einem „Fabriksozialismus” nach Lenin, der paternalistischen Partei als transzendenter Glaubensgemeinschaft sowie einer antiwestlichen Prägung insbesondere in Bezug auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus entledigte sich der Sozialismus zugunsten einer teleologischen Staatsdoktrin jeglicher Notwendigkeit demokratischer Legitimationsakte, wie zum Beispiel freien Wahlen (vgl.Thaa1996, S.106ff.).Kowalczukhat dies präzise auf den Punkt gebracht:

„Mangels demokratischer Legitimation hatten sich die Kommunisten ein Weltbild zurecht gelegt, das nicht nur‚wissenschaftlich‘begründet sein sollte, sondern auch‚historisch folgerichtig‘,‚historischen Gesetzen folgend‘in dem der Sozialismus/Kommunismus als Endpunkt der Geschichte firmierte. Die kommunistische Herrschaft benötigte in dieser Weltsicht keiner demokratischen Legitimation durch freie Wahlen, da sie sich aus der historischen Entwicklung selbst ergab.“ (Kowalczuk2009, S.62)

Geführt wurde dieser solchermaßen historisch legitimierte Staat durch die Sozialistische Einheitspartei, kurz SED, die aus einer Zwangsvereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) im April 1946 hervorgegangen war. Der unumstrittene Führungsanspruch dieser Partei wurde jedoch erst 1968 verfassungsmäßig festgelegt. Dennoch wurde bereits wenige Tage nach der Gründung der DDR eine gesetzmäßig garantierte Doppelstruktur eingeführt, indem die SED künftig alle Gesetze und Beschlüsse zu bestätigen hatte (vgl.Kowalczuk2009, S.35f.). Neben der SED existierten noch vier weitere Parteien: die Christlich Demokratische Union (CDU), die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD), die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) und die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD). Sie boten ein Heim für alle, die zwar politisch im Rahmen der von der SED festgelegten Linie aktiv sein wollten, aber nicht der SED-Politik anhingen. Dennoch können diese Blockparteien nicht als eigenständig betrachtet werden, sondern müssen als Unterstützerinnen der SED gesehen werden (vgl.Kowalczuk2009, S.44f.). Dass es insgesamt fünf Parteien gab, lag an historischen und taktischen Gründen, denn die DDR hatte – genauso wie die Bundesrepublik Deutschland (BRD) – eine starke Mittelschicht und bereits seit vielen Jahrzehnten ein mehrparteiliches System. Dennoch kann das „Mehrparteiensystem“ der DDR nicht mit dem der BRD verglichen werden. Es machte sich selbst redundant, indem es bei Wahlen nicht möglich war, für eine einzelne Partei zu stimmen, sondern nur für einen Parteienblock auf einer Einheitsliste (vgl.Sandford1983, S.11). Daran zeigt sich der eigentliche Charakter des Parteiensystems der DDR: Trotz der Blockparteien blieb es ein Einparteiensystem – und dies wurde durchaus in der Bevölkerung registriert. So merkt auch einer der Zeitzeugen (Herr Alfred H.), die für diese Studie interviewt wurden, an: „Dort mussten wir alle wählen, aber wir hatten nichts zu wählen. Wir konnten nicht wählen.”

Die SED war allein jedoch nicht in der Lage, den hohen moralischen Druck aufrechtzuerhalten. Auch die Durchführung der Politisierung der Gesellschaft, diese also zu einem politischen (sozialistischen) Bewusstsein zu bringen, war ohne Hilfe kaum möglich. So benötigte die SED die Unterstützung verschiedener ihr unterstehender Massenorganisationen, eine von ihr abhängige Justiz und ihr „Schild und Schwert”, das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Hierdurch wurde die Gesellschaft kollektiviert. In den 1980er Jahren war gut jedeR fünfte DDR-BürgerIn parteilich gebunden. Von den Sechs- bis 16-Jährigen waren über neunzig Prozent in Pionierorganisationen beziehungsweise ab 14 Jahren in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) organisiert. Darüber hinaus gab es fast 100 Verbände oder ähnliche Organisationen unter der Führung der SED. Strebte jemand eine berufliche Karriere an, bereits beginnend bei dem Wunsch nach dem Abitur, war eine Mitgliedschaft nahezu unumgänglich (vgl.Kowalczuk2009, S.45f.). Aus der Struktur des Staates selbst ergab sich nur eine einzige Konfliktlinie in der DDR-Gesellschaft: eine Dichotomie zwischen Herrschenden und Beherrschten. Politische Machtlosigkeit und ein scheinbar homogenes „Wir-Gefühl“ waren die Folge. In der Bevölkerung wurde die herrschende SED dadurch zum Verantwortlichen aller Probleme erklärt (vgl.Häuser1996, S.55ff.). Durch diese Konfliktlinie entstand eine Art Teufelskreis: Je weiter sich der Staat von seiner Bevölkerung entfernte, desto eher waren als Reaktion darauf Proteste zu erwarten. Und je repressiver der Staat in der Bekämpfung dieser Proteste vorging, desto größer wurden die widerständigen Reaktionen. So entfernte sich die Bevölkerung noch weiter von ihrer Führung (vgl.Hellmer1987, S.35f.).

In dieser Weise bestand die DDR vierzig Jahre lang fort. Doch regte sich Zeit ihrer Existenz immer wieder Widerstand in der Bevölkerung.

Dieser Widerstand unterschied sich allerdings vor allem in den Zielen der oppositionellen Personen. Während sich in den 1940er und 1950er Jahren eine fundamentale Gegnerschaft formierte, vor allem sozialdemokratischer und christlicher Natur, deren Angehörige oftmals bereits in der nationalsozialistischen Zeit im Widerstand gewesen waren und sich der Etablierung eines sozialistischen Staates entgegenstellt hatten, entstand seit Ende der 1960er Jahre eine vor allem auf Reformen ausgerichtete Opposition (vgl.Eckert/Kowalczuk/Poppe1995, S.16 undFricke2004, S.48 sowiePollack/Rink1997, S.10). Der Widerstand in der Konstituierungs- und Konsolidierungsphase der DDR rührte im sozialdemokratischen Lager vor allem von der Zwangsvereinigung von SPD und KPD her. Eine Abstimmung in den Westsektoren am 31.März1946 zeigte dies deutlich, da sich damals mehrheitlich gegen eine solche Vereinigung ausgesprochen wurde. Zudem rief diese im sowjetisch besetzten Sektor vollzogene Vereinigung eine (inter-)nationale Empörung hervor (vgl.Fricke2004, S.49 undKowalczuk2009, S.35). Der Widerstand im Transformationsprozess wurde staatlicherseits durch offene Gewalteinwirkung unterdrückt (vgl.Neubert2001, S.370). Der 17. Juni 1953 und die gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstandes sind hier im Gedächtnis geblieben.

Insgesamt lassen sich vier Typen von Opposition in der DDR ausmachen, wieNeubertdies herausstreicht (vgl. ders. 1999, S.35): Wie bereits erwähnt, lassen sich die Oppositionellen aus dem sozialdemokratischen Bereich vor allem in der Gründungszeit der DDR, 1945 bis 1949, finden. Darüber hinaus kam der (evangelischen) Kirche aufgrund ihrer Rolle im sozialistischen Staat eine oppositionelle Funktion zu. In den 1970er Jahren breiteten sich dann zunehmend eine Opposition im kulturellen und eine im marxistischen Bereich aus. Letztere gehörte in jedem Fall zur auf Reformierung und Neugestaltung des Sozialismus ausgerichteten Art von Widerstand. Auch wenn wohl kaum eine thematische oder personelle Kontinuität zwischen den verschiedenen widerständigen Gruppen bestand – abgesehen vom Typus der Kirche als Oppositionsfaktor –, kann der Widerstand in den frühen Jahren als eine der Wurzeln jener Opposition, die den Umbruch der DDR herbeigeführt hat, betrachtet werden (vgl.Pollack/Rink1997, S.11 undSteinbach2013, S.119).

Dieser Umbruch war eine Folge verschiedener Ereignisse und situationsbedingter Faktoren. Politische Gegnerschaft in den 1980er Jahren zielte vorwiegend, wie bereits erwähnt, auf Reformen des Systems ab. In den 1980er Jahren änderten sich die Opportunitätsstrukturen. Außenpolitisch feierte die SED Erfolge, indem sie in der internationalen Staatengemeinschaft als respektabler Partner angesehen war. Staatschef Erich Honecker pflegte diplomatische Besuche in West und Ost und lud umgekehrt MinisterInnen aus West und Ost ein. So waren im Jahr 1985 sowohl der britische Außenminister als auch der französische Ministerpräsident zu Besuch in der DDR. Umgekehrt reiste Honecker im selben Jahr sowohl in die Niederlande und nach Frankreich als auch in die Bundesrepublik Deutschland. Innenpolitisch schien Honeckers Politik der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik aus den 1970er Jahren zunächst Wohlstand und Stabilität zu garantieren. Eine liberalisierte Kultur- und offenere Kirchenpolitik sowie eine internationale Öffnung im Rahmen des KSZE-Prozesses schienen dazu beizutragen (vgl.Knabe1999, S.139f. undNeubert2001, S.372f. sowiePollack2011, S.124).

In den 1980er Jahren wurde jedoch die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit deutlich: Die Wirtschaft war nicht effizient und produktiv genug, um die sozialstaatlichen Leistungen zu erbringen. Ökonomische Modernisierungsdefizite und ein Mangel an Konsumgütern waren die Folge. Darüber hinaus veränderte sich der internationale Kontext durch demokratische Reformen Michail Gorbatschows. Die militärische Existenzgarantie der DDR und der anderen Ostblockstaaten durch den Warschauer Vertrag entfiel. Die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze und die Autonomie- und Demokratisierungsbewegungen in den anderen Staaten, allen voran Polen, taten ihr Übriges, sodass die Drohkulisse, welche die DDR gegenüber Veränderungsbestrebungen etabliert hatte, keinen Bestand hatte. Die SED-Machtelite tat kaum etwas, um Krisen zu bewältigen. Es ging ihr um den bloßen Machterhalt. Ihre Erstarrung beziehungsweise Unentschlossenheit und Zurückhaltung gegenüber gewaltsamen Mitteln bescherten ihr einen raschen Autoritätsverlust. Die wirtschaftliche Unzufriedenheit entzog ihr die Loyalität der Bevölkerung, da das Austauschverhältnis zwischen Loyalität und Versorgung nicht aufrechterhalten werden konnte. Die Massenflucht über die Grenze zwischen Ungarn und Österreich unterstrich die Hilflosigkeit der führenden Partei (vgl.Koch-Baumgarten/Gajdukowa/Conze2009, S.8ff. undNeubert1999a, S.427 sowieNeubert2001, S.372f. undPollack2011, S.124ff.). Die historische sowie kulturelle Systemlegitimation konnte durch die seit vierzig Jahren bestehenden politischen und sozialen Rituale nicht mehr behauptet werden. Die Loyalität der Bevölkerung gegenüber der SED wurde somit ihrer Grundlage beraubt (vgl.Rytlewski/Bauer/Treziak1987, S.251). Gewissermaßen war damit der erste Stein der Mauer entfernt.

„Zu keinem anderen Zeitpunkt waren die Bemühungen der SED-Führung um innere und äußere Anerkennung ihrer Herrschaft so erfolgreich wie in diesem Jahrzehnt – und doch formierte sich gerade zu dieser Zeit zum ersten Mal seit der Errichtung der kommunistischen Diktatur eine politische Gegenkraft, die die SED trotz aller Bemühungen nicht in den Griff bekam.“ (Knabe1999, S.139)

Mit diesem Überblick über die strukturellen Bedingungen in der DDR und dem Einblick in die Widerstandsgeschichte soll an dieser Stelle zum eigentlichen Themenfeld dieser Arbeit übergeleitet werden: Im Zeitraum der 1980er Jahre vollzogen sich die entscheidenden Prozesse der Friedensbewegung in der DDR, die zur friedlichen Revolution des Herbstes 1989 führten und schließlich in der Wiedervereinigung im Jahre 1990 mündeten. Zwar lassen sich bereits vor 1980 erste Bewegungen identifizieren (und müssen auch zum Teil berücksichtigt werden), das Gros der Bewegung richtete seinen Aktivismus jedoch zunächst auf das Wettrüsten der beiden Blockmächte, das die 1980er Jahre prägte. Im Hinblick auf die zunehmende gesellschaftliche Militarisierung der Bürger und Bürgerinnen der DDR erweiterten die Gruppen der Friedensbewegung jedoch schon bald ihr Themenspektrum. Im Anschluss an die friedliche Revolution und die damit einhergehende Entmachtung der SED waren die Gruppen allerdings nicht in der Lage, ihr Engagement dauerhaft zu etablieren: Sie zerbrachen oder gingen in westliche parteipolitische Lager über; die Bewegung löste sich auf.

Ein weiterer Faktor dieser Arbeit ist die geographische Eingrenzung. Die meisten Studien befassen sich mit den Bewegungen in den Großstädten der DDR. Ebenso wird hier die Friedensbewegung auf die gesamte DDR bezogen analysiert. Jedoch soll hier in vergleichender Weise das Beispiel der Eichsfeldregion im Norden Thüringens mit seiner Grenze zu Niedersachsen herangezogen werden. In diesem Fall kann von einer regionalen Konstellation gesprochen werden, die so wohl kaum ein zweites Mal in der DDR existierte. Beim Eichsfeld handelte es sich um eine katholische Diaspora auf DDR-Boden, die eine nahezu geschlossene Resistenz gegenüber dem SED-Regime aufwies (vgl.Neubert/Auerbach2005, S.140). Dieses Alleinstellungsmerkmal macht einen Vergleich interessant.

Bevor jedoch die Friedensbewegung analysiert werden kann, muss ein semantisches Problem gelöst werden: Bewegung, Opposition, Widerstand und viele weitere Begriffe in diesem Kontext benötigen zunächst eine klare Definition; denn in der Fachliteratur besteht keine Einigkeit über deren Bedeutung und/oder Verwendung. Nicht einmal innerhalb der Bewegung kann von einem einheitlichen Bild von Opposition oder Widerstand, Dissidenz oder Nonkonformismus gesprochen werden. Viele dieser Begriffe waren kaum gebräuchlich, weil sie oftmals von staatlicher Seite angewendet wurden (vgl.Meckel/Gutzeit1994, S.135 undNeubert1999, S.29 sowieRemy1999, S.13). Ein weiterer Einwand hinsichtlich der Definitionen (und später auch auf der theoretischen Ebene) ist die Frage nach der Anwendbarkeit westlich geprägter Begriffe auf osteuropäische Verhältnisse. Während westliche Konzepte (implizit) eine pluralistische und rechtsstaatliche Demokratie voraussetzten, mussten in der DDR solche Verhältnisse erst geschaffen werden. Dies war vielerorts in der Friedensbewegung ebenfalls ein Thema (vgl.Miethe2000, S.167).

Nach einer hinreichenden Definition und Auswahl adäquater Basiskonzepte kann schließlich die zentrale Forschungsfrage in den Blick genommen werden: Was motivierte Bürger und Bürgerinnen der DDR, sich am Protest gegen den diktatorischen Staat zu beteiligen? Diese Frage ist deshalb interessant, da die Bewegungsforschung zumeist kollektive AkteurInnen in das Zentrum der Analyse rückt. Jedoch können solche nur dann angemessen erfasst werden, wenn zunächst die Konstruktionsmechanismen der beteiligten AkteurInnen analysiert worden sind (vgl.Miethe/Roth2000, S.14). Diese Arbeit soll also einen Schritt davor ansetzen: Eine Untersuchung von Gruppenprozessen und Erfolgen von Bewegungen macht erst dann Sinn, wenn die Einheiten analysiert worden sind, die für die Konstituierung solcher Gruppen verantwortlich zeichnen. Daher geht es hier um die Frage nach den Motiven von BewegungsaktivistInnen.

Durch diese Arbeit wird eine Lücke in der Quellenlage im Bereich der Forschung und Aufarbeitung der SED-Diktatur geschlossen, denn durch ein empirisches Vorgehen können neue Daten generiert und archiviert werden[3]. Dies bietet sich als Grundlage für spätere Forschungen an. Ergebnis ist eine Motivsammlung im Abgleich zwischen der Bewegung in Großstädten und der Opposition in der ländlichen Region.

Der Umbruch und seine Faktoren sind bereits in großer Zahl untersucht worden. Der bisherige Forschungsstand weist Stärken und Schwächen auf. Erst in jüngster Zeit, insbesondere seit der Wiedervereinigung 1990, wurden fundierte Studien durchgeführt. Im Rahmen der Friedensbewegung scheinen sich die meisten Analysen mit den Bewegungen der Großstädte der DDR – wie Berlin, Dresden oder Leipzig – zu befassen. Darüber hinaus zeigen die wenigsten Studien individuelle AkteurInnen der Bewegungen; vielmehr kreisen sie um kollektive Bewegungen, welche die friedliche Revolution ermöglicht haben. Darüber hinaus befassen sie sich mit der Bewertung des (Miss-)Erfolges der jeweiligen Gruppen der Friedensbewegung.

Bisher existieren also zumeist ereignisgeschichtliche Darstellungen, die noch der Ausweitung auf transnationale Problemstellungen sowie auf politische Deutungen von Zeitgeschichte bedürfen, weil das Thema der Aufarbeitung der DDR-Geschichte immanenterweise übergreifende Zusammenhänge beinhaltet. Denn die DDR ist sowohl deutsche als auch sowjetische Teilgesellschaft. Sowohl historische Kontinuitäten als auch Gesellschaftsverhältnisse prägen individuelles sowie kollektives Verhalten und dahinterstehende Motivationen (vgl.Ansorg/Gehrke/Klein2009, S.17f. undHannemann2014, S.88ff.). In diesem Bereich fehlt es bisher auch an empirischen Studien zur Sozial- und Kulturgeschichte der DDR-Opposition, da sich die meisten Arbeiten ausschließlich mit den 1980er Jahren beschäftigen[4]. Systematische Typologien finden sich nur selten (vgl.Ansorg/Gehrke/Klein2009, S.19ff.). Darüber hinaus empfiehlt sich, interdisziplinär an die Bearbeitung des Themas heranzugehen, da es sowohl Bereiche aus der Geschichtswissenschaft als auch der Soziologie und Politikwissenschaft (und gegebenenfalls noch weitere Sozial- und Geisteswissenschaften) umfasst. Anderenfalls blieben eventuell wichtige Phänomene un(ter)behandelt (vgl.Ansorg/Gehrke/Klein2009, S.33 undHannemann2014, S.82). Bewegungen mögen keine rein politikwissenschaftlichen Phänomene sein, sondern müssen, wie bereits erwähnt, in historischen und sozialen Kontexten betrachtet werden, doch kann eine interdisziplinär angelegte politikwissenschaftliche Perspektive neuen Zugang zum Thema und neue Erkenntnisse ermöglichen.

So wenig zielführend teildisziplinäre Studien sind, so wenig sind es auch monokausale Ansätze zur Untersuchung des Themas. Wie oben bereits angeklungen ist, haben sowohl strukturelle und innenpolitische wie auch außenpolitische und internationale Bedingungen Einfluss auf den 1989er Umbruch genommen (vgl.Jesse2003, S.197ff.).

Darüber hinaus liefern die Berichte des MfS eine Vielzahl von Daten, deren Auswertung sich zu lohnen verspricht. Allerdings werden sie oftmals nicht kritisch genug beurteilt (zum BeispielChoi1999). Ob der Staatsdoktrin sind diese Daten freilich nicht objektiv zu bewerten. Die ideologische Färbung muss zunächst herausgefiltert werden. Dann allerdings lassen sich insbesondere quantitativ-empirische Fakten zur Forschung, insbesondere zu Opposition und Widerstand, gewinnen. Die gleiche kritische Aufmerksamkeit gilt ebenfalls für Literatur, die auf Daten des MfS zurückgreift, und wiederum für Literatur, die offiziell aus der DDR stammt. Von der SED wurde zwar eine hohe Qualität, aber auch gleichzeitig die bestmögliche Darstellung gefordert. Dementsprechend mussten Daten und Ergebnisse in Einklang gebracht werden. Wenn dies nicht gelang, unterlagen Daten oftmals der Geheimhaltung. So kann von einer DDR-Forschung zur Oppositionsgeschichte in der DDR wohl kaum die Rede sein (vgl.Fulbrook2003, S.363f. undStern2009, S.13).

Etwas anders verhält es sich mit der Literatur aus der BRD vor 1990. Grundsätzlich waren alle Themen möglich, jedoch waren Theorieparadigmen eng mit politischen Positionen verknüpft: sozialdemokratische, konservative, linksalternative oder marxistische. Wie bereits erwähnt, implizieren wissenschaftliche Analysen immer zeitgenössische Politik. So wandelten sich die Beurteilungen der DDR-Gesellschaft entsprechend des zeitgenössischen Diskurses: Während in den 1950er und 1960er Jahren hauptsächlich Macht- und Repressionsstrukturen des totalitären Staates analysiert wurden, suchte man in den 1970er und 1980er Jahren nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten der beiden deutschen Gesellschaften (vgl.Fulbrook2003, S.366ff. undMeyer1992, S.11). Während sich sozialdemokratische Forschungspositionen zwar sensibel gegenüber Wandlungs- und Erosionstendenzen zeigten, erachteten konservative – insbesondere im Rahmen von Totalitarismuskonzepten der 1950er und 1960er Jahre – eine Wiedervereinigung als unumgänglich. Damit hob die konservative Forschung eine historisch-logische Ereignisgeschichte in den Vordergrund, die andere kulturelle, außen- und innenpolitische sowie strukturelle Bedingungen außer Acht ließ. Die Forschung vor dem Hintergrund linker Positionen unterschätzte vielfach das Ausmaß der ökonomischen wie ökologischen Probleme sowie die große „Kluft“ zwischen SED-Regierung und Bevölkerung und überschätzte sogleich die Systemstabilität und Reformfähigkeit der DDR (vgl.Meyer1992, S.13ff.).

Nach 1990 wurde eine Vielzahl von Studien durchgeführt – oftmals von Personen aus dem oppositionellen Milieu selbst. Dass die DDR Diktaturcharakter hatte, ist ebenso unstrittig wie die Differenz zwischen DDR-Herrschaftssystem und -Gesellschaft. Das Innovative an neuen Projekten ist also nicht mehr das Untersuchungsobjekt, sondern neue Perspektiven, eingenommen durch verschiedene ausdifferenzierte Fragestellungen und Erkenntnisinteressen (vgl.Lindenberger2014, S.29 undPollack2003, S.191). EhrhartNeubert, selbst Theologe und Teil der DDR-Opposition, hat enorm zur Aufarbeitung des Themas beigetragen (vgl. zum Beispiel 1999 oder 1999a). In seinen Abhandlungen geht er nicht nur umfassend auf die Definitionsproblematik der Begriffe ein, auch bietet er historische Abrisse und Studien zur Zusammensetzung der Opposition. Für ihn hat die Bürgerbewegung eine entscheidende Rolle in der Umbruchsituation 1989 gespielt (vgl.Jesse2003, S.198). Wichtig für diese Arbeit ist vor allem sein Gemeinschaftsprojekt mit ThomasAuerbach2005 zum Widerstand in Thüringen. Zum selben Thema arbeitet auch DietmarRemy(vgl. zum Beispiel 1999), insbesondere im Hinblick auf die thüringische Friedensbewegung.

Andere AutorInnen befassen sich vor allem mit dem sozialhistorischen Hintergrund der Friedensbewegung. Zu nennen sind hier MarkusMeckelund MartinGutzeit(vgl. zum Beispiel 1994) sowie UlrikePoppe(vgl. zum Beispiel 1990), alle ebenfalls Teil der DDR-Opposition. Diese ostdeutschen AutorInnen, zumeist aus theologisch-wissenschaftlichem Kontext stammend, bieten durch ihr Engagement eine emische Sichtweise auf das Phänomen Friedensbewegung an, die das Verstehen der Prozesse und Dynamiken dieser Widerstandsbewegung deutlich erleichtert. Doch auch HubertusKnabe(vgl. zum Beispiel 1989 oder 1999) oder Ilko-SaschaKowalczuk(vgl. zum Beispiel 1999), beide Historiker, tragen zur Begriffsbestimmung und Aufarbeitung widerständigen Verhaltens in Bezug auf die friedliche Revolution bei.Kowalczukhat zudem mit der Analyse von Samisdat-Erzeugnissen[5]der Opposition einen großen Beitrag geleistet (vgl.Neubert2003, S.183). In Bezug auf die Multikausalität verfolgt DetlefPollackeinen Ansatz, der die verschiedenen unabhängigen Faktoren zusammenwirkend betrachtet – wobei die Bürgerbewegung selbst keine entscheidende Kraft darstellt. KonradJarauschhingegen misst dem Mentalitätswandel eine große Rolle bei (vgl.Jesse2003, S.197f. undPollack2003, S.189 sowie ders. 2011, S.123).

Eine weitere Aufarbeitung fand auch in der Politik statt: Die EnquetekommissionAufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschlandträgt zur Dokumentation bei (vgl.Deutscher Bundestag1994 undNeubert2003, S.181f.). Natürlich ist bei der Rolle der Opposition in der Umbruchphase zu beachten, dass diese nur ein marginalisierter Teil der Bevölkerung gewesen ist und ihr Wert daher nicht unter- oder überschätzt werden darf (vgl.Geisel2009, S.270f.).

Um dem Thema gerecht zu werden, hat diese Einleitung einen Überblick über den Aufbau des Staates DDR gegeben. Hieran sollten nun die Ideologie und strukturell angelegte Politisierung der Gesellschaft deutlich geworden sein. Sie bilden den Ausgangspunkt für „staatsfeindlichen“ Widerstand. Diese Geschichte wurde umrissen, um den Fokus auf den temporalen Rahmen dieser Arbeit, die 1980er Jahre und Anfang 1990, zu richten. Diese Arbeit steht damit in einer Reihe mit den Beiträgen der politikwissenschaftlichen Biographie- und Bewegungsforschungen.

Das Einleitungskapitel teilt sich zudem in drei weitere Unterkapitel auf. Gemäß der hier vertretenen Vorstellung vom Untersuchungsgegenstand beziehungsweise des Erkenntnisinteresses werden Vor- und Nachteile (meta-)theoretischer Prämissen diskutiert und deren Auswahl hinsichtlich der Methode und dem Forschungsziel begründet. Ebenso verhält es sich mit semantischen Bestimmungen. Gegebenenfalls müssen Definitionen, angepasst an den Untersuchungsgegenstand, aus bestehenden Begriffen abgeleitet werden.

Im ersten Unterkapitel wird das theoretische Konzept erläutert, das sich aus verschiedenen Theorien der Bewegungsforschung und der psychologischen Soziologie bedient. Eine Kombination interdisziplinärer theoretischer Konzeptionen ist deshalb nötig, weil sie sich auf einen Gegenstand beziehen, der zugleich Themen zeitgenössischer Politik, Geschichtswissenschaft und Soziologie anreißt. Darüber hinaus sind etwaige Anpassungen der Konzepte nötig, da diese westeuropäischen Ursprungs sind und auf Zustände einer osteuropäischen Gesellschaft angewendet werden. Mit dieser Arbeit zu einem neuen Ansatz in der Bewegungsforschung beizutragen, wäre allerdings ein zu hoch gestecktes Ziel. Jedoch soll dennoch versucht werden, bestehende Forschungs- und Theoriekonzepte angepasst an den Forschungsgegenstand anzuwenden. Indem zunächst von einer in der deutschen Politikwissenschaft eher unüblichen Untersuchungseinheit ausgegangen wird, sollen grundlegende Strukturen von Bewegungen dargelegt werden. Denn Prozesse von Identitätsbildung und kollektivem Handeln sind nur analytisch voneinander zu trennen. De facto sind aber Strukturen und Ziele sowie Strategien ein Ausdruck von Identität, ebenso wie Identitätsbildung im Rahmen der Aushandlung von Strukturen, Zielen und Strategien stattfindet (vgl.Miethe/Roth2000, S.16).

Das zweite Unterkapitel befasst sich im Anschluss an die Theorie mit der Methode, die dieser Arbeit zu Grunde liegt. Es handelt sich hierbei um qualitative empirische Politikforschung. Jedoch wird sich hier ebenso interdisziplinärer qualitativer Methoden, zum Beispiel aus der Geschichtswissenschaft und der Psychologie, bedient. Diese Arbeit nutzt qualitative Methoden, hier insbesondere der Biographiearbeit und derOral History, die erst in den letzten Jahren Eingang in die Politikwissenschaft gefunden haben. Es geht dabei um ein besseres Verständnis von sozialer Konstruktion von Historie, von kollektiven Identitäten und deren Ausrichtung an sozialen Bewegungen. Damit lassen sich Fluktuationen und Diffusionen innerhalb von und zwischen Bewegungen sowie politische Sozialisation abbilden. Hinzu kommt die Möglichkeit, soziale Bewegungen aus der Sicht ihrer Mitglieder zu rekonstruieren (vgl.Miethe/Roth2000, S.17). Daraus ergibt sich eine, im quasi basisdemokratischen Sinne, „Geschichte von unten“ (Miethe2011, S.89), wie sie ebenfalls von einer kritischen Geschichtswissenschaft gefordert wird. Hier werden Forschungsobjekte zu Subjekten der eigenen Geschichte. Menschen werden eingebettet in ihren Lebens-/Sozialräumen, in gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Kontexten, betrachtet. Der Forschungsanspruch ist nicht nur ein wissenschaftlicher, sondern pädagogisch-emanzipativer, da er Identitätsbildungsprozesse fördert. Daher geht er mit einem eher praxeologischen Vorsatz durch seinen wechselseitigen Arbeits- und Lernprozess zwischen Forschendem oder Forschender und „Forschungssubjekt“ über die reine Wissensgenerierung hinaus (vgl.Miethe2011, S.89ff.).

Das letzte dieser Kapitel behandelt die Bestimmung und Definition verschiedener wichtiger Begriffe, da hier bislang kein Konsens existiert. Für das weitere Verständnis der Arbeit sind Abgrenzung und Differenzierung der Begriffe daher unerlässlich. Hier werden die wesentlichen Konzepte, die der Arbeit zu Grunde liegen, diskutiert.

Nachdem nun in der Einleitung alle wichtigen Informationen zusammengetragen worden sind, steigt das zweite Kapitel in das Thema ein. Hier wird die Oppositionsbewegung der DDR analysiert. Neben dem historischen Ablauf der Oppositionsbewegung, Herbstrevolution und Wiedervereinigung werden die Rolle des Staates und die der Bewegung in Beziehung zueinander gesetzt und im Hinblick auf die Motivation zum Engagement bewertet. Bezugsrahmen dieses Kapitels ist jedoch nicht das Eichsfeld, sondern die gesamte DDR mit Fokus auf die Oppositionszentren Berlin, Leipzig und Dresden. Dabei ist darauf zu achten, im Rahmen der thematischen Eingrenzung, die in der Einleitung vorgestellt wird, zu verbleiben, aber dennoch einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Prozesse zu erstellen.

Das Eichsfeld, das hier als geographisches Beispiel für einen Sonderfall in der DDR dient, wird im dritten Kapitel vorgestellt. Die katholische Diaspora zeichnet sich durch eine gewisse „Widerspenstigkeit“ aus, die auf eine oppositionelle Mentalität schließen lässt. Grundsätzlich erfuhren jedoch alle DDR-BürgerInnen historisch betrachtet die gleiche Prägung. Die Kombination aus Diaspora-Status und historischer Sozialisation lässt vermuten, dass zwar ähnliche Anstöße zum Protestengagement, wie sie DDR-weit angeführt werden, vorhanden sind, sich jedoch Unterschiede in Ausprägung und Stärke der Motive zeigen.

Mentalitäten und Motive der Menschen werden im vierten Kapitel hervorgehoben. Die derzeitige Literatur liefert einige Thesen, die in diesem Kapitel zusammengetragen werden. Daran schließen sich fünf Unterkapitel an, die im Rahmen einer dichten Beschreibung die Zeitzeugen vorstellen und deren Motive hinsichtlich des Engagements zusammentragen.

Aus den empirischen Daten, die durch die qualitativen Interviews generiert wurden, konnten die Motive der Zeitzeugen abgeleitet werden. Ob diese mit den Thesen der bisherigen Forschung und der vorliegenden Studie übereinstimmen, wird im fünften und letzten Kapitel der Arbeit, dem Fazit, analysiert. So können die Ergebnisse zusammengefasst, gegebenenfalls problematisiert und interpretiert werden. Darauf aufbauend soll ein Ausblick auf weitere Forschungsmöglichkeiten die Arbeit abschließen.

1.1Zur theoretischen Basis: Neue Soziale Bewegungen in Osteuropa

Im Rahmen der Bewegungsforschung existiert eine Vielzahl von Konzepten mit unterschiedlicher Erklärungskraft hinsichtlich der Entstehung von Protesten und den ihnen zu Grunde liegenden Motivationen der sich engagierenden AkteurInnen. Die meisten Ansätze zu sozialen Bewegungen verstehen in organisationssoziologischer Art AktivistInnen als rationale AkteurInnen auf der Mesoebene, so zum Beispiel der bis in die 1980er Jahre dominanteRessourcen-Mobilisierung-Ansatz. Einen Gegentrend dazu bilden die Theorien derNeuen Sozialen Bewegungenseit Ende der 1970er beziehungsweise Anfang der 1980er Jahre (vgl.Miethe/Roth2000, S.11f.). Zunächst sollen einige Konzeptionen vorgestellt werden, die für diese Arbeit von Bedeutung sind. Daran schließt sich die Auswahl der Konzepte an, mit denen die Arbeit unterfüttert werden soll.

Zunächst ein Hinweis auf das Konzept derpolitischen Deprivation nachKaase: Aus relativer Deprivation, also der Diskrepanz zwischen kollektiven Werterwartungen und deren -realisierungschancen, erwachse kollektive Unzufriedenheit. Diese gehe dort in politische Prozesse über, wo der Staat nicht mehr das leistet, was er ursprünglich soll. Ein Problem dieses Konzeptes kann jedoch die geringe Ausdifferenzierung sein (vgl.Brand1982, S.30f.).

Das Phasenmodell, dasRammstedtundHegnerausKaasesKonzept entwickelt haben, ist dagegen deutlich differenzierter. Ausgehend von einer sozialen Krise (verursacht durch strukturelle Widersprüche) und relativer Deprivation würden Mangelerfahrungen als kollektiv betrachtet, propagiert und artikuliert, durch eine Bewegung intensiviert, ideologisch unterfüttert, um ein Ausbreiten, eine Organisation und abschließende Institutionalisierung einer Bewegung zu gewährleisten (vgl.Brand1982, S.32ff.). Zwar gut geeignet für Prognosen, kann vor dem Hintergrund der DDR-Umbruchphase dennoch kaum von den letzten beiden Punkten die Rede sein. Eine systematische Organisation und Institutionalisierung im Sinne der Oppositionsgruppen fand nicht statt.

Ein ähnliches Phasenmodell schlägtKolbvor:die 5 Typen substanzieller politischer Auswirkungen. Eine Oppositionsgruppe müsse demnach zunächst in der Lage sein, Themen auf die politische Agenda zu bringen und Problemlösungen bereitzustellen. Daran schließe sich die Fähigkeit an, politische Entscheidungen herbeizuführen und umzusetzen, um die gewünschten kollektiven Güter zu erreichen (vgl.Kolb2006, S.15ff.). Dieses Modell ist ebenfalls nicht für osteuropäische Verhältnisse geeignet, da es voraussetzt, dass eine entsprechende Gruppe am politischen Diskurs teilnehmen kann. Dieser wurde in der DDR jedoch von der SED kontrolliert. Andere Organisationen hatten daher keine Möglichkeit,agenda settingzu betreiben.

Daneben existieren unter anderem auch verschiedene Ansätze aus dem Bereichrising demandsoderneed defence, die oftmals kaum trennscharf voneinander zu analysieren sind. Beispiele sindInglehartsWertewandeltheorieauf der Suche nach neuen gesellschaftlichen Legitimationsprinzipien oderMaslowsnicht- oder postmaterialistischeBedürfnishierarchie, aber auchRaschkesTheorie derZivilisationskrise(vgl.Brand1982, S.63ff. Und S.86ff.). Diese Modernisierungstheorien identifizieren für Ost und West ähnliche Konfliktlinien, wie etwa die Kritik an der industriellen Produktionsweise und deren ökologisch prekären Folgen oder die Spannung zwischen Materialismus und Postmaterialismus (vgl.Miethe2001, S.122f.).

Einige weitere Ansätze machen die Veränderung von Opportunitätsstrukturen verantwortlich für einen sozialen Wandel. Indem neue Handlungsspielräume eröffnet werden (durch neue politische Handlungsfelder, die Entwicklung einer Gegenkultur und eine Vermehrung von SympathisantInnen), werde ein Protest wahrscheinlicher (vgl.Kriesi1987, S.30ff.). Daher könne der kulturalistische Vorstoß, dass sozialer Konsens der Kitt der Gesellschaft sei, kaum standhalten. Dieser müsste trotz Strukturwandel bestehen bleiben. Dies war jedoch nicht der Fall (vgl.Pollack2003, S.192). Diese Ansätze korrespondieren oft mit demRessourcen-Mobilisierung-und demRational-Choice-Ansatz. Ein ähnliches Modell ist derExit-Voice-Ansatz vonHirschmann, der davon ausgeht, dass bei niedrigen Abwanderungsbarrieren eine höhere Protestbereitschaft bestehe (vgl.Pollack2001, S.350ff.). Eine weitere Möglichkeit ist die Konzentration der Analyse auf die Herrscherelite als Ursache für den Zusammenbruch der DDR. Durch innerparteiliche Spaltung werde das System partiell geöffnet, ohne Konsequenzen kontrollierbar einkalkulieren zu können. Diese Modelle treffen auf den Wegfall der Breschnew-Doktrin oder die Fluchtwelle im Sommer 1989 durchaus zu. Dass allerdings AkteurInnen immer rational und kostenoptimierend entscheiden, ist zu bezweifeln. Außerdem unterschätzen diese Ansätze externe Faktoren ebenso wie den Einfluss einer mobilisierenden Masse (vgl.Pollack2001, S.364 und ders. 2011, S.121f.).

Tarrowentwirft in diesem Zusammenhang günstige Faktoren für die Entstehung einer Bewegung: Das politische System müsse offen zugänglich sein, die politische Bindung der Bevölkerung langfristig instabil sein, BewegungsaktivistInnen benötigten einflussreiche Verbündete und innerhalb der Elite müssten Spannungen und Spaltungstendenzen vorherrschen (vgl.Timmer2000, S.80). Diese Theorie kann hier ebenfalls keine Anwendung finden, da in der DDR so gut wie keiner dieser Faktoren gegeben war. Weder handelte es sich um ein offenes politisches System, noch kann von einer instabilen ideologischen Prägung gesprochen werden. Die Oppositionellen besaßen zudem kaum einflussreiche Verbündete – im Gegenteil: Das Festhalten am Status quo entzog ihnen diese sogar (vgl.Klein2007, S.169). Allenfalls könnte es, wie oben beschrieben, Spannungen innerhalb der SED gegeben haben.

Betrachtet man jedoch institutionalistische Ansätze, kann man nur die Kirchenstrukturen als entscheidend für den DDR-Umbruch identifizieren, da sich alle anderen Institutionen gleichgeschaltet in Staatshand befanden. Die Kirche hingegen bot einen institutionellen Schutzraum, eine politische Plattform, eine (Teil-)Öffentlichkeit mit eigenen Kommunikationsstrukturen. Ihre intermediäre Wirkung war dennoch begrenzt, da sie keinen Schutz vor dem Zugriff des Polizei- und Sicherheitsapparates gewähren konnte. Auch ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Staat und Gruppen störte das Dasein als intermediäre Organisation (vgl.Pollack2001, S.354f.).

Kommt man nun zur Mikro-Ebene, werden die Motive der Individuen wichtig. Dies ist insbesondere Thema dieser Arbeit. Oftmals löst ein Gegensatz zwischen Realität und persönlicher Erfahrung ein Widerspruchsempfinden aus. Die Analysen der Zeitzeugengespräche werden dies an späterer Stelle bestätigen. Motive können dabei vielfältig sein: der Wille zur Veränderung der Gesellschaft, die Erfahrung von Repressionen durch die staatlichen Machtstrukturen, Einschränkungen der individuellen Autonomie, systemimmanente Probleme, der Umgang der SED mit globalen Problemen und viele andere. Dabei ist ein Vergleich zu Bewegungen in der Bundesrepublik, aber auch zu den Bewegungen in den Schwesterstaaten oftmals beeinflussend. Vergemeinschaftend war nicht immer unbedingt nur die politische Orientierung, sondern auch der Wunsch nach Aufarbeitung psychischer und persönlicher Probleme mit Gleichgesinnten (vgl.Pollack2001, S.356ff.).

Im Bereich der Bewegungsforschung existiert zudem das Konzept desframing. Neue Deutungsmuster diffundieren, indem Unzufriedenheit vor dem Hintergrund bestimmter Zielvorstellungen oder Orientierungsmuster in soziales Handeln übersetzt wird. Indem Komplexität durch Symbole oder Schlagworte reduziert wird, Strategien erfolgversprechend scheinen und ein nachvollziehbarer und glaubhafter Bezug zum System besteht, wird erfolgreichesframingbetrieben. Das Neue Forum, eine der Oppositionsgruppen der DDR, war hierbei besonders erfolgreich, denn es machte inhaltlich wenig präzise Vorgaben, um konsensfähige Denk- und Handlungsorientierungen für alle anbieten zu können (vgl.Timmer2000, S.142f.). Aber auch die anderen Gruppen erfüllen diese Aufgabe weitgehend:

„Bei allen Stellungnahmen handelte es sich um klare, einfache Analysen, welche die Krise der DDR auf wenige Schlagworte reduzierten und mit lebensweltlichen Bezügen verbanden. Sie formulierten eine deutliche Abgrenzung von der Politik der SED und wiesen gleichzeitig einen Weg, der in dem Maße attraktiver wurde, wie sich das Warten auf Initiativen der Partei als hoffnungslos herausstellte.“ (Timmer2000, S.142)

DieNeuen Sozialen Bewegungen(NSB)sind in den späten 1960er Jahren vor dem Hintergrund des Reformkapitalismus und dessen Folgen entstanden (vgl.Brand1982, S.28). Einschlägige Werke zur Begriffsbestimmung und Definition sowie Untersuchung von sozialen Bewegungen sind die vonGörg1992,Kriesi1987,Raschke1991 oderVandamme2000. Sie alle behandeln Bewegungsphänomene im europäischen Raum, jedoch unter impliziter Voraussetzung demokratisch-rechtsstaatlicher Verhältnisse. Ihren Arbeiten können allerdings grundlegende Definitionen entnommen werden, um diese an differierende kulturelle und herrschaftliche Verhältnisse anzupassen.

Der Begriff NSB ist eher als ein Sammelbegriff für verschiedene Organisationsformen mit unterschiedlichen Schwerpunkten ohne spezifische Trägergruppierung oder kollektive Identität zu verstehen. Das „Neue“ daran ist weniger die Aktualität als das Neuartige der Protestbewegungen. Das Soziale bezieht sich zum einen auf den oftmals eher soziologischen Untersuchungsgegenstand, aber auch auf die Ziele der Bewegungen (vgl.Vandamme2000, S.46ff.). Eine Gemeinsamkeit, welche die Zusammenfassung dieser losen und unorganisierten Zusammenschlüsse unter dem Begriff zumindest teilweise rechtfertigt, ist der Widerstand gegen moderne gesellschaftliche Erscheinungs- und Lebensformen (vgl.Görg1992, S.11).

Dennoch behebt diese Gemeinsamkeit die verschiedenen Analyseprobleme nicht, die auf mangelnder Begriffsidentifikation beruhen. In dieser Arbeit soll diese daher durch eine empirisch-deskriptive Datengenerierung und theoretische Definition operationalisiert werden (vgl.Görg1992, S.13). Oftmals werden NSB nachRaschkeals mobilisierende und kollektive AkteurInnen aufgefasst, die eine hohe Kontinuität aufgrund einer großen symbolischen Integrationskraft bei gleichzeitig geringer Rollenspezifikation besäßen. Zudem zeichne sie ein geringer Bürokratisierungsgrad aus. Zusätzlich seien ihre Organisations- und Aktionsformen sowie Themen verschiedenartig. Ihr Ziel bestehe darin, einen sozialen Wandel herbeizuführen, ihn zu verhindern oder gar rückgängig zu machen. Daher zeichne sie keine geschlossene oder einheitliche Ideologie aus, vielmehr gebe es durch einen niedrigen Zentralisierungsgrad autonome vernetzte Gruppen, die Teil einer Bewegung seien (vgl.Kolb2006, S.12 undMiethe/Roth2000, S.7 sowieRaschke1991, S.32f. undVandamme2000, S.48ff.). Es zeigen sich deutliche Gemeinsamkeiten der Bewegungen in Ost und West.Knabeidentifiziert eine Parallelität, da sich Themen wie militärische Sicherheitund grundlegende Werte wie Gewaltfreiheit und Basisdemokratie sowie ein ähnlicher Lebensstil überschnitten (vgl.Häuser1996 undWielgohs/Johnson1997, S.340).

Eine Einschränkung muss jedoch gemacht werden: Mit dem Problem der Zeit-/Gegenwartsdiagnose muss beachtet werden, inwieweit soziale Bewegungen Indikator für sozialen Wandel sein können, da sie sowohl dessen Produkt als auch Produzent sind. Daraus ergibt sich das Konstitutionsproblem: Der Begriff vermischt aktives Handeln kollektiver AkteurInnen mit gesellschaftlichen Auswirkungen. In dieser Lesart würden Intention, Rationalität und Motive beziehungsweise Motivation der AkteurInnen unberücksichtigt bleiben (vgl.Görg1992, S.15 sowie S.27f. undKriesi1987, S.25). Aus diesem Grund kannRaschkesDefinition nicht ohne Weiteres verwendet werden.

Bei der Anwendung der westlichen Konzepte der NSB entstehen jedoch einige Probleme. Während es westlichen NSB vor dem Hintergrund der Überwindung der Industriegesellschaft vor allem um globale Themen ging, bewahrte die ostdeutsche Bewegung trotz globaler Themenstellungen zumeist einen innergesellschaftlichen Fokus (vgl.Choi1999, S.183). Westliche Konzepte setzen implizit das Vorhandensein demokratischer Strukturen voraus. Diese waren in der DDR jedoch nicht gegeben – im Gegenteil: Die Etablierung dieser Strukturen war oftmals Thema der Bewegung (vgl.Miethe2000, S.167 und dies. 2001, S.123). Darüber hinaus läuft man Gefahr, bei Nichtberücksichtigung der Kritik am NSB-Konzept die Bewegung im Osten Deutschlands defizitär erscheinen zu lassen, weil Handlungsmöglichkeiten in Ost und West mitunter sehr unterschiedliche Reichweiten hatten: Zum Beispiel waren Unterschriftensammlungen im Westen kaum problematisch, während sie im Osten durch den Sicherheitsapparat eine veritable Gefahr für Engagierte bedeuteten (vgl.Miethe2001, S.124). Auf das Bewegungspotenzial herrschten insgesamt eher negative Auswirkungen vor. Eingeschränkte politische Freiheiten und das Fehlen einer Gegenelite ließen der Opposition nur einen sehr kleinen Handlungsrahmen. Ob des Überwachungsapparates wurde zudem – für NSB untypisch – auf Konfrontationen verzichtet. In der DDR-Nischengesellschaft zogen sich Oppositionelle in unpolitische Bereiche, wie in das Private oder in den Kirchenraum, zurück (vgl.Timmer2000, S.81f.). Darüber hinaus kann den NSB im Osten kaum ein Mobilisierungscharakter zugesprochen werden. Zwar existierte ein kleiner Organisationskern, doch die Bevölkerung war ein eher fluider Teil der Oppositionsbewegung, der sich in wenigen Monaten in den Gruppen kristallisierte und ebenso schnell wieder auflöste (vgl.Timmer2000, S.123).

Um diesen Problemen entgegenzuwirken, braucht es ein strukturell differenziertes Modell, das sich nicht auf Mikro-, Meso- oder Makroebene beschränkt (vgl.Kitschelt1993, S.13). Dazu wird auf die Tradition desSymbolischen Interaktionismuszurückgegriffen. Dieser in den 1960er Jahren entstandene Ansatz nimmt keine Unterscheidung von Mikro- und Makroebene vor, da das zu Grunde liegende AkteurInnenkonzept aus Interaktionen und Kommunikationen hervorgeht. George HerbertMeadbegründete diese Ansicht damit, dass er soziale Prozesse als Spiegel des Selbst verstehe (vgl.Miethe/Roth2000, S.12 undRytlewski/Sauer/Treziak1987, S.249). Sein Menschenbild ist derart konzipiert, dass Menschen TeilnehmerInnen eines Gruppenlebens seien. Seinconcept of selfberuht darauf, dass ein Mensch in der Lage ist, sich selbst als Objekt, zum Beispiel als männlich oder weiblich, als kindlich oder erwachsen, als krank oder gesund, betrachten zu können. Daraus resultiere, dass ein Individuum, bildhaft gesprochen, sich selbst gegenüberstehen und mit sich interagieren könne (vgl.Blumer1991, S.144f.). Hinzu kommt dasconcept of mind, das den Verstand oder die Vernunft als eine Form von Verhalten sieht. Demnach sei ein Individuum in der Lage, Dinge zu erkennen und durch einen inneren Kommunikationsprozess mit sich selbst in Bezug zu sich zu setzen (vgl.Blumer1991, S.146). Diese beiden Konzepte seien allerdings nicht angeboren, sondern würden durch die Teilnahme am Gruppenleben via Interaktion erlernt. Ein Beispiel hierfür sei bereits das Spiel im Kindesalter, indem Kinder die Rolle von Vätern oder Müttern einnehmen (vgl.Blumer1991, S.147).Zusammengefasst bedeutet das:

„(1) a human being comes to form a self which enables him to interact with himself in large measure as he interacts with others; (2) such self-interaction is interwoven with social interaction and influences social interaction; (3) such interaction with others (symbolic interaction) is the means by which human beings are able to form social or joint acts; (4) the formations of joint acts constitutes the social life of a human society.“(Blumer1991, S.160)

Dabei ist Kommunikation von zentraler Bedeutung als organisierender Prozess in einer Gesellschaft, um in soziale Bewegungen hervorzubringen. Also können Individuum und Gesellschaft nur analytisch voneinander getrennt betrachtet werden, denn soziale Gefüge zeigen sich in Persönlichkeitsstrukturen und sozialen Beziehungen. Gleichzeitig werden diese Strukturen aber durch Interaktionen geformt, kritisiert und/oder rekonstruiert. In diesem Sinne können soziale Bewegungen so interpretiert werden, dass sie gleichzeitig Identität und soziale Systeme konstituieren (vgl.Blumer1991, S.169 undMiethe/Roth2000, S.12f.).

Zusammenfassend soll hier also von einer Minimaldefinition vonNeuen Sozialen Bewegungenausgegangen werden: Sie besitzen dezentrale und partizipative Organisationsstrukturen und einen gering zentralisierten Grad an Führung; sie bevorzugen direkte Aktionen mit gesellschaftlicher und (teil-)öffentlicher Wirkung; ihre Themen sind nicht materiell, können aber globalen oder innergesellschaftlichen Bezug haben; unterstützt werden sie von verschiedenen sozialen Schichten (vgl.Rohrschneider1993, S.161). Dies trifft auf die Bewegung in der DDR zu. Auf den Einbezug von Erfolgen oder Zielen wird hier verzichtet, denn diese sind zu vielschichtig. Grundsätzlich soll aber ein wie auch immer gearteter gesellschaftlicher Wandel stattfinden (vgl.Roose/Urich/Schmoliner2006, S.2).

Um diese Konzepte an Verhältnisse sowjetisch geprägter Gesellschaften anzupassen, bietet sich ihre Kombination an. Denn hierfür müssen zunächst die Sphären identifiziert werden, die dem Verständnis dieser westlich geprägten Begriffe nahekommen (vgl.Miethe2000, S.167 undMiethe/Roth2000, S.19). Indem die verschiedenen Konzeptionen kombiniert werden, soll eine Untersuchung von sozialen Bewegungen in osteuropäischen Verhältnissen möglich werden. Nach der Minimaldefinition der NSB zusammen mit der Fokussierung auf Individuen und deren Interaktion durch denSymbolischen Interaktionismuswerden Gruppenphänomene erklärbar. Der Wandel von externen und internen Opportunitätsstrukturen ermöglicht neue Handlungsspielräume. Durch dasframingund die Motive von Individuen beziehungsweise den Mentalitätswandel erschaffen die Oppositionsgruppen den Rahmen, indem die Bevölkerung sich artikulieren kann. Aber ein veränderter Handlungsspielraum erklärt im Zusammenhang mit demRational-Choice-Ansatz zugleich den Grund der Nichtinstitutionalisierung der Oppositionsgruppen, da die Bevölkerung mit der Wiedervereinigung wirtschaftliche Vorteile genießen kann. Die Schwierigkeit besteht hier wiederum darin, einen adäquaten Namen dieser theoretischen Konzeption zu finden. Hier soll keine neue Theorie vorgestellt werden, da dies einer tiefergehenden Analyse bedarf, als dies im Rahmen der vorliegenden Arbeit möglich ist; stattdessen soll diese Anpassung der besseren Übersicht halber weiterhin unter dem Begriff derNeuen Sozialen Bewegungenzusammengefasst werden. In diesem Fall handelt es sich jedoch um dieNeuen Sozialen Bewegungen Osteuropas(NSBO).

1.2Qualitative Methoden und Oral History

Aus der theoretischen Grundlage dieser Arbeit lässt sich leicht die Methodenwahl ableiten. Da kollektive Identität und politisches Bewusstsein alltägliche Interaktionen über einen langen Lebenslauf hinweg beeinflussen können, stellen biographische Methoden eine Möglichkeit dar, um Geschichtskonstruktionen, kollektive Identität und Positionen sozialer Bewegungen beziehungsweise ihrer Mitglieder zu verstehen (vgl.Miethe/Roth2000, S.15ff.).

Da diese Arbeit nicht nur einen theoretischen Anspruch erhebt und nur unzureichend Quellen vorhanden sind, genügt eine Literaturrecherche nicht. Zusätzlich müssen empirische Daten erhoben werden. Das Mittel der Wahl ist ein qualitatives: Biographiearbeit im Allgemeinen,Oral Historyim Speziellen; denn Zusammenhänge zwischen Herrschaft und Widerstand beziehungsweise die politische Kultur einer Gesellschaft lassen sich in Biographien von ZeitzeugInnen ablesen. Dass Meinungen oder Haltungen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Vorstellungen reflektiert werden, ist typisch für autobiographische Erzählungen. Das trifft insbesondere auf den Fall der DDR zu, da dort individuelle Lebensstile und damit Biographien dem staatlichen Einwirken und dem entsprechenden politischen Druck ausgesetzt waren (vgl.Hannemann2014, S.94 undHarnisch1992, S.103 sowieHäuser1996, S.63).

Bis in die 1960er Jahre diente die qualitative Sozialforschung nur der explorativen Gegenstandsbeschreibung. Quantitative Sozialforschung sei wegen ihrer systematisch vorgehenden Datenanalyse sehr viel valider und reliabler, um Ursache-Wirkung-Zusammenhänge festzustellen. Ein qualitatives Vorgehen sei zu intuitiv und damit unwissenschaftlich bei der Datenauswertung beziehungsweise -interpretation (vgl.Gerhardt1995, S.435). Heute hat die qualitative Sozialforschung hingegen einen anderen Stellenwert. Der Vorteil eines qualitativen Vorgehens liegt darin, einen Zugang zur emischen Perspektive, zu kulturellen Deutungsmustern und Handlungspraktiken zu erhalten. Damit lassen sich soziale Strukturen und Zusammenhänge begreifen (vgl.Schlehe2008, S.121). Eine Vielzahl von Möglichkeiten existiert[6], wenn qualitativ empirische Sozialforschung betrieben werden soll.

Oftmals wird der qualitativen Sozialforschung dieGrounded Theoryzu Grunde gelegt. Die Empirie hat darin Priorität gegenüber der Theorie, da diese erst anhand der Untersuchungsgegenstände und der vorgefundenen Empirie gebildet werden soll. Basis ist dasPrinzip der Offenheit, das das Zurückstellen des eigenen Wissens, vor allem der eigenen Hypothesen, verlangt, um die Strukturierung des Forschungsgegenstandes den Forschungssubjekten zu überlassen. Vom Forscher oder der Forscherin erfordere dies, „gleichschwebend aufmerksam“ (Flick1995, S.150f.) zu bleiben. Dies sei notwendig, um Strukturen des untersuchten Feldes oder Subjektes zu entdecken, statt eigene „überzustülpen“ (vgl.Flick1995, S.150f. undHopf1995, S.180).Schlehefasst diese beiden Voraussetzungen – Offenheit und Aufmerksamkeit insbesondere für Unerwartetes – zumSerendipity-Prinzipzusammen (vgl.Schlehe2008, S.119). Dabei müsse der Forscher oder die Forscherin sich im Klaren darüber sein (und auch klar machen können), welche Rolle er oder sie im Forschungsprozess einnimmt – ganz ähnlich wie bereits imSymbolischen Interaktionismusangeklungen. Im Zusammenspiel mit InterviewteilnehmerInnen sei Neutralität unmöglich. Daher werde dem Forscher oder der Forscherin ein gewisses Maß an Empathie und Sympathie abverlangt. Nur so könne adäquat auf den oder die InterviewpartnerInnen eingegangen werden (vgl.Flick1995, S.154 undKlecha/Marg/Butzlaff2013, S.22).

Die möglichen Interview-Varianten werden in unstrukturierte und halbstrukturierte unterteilt. Zur ersten Variante zählen dasnarrativ-biographischeund dasthemenzentrierte Interview. Zu den halbstrukturierten gehören dasLeitfaden-, dasbiographische, dasExperten-und dasGruppeninterview(vgl.Schlehe2008, S.125ff.).

„Imnarrativen Interviewwird der Informant gebeten, die Geschichte eines Gegenstandsbereichs, an der der Interviewte teilgehabt hat, in einer Stegreiferzählung darzustellen“ (Hermanns1995, S.183). Dies ist das Hauptprinzip. Eine erzählgenerative Eingangsfrage lädt den oder die InterviewteN dazu ein, von seiner oder ihrer Lebensgeschichte beginnend mit der Geburt bis zum heutigen Tage zu erzählen. Der Forscher oder die Forscherin nimmt sich hierbei weitestgehend heraus. Erst nach Ende der ungestörten Erzählung beginnt die Nachfragephase durch den Forscher oder die Forscherin (vgl.Hermanns1995, S.183f.). Die Geschichten selbst – das gilt übrigens für alle (halb-)offenen Interview-Arten – können aus Erzählungen, Argumentationen, Belegerzählungen und Beschreibungen bestehen. Erzählungen sind Ereignisfolgen mit zeitlicher oder kausaler Rangfolge ohne Deutungsgehalt aus der Vergangenheitsperspektive. Argumentationen enthalten Regieanweisungen und Deutungen von Erzählungen aus heutigem Blickwinkel. Belegerzählungen haben textstrukturell das Erscheinungsbild von Erzählungen, werden aber von Argumentationen eingerahmt und sind daher auch als solche zu werten. Die Beschreibungen geben statische Strukturen wieder, wie Routinen, bildhafte Darstellungen oder Ähnliches aus der Vergangenheitsperspektive mit wiederkehrenden Situationen, wie zum Beispiel dem Alltagsgeschehen (vgl.Miethe2011, S.76ff.).

Gewünscht sind Erzählungen, um Zugang zu Erlebnissen und Gefühlen zu erhalten. Durch systematisches Nachfragen im Anschluss an die Geschichte wird versucht, das Argumentationsschema zu durchbrechen (vgl.Miethe2011, S.81). Zu beachten und zu reflektieren sind verschiedene Zugzwänge, denen ein Erzähler oder eine Erzählerin unterliegt. Der Kondensierungszwang lässt ErzählerInnen unbewusst momentan relevante Themen auswählen. Der Detaillierungszwang bringt ErzählerInnen dazu, so zu erzählen, dass ZuhörerInnen folgen können. Der Gestaltschließungszwang drängt ErzählerInnen, begonnene Geschichten auch zu beenden. Da durch diese Zugzwänge möglicherweise Informationen zu Tage gefördert werden, die nicht beabsichtigt wurden, muss sensibel mit den gewonnenen Daten umgegangen werden (vgl.Miethe2011, S.85ff. undRosenthal2008, S.167). Eine Möglichkeit des Datenschutzes ist die Anonymisierung der InterviewpartnerInnen.

Dasthemenzentrierte oder fokussierte Interviewist geschlossener als das narrative Interview, da es hier darum geht, individuelle Erfahrungen in einer konkreten Situation zu entdecken. Der Gesprächsgegenstand wird also vorab bestimmt. Dennoch haben TeilnehmerInnen die Möglichkeit, den Themenkreis im Laufe des Interviews selbstständig zu erweitern. Ein Leitfaden bietet sich an, um die Vergleichbarkeit der Interviews zu erhöhen (vgl.Hopf1995, S.178f. und Klecha/Marg/Butzlaff2013, S.21 undSchlehe2008, S.126).

EinLeitfadeninterviewhat den Vorteil, dass durch den zu Grunde liegenden Leitfaden eine Vergleichbarkeit zwischen den Interviews besteht. Das bietet sich insbesondere bei einer großen Anzahl von InterviewpartnerInnen an. Der Leitfaden wird im Vorfeld schriftlich fixiert, bleibt aber dennoch situationsbedingt flexibel. Um die Interviewsituation und den Redefluss der oder des Befragten nicht zu stören, sollte der Forscher oder die Forscherin den Leitfaden verinnerlicht haben (vgl.Schlehe2008, S.126f.).

In einembiographischen Interviewgeht es darum, die Lebensgeschichte eines oder einer Interviewten zu erschließen. Dies geschieht meist in mehreren Interviews beziehungsweise „Sitzungen“. Eingeleitet wird der Redefluss durch Fragen nach Lebensabschnitten, die nicht notwendigerweise chronologisch sein müssen. Hier müssen Grenzen und Rahmenbedingungen deutlich formuliert werden, um die Lebensgeschichte nicht als ein einheitliches Ganzes zu konstruieren (vgl.Hopf1995, S.178 undSchlehe2008, S.127f.).

In einemdiskursivenoder auchExpertInneninterviewwerden Befragte zu TheoretikerInnen oder eben ExpertInnen eines bestimmten Themas. Elemente hiervon finden sich in vielen Interview-Arten wieder. Hier wird besonders auf die kommunikative Validierung geachtet. Ein Experte oder eine Expertin zeichnet sich dadurch aus, dass er oder sie in einem bestimmten Themenkomplex als kompetent gilt. Im Gegensatz zum Interview mit ExpertInnen erhebt ein Interview mit SchlüsselinformantInnen Repräsentativitätsanspruch. EinE SchlüsselinformantIn hat ein ausgeprägtes Wissen und kann dies entsprechend gut vermitteln. Er oder sie soll VertreterIn zum Beispiel einer kulturellen Gemeinschaft sein. Inwieweit dies authentisch ist, sei an dieser Stelle dahingestellt (vgl.Hopf1995, S.179f. undSchlehe2008, S.128f.).

Das Konzept desGruppeninterviewsentstammt der soziologischen Meinungsforschung der 1950er Jahre. Zent