Friedhofskind - Antonia Michaelis - E-Book

Friedhofskind E-Book

Antonia Michaelis

4,6

Beschreibung

Siri verbringt einen Sommer in einem kleinen Küstendorf, in dem vor dreißig Jahren unter mysteriösen Umständen ein Kind ertrank. Die Bewohner des Dorfes reden nicht gern darüber - genauso wenig wie über den Totengräber, der angeblich mit den Seelen der Verstorbenen spricht. Oder darüber, dass man sich gut mir ihm stellen sollte, wenn man die Toten nicht gegen sich aufhetzen will. Siri drängt tief in die dunklen Geheimnisse des Dorfes ein. Und stößt dabei auf das Unfassbare...

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Antonia Michaelis wurde in Kiel geboren und ist in Augsburg aufgewachsen. Sie hat in Greifswald Medizin studiert und unter anderem in Indien, Nepal und Peru gearbeitet. Heute lebt sie mit Mann und zwei Töchtern gegenüber der Insel Usedom im Nichts, wo sie zwischen Seeadlern, Reet und Brennnesseln in einem alten Haus lauter abstruse Geschichten schreibt. Im Dorf gibt es nur sechs Häuser, aber mindestens vierzig streunende Katzen und ebenso viele streunende Geschichten. Wie die Katzen lassen sie sich zwar füttern, aber nicht ganz zähmen …

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Olaf Matthes Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-419-1 Originalausgabe

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Für Yasminund die Musik, die bleibt,wenn die Nacht kommt

Und dort der Wind,

in meinen Worten.

Weit draußen liegt das Wasser, grau.

Und steht ein Kind,

steht eben dorten,

unsichtbar, immer blau vor blau,

so mag das zwischen Trug und Schein

auch nur ein Traum im Traume sein.

Und ein Orkan

in meinen Sätzen!

Weit draußen brennt die weiße Gischt.

Von ferne nahn

unter den Fetzen

der Welt, die Licht mit Schatten mischt,

schon neue Bilder rasch heran,

denen ich nicht entkommen kann.

Und dort am Steg,

dort bei den Bäumen,

dort zwischen Schilf und Uferschlick

beginnt mein Weg

zwischen den Träumen.

Und es gibt keinen Weg zurück.

0

Was wird das Letzte sein, das ich denke?

Wenn ich keine Luft mehr bekomme, wenn das Wasser meine Lungen füllt, dann, ganz zum Schluss? Wenn niemand kommt, der mir hilft? Vielleicht spuckt die Nacht einen Menschen aus, wenn ich nur fest genug daran glaube. Einen Helfer, einen Retter.

Und wenn nicht?

Was wird das Letzte sein, das ich denke?

Die Nacht war schwarz, und das Boot war sehr klein.

Ein Ruderboot, alt und hölzern. Niemand sah, wie die Wellen es hin und her warfen; niemand sah die Person darin, niemand sah ihre Hände, die sich um die Ruder krallten. Sie fragte sich, wie lange sie schon hier draußen war. Minuten? Stunden?

Der nasse, kalte Atem des Meeres bedeckte ihr Gesicht mit einem feinen Film, und der Mond hatte sich in den Fetzen der Wolken verfangen wie in einem Netz. Sein Licht brach nur manchmal hervor, um die Gischt auf den Wogen zu glänzenden Perlschnüren zu machen, die langsam heranrollten, sich in die Höhe schwangen und wieder in die Tiefe warfen.

Sie sah ihre Schönheit. Sie sah die Schönheit der Gischt und des Sturms und der Nacht.

Sie wünschte, er hätte sie mit ihr sehen können, aber er war nicht da.

Sie sah seine Augen noch vor sich, seinen Blick, sein Gesicht, ganz nah. Zuletzt hatte sie Angst vor ihm gehabt. Aber nur ein wenig, wirklich nur ein wenig. Ihre Zuneigung war größer gewesen als ihre Angst.

Der Plan war, die Bucht zu erreichen und dort auf dich zu warten, weißt du, auf dich und den Morgen. Es wäre so wunderbar gewesen. Ich hätte mich zwischen die Felsen und den Sanddorn gekauert, und du wärst mit dem ersten Morgenlicht aufgetaucht …

Aber sage mir, ist das wahr? War der Plan nicht ein ganz anderer?

Der Plan war, zu leben. Der Plan war, zu lieben.

Was denn nun?

Ab und zu tauchte der Steg im Mondlicht auf, unerreichbar fern, und sie sah, wie das Schilf sich in den Böen bog, als streichelte eine riesige Hand die Halme, um sie gleich darauf auszureißen und durch die Luft zu werfen.

Sie spürte, wie die Kraft aus ihren Armen wich; sie würde die Ruder loslassen müssen.

Wie sehr sie wünschte, er hätte dort auf dem Steg gestanden, mitten im Chaos der Elemente, und gewinkt! Er stand nicht dort. Sie war ganz allein – allein mit der Nacht und dem Boot und dem Sturm.

Und dann rollte eine weitere Welle heran und hob das kleine Ruderboot hoch – für Momente sah sie in einer Pfütze vergossenen Nachtlichts die Datschen, die Hecken, die Gärten, den Weg zum Dorf – und sie glaubte, dort einen Schatten zu erkennen, der näher kam.

Sie versuchte, zu rufen. Komm! Komm und hilf mir!

Der Sturm riss ihr die Worte vom Mund.

Und die Welle schleuderte das Boot zurück in die Tiefe. Sie spürte, wie es kippte, oben war unten, und unten war oben, und sie öffnete die verkrampften, schmerzenden Hände. Gab die Ruder frei. Endlich.

Das Schwarz unter den Wellen nahm sie auf wie eine neue, stille Heimat.

Sie befand sich unter dem Boot.

Sie musste auftauchen, musste atmen, musste sich befreien – aber sie konnte es nicht.

Um ihren Körper lag ein rauer Strick, und der Strick hielt sie fest. Die Leine war nicht lang genug, um mit ihr unter dem Boot hervorzutauchen. Hatte sie sich irgendwo verheddert oder war sie nie lang genug gewesen? Sie versuchte panisch, den Knoten an ihrer Hüfte zu lösen … es musste möglich sein!

Es war nicht möglich.

Nicht, solange sie nichts sah. Unter dem Wasser regierte absolute Dunkelheit, noch absoluter als draußen in der Nacht. Sie hatte die Welt der Farben und des Lichts verlassen.

Sie dachte an den Schatten auf dem Weg, einen Schatten, der näher gekommen war. Eine letzte, winzige Hoffnung. Oder hatte sie sich den Schatten nur eingebildet?

Auf dem Grund des Meeres lauerte ein großes, kaltes Ding und rief nach ihr.

Manche Leute nannten es den Tod.

Was wird das Letzte sein, das ich denke?

Wenn ich keine Luft mehr bekomme, wenn das Wasser meine Lungen füllt, dann, ganz zum Schluss?

Ich möchte an etwas Schönes denken. Alles hier ist schwarz, ich möchte die Farbe Weiß denken.

Apfelblüten sind weiß.

Im Mai, hast du gesagt, blüht der Apfelbaum auf dem Friedhof, und seine Blüten sind weiß wie Schnee … Ich möchte an dich denken, wie du da stehst, unter dem Apfelbaum, mitten im weißen Wirbeln der Blüten. Das wird das Letzte sein.

1

Was war das Erste?

Das Erste, an das sie sich später erinnerte, war das weiße Wirbeln der Blüten.

Apfelblüten, die vor dem Blau des Himmels durch die Luft segelten, von einem Windstoß erfasst, um sich leise ins Gras zu legen wie Flocken. Die Schatten lagen zwischen den Flocken wie die schwarzen Bleistege von Glasfenstern.

Sie lächelte und hob eine Handvoll Blüten auf. Sie waren so leicht, als existierten sie gar nicht.

Schließlich legte sie den Kopf in den Nacken und sah zu der kleinen Kirche empor.

Natürlich stimmte es nicht; das Erste, was sie vom Dorf gesehen hatte, waren nicht die Blüten gewesen, sondern die unbefestigte Sandstraße mit dem Ortsschild, aber die Blüten würden ihr erster Eindruck bleiben, sie fühlte es.

Sie streute sie zurück in den Wind, dem sie gehörten, atmete tief ein und zog ihren Schal ein wenig enger. Die Mailuft war scharf wie eine Fotografie des Winters.

»Hey«, sagte sie laut. »Hier bin ich. Ich. Bin. Hier.«

Die Kirche antwortete nicht, die Grabsteine des alten Friedhofs schwiegen, und nur der Wind sang in den Zweigen über ihr. Sie watete durch die weiße Gischt aus Blüten und legte eine flache Hand auf das alte Holz der verschlossenen Kirchentür. Dort, wo die Sonne auf das Holz fiel, begann es, sich kaum merklich zu erwärmen.

»Hey«, sagte sie noch einmal – zu der Kirche, zu den Gräbern, zum Wind. »Mein Name ist Siri. Siri Pechton. Ich werde bis zum Herbst hierbleiben.« Es war bisweilen notwendig, die Dinge laut zu sagen, um sich sicher zu sein. »Ich bin gekommen, um die Fenster zu machen. Neue Fenster. Für die Kirche. Da sind eine Menge Schatten in diesem Dorf. Aber ich habe keine Angst vor Schatten. Ich mache Fenster. Fenster sind dazu da, das Licht hereinzulassen.«

Sie sah das Licht an. Es hatte sich auf dem Ärmel ihres geblümten Regenmantels niedergelassen wie ein Schmetterling. Den geblümten Regenmantel machte es schön, schön wie die weißen Apfelblüten. Es machte auch ihre roten Gummistiefel schön und vielleicht sogar ihr kurzes mausbraunes Haar. Sie strich durch dieses Haar, als könnte sie das Licht anfassen.

Würde das Licht auch ihre Kirchenfenster schön machen?

Die Kirche war winzig und alt, eine Kirche ohne Turm; die Mauern aus großen, groben Feldsteinen zusammengesetzt. Die Glocke hing in einem klobigen hölzernen Glockenstuhl neben dem Gebäude. Die runde Fensteröffnung über der doppelflügeligen Tür war mit Spanplatten zugenagelt.

Siri zog ein Foto aus der Tasche des geblümten Regenmantels. Darauf war das ehemalige Fensterglas noch zu sehen, aber das Foto war schwarz-weiß, und die Farben würden für immer ein Geheimnis bleiben. Es war außerdem unscharf und an mehreren Stellen beschädigt. Es war über dreißig Jahre alt. Vielleicht war es älter als Siri selbst.

Und nicht nur die Farben blieben ein Geheimnis. Auch das Bild, das das Fenster gezeigt hatte. Das Foto war, um ehrlich zu sein, sinnlos.

Siri steckte es wieder ein und zuckte die Achseln.

»Ich werde die Leute fragen«, flüsterte sie. »Ich werde schon herausfinden, was auf den Fenstern war.« Sie atmete tief ein und verschränkte die Arme. Die aufgedruckten Blumen auf ihren Ärmeln strahlten im Licht wie ein privater Garten; ein Garten auf dem weißen Grund des Regenmantels; Blüten im Schnee.

Auf einmal kam sie sich beobachtet vor. Es hatte etwas Merkwürdiges, sich auf einem Friedhof beobachtet vorzukommen. Sie stellte sich etwas gerader hin. Sie wusste, dass sie klein war, sehr klein und sehr dünn für eine erwachsene Person. Es war daher wichtig, gerade zu stehen.

Natürlich war es Unsinn; niemand beobachtete sie. Die Gräber waren alle hübsch geschlossen und bewachsen, wie es sich gehörte, keine Geister, Untoten oder andere Spukgestalten zu sehen.

Sie lachte; schüttelte den Kopf über sich selbst.

Durch das schmiedeeiserne Friedhofstor sahen nur die Scheinwerferaugen des uralten Golf 1 herein, der Siri hergebracht hatte: ein Auto, das auf der Farbskala irgendwo zwischen braungrau und graubraun rangierte. Nicht einmal das kalte, klare Licht konnte dieses Auto schön machen, aber es beruhigte sie, es in der Nähe zu wissen. Der Golf war wie ein freundliches stummes Haustier. Er hatte sie und ihr Gepäck klaglos bis hierher getragen, und nun stand er vor der Kirche und wartete darauf, dass es Herbst wurde, damit sie wieder abfahren konnten.

Sie würde ihn umparken, ihn vor der Ferienwohnung abstellen. Vor der Kirche störte er. Man kann ein Auto nicht überallhin mitnehmen wie einen Talisman, es ist einfach zu unhandlich.

Sie kam sich noch immer beobachtet vor.

Sie wandte den Kopf.

Und da sah sie etwas auf der Friedhofsmauer – etwas Blaues. Ein kleines Mädchen in einem blauen Kleid. Aber als sie noch einmal genauer hinsah, war kein kleines Mädchen dort.

Auf der Mauer stand ein Mann.

Siri schloss die Augen und öffnete sie wieder, verwirrt. Der Mann stand immer noch da, oben auf der Mauerkrone. Er sah sie an, völlig reglos.

Dann sprang er hinunter. Die Mauer war an die drei Meter hoch. Beinahe war es, als spürte sie den Schmerz des Aufpralls in ihren eigenen Sohlen.

Warum hatte er auf der Mauer gestanden?

Es wirkte wie ein Spiel, das Spiel eines Kindes: Anschleichen an eine Fremde im Dorf.

Vielleicht war der Mann nicht ganz richtig im Kopf. Er kam jetzt über die Wiese auf Siri zu. Seine Schritte waren so lang wie sein Schatten; er war groß, sehr groß, beunruhigend groß, und sie ballte ihre Hände zu Fäusten und überprüfte ihre absolut gerade Haltung.

Sie konnte sein Alter nicht schätzen, er war in jedem Fall älter als sie, in seinem Haar gab es erste graue Strähnen. Seine Stiefel waren ebenfalls grau – und vielleicht so alt wie er selbst. Sein Hemd war grau, das verknotete Tuch um seinen Hals war grau, seine Hose war irgendetwas, das Grau zumindest nahekam.

Sogar seine Augen waren grau. Grau wie die Grabsteine.

Als er vor ihr stand und auf sie hinuntersah, überragte er sie um mehrere Köpfe, er war ein Turm. Seine Gesichtszüge wirkten grob, wie abgeschliffen vom Wind: das Gesicht eines Menschen, der oft im Freien ist, aber nicht zu seinem Vergnügen. Auch dieses Gesicht machte ihr ein wenig Angst.

Sie beschloss, keine Angst zu haben.

Auf den Ärmeln des geblümten Regenmantels saß noch immer das Licht, und das Licht schützte sie. Der Mann sah das Licht nicht an.

»Was machen Sie hier?«, fragte er schroff.

»Ich … ich bin wegen der Fenster da«, sagte Siri. »Die Kirche bekommt neue Fenster. Aber das wissen Sie sicher? Morgen fange ich an. Sie wollten, dass ich die Skizzen … dass ich sie vor Ort mache. Ich muss die Leute nach den alten Fenstern fragen. Die Fotos sind schlecht.«

»Sie?Sie wollten?«

»Die Leute vom … Kirchenverein?«

Er schüttelte den Kopf. »Mir hat keiner was gesagt. Aber mir sagen sie nie irgendwas über irgendwas. Denken, es geht mich nichts an. Ich hätte nur gerne gewusst, wer zwischen meinen Apfelbäumen herumläuft.«

»Zwischen Ihren Apfelbäumen?«, fragte Siri. »Wer … sind Sie?«

»Das Friedhofskind«, antwortete er und schnaubte, ein Laut zwischen Verachtung und Lachen, ein unangenehmer Laut. »Das ist es jedenfalls, was die Leute Ihnen erzählen werden.« Dann deutete er plötzlich eine kleine abstruse Verbeugung an, die durch seine enorme Größe noch abstruser wirkte. »Ich bin der Totengräber hier.«

Siri ließ ihren Blick noch einmal über den kleinen Friedhof gleiten, über die winzige, uralte Kirche, die Feldsteinmauer. Vor dem Tor sah man den unbefestigten Weg draußen, und hinter der Schnauze des alten Golfs ein paar geduckte, reetgedeckte Häuser.

»Totengräber? Es gibt nicht viele Tote zu begraben in diesem Dorf«, sagte sie. »Um ehrlich zu sein … es sieht so aus, als gäbe es nicht mal viele Lebendige.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin für die ganze Gegend zuständig. Kümmere mich um alles: Beete, Rasenmähen, Heckenschneiden … und eben die Gräber. Wenn sie mich auf den anderen Friedhöfen brauchen, holen sie mich.«

»Und dies ist … Ihr Heimatfriedhof?«

Es klang, fand Siri, als führte sie ein höfliches Gespräch mit einem Vampir.

Er nickte knapp. »Wie lange bleiben Sie?«

»Eine Weile. Ich habe die Ferienwohnung bei Frau Hartwig, im Keller … daneben gibt es einen Raum, der sich als Werkstatt eignet. Es sind sechs Fenster, immerhin. Nicht in der Kellerwohnung. In der Kirche. Ich muss die Skizzen machen, die Schablonen … die Gläser bestellen und zuschneiden, sie zusammenfügen … und sie am Ende einsetzen.«

»Das machen Sie? Nicht irgendein Handwerker?«

Sie kniff die Augen zusammen und musterte ihn.

»Ich bin«, sagte sie, »ein Handwerker. Es gibt weibliche Handwerker.«

Er nickte wieder. »Beeilen Sie sich mit den Fenstern. Wenn einer hier auf dem Friedhof rumläuft, ist das mehr als genug.«

Einen Moment lang schien er nachzudenken, dann streckte er die Hand aus, als wäre ihm eben eingefallen, dass es das ist, was Fremde tun, die es nicht vermeiden können, sich kennenzulernen.

Seine Hand war schwielig vom Arbeiten. Siri ertappte sich dabei, wie sie nach dunklen Rändern unter den Nägeln suchte. Aber natürlich grub ein Totengräber nicht mit den Händen in der Erde, er benutzte eine Schaufel, und vielleicht nicht einmal das, dachte Siri, vielleicht gab es heutzutage hochtechnische Geräte zum Ausheben des Erdreichs, die den Boden später auf Knopfdruck mit einer Rüttelplatte verdichteten, Düngemittel und Rosensamen in vorgestanzte Löcher spritzten …

Sie zuckte zusammen, als der Mann ihre Hand schüttelte. Seine Hand war so viel größer als ihre.

»Fuhrmann«, sagte er. »Lenz Fuhrmann.«

»Siri«, sagte sie. »Siri Pechton.«

Keiner von ihnen sagte »Angenehm«.

Siri ging einmal um die Kirche herum und machte ihre eigenen Fotos von den Fensteröffnungen. Nur die Stirnfenster waren mit Brettern vernagelt, die vier schmalen Seitenfenster waren durch einfaches Glas ersetzt worden. Zwischen den Gräbern saßen zwei dicke Kaninchen und grasten. Hieß es bei Kaninchen »grasen«? Aus irgendeinem Grund fiel Siri das Wort »gründeln« ein.

Die Sonne lag im Gras, Siri fand einzelne violette Krokusse und bückte sich, um über ihre zarten Blätter zu streichen. Es war hübsch hier, wirklich, ein hübscher Friedhof in einem hübschen Dorf. Idyllisch.

Aber sie spürte den grauen Steinblick des Totengräbers; er verfolgte jeden ihrer Schritte, während er die Rosen an der Mauer hochband. Und sie spürte genau, wie sehr es ihm missfiel, dass sie hier war.

»Also dann«, sagte sie, als sie an ihm vorbeiging, zum Tor zurück.

Er nickte ihr zu, ohne seine Rosen zu verlassen.

»Eins noch. Bitte …« Siri zögerte. »Weshalb waren Sie auf der Mauer? Zuerst dachte ich, ich würde ein Kind dort sehen …«

»Es wird kühl«, sagte er schroff. »Das ist der Wind. Sie sollten machen, dass Sie in Ihre Ferienwohnung kommen.«

Sie trat durch das Tor nach draußen und legte ihre Hand auf die Kühlerhaube des alten Golfs. Das Metall war warm von der Sonne, warm und freundlich, aber es stimmte: Der Wind im Dorf war kalt. Ein Stück weit entfernt lag etwas. Etwas Schwarzes.

Schuhe, dachte Siri, Kinderschuhe. Sonntagsschuhe, Vorzeigeschuhe, steif und unbequem. Die Schnürbänder kringelten sich im Sand wie kleine bissige Schlangen. Siri hatte solche Schuhe besessen, als sie sechs oder sieben Jahre alt gewesen war. Sie verstand gut, dass das Kind die Schuhe ausgezogen hatte.

Aber wo war das Kind?

Sie ging außen an der Friedhofsmauer bis zu den Schuhen.

Es waren keine Schuhe da.

Neben der Mauer lagen nur zwei große dunkle Steine, und was Siri für Schnürbänder gehalten hatte, war nichts als der Schatten einer Efeuranke.

†††

Er trat erst ans Tor, als sie fort war.

Doch die Erinnerung an sie hing noch auf der Straße wie ein vergessenes Bild: die kleine, magere Gestalt in dem geblümten Regenmantel, die Füße in roten Gummistiefeln, das kurze mausbraune Haar ein Zufluchtsort für das Sonnenlicht des Frühlingstages.

»Siri«, sagte er leise. »Siri Pechten.«

Er sah ihr Gesicht noch vor sich, das zu ihm aufblickte. Er wischte die Erinnerung an ihr Gesicht fort. Sie war nur irgendeine Frau mit irgendeinem Gesicht. Einem zu spitzen Gesicht übrigens, um es hübsch zu nennen. Sie würde wieder gehen. Bald.

Hoffentlich.

Er schüttelte den Kopf und ging zurück auf den Friedhof. Der Apfelbaum rief ihn, und er stellte sich unter seine knorrigen Äste und schloss die Augen.

Denn dies war der Tag.

Er hatte es gleich gewusst, als er auf die Mauer geklettert war, er hatte es gespürt – und als die fremde Frau mit dem Gesicht und dem Namen plötzlich vor der Kirche gestanden hatte, da hätte er am liebsten auf einen Knopf gedrückt, der sie einfach löschte. Er konnte keine Fremden in seinem Leben brauchen, an diesem Tag am allerwenigsten.

Dies war der Tag, an dem die Apfelblüten fielen.

Lenz spürte ihr schwereloses Weiß auf seinem Gesicht. Er öffnete die Augen wieder; sah den Blütenblättern nach, die sich sanft auf seine Schuhe legten; graue abgewetzte, erdige Stiefel, die Schnürsenkel mehrfach gerissen und wieder verknotet. Man sah sie kaum noch im weißen Wirbeln der Blüten, sie bedeckten das Grau wie Flocken.

Er lächelte und hob eine Handvoll Blüten auf. Sie waren so leicht, als existierten sie gar nicht. Maiblüten. Der Mai, dachte Lenz, war der März der Gegend, das Frühjahr begann später hier, es kam mit einer kleinen, aber entscheidenden Verzögerung ans Ende der Welt, genau wie alles andere. Der Strom war später gekommen, die Wasserleitungen waren später gekommen, und die letzten dicken Oberleitungen spannten sich noch immer durch die Luft wie seltsame Kunstwerke. Selbst der Krieg war damals später gekommen, und die Wende hatte zwischen ’92 und ’93 stattgefunden. Wenn überhaupt.

»Lenz!«

Er fuhr herum, und dann hörte er ein Lachen, ein helles Kinderlachen.

Sie war also da. Wie jedes Jahr. Sie tauchte immer am ersten Tag des Frühlings auf. Er fühlte, wie die Freude über ihr Auftauchen sich in ihm ausbreitete, hell und leicht.

»Wo bist du?«, rief er und drehte sich um seine eigene Achse. Nur zwei Kaninchen liefen zwischen den Grabsteinen hindurch. »Wo?«

Da trat sie aus einer Nische in der Mauer, aus den Efeuschatten, und in ihren Augen blitzte der Schalk.

»Hast du mich nicht gesehen?«, rief sie. »Blindfisch! Komm!«

Und dann stieß sie sich von der Mauer ab und rannte – an ihm vorbei, durch das niedrige hintere Friedhofstor, über die Felder, in Richtung Meer. Ihr blaues Kleid hatte die Farbe des Himmels. Es flog in leichten Falten um ihre dünnen Beine, als sie weiterrannte. Einmal blieb sie stehen und winkte ihm mit ihrer kleinen, blassen Hand: Kinderlachen, Kinderbeine, Kinderhand.

Sie war sechs oder sieben Jahre alt, ganz sicher war er sich nie.

Er war jetzt einundvierzig.

Er holte sie erst beim Steg unten ein. Sie saß dort, ganz vorne, und ließ ihre bloßen Zehen ins Wasser hängen.

»Brrr«, sagte sie und schüttelte sich. »Eisig. Du bist langsam. Der Winter war zu lang, was? Hast du die ganze Zeit vor dem Ofen gesessen und deine Knochen einrosten lassen?«

»Nein«, sagte er. »Aber er war zu lang, der Winter, das stimmt.«

Auch er zog Schuhe und Strümpfe aus. Seine Beine waren so viel länger als ihre. Er krempelte die Hosen hoch.

»Wo bist du gewesen?«, fragte er. Er fragte sie jedes Jahr von Neuem. »Ich habe an dich gedacht … wo bist du gewesen?«

Sie legte nur mit einem Lächeln den Kopf schief und sah ihn an, ihre Augen blau wie ihr Kleid.

»Jetzt bin ich da«, sagte sie, »das ist wohl genug.«

Sie nahm seine Hand; er spürte ihre zerbrechlichen Kinderfinger in seinen, und sie blickten gemeinsam in die Frühlingswolken hinauf. Ja, er war einundvierzig, aber wenn er mit ihr um die Wette rannte, mit ihr auf Mauern balancierte, mit ihr am Steg saß und in die Wolken sah, war er wieder ein Kind. Jedes Jahr von Mai bis Oktober.

Lenz fragte sich, ob die Fischer draußen ihn hier sitzen sahen.

Natürlich sahen sie ihn.

Da sitzt er, sagten sie zueinander, schau an, die Apfelblüten sind also vom Friedhofsbaum gefallen, der Frühling hat angefangen, und jetzt kann man ihn wieder mit diesem irren Ausdruck in den Augen herumlaufen sehen, als könnte er hinter den Dingen eine Welt sehen, die uns verborgen bleibt.

Nein, dachte er, das sagten sie nicht zueinander, das fühlten sie nur. Sagen taten sie »Guck!« Und »Dort!« Und »Ach so. Das Friedhofskind.«

Und sie schüttelten sich, wenn sie das sagten. Denn sie hatten Angst. Sie hatten immer Angst vor ihm gehabt. Es gab Momente, da dachte er, dass sie vielleicht recht damit hatten, sich zu fürchten. Er erinnerte sich ungern, er schob die Erinnerung gewöhnlich von sich fort. Er hatte sie dreißig Jahre lang fortgeschoben.

Sie lehnte sich an ihn, und er spürte das sachte Kitzeln ihres langen hellen Haars an seinem Hals. Sie roch nach einer Mischung aus Seife, frischem Gras und – aus irgendeinem Grund – Tomatensoße.

»Da oben möchte ich mal fliegen«, flüsterte sie. »Mit diesen Wolken.«

»Ja«, wisperte er. »Ganz weit weg von all diesem Kram hier unten.«

»Aber du musst immer zurück zu dem Kram«, sagte sie voller Kinderernst.

»Sieht so aus.«

Sie saßen lange so da, auf dem Steg, so lange, bis sie froren, und da drückten sie sich eng aneinander und saßen noch ein Weilchen länger so.

»Da ist eine fremde Frau«, sagte Lenz. »Im Dorf.«

»Ja«, sagte sie. »Ich habe sie gesehen.«

»Sie macht neue Fenster«, sagte er und sah zum wässrigen Horizont hinaus, »für die Kirche. Weiß der Teufel, aus welchem Ärmel der Kirchenverein sie gezogen hat. Sie hat keine Ahnung, wie die alten Fenster ausgesehen haben. Sie wird die Leute fragen, hat sie gesagt.«

»Hast du Angst?«

»Angst? Ich?« Er schüttelte den Kopf, lachend, aber er merkte selbst, dass sich das Lachen nicht ganz echt anhörte. »Es ist nur … gestern gehörte der Friedhof mir noch allein. Mir und den Toten. Die Besucher waren immer nur auf Besuch. Aber diese Frau wird da herumlaufen, herumschnüffeln, herumsuchen …«

Er spürte den forschenden Blick der blauen Kinderaugen auf sich.

»Du hast doch Angst«, sagte sie, und natürlich hatte sie recht, denn irgendwann würde die fremde Frau auf die Vergangenheit stoßen, die er seit dreißig Jahren verdrängte.

Sie stand auf und strich ihr blaues Kleid glatt.

»Iris …«, begann er.

Aber sie schüttelte den Kopf. »Nenn mich nicht so.«

»Du heißt so.«

»Ich weiß«, sagte sie, »aber ich mag es nicht, wenn ich heiße. Wenn du mich beim Namen nennst, ist das wie ein Abschied. Ein endgültiger Abschied. Wer noch da ist, braucht keinen Namen.«

Und dann drehte sie sich um und rannte über den Steg davon. Als er den Weg erreichte, der zum Dorf zurückführte, war sie verschwunden. Wie so oft.

Sie würde zurückkommen. Er durfte nur ihren Namen nicht zu laut sagen.

2

Die Ferienwohnung lag unter der Erde wie ein Kaninchenbau.

Man betrat sie über eine kleine Treppe, deren Betonstufen an den Kanten abbröckelten, und wenn man in dem engen Flur stand, gab es nichts als Schwärze; dichte, fassbare Schwärze, Schwärze wie ein atmendes Lebewesen.

Der Lichtschalter befand sich links, und die Lampe flackerte zuerst, wenn man sie anmachte.

»Früher hat mein Mann das gemacht mit den Lampen und so«, sagte Frau Hartwig. »Aber der ist seit sieben Jahren unter der Erde. Manchmal kommt der Umbrich vorbei und repariert was brauchen Sie Bettwäsche da drüben ist die Tür zu dem zweiten Raum wozu brauchen Sie den?«

»Als Werkstatt«, antwortete Siri. »Danke. Ich habe Bettwäsche. Ich komme jetzt alleine klar.«

»Alleine. So«, sagte Frau Hartwig und fügte plötzlich Punkte und Kommata in ihre Rede ein, Kommata und Punkte schlecht verborgener Enttäuschung. »Ich sag Ihnen eines, junge Frau: Ganz alleine … ganz alleine kommt keiner klar.«

Aber sie ging.

Siri stand einen Moment in dem schmalen Kellerflur und atmete die abgestandene Luft ein, eine Sorte Luft voll ungedachter Gedanken. Dann begann sie, ihre Sachen die Treppe hinunterzutragen. Frau Hartwig hatte ihre Augen oben hinter einem Fenster platziert, um sie zu beobachten. Die Spitzenvorhänge bewegten sich leicht, und Siri winkte ihnen.

Sie trug einen Karton mit Geschirr an Frau Hartwigs Augen vorbei, einen großen Rucksack und einen Arm voll Tulpen, die sie auf dem Weg hierher gekauft hatte. Eine halbe Stunde später saß sie auf dem Bett und sah sich um.

Der Raum war ein anderer geworden.

Auf dem Sperrholzschrank thronte eine bauchige weiße Teekanne mit blauen Blümchen, die Tassen und Teller um sich geschart hatte wie eine Glucke ihre Küken. Das Bett verbarg sich unter einem bestickten Überwurf, auf dem Tisch standen in einer Glasvase die Tulpen, und auf den Brettern der halb unter der Erde liegenden Fensterschächte lag eine Sammlung an weißen Muscheln. Unter der Matratze verbarg sich ein unauffälliger kleiner Vorrat schwarzer Schokolade.

Siri atmete den Duft der Tulpen tief ein. Sie war angekommen.

Dann ging sie noch einmal nach draußen, um die beiden Koffer hereinzutragen, die ihre Werkstatt enthielten. In dem größeren, sehr schweren, befand sich der Brennofen, eigentlich gemacht für Emaillierungen von Schmuckstücken. Die Hitze, die er entwickelte, um die bemalten Einzelgläser zu brennen, war tödlich. Aber sie blieb gut gesichert hinter der Tür mit dem Sichtfenster … Siri pfiff vor sich hin, gab der Kühlerhaube des alten Golfs einen freundschaftlichen Klaps – und hielt inne.

Da klemmte etwas unter dem Scheibenwischer.

Etwas, das noch nicht dort geklemmt hatte, als sie die Teekanne und die Tulpen geholt hatte. Ein gefaltetes Stück Papier. Sie sah die Straße hinauf und hinab, die Straße, die nicht mehr war als ein Sandweg voller Schlaglöcher. Es war niemand da. Irgendwo hinter ihr warteten Frau Hartwigs Augen. Vielleicht war der Zettel von ihr. Vielleicht stand etwas darauf wie: Brauchen Sie noch Handtücher? Siri befreite den Zettel. Die Schrift sah eilig aus; Tinte, ein wenig verschmiert …

Gehen Sie nach Hause.

Keiner wird Ihre Fragen beantworten. Die Vergangenheit schläft.

Lassen Sie sie schlafen.

Gehen Sie nach Hause, solange Sie noch können.

Wer mit dem Friedhofskind spricht, lebt gefährlich.

Da war keine Unterschrift.

Sie atmete tief ein und ging die Stufen zur Ferienwohnung hinunter. Die schwere Dunkelheit war in den Flur zurückgeschwappt. Wer hatte das Licht ausgemacht? Siri machte es wieder an. Sie betrat ihr Zimmer, schloss die Tür sorgfältig und setzte sich aufs Bett. Dann legte sie den Zettel auf ihr Kissen. Daneben legte sie das alte Foto von dem vordersten Kirchenfenster.

Und dann zerriss sie beides in winzig kleine Fetzen.

»Ich werde doch fragen«, flüsterte sie. »Feiglinge. Wer einen Zettel schreibt, kann auch mit mir sprechen.«

Sie merkte, dass ihre Stimme ein wenig zitterte. Wer hatte den Zettel geschrieben? Lenz Fuhrmann? Oder einer von den anderen aus dem Dorf?

»Ich verstehe es nicht«, flüsterte sie. »Ich habe euch nichts getan. Ich bin lediglich hergekommen, um eurer Kirche neue Fenster zu geben. Es ist ein Auftrag. Ich mache nur meine Arbeit.«

Gehen Sie nach Hause, solange Sie noch können.

Aber war dies überhaupt die Botschaft eines Menschen, der keine Fremden mochte? Vielleicht war es etwas ganz anderes. Vielleicht stammte der Zettel von jemandem, der ihr helfen wollte. Sie warnen.

Wer mit dem Friedhofskind spricht …

Plötzlich roch sie unter dem Duft der Tulpen wieder die dumpfe alte Dunkelheit des Kellers. Den Geruch von kalten Schatten, von Linoleum, Einlegeware und Misstrauen. Sie holte einen braunen Wollschal aus ihrem Rucksack und verbarg ihre Nase darin. Dann wickelte sie sich den Schal um, griff nach dem roten Telefon, das zur Ferienwohnung gehörte, und wählte.

Als sie sich rückwärts aufs Bett fallen ließ, quietschten die Bettfedern, und sie spürte Frau Hartwigs lauschende Präsenz in der Wohnung über sich.

»Hey«, sagte sie in den altmodischen Hörer. »Ich bin’s. Ich bin angekommen.«

Sollte Frau Hartwig lauschen.

»Es ist … nett hier. Ein wenig seltsam vielleicht. Als ich mir die Kirche angesehen habe, stand dort ein Mann auf der Mauer. Ein großer Mann, beinahe ein Riese. Noch größer als du. Er wollte wissen, was ich hier mache. Und dreimal darfst du raten, was dieser Mann von Beruf ist.« Sie lachte. »Totengräber. Ich wusste nicht einmal, dass es diesen Beruf noch gibt. Und es passt ihm überhaupt nicht, dass ich hier bin.« Sie hörte eine Weile zu, schweigend.

Und ich habe einen Zettel gefunden, unter dem Scheibenwischer.

Sie sagte es nicht.

»Ja, natürlich«, sagte sie stattdessen. »Ich passe auf mich auf. Ich habe keine Angst vor Totengräbern. Es ist nur ein Job. Ich mache die Fenster und verschwinde wieder. Der Job dauert, aber er dauert nicht ewig. Ich finde schon heraus, wie die Fenster ausgesehen haben. Und … warum sie kaputtgegangen sind. Im Krieg? Nein, das war viel später. Vor ungefähr dreißig Jahren, haben die Typen vom Kirchenverein gesagt. Sie wollten mir nicht sagen, was passiert ist. Immerhin, das ist mal ein interessanter Auftrag. Ich habe lange genug winzige Glasstücke an Kirchen in Großstädten ausgebessert. Es ist interessanter, die Wahrheit über die Geschichte dieser Fenster herauszufinden. Die Wahrheit …« Eine Weile lauschte sie wieder in den Hörer. »Da hast du recht«, sagte sie schließlich. »Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters.«

Dann drückte sie den Hörer einen Moment lang ganz fest ans Ohr. »Ich habe deinen Schal mitgenommen«, flüsterte sie. »Damit ich ab und zu daran riechen kann. Ich hoffe, das ist in Ordnung?«

Als sie auflegte, hörte Siri, wie Frau Hartwig über ihr wieder begann, herumzulaufen.

Siri ging noch einmal hinaus, um die beiden Koffer in den Raum am Ende des Flurs zu schleppen. In den Koffern war das Licht. Bisher bestand es aus Zangen und Messern und Schneiderädern, aus schwarzem Blei und Brettern und Skizzenpapier. Aber sie würde es zusammensetzen, nach und nach.

Die Vergangenheit schläft. Lassen Sie sie schlafen.

Nein, dachte Siri. Sie würde sie wecken, ganz behutsam.

Das Dorf, hatte der Mann vom Kirchenverein gesagt, ist ein wenig trostlos. Da ist eine Menge Dunkelheit. Aber die Leute treffen sich bei der Kirche. Nehmen Sie das Glas, und geben Sie dem Dorf eine neue Seele. Eine Seele aus Licht. Wenn die Kirche erst neue, bunte Fenster hat, werden auch mehr Touristen kommen.

Siri trat zurück und besah sich ihre Werkstatt. Neben dem kleinen Ofen gab es nicht nur Dosen mit Farben, Gummi arabicum und Pinsel, sondern auch spitze Stahlfedern, um Spuren in die Farbe zu kratzen. Dort stand der Behälter mit der ätzenden Flusssäure, da waren die Messer und Schneidegeräte, die Handschuhe, die Atemschutzmaske.

Für jemanden, der nichts davon verstand, sah der Raum aus wie ein mittelalterlicher Folterkeller. Es war wie mit den Glasfenstern. Wie mit der Wahrheit.

Es kam auf den Standpunkt des Betrachters an.

†††

Lenz befreite die Gräber an diesem Tag vom dunklen schützenden Tannengrün, eines nach dem anderen; er kniete auf der Erde und legte unendlich vorsichtig eine grüne Spitze nach der anderen frei. Bei dem Grab mit dem steinernen Schneehuhn fand er die ersten Triebe der Maiglöckchen. Er verjagte das Kaninchen, das daran schnupperte.

»Karnickel fressen keine Maiglöckchen«, knurrte er. »Scher dich weg, sonst endest du in der Pfanne.«

Das würde es ohnehin, dachte er, es war eines von Aljoschas Kaninchen. Sie hatten sich nie sonderlich um Aljoschas Zaun geschert, aber sie waren dumm genug, jedes Mal zurückzukommen und sich von Aljoscha umbringen zu lassen. Aljoscha tötete sie, indem er sie an den Hinterbeinen hielt und mit dem Kopf gegen die Hauswand schlug. Manchmal musste er mehrmals ausholen, weil sie beim ersten oder zweiten Mal nicht ganz tot waren. Lenz hatte es als Kind gesehen. Später, zu Hause, hatte er sich übergeben.

Das Schneehuhn hatte Moos angesetzt. Er fuhr mit dem Finger darüber und fühlte, wie weich und freundlich es war, und er erlaubte dem Schneehuhn, seinen lebendigen Mantel zu behalten.

Er dachte an die fremde Frau, während er an den Beeten arbeitete.

Siri Pechten. Welcher vernünftige Mensch, bitte, hieß Siri? Welcher vernünftige Mensch kam in ein gottverlassenes Dorf, um neue Fenster für irgendeine gottverlassene Kirche zu machen?

Die Gewissheit, dass die fremde Frau jeden Moment hier auftauchen konnte, legte ihm einen Ring aus Eisen um die Stirn, und sein Kopf pochte schmerzhaft, als hätte er zu lange einen Punkt fixiert – so wie Winfried, wenn er stundenlang dasaß und eine Buchseite anstarrte, ohne umzublättern.

Winfried starrte nur mit dem linken Auge. Das rechte sah seit Langem nichts mehr, es war aus Glas.

Lenz brach eine Rosenknospe ab, um sie Winfried mitzubringen.

Es war Winfried natürlich unmöglich, zuzugeben, dass er Rosen mochte. Es war ihm mit den Jahren unmöglich geworden, zuzugeben, dass er überhaupt etwas mochte. Manchmal fragte sich Lenz, ob er irgendwann so werden würde wie Winfried, ob er, mehr noch, Winfried werden würde, wenn Winfried eines Tages starb.

Winfried hatte sich um den Friedhof gekümmert, ehe er den Schlaganfall gehabt hatte.

Damals war er der Totengräber gewesen und Lenz nichts als ein kleiner Junge, der ihm überallhin folgte wie eine hungrige Katze. Hunger hatte er genug gehabt in seinem Leben, aber heute war alles umgekehrt, die Armen waren dick und die Reichen dünn, und zweimal die Woche fuhr der Konsum-auf-Rädern durchs Dorf. Die alte Speisekammer neben der Küche hatte an Wichtigkeit verloren, weil sie nie mehr leer war.

Damals, im ersten Frühjahr, in dem er die Apfelblüten bemerkt hatte, hatten sie sich in der Speisekammer versteckt, und sie war leer gewesen. Sie hatten sich auch in der Speisekammer von Iris’ Eltern versteckt, in der Datsche. Dort hatte die Speisekammer unter einer Bodenluke gelegen.

Es hatten Kartoffeln dort gelagert, das wusste er noch.

Wenn er die Augen schloss, konnte er Iris wieder neben sich spüren. Wie nah sie ihm gewesen war, damals, unter der Bodenluke! Er hatte ihren Atem auf seiner Wange gespürt und ihre verschwitzte Hand, die seine drückte. Wenn meine Eltern uns nicht finden, sagte diese Kinderhand, dann ist alles gut. Sie hatten sie natürlich gefunden.

Es war zweiunddreißig Jahre her.

Er hörte jetzt andere Stimmen und öffnete die Augen. Da kamen sie also, die Leute.

Auch sie spürten den Frühling und waren aus ihren Löchern gekrochen. Er kniete noch immer in der duftenden, schwerschwarzen Erde, als sie über den Friedhof ausschwärmten.

Er sah sie Gießkannen füllen und Gräber gießen, sah sie ein paar Kaninchen fortscheuchen. Sie alle hatten ihre anverwandten, angeheirateten, angeborenen Gräber, deren Erde sie ab und zu anfallsweise gossen. Aber ohne Lenz wären die Blumen längst eingegangen.

Schließlich kamen die Leute herüber, nickten ihm zu und sagten Belangloses über das Wetter. Er sah die Distanz in ihren Augen wie einen Schleier. Sie hatten, das wusste er, Angst vor ihm.

An diesem Tag war er zum ersten Mal versucht, Fragen zu stellen.

Was ist damals wirklich passiert? Vor zweiunddreißig Jahren? Was ist es, das ihr von mir glaubt?

Er fragte nicht.

Frau Henning schob einen Schein in die Tasche seiner alten Jacke und murmelte, wie schön er die Gräber ihres Vaters und ihres Mannes auf den Frühling vorbereitet hätte. Da war nichts zu sehen auf den Gräbern als grüne Spitzen, aber in drei Wochen würden sie ein Meer aus verschiedenen Blautönen sein, aus wippenden Glöckchen und winzigen Kelchen. Die Nächste, die kam, war Frau Hartwig. Sie drückte ihm ein paar Münzen in die Hand und huschte davon wie eine Maus. Später kamen andere.

Sie waren, dachte Lenz, wie die Kaninchen; alle gleich, alle dumm, Menschenkaninchen mit fernen Augen und Geld in den Händen. Als wäre er weniger eine Person als ein heiliger Gegenstand, vor dem man Münzen hinterlässt, um die Naturgewalten gnädig zu stimmen. Als die Letzten gegangen waren, stand er alleine in einer violetten Frühjahrsdämmerung und spürte einen unbestimmten Schmerz in sich.

Die fremde Frau war nicht zurückgekommen. Ein Teil von ihm wünschte sich, sie käme. In ihrem Blick war kein Schleier gewesen, keine Entfernung, kein Sicherheitsabstand. Da war etwas Suchendes, etwas, das in ihn hineinsehen wollte wie durch ein Kirchenfenster. Etwas, das Fragen stellen wollte.

Ihre Augen, dachte er, waren vom exakt gleichen Blau wie Iris’ Augen.

Später saß er am offenen Fenster und sah zu, wie das Licht in den Wassergräben zwischen den Feldern versank. Er fror, aber es war gut, in der Frühlingsluft zu frieren. Bis gestern hatte er die Singschwäne gehört. Sie waren nur im Winter da. Jetzt, wo der Frühling gekommen war, waren die Schwäne fortgezogen.

Von unten, aus der Küche, drang das Gemurmel des Fernsehers; ein Indiz dafür, dass Winfried da und wach war, obwohl Lenz nicht sicher war, ob er dem Fernseher jemals zuhörte. Es war die theoretische Möglichkeit, alle Kanäle der Welt zu empfangen, die Winfried brauchte. Wenn er merkte, dass er einzuschlafen drohte, machte Winfried den Fernseher aus, um Strom zu sparen.

Auf dem Weg zwischen den Feldern war jemand unterwegs. Lenz stand auf und trat an das winzige Fenster der Dachkammer. Die Figur auf dem Weg war klein und schmal, sie kam vom Meer herauf zum Dorf.

»Iris«, flüsterte er. »Kommst du mich besuchen, jetzt noch? So spät? Ist etwas passiert?«

Doch als die Gestalt näher kam, sah er, dass sie einen Regenmantel trug: weiß mit buntem Aufdruck. Und dass sie nicht so klein war, wie er gedacht hatte.

Die Fensterfrau. Er lächelte, als er das dachte: Fensterfrau. Er mochte das Wort.

War sie unten beim Steg gewesen, bei den stummen Fischerbooten?

»Das Meer wird Ihnen nicht sagen, wie die Kirchenfenster früher ausgesehen haben«, murmelte er. »Da müssen Sie schon die Leute fragen. Aber die Leute reden auch nicht gern. Nicht mit Fremden. Ich weiß es, ich bin einer von ihnen.« Und er lächelte still in sich hinein. »Von den Fremden.«

Die Figur im Regenmantel verschwand aus seinem Blickfeld, tauchte mit dem Weg zwischen zwei seichte Hügel ein – das Land war hier gewellt wie das Wasser bei Sturm, Wogenland, Windland. Die Gestalt war verschwunden. Ihr Verschwinden erinnerte ihn wieder an Iris. Wie ihre Augen.

Ein Kaninchenschatten hoppelte unten über die Wiese.

Dann hörte Lenz jemanden an der Haustür klopfen. Die Fensterfrau, dachte Lenz, und sein Herz schlug schneller. Aber das war Unsinn, so rasch konnte die Fensterfrau nicht bis zur Haustür kommen.

»Sieh mal an, der junge Kaminski von der Werkstatt«, sagte Winfrieds spröde Stimme unten im Flur. »Was willst du? Wir haben kein Auto zu reparieren.«

»Ich will mit ihm reden. Mit dem Friedhofskind.«

»Kinder«, erwiderte Winfried bedächtig, »gibt es in diesem Haus keine.«

»Verdammt, du weißt genau, wen ich meine. Den jungen Fuhrmann.«

Winfried, der alte Fuhrmann, schwieg einen Moment, vielleicht sah er an Kaminski vorbei in die Ferne, wie er es oft tat, das funktionierende Auge zusammengekniffen, als blendete ihn, was er dort sah. »Hat einen Vornamen.«

Kaminski knurrte. »Lenz. Ich will mit Lenz reden. Verdammt, holst du ihn jetzt oder nicht?«

Winfried hielt sich am Treppengeländer fest, um hinaufzurufen.

»Da ist wer für dich!«, rief er.

Lenz war neben das Geländer getreten. »Ich weiß«, sagte er. »Ich will nicht mit ihm reden. Ich mag ihn nicht.«

»Du kommst jetzt runter«, sagte Winfried. Es war keine Bitte, noch nicht einmal ein Befehl. Es war die nüchterne Feststellung einer Tatsache. Lenz zuckte die Schultern und stieg die schmalen Holzstufen hinunter. Er war noch immer der kleine Junge, dachte er, den der alte Totengräber in sein Haus aufgenommen hatte, weil er das Kind seines Bruders war. Hier gibt es keine Kinder, hatte Winfried gesagt, und doch behandelte er Lenz wie ein Kind. Friedhofskind. Wer hatte ihm diesen Namen gegeben? War es Winfried gewesen?

Draußen stand der junge Kaminski und hatte sein Hundeknurren eingestellt. Er stützte sich auf zwei Krücken.

»Der Hund hat eine lahme Pfote«, murmelte Lenz, so leise, dass der Hund es nicht hörte. »’n Abend«, sagte er, lauter.

Er sah den Hund schlucken. Der Hund hatte den Schwanz eingezogen. »Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen«, sagte er, ohne Lenz anzusehen. »Letzte Woche … auf dem Friedhof … ich war blau, ja? Völlig blau. Ich … wir … wir hätten nicht über dich lachen sollen. Ich habe keine Ahnung, was ich gesagt habe …« Seine Sätze kamen stockend. Er hatte offenbar sehr wohl eine Ahnung, was er gesagt hatte. Lenz wollte die Worte nicht wiederholen; Worte, die der junge Kaminski und seine Freunde in ihren Bierflaschen gefunden hatten, wo sie im bräunlichen Schaum vor sich hin rotteten. Ein Wort hatte ihn am meisten getroffen, ein Name: Iris.

Erzähl mal, Friedhofskind, damals, wie hast du es mit der kleinen Iris ge–

»Und warum kommst du jetzt?«, fragte er. »Und was hast du mit deinem Bein angestellt?«

»Das weißt du ganz genau.«

»Nein«, sagte Lenz.

»Du willst, dass ich es sage, hm? Ich bin vom Dach gefallen. Das Bein ist an zwei Stellen gebrochen.«

»Bist nicht so gut mit Dächern, wie dein Vater es war, was? Warum bist du da raufgeklettert? Jeder weiß, dass du nicht schwindelfrei bist.«

Kaminski sah wieder weg. »Hab was repariert.« Dann sah er sich um, und Lenz folgte seinem Blick. Auf der anderen Seite des Weges, im Schatten der Büsche, stand eine kleine, gedrungene Gestalt.

»Da wartet wer, ja?«, meinte Lenz. »Du bist nicht von dir aus gekommen.«

»Die Alte«, sagte Kaminski sehr leise, »die hat Schiss gekriegt. Hat mich hergeschickt, damit ich mich entschuldige.«

»Und du?«

»Ich? Ich hab keinen Schiss, ich nicht. Ist doch alles nur Gerede. Ich glaub nicht, dass du so was kannst.«

»Dass ich was kann?«

»Ich hab mich entschuldigt«, sagte Kaminski, lauter jetzt, damit seine Mutter es hörte. »Mehr kann ich nicht machen. Und ich soll noch sagen, das Grab vom Alten … du pflegst das sehr schön.«

»Wenn du mir jetzt Geld gibst, schlag ich dir die Krücken weg.«

»Was?«

»Du hast mich schon verstanden«, sagte Lenz und schloss die Haustür.

»Vom Dach gefallen«, wiederholte er.

»Leute haben Unfälle«, sagte Winfried hinter ihm. »Leute, die dem Friedhofskind blöd kommen. Immer so gewesen.« Dann packte er seine Krücke und zerrte sein seit dem Schlaganfall lahmes Bein zurück in die Küche, vor den Fernseher.

Und Lenz dachte an die anderen Unfälle. Einer war ein Autounfall gewesen, lange her. Der damals hatte ihn nicht überlebt. Jung war er gewesen, jünger als Kaminski. Lenz hatte nicht um ihn getrauert. Das war die Geschichte mit Aschenputtel gewesen, Aschenputtel und dem gelben Kleid und einer Szene an einer Bushaltestelle, an die er sich niemals freiwillig erinnern würde. Er schob die Geschichte von sich weg.

Tot war tot.

†††

Siri erwachte nachts, in absoluter Schwärze, lag eine Weile still und lauschte.

Sie hatte geträumt.

Im Traum war sie auf der Friedhofsmauer entlangbalanciert, hinter sich den Totengräber, der lange Schatten seiner riesigen Gestalt war auf sie gefallen und hatte die Sonne ausgeschlossen. Sie war nicht sicher gewesen, ob er sie verfolgte oder ob sie ihn führte, im Traum sind diese Dinge unklar. Um sie herum hatte es Blütenblätter geregnet, doch dann hatte sie gesehen, dass es Glasscherben waren. Die Scherben bunter Fenster. Sie hatte nichts mehr gesehen in diesem Scherbenregen, sie spürte noch, wie sie danebentrat, wie sie panisch mit den Armen ruderte – wie sie fiel.

Sie hatte mit dem Schal im Arm geschlafen wie mit einem Stofftier. Jetzt drückte sie ihn an sich und atmete seinen vertrauten Duft tief ein.

Aber es half nicht.

Da war etwas; etwas war hier, in der dickflüssigen Schwärze des Zimmers. Sie tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe und fand ihn nicht. Es war eine Art unbestimmte Präsenz. Etwas Lebendiges.

»Hallo?«, flüsterte sie mit zitternder Stimme. »Ist da jemand?«

War das ihr eigener Atem, den sie hörte? Oder war da der Atem einer zweiten Person im Raum?

Die Schwärze gab nichts preis.

»Lenz Fuhrmann«, flüsterte Siri. »Verschwinden Sie. Ich lasse mir von Ihnen keine Angst einjagen.«

Aber sie hatte Angst; natürlich hatte sie Angst. Sie ahnte den Umriss der riesigen Gestalt im Raum mehr, als dass sie ihn sah. Er rührte sich nicht, stand nur da und sah auf sie hinunter.

»Ich schreie«, sagte sie. Der Satz klang kläglich. Lächerlich. Dumm.

Er antwortete nicht, atmete nur, ein und aus, im Gleichklang mit ihrem eigenen Atem. In diesem Moment ging draußen ein Licht an, und Siri erschrak so sehr, dass sie wirklich schrie. Die blasse Helligkeit der Hoflampe floss ins Zimmer, kroch über den Boden und überzog die Möbel mit einem fahlen Glanz. Auf dem Regal schlief die freundliche Teekanne mit den Streublümchen. Auf dem Tisch schliefen die Tulpen und auf den Fensterbrettern die Muscheln.

Es war niemand im Zimmer. Niemand außer ihr.

Sie schüttelte sich, versuchte, über sich selbst zu lachen, und schaffte es nicht ganz. Ihr war eiskalt. Sie griff unter ihr Kissen, brach ein Stück von der Notfallschokolade ab und steckte es in den Mund. Sie bewahrte auch zu Hause einen Vorrat schwarzer Schokolade unter ihrem Kissen auf. In dieser Nacht beruhigte die Schokolade sie nicht. Sie schmeckte nur bitter; sie schmeckte nach der Schwärze der Nacht.

Siri sehnte sich nach einem schlafendem Körper neben dem ihren, an dem sie sich festhalten konnte.

Nach jemandem, der murmelte: »Schlaf weiter, Siri. Alles ist in Ordnung. Ich bin ja da.«

Aber niemand war da.

Nur ein Schal.

Schließlich stand sie auf und trat ans Fenster. Oben, auf der nächtlichen Wiese, schliefen unter knorrigen alten Birnbäumen Frau Hartwigs Hühner; die Köpfe unter die Flügel gesteckt, ohne Interesse an den Wahrheiten der Welt. Auch dort stand nirgendwo der Totengräber.

Wer hatte das Hoflicht eingeschaltet? Vielleicht hatte auch das Hoflicht einen Bewegungsmelder. In diesem Fall war die Frage, wer sich bewegt hatte. Eines der Kaninchen, die hier überall herumrannten? Hinter einem der Birnbäume ragte etwas hervor, etwas Blaues, sie sah es im Licht der Hoflampe.

Der Stamm war zu schmal, um eine Person zu verbergen. Außer vielleicht … ein Kind.

Noch etwas Blaues tauchte hinter dem Baum auf: ein Ärmel mit einer blassen Hand. Sie kniff die Augen zusammen: Winkte diese Hand? Oder entsprang auch dies ihrer Phantasie, genau wie die Anwesenheit des Totengräbers?

Jetzt war alles fort, Hand und Ärmel und Kleiderzipfel. Siri blinzelte.

»Ich bin hier, um die Kirchenfenster zu machen«, sagte sie laut in die Stille der Nacht. »Sonst nichts. Irgendetwas stimmt mit diesem Dorf nicht, irgendetwas ist hier. In den Schatten. Das ist es, was der Mann vom Kirchenverein mit der Dunkelheit gemeint hat, oder? Deshalb will er, dass ich etwas ändere. Aber ich werde nur so weit fragen, bis ich weiß, was ich für die Fenster wissen muss. Ich habe nichts mit den Geschichten dieses Dorfs zu tun, hört ihr? Nichts.«

3

Sie saß auf einem Grabstein, als Lenz sie das nächste Mal sah, eines von Aljoschas Kaninchen im Arm.

Er sah von seiner Arbeit auf– er war dabei gewesen, das Unkraut auf einem Grab zu entfernen– und erschrak fast zu Tode, und sie lachte. Es gefiel ihr, aufzutauchen, wenn er am wenigsten mit ihr rechnete.

»Iris«, sagte er und klopfte sich die Erde von den Händen.

Diesmal sagte sie nichts darüber, dass sie nicht heißen wollte.

Sie baumelte nur mit den Beinen und sah ihn an. Ihre schwarzen Schuhe waren voller Schlamm. Die Schuhe waren für die Stadt gemacht. Die weißen Socken waren für die Stadt gemacht, das blaue Kleid war für die Stadt gemacht, ein Süßes-kleines-Mädchen-Kleid. Sie hasste das Kleid, er wusste es.

Sie streichelte das Kaninchen, woraufhin es sich ihr entwand und weghoppelte.

»Wohin bist du gestern verschwunden?«

Sie zuckte die Schultern, kaute am Ende einer Haarsträhne. »Da war diese dünne Frau. Die mit dem geblümten Regenmantel. Ich hatte keine Lust, mir ihr zu reden.«

»Sie hätte nicht mit dir geredet.«

»Wer weiß?«, sagte Iris. »Sie war heute Morgen auch da, sie ist um die Kirche herumgegangen und hat Skizzen gemacht. Und weißt du, was sie dabei vor sich hin gemurmelt hat?«

Er stand auf und lehnte sich neben sie an den Grabstein. »Nein, ich weiß es nicht. Aber du wirst es mir sicher sagen.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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