Frisches Blut und andere Kurzgeschichten - Andrea Kochniss - kostenlos E-Book

Frisches Blut und andere Kurzgeschichten E-Book

Andrea Kochniss

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Beschreibung

 "Ich verfluche den Tag, an dem die Schröders Anfang letzten Jahres wegzogen und Erika Gerber mit ihrem Sohn hier als Nachmieter auftauchte. Sie waren mir von Anfang an unsympathisch. Besonders sie. Unglaublich freundlich hatte sie von Anfang an getan, aber ich habe sofort gemerkt, was sie im Schilde führte. Alteingesessene Gewohnheiten im Dorf aufgrund ihrer Ideen verbessern oder sogar abschaffen. Alle hier fanden sie toll, witzig, kreativ und was weiß ich noch alles. Frisches Blut bringe sie in unser Dorf, hatte Frau Bünder von gegenüber gesagt. Sie hatte ja keine Ahnung, wie Recht sie damit hatte. Denn jetzt war es passiert." In dieser Sammlung von Short Storys aus der Welt der finsteren Gestalten befinden sich folgende Geschchten: Schwarzgültig Holzgeist Der Apfelsafe Tiefe In jeder Frau steckt eine kleine Hexe Burg Schleihenthal Frisches Blut

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Andrea Kochniss

Frisches Blut und andere Kurzgeschichten

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Schwarzgültig

Ich hätte ihn nicht nehmen dürfen. Es war unrecht. Und auch gar nicht meine Art. Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Aber ich konnte nicht anders. Er hat so wunderschön in der Sonne geglitzert, gerade dieser eine unter den vielen anderen.

Onkel Paul ist ein bisschen verwirrt, sagt Mama. Er kann nicht mehr allein leben und braucht unsere Unterstützung. Es wäre eine Schande, sagt Mama, wo ihr Onkel doch Zeit seines Lebens immer ein lebenslustiger Mann gewesen sei. Ich weiß nicht, warum Verwirrung und Lebenslust nicht zusammenpassen.

Ich kenne meinen Onkel nicht sehr gut. Nur von wenigen Besuchen in den letzten Jahren, die er bei uns war. Nicht wir bei ihm. Dafür hatte Mama und mir das Geld gefehlt. Dazu hätten wir nach Amerika fliegen müssen. Gleich nach dem frühen Tod seiner Frau hatte er sich nämlich seinen Jugendtraum erfüllt und war nach Phoenix, Arizona gezogen. Damals war Mama fast selbst noch ein Kind gewesen und ich natürlich noch gar nicht geboren. Was genau Onkel Paul die letzten dreißig Jahre in dieser mir völlig fremden und weit entfernten Welt getan hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich heute Morgen einen riesengroßen Fehler begangen habe. Und es tut mir so leid. Ich kann an nichts anderes denken.

„Pst, Missie!“, hat er mich gerufen, während ich noch beim Frühstück saß. Erschrocken drehte ich mich zu ihm herum. Er lehnte mit seinem spitzbübischen Lächeln im Türrahmen. Seine dunkelbraunen Augen strahlten aus dem runden Gesicht, das stets von seinen silbergrauen Locken umrandet ist. „Wo ist deine Mutter?“

Ich kaute meinen letzten Bissen, der plötzlich ziemlich trocken war, etwas schneller durch und schluckte ihn dann herunter. „Sie ist zur Arbeit gefahren“, krächzte ich halbwegs verständlich. Ich mag meinen Onkel Paul schon irgendwie, ich kenne ihn halt nur zu wenig. Aus diesem Grund war ich über seine direkte Ansprache etwas überrascht, aber ich freute mich auch.

„Dann komm mal her, Missie. Ich muss dir was zeigen!“ Er nennt mich immer nur Missie. Ich glaube, er weiß gar nicht, wie ich richtig heiße. Ich glaube, er weiß auch nicht, wer ich eigentlich bin. Das meint Mama mit dem verwirrt sein.

Ich wischte meine vom Honig-Toast klebrigen Finger am Geschirrtuch ab, das über der Lehne meines Stuhls hing und folgte Onkel Paul in sein Zimmer. Es ist immer noch komisch für mich, mich daran zu gewöhnen, dass er jetzt darin wohnt. Mama hat ihr eigenes Schlafzimmer für ihn hergegeben und schläft seither auf der Klappcouch im Wohnzimmer.

„Na komm, Missie, komm!“ Er winkte mich zu sich heran. Ein bisschen unheimlich war das alles schon. Ich hätte eigentlich zur Schule gemusst. Aber in seinem Zimmer herrschte eine sonderbare Atmosphäre, eine Art Flirren. Ein wenig so wie im Sommer, wenn man auf der Straße den Asphalt glühen sieht. Nur habe ich es nicht gesehen, sondern gespürt.

Kaum war ich im Zimmer, schloss Onkel Paul die Tür hinter mir. Er bedeutete mir, dass ich mich auf sein Bett setzen sollte. Eine andere Möglichkeit gab es auch nicht, er selbst saß auf dem einzigen Stuhl im Zimmer, der an dem kleinen Bistrotisch am Fenster stand. Vor ihm befand sich ein kakaobrauner Wildlederbeutel.

„Was ist das?“, hörte ich mich sagen. Ich wollte nicht neugierig sein. Aber ich war mir sicher, dass das unsichtbare Flirren von diesem Beutel ausging.

„Das ist schwarzgültig. Alles schwarzgültig, Missie!“

Ich habe keine Ahnung, was schwarzgültig heißt, aber das war mir ab dem Moment auch völlig egal, in dem Onkel Paul den Knoten der Kordel löste, die den Beutel eben noch fest verschlossen gehalten hatte. Andächtig breitete er den Beutel aus, der nun nur noch ein Runder Lederkreis war, etwa so groß wie eine Kuchenplatte. Und die Sicht auf seinen unglaublich schönen Inhalt freilegte.

Silbernen Indianerschmuck.

Ich stand auf, um mir die einzelnen Schmuckstücke genauer anzusehen. Mein flüchtiger Blick registrierte Halsketten, Ringe, Haarspangen. Doch auf nur einem blieb mein Blick wie magisch angezogen haften. Ein zierlicher Armreif aus purem Silber, der glänzte, als wäre er gerade eben nur für mich poliert worden.

In der Mitte befand sich ein ovaler Stein. Türkisfarben, mit schwarzen Sprenkeln. Ich brauchte nicht viel Fantasie, um in den Sprenkeln einen Wolfskopf zu erkennen. Ein zufälliges Bild, was die Natur geschaffen hatte. Es war offensichtlich, dass es nicht nachträglich auf dem Stein angebracht worden war.

Umfasst wurde der Stein von einem zu einer Kordel gedrehten Strang aus Silber. Rechts und links von ihm gingen jeweils drei feingliedrige Federn ab, die dem Armreif das Aussehen verliehen, Flügel zu haben und jederzeit fortschweben zu können.

Ich merkte erst, dass ich meine Hand nach ihm ausstreckte, als Onkel Pauls laute Stimme dazwischenfuhr: „Nicht anfassen!“ Ich erschrak fürchterlich und zuckte zurück, als hätte ein wütender Hund nach mir geschnappt.

Onkel Paul schaute mich aus böse funkelnden Augen an. „Niemals anfassen, Missie! Das ist gefährlich!“ So schnell, wie der Zorn über ihn gekommen war, so schnell wich er einem völlig abwesenden Blick, der von seinen Schmuck abschweifte und aus dem Fenster glitt.

„Onkel Paul?“, fragte ich. Er antwortete mir nicht. Ob absichtlich, oder ob es ihm wirklich nicht möglich war, weiß ich nicht. Und so fuhr meine Hand wieder nach vorne und steckte den Armreif ein.

 

***

„…schwarzgültig.“

Langsam komme ich wieder zu mir, zurück in den Chemieraum, in dem ich schon seit zwei Schulstunden sitze. Gedanklich war ich bis eben nicht anwesend. Ich schweife immer wieder zum heutigen Morgen zurück. Zu Onkel Paul, unserem seltsamen Gespräch und der Tatsache, dass ich ihn bestohlen habe. Seither nehme ich meine Umwelt nur zäh wahr, so als wäre ich nicht richtig bei mir. Trotzdem habe ich dieses eine Wort, welches Herr Breimann gerade da vorne am Pult gerade von sich gegeben hat, genau verstanden.

„Was haben Sie gerade gesagt?“, frage ich in den Raum.

Herr Breimann sieht mich überrascht an. Dass ich mich überhaupt am Chemie-Unterricht beteilige, ist er nicht gewohnt.

„Seit wann ist es hier denn an der Tagesordnung, unaufgefordert in den Unterricht zu plappern?“ Herrn Breimanns Lippen umspielen ein leichtes Lächeln. Ich merke ihm an, dass er sich eigentlich an meiner Beteiligung am Unterricht freut, aber ernst bleiben will.

„Tut mir leid, Herr Breimann.“ Ich spüre, wie die Röte meinen Hals herauf kriecht.

Herr Breimann bedenkt mich mit einem sonderbaren Blick, der leicht irritiert wirkt, dann sagt er: „Okay, für dich, junge Dame und alle anderen, die bei meinem letzten Satz geschlafen haben, wiederhole ich ihn gern noch einmal. Ein altertümliches Wort für silberhaltig ist schwarzgültig.“

Meine linke Hand steckt in der Bauchtasche meines Sweat-Shirts und umfasst den kalten, metallenen Armreif, der sich in ihr befindet. Ich muss ihn sofort zurückbringen, wenn ich nach Hause komme. Ich hätte ihn nicht nehmen dürfen. Tief in meinem Innern, irgendwo in meinem Magen, brennt es. Ich glaube, ich weiß jetzt, wo das Gewissen im menschlichen Körper sitzt.

Fast gleichzeitig mit dieser Erkenntnis klingelt es zum Ende der Schulstunde. Endlich. Eilig packe ich, noch schneller als meine Mitschüler, meine Sachen zusammen und stürme Richtung Tür, da hält Herr Breimann mich sanft am Oberarm zurück. Angesichts seiner unerwarteten Berührung bleibe ich ruckartig stehen und schaue in seine Augen.