Mieke wird erwachsen - Andrea Kochniss - E-Book

Mieke wird erwachsen E-Book

Andrea Kochniss

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Beschreibung

Es ist 1986, als Mieke zum ersten Mal verliebt ist. In einen unbekannten Jungen, über den sie quasi gar nichts weiß. Was für eine Vierzehnjährige, dazu noch mitten in den Achtzigerjahren, schon nervenaufreibend genug ist. Dass ausgerechnet ihre Erzfeindin Ruth mit dem geheimnisvollen Jungen geht, macht die Sache nicht unbedingt leichter. Zudem trägt Miekes Mutter ein Geheimnis mit sich herum, welches ihr Leben zusätzlich auf den Kopf stellt. Eine kostenlose XXL-Leseprobe zum Buch gibt es unter engelsgeruechte.de

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Andrea Kochniss

Mieke wird erwachsen

Es war einmal 1986

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

1

An einem Samstag Hausaufgaben aufzugeben, dazu noch in Mathe, glich Mieke einer Folter. Sie hasste Mathematik zutiefst. Mieke schwor sich, genau an dem Schreibtisch, an dem sie gerade saß, niemals im Leben einen Beruf zu wählen, in dem sie mit Zahlen umzugehen hatte.

Ihr gespaltenes Verhältnis zu diesem Fach war einer der Gründe, warum sie es auf den Sonntagnachmittag verschoben hatte, die Hausaufgaben zu erledigen.

Nach über einer Stunde hatte Mieke es endlich geschafft, sich durch den Zahlen-Dschungel zu quälen. Sie klappte mit einem Seufzer ihr Matheheft zu. Zeitgleich hörte sie, wie unten in der Wohnküche das Telefon schellte. Keine zehn Sekunden später rief Miekes Mutter Lene: »Mieke, hier ist ein Junge für dich am Telefon. Wer, weiß ich nicht. Er hat seinen Namen nicht gesagt.«

Auch das noch! »Bestimmt Mirko. Er wollte die Hausaufgaben haben.«

Ihr Vater Uwe, der im Wohnzimmer saß, durch das sie hindurchmusste, wenn sie die Treppe benutzen wollte, überhörte ihre genervte Stimme und witzelte: »Ein Junge? Du fängst aber schon früh an.«

Mieke ließ sich absichtlich Zeit, die Stufen zur Wohnküche hinunter zu trotten. Sie ergriff den Hörer des grünen Telefons, das direkt am Treppenabsatz auf der Kommode stand. »Hallo?«

»Ich bin‘s, Mirko. Warum hast du mich nicht angerufen? Ich hab stundenlang gewartet.« Mirkos Stimme überschlug sich. Seit ein paar Monaten hatte bei ihm die Pubertät zugeschlagen. Er war körperlich in die Höhe geschossen und der Stimmbruch hatte die Kontrolle seiner Stimmbänder übernommen.

»Tu nicht so, als würdest du nie etwas vergessen! Außerdem kannst du gar nicht so lange gewartet haben. Es ist nämlich gerade erst drei Uhr vorbei.«

»Sei doch nicht gleich immer so eingeschnappt!« Mirko machte eine Pause. Er schien auf irgendetwas zu warten. Etwa auf eine Entschuldigung? Den Gefallen tat Mieke ihm nicht. Dieser Kerl nervte so furchtbar, und das wollte sie ihn spüren lassen. Doch da war sie bei Mirko an der falschen Adresse, denn so, als ob nichts gewesen wäre, fragte er: »Gehst du gleich zu Veras Fete?«

»Oh, ist die heute? Das habe ich ganz vergessen. Das geht nicht, ich muss auf den Geburtstag meiner Tante.«

»Schade. Also, Tschüss dann.« Die Enttäuschung, die in Mirkos kieksiger Stimme mitschwang, war nicht zu überhören.

Ohne eine Verabschiedung legte Mieke den Hörer auf die Gabel. Als sie sich umdrehte, sah Mieke geradewegs Lene in die Augen, die bei dem gesamten Gespräch dabeigestanden und zugehört hatte.

»Das hörte sich aber nicht so an, als hättest du Mirko die Hausaufgaben gegeben«, sagte Lene mit einem Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht. Viel zu oft wünschte Mieke, so auszusehen wie ihre Mutter. »Davon abgesehen glaube ich nicht, dass er dich wegen der Hausaufgaben angerufen hat.«

»Ach, er regt mich auf! Immer rennt er hinter mir her!«

»Deshalb also hast du gesagt, wir würden zur Tante fahren?«

»Ja, ich kann ihn nicht leiden.«

»Ich finde, Mirko ist ein netter Junge.«

Das Gespräch entwickelte sich in eine Richtung, die Mieke gar nicht gefiel. Flucht schien ihr die simpelste Lösung. »Lass mich bitte einfach in Ruhe!«

 

Auf ihrem Zimmer führte ihr erster Weg zum Plattenspieler. In der letzten Zeit lief dort in Dauerschleife das aktuelle Album von Cyndi Lauper. So auch jetzt. Mieke drehte die sonst von den Eltern vorgeschriebene Lautstärke etwas höher und ließ die Musik auf sich wirken. Die Boxen, die auf dem Fußboden ihres Zimmers standen, vibrierten leicht und führten die Musik durch ihre Füße die Beine hinauf in ihren Bauch.

Mit ihren gerade mal vierzehn Jahren war Mieke noch zu jung, um in die ortsansässige Disco Hot Fire zu gehen. Es gab einige gleichaltrige Mitschüler, die das schon taten, aber das funktionierte nur durch Beziehungen. So war Mieke, wenn sie tanzen wollte, auf Feten angewiesen, die ihre Mitschüler gaben. Miekes beste Freundin Vera gab an diesem Nachmittag solch eine Fete.

»Dieser blöde Mirko! Immer verdirbt er einem alles!«, schimpfte sie vor sich hin. Sie stellte die Musik etwas leiser und ging an den Kleiderschrank, wo sie die mintfarbene Vanilla-Hose hervorkramte, die sie von ihrer ältesten Schwester geschenkt bekommen hatte. Das war einer der Vorteile einer großen Familie.

Wie zu erwarten, war die leichte Stoffhose zerknittert, was hauptsächlich an Miekes Hang zur Unordnung lag. Es war einfacher, seine Klamotten in den Schrank zu stopfen, als sie anständig zu falten. Nun bekam sie die Quittung für diese Angewohnheit.

Mieke hüpfte die Treppenstufen hinunter und rief: »Lene, kann ich mir mal das Bügeleisen ausleihen?«

»Willst du doch noch zur Fete?«

»Ja, hier ist es einfach zu langweilig.«

»Dann nimm es dir. Du weißt ja, wo es ist. Aber bring es danach gleich wieder dahin, wo es hingehört. Lass es nicht wieder sinnlos in deinem Zimmer stehen.«

»Klar. Wie lange darf ich denn bei Vera bleiben?«

»Um zehn bist du spätestens zu Hause.«

»Nicht länger?«, maulte Mieke, obwohl sie wusste, dass sie eh keine Chance hatte.

»Soviel ich weiß, schreibst du morgen einen Mathetest. Und wie dringend du da eine gute Note brauchst, muss ich dir wohl nicht noch extra sagen.«

Richtig, das brauchte Lene nicht. So hielt Mieke es nicht für nötig, ihr darauf noch eine Antwort zu geben. Sie rauschte in ihr Zimmer, um ihr Outfit endlich perfekt zu machen.

 

Zu den schönsten Dingen in Miekes Leben zählte es zu wissen, dass ihre beste Freundin lediglich vier Häuser weiter auf der gleichen Straße wohnte. So ein kleines Dorf wie Schleihenthal bot nicht viele Möglichkeiten, in die nächstgroße Stadt Erpenich zu fahren. Vier Busse fuhren wochentags, samstags nur zwei und sonntags gar keiner. Von Zügen ganz zu schweigen, es gab nicht mal einen Bahnhof in Schleihenthal.

»Mensch, Mieke! Wir haben schon auf dich gewartet. Übrigens, du hast Glück. Mirko hat angerufen, er kann nicht kommen.«

»Gott sei Dank!« Mieke seufzte erleichtert.

»Komm schon rein! Oder willst du hier übernachten?«

Vera hatte es geschafft, das Wohnzimmer des elterlichen Hauses in eine Art Disco zu verwandeln. Die drei Fenster des Raumes waren mit Wolldecken abgehängt, so dass kein Fünkchen Tageslicht mehr hineindringen konnte. Von der Decke hing die Disco-Kugel, die sie und Mieke wochenlang aus einer dicken Styroporkugel, Sekundenkleber und kleinen Spiegelplättchen selbst gebastelt hatten.

An der Wand über der Couch leuchtete die lilafarbene Neonröhre. Eine UV-Lampe, die alle hellen Farben im Raum noch greller und die Haut der anwesenden Jugendlichen – fast die gesamte Schulklasse von Mieke und Vera – gut gebräunt erscheinen ließ. Doch die Krönung von allem war der Disco-Blitzer, angebracht auf dem Fernseher der Schillers. Tanzte man in seinem Bereich, sahen die Bewegungen aus, als würde man sich in Zeitlupe bewegen.

»Wow, Vera, wo hast du das Ding denn her?«, fragte Mieke ehrfürchtig.

»Den hat mir meine Cousine geliehen. Spitze, oder?«

»Genial! Sowas ist doch bestimmt total teuer!«

»Keine Ahnung. Die Eltern meiner Cousine sind so reich, dass die sich sowas locker leisten können.«

Veras Familie war auch nicht arm, aber für solche Kinkerlitzchen wie einen Discoblitzer gaben auch sie ihr Geld nicht aus. Mieke konnte von so etwas nur träumen. Klar war es schön, eine große Familie zu haben, jedoch bedeutete es, dass Mieke auf vieles verzichten musste.

»Deine Hose ist todschick! Sag bloß, die hast du von Elke abgestaubt?«

Mieke huschte angesichts des Lobes ein Grinsen übers Gesicht. »Die war in der Lieferung neuer Klamotten für den Laden letzte Woche dabei. Sie hat einen Farbfehler, da konnte Elke sie für den halben Preis haben, und sie hat dabei sofort an mich gedacht. Die Hose ist quasi eine Art Bezahlung dafür, dass ich ab und an auf Chrissie aufpasse.«

Wie aufs Stichwort erklang aus der Stereoanlage der Song Touch Me von Samantha Fox. Das war nicht nur der Lieblingssong von Miekes kleiner Nichte Chrissie, sondern auch einer, den sie selbst im Moment sehr gern hörte. Sie griff Vera bei der Hand und zog sie in die Mitte des Raumes, wo Judith und Jutta, die Zwillinge aus Miekes und Veras Klasse, gemeinsam tanzten. Wie immer war es bei solchen Feten so, dass die Mädchen sich auf der Tanzfläche befanden. Die Jungs standen eher abseits beobachtend, wenn überhaupt wippten sie nur mit ihrem Fuß im Takt zur Musik und unterhielten sich über Fußball oder Mofas.

Mieke ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen, bis sie jemanden entdeckte, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Dieser Junge ging garantiert nicht auf ihre Schule, das hätte sie gewusst. Für einen Moment kam Mieke aus dem Takt und sah ihm genau in die Augen. Welche Farbe sie hatten, konnte sie in der Dunkelheit nicht erkennen. Unwichtig, es reichte, dass sie groß waren, irgendwie leuchteten und sie direkt ansahen.

»Alles klar bei dir?«, fragte Vera und winkte mit der Hand vor Miekes Gesicht herum.

»Wer ist das?«, fragte Mieke.

Vera schaute in die Richtung, in die Mieke starrte, und entdeckte den unbekannten Jungen. Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Den hat irgendwer mitgebracht.« Damit schien dieses Thema für Vera abgehakt, und sie tanzte unbeirrt weiter.

Judith beugte sich zu Mieke rüber, damit sie bei der lauten Musik nicht so schreien musste. »Der ist süß, oder? Mit wem er hier ist, weiß ich nicht. Allerdings weiß ich, dass er aufs Treutler-Gymnasium geht, das ist aber auch alles. Der geht mindestens in die neunte Klasse, wenn du mich fragst.«

Mieke war schon klar, dass Judith ihr damit durch die Blume gesagt hatte, dass dieser besondere Junge definitiv zu alt für Mieke war. Die Frage war nur, was machte er dann hier auf einer Party von Siebtklässlern? Na gut, Noch-Siebtklässlern. Die Sommerferien standen vor der Tür. Bald würden sämtliche Schüler, die sich hier im Raum befanden, die achte Klasse besuchen.

Was allerdings nicht die Tatsache verhinderte, dass kein Junge, der so aussah wie dieser, irgendeine Art von Interesse an einem Mädchen wie Mieke zeigte.

»Jetzt starr den doch nicht so an!«, sagte Jutta, die für Mieke schon angemessen rot geworden war.

Mieke drehte sich mit dem Rücken zu ihm, weil das die einzige Möglichkeit war, ihn nicht ständig ansehen zu müssen. Jutta hatte Recht. So, wie Mieke ihn in den letzten Minuten angeschmachtet hatte, musste er denken, sie sei eine Psychopathin.

Kurze Zeit später bestätigte sich ihr Verdacht. Er verließ mit einem Mädchen, das Mieke nur von hinten sah, die Fete.

2

Am nächsten Morgen wurde Mieke von Lene geweckt. Unsanft rüttelte ihre Mutter sie an den Schultern aus tiefsten Träumen von geheimnisvollen Augen.

»Mieke, Augen auf! Du hast gestern Abend vergessen, deinen Wecker zu stellen. Es wird Zeit, wir haben schon zwanzig vor Sieben.«

Es war Montag. Wie jeder andere Mensch auf dieser großen weiten Welt hasste Mieke diesen Tag. Wieso konnte das Wochenende nicht drei Tage dauern? Und an einem Montagmorgen gleich in der ersten Stunde einen Mathetest zu schreiben, glich so oder so einer Folter.

 

»Wie viele Stunden hast du heute?«, fragte Lene ihre Tochter, als diese es endlich geschafft hatte, am Frühstückstisch zu sitzen und eilig ihren Toast mit Marmelade bestrich.

»Sechs.«

»Dann kannst du ja mit dem Ein-Uhr-Bus kommen. Ich habe Papas Auto heute nicht. Die Baustelle, auf der er im Moment ist, erlaubt es ihm von der Entfernung her nicht, für die Mittagspause nach Hause zu kommen.«

Zwischen zwei Bissen in ihren noch viel zu heißen Toast sagte Mieke: »Ich habe aber nur noch Geld für die Hinfahrt.« Sie hatte nicht damit gerechnet, diese Woche den Bus nehmen zu müssen. Mieke hatte sich letzten Donnerstag von ihrem Taschengeld, in dem ein Teil Busgeld enthalten war, die aktuelle Popcorn gekauft. Sie rechnete nach dieser Beichte mit einem Donnerwetter.  Lene jedoch reagierte, nicht typisch für sie, wenn es um das knapp bemessene Geld ging, anders. »Das ist nicht schlimm, ich kann es dir geben.« Sie begann in ihrem Portmonee nach Kleingeld zu suchen, während Mieke bereits aufstand und den letzten Schluck ihres Kakaos trank. »Ich muss los, der Bus kommt gleich.« Sie streifte sich ihre dünne Stoffjacke über und griff eilig nach dem Geld, das Lene nun endlich zusammengesucht hatte. »Danke! Tschüss, Lene.«

»Tschüss, Mieke. Und vergiss deine Schultasche nicht!«

 

Gerade noch so schaffte Mieke es, in den überfüllten Linien-Bus einzusteigen, der gleichzeitig als Schulbus genutzt wurde.

Nachdem sie bezahlt hatte, quetschte sie sich in die Mitte des Busses zwischen eine junge Frau mit Kinderwagen und einen Mann mit Aktenkoffer. Es war nicht üblich, dass der Bus so voll war. Mieke konnte es sich nicht erklären, aber eines war sicher. Aus diesem Grund musste der Busfahrer langsamer fahren.

»Verdammter Mist! Hoffentlich komme ich nicht ausgerechnet heute zu spät!«, fluchte sie leise vor sich hin. Der Bus nahm jetzt eine Kurve, wovon Mieke so überrascht war, dass sie sich spontan am Arm eines Mannes festkrallte. Er reagierte nicht, doch war ihr das furchtbar peinlich. Sie spürte die Röte das Gesicht heraufsteigen. Zu allem Unglück tippte ihr jemand auf die Schulter. Mieke schaffte es, sich umzudrehen, ohne jemanden der umstehenden Menschen zu verletzen, nur um in das selbstgefällige Gesicht von Ruth Kessel zu blicken. »Seit wann hat Mareike Neuss es denn so furchtbar eilig, in die Schule zu kommen?«

Mieke antwortete zuerst gar nicht, was ihr in der Gegenwart von Mirkos älterer Schwester immer wieder passierte. Was Ruth wunderbar einsetzte, um sie noch mehr zu demütigen. »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Na?«

»Wir schreiben einen Test. Was dich eigentlich nichts angeht.«

»Interessant zu wissen, dass du dich wegen etwas so sehr aufregst, was doch sowieso in die Hose geht.«

Mieke wünschte zu wiederholtem Male, dass sie schlagfertiger wäre. Wo war Vera, wenn Mieke sie brauchte? Sie beschloss, lieber gar nichts mehr zu sagen.