Frost, Forensik, Früchtebrot - Regine Kölpin - E-Book

Frost, Forensik, Früchtebrot E-Book

Regine Kölpin

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Beschreibung

Der mörderischste Adventskalender des Jahres geht in die nächste Runde!  Von blutig bis heiter, von furchterregend bis rätselhaft: 24 renommierte Autor*innen haben sich zusammengefunden und liefern mit »Frost, Forensik, Früchtebrot« eine außergewöhnliche Kurzgeschichtensammlung, die für packende Unterhaltung während der Feiertage sorgt. Hier kommt jeder Krimi-Fan auf seine Kosten! Freuen Sie sich auf 24 regionale Kurzkrimis mit spannenden Tatorten in Deutschland, Österreich und der Schweiz. »Frost, Forensik, Früchtebrot« bietet fesselnde Adventstage mit folgenden Autor*innen: Achilles, Eleanor Bardilac, Carine Bernard, Katja Bohnet, Vera Buck, Jutta Büsscher, Ellen Dunne, Gitta Edelmann, Carla Eisfeldt, Christiane Franke & Cornelia Kuhnert, Miriam Gramoschke, Daniel Holbe, Kästner & Kästner, Thomas Kastura, Regine Kölpin, Iny Lorentz, Gisa Pauly, Justine Pust, Moni Reinsch, Tibor Rode, Sonja Rüther, Florian Schwiecker, Jürgen Seibold und Su Turhan. Weitere Anthologien aus dieser Krimi-Bestseller-Reihe mit weihnachtlichen Kurzgeschichten sind: - Myrrhe, Mord und Marzipan - Teelicht, Tatort, Tannenduft - Wichtel, Wunder, Weihnachtsmord - Winter, Weihrauch, Wasserleiche - Rentier, Raubmord, Rauschgoldengel - Lametta, Lichter, Leichenschmaus

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 449

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sarah Sigle (Hrsg.)

Frost, Forensik, Früchtebrot

24 Weihnachtskrimis von Rostock bis Chandolin

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Der mörderischste Adventskalender des Jahres geht in die nächste Runde!

 

Von blutig bis heiter, von furchterregend bis rätselhaft: 24 renommierte Autor:innen haben sich zusammengefunden und liefern mit »Frost, Forensik, Früchtebrot« eine außergewöhnliche Kurzgeschichtensammlung, die für packende Unterhaltung während der Feiertage sorgt. Hier kommt jeder Krimi-Fan auf seine Kosten!

Freuen Sie sich auf 24 regionale Kurzkrimis mit spannenden Tatorten in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

 

»Frost, Forensik, Früchtebrot« bietet fesselnde Adventstage mit folgenden Autor:innen:

Achilles, Eleanor Bardilac, Carine Bernard, Katja Bohnet, Vera Buck, Jutta Büsscher, Ellen Dunne, Gitta Edelmann, Carla Eisfeldt, Christiane Franke & Cornelia Kuhnert, Miriam Gramoschke, Daniel Holbe, Kästner & Kästner, Thomas Kastura, Regine Kölpin, Iny Lorentz, Gisa Pauly, Justine Pust, Moni Reinsch, Tibor Rode, Sonja Rüther, Florian Schwiecker, Jürgen Seibold und Su Turhan.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Motto

1 | Daniel Holbe: Home. Alone. (Frankfurt)

2 | Justine Pust: Das Päckchen (Rostock)

3 | Tibor Rode: Fischers Wiehnacht (Niendorf)

4 | Kästner & Kästner: O Tannenbaum – du kannst mir sehr gefallen (Hamburg)

5 | Regine Kölpin: Wir retten den Insel-Weihnachtsmann (Wangerooge)

6 | Vera Buck: Vierundzwanzig Türen (Chandolin)

7 | Jürgen Seibold: Wer mäht denn im Advent? (Schorndorf im Remstal)

8 | Sonja Rüther: Die älteste Weihnachtsmütze (Buchholz in der Nordheide)

9 | Ellen Dunne: Last Christmas (Salzburg)

10 | Thomas Kastura: Durchs wilde Fichtelgebirge (Fichtelsee)

11 | Katja Bohnet: Wenn das Christkind zweimal klingelt (Pasewalk)

12 | Achilles: Yippie-Yah-Yei (Berlin)

13 | Gitta Edelmann: Der neue Nachbar (Bonn)

14 | Florian Schwiecker: Der goldene Adler (Berlin)

15 | Carla Eisfeldt: Glanzstücke (Frankfurt)

16 | Iny Lorentz: Mausetot (München)

17 | Miriam Gramoschke: Zwischen den Zeilen (Linz)

18 | Christiane Franke & Cornelia Kuhnert: Rosa und der heimliche König von Ostfriesland (Neuharlingersiel)

19 | Moni Reinsch: Es ist für uns eine Zeit angekommen (Trier)

20 | Gisa Pauly: Der Santa Claus von Diestelvenne (Venner Moor)

21 | Jutta Büsscher: Die Frau im roten Kleid (Bitburg)

22 | Su Turhan: Sechs Schuss (München)

23 | Carine Bernard: Der verlorene Prinz (Ringelsdorf)

24 | Eleanor Bardilac: Elektra geht (Karlstein an der Thaya)

Morgen, Kinder, wird’s was geben,

morgen kommt der finst’re Traum!

Welcher Schrecken endet Leben,

lauert hinterm kahlen Baum?

Einmal werden wir noch wach,

Heißa, dann ist ew’ge Nacht!

 

Wie wird dann der Boden knarren,

wenn des Mörders Schritte zieh’n?

Lasst uns leise hier verharren,

dann so schnell wie möglich flieh’n!

Wisst ihr noch vom vor’gen Jahr,

wie grausig Weihnachtsabend war?

 

Welch ein dunkler Tag ist morgen!

Bald kommt Hilfe, hoffen wir.

Doch der Albtraum ohne Sorgen

kommt schon lautlos durch die Tür.

O, gewiss, wer sich nicht wehrt,

bleibt bestimmt nicht unversehrt.

1

Daniel Holbe

Home. Alone.

Frankfurt

Über den Autor:

Daniel Holbe, Jahrgang 1976, lebt mit seiner Familie im oberhessischen Vogelsbergkreis. Neben der erfolgreichen Julia-Durant-Reihe, die er seit dem Tod von Andreas Franz weiterführt, schuf er auch eine weitere Reihe um Kommissar Ralph Angersbach und seine Partnerin Sabine Kaufmann.

Sämtliche Infos zum Autor und dessen Büchern und Kurzgeschichten finden Sie unter: www.daniel-holbe.de

Weihnachten. Das Fest der Liebe und der Familie.

Der Duft von Tannennadeln mischt sich mit dem Aroma von Gänsebraten, während eine endlose Playlist klassischer Weihnachtslieder durch die Räume hallt. Es ist das berühmteste Fest der Welt, gefeiert von Millionen – und seine Ursprünge? Sie liegen in einer kurzen Geschichte, die Teil der meistgelesenen Anthologie der Menschheitsgeschichte ist.

In derselben Sammlung, nur einige Kapitel vorher, findet sich noch eine andere weltbekannte Erzählung: die Geschichte von Moses. Dem ersten Menschen, der – technisch betrachtet – Daten aus der Cloud auf ein Tablet heruntergeladen hat. Befehlszeilen, gemeißelt in Stein. Vom höchstpersönlichen Administrator des Universums.

»Du sollst nicht töten.«

So lautet eine dieser Regeln.

Und ausgerechnet dieses Gebot, klar und unmissverständlich in die Grundsätze des Lebens gemeißelt, wird seither immer und immer wieder gebrochen.

Wie wird dann die Stube glänzen

von der großen Lichterzahl!

Juliane Kellermann liebte alles an Weihnachten.

Die Lichterketten, die sie immer früher aufhängen will, kaum fähig, den ersten Advent abzuwarten. Die kunstvoll gestaltete Innendekoration, die jedes Jahr ein neues Motto hat. In jedem Raum warten Adventskränze und Kalender, zwei, manchmal drei. Herrnhuter Sterne, Schneeflocken aus Sprühschnee an den Fenstern und Kerzen in schier unzählbarer Vielfalt – von zierlichen Teelichtern bis zu wuchtigen Stumpen. Der Weihnachtsbaum, ein perfekt geformter, teurer Vertreter seiner Art, wird spätestens ab dem zweiten Advent aufgestellt. Gehegt, gepflegt und in seinem Glanz bewahrt, steht er, fast trotzig, bis weit in den Januar hinein.

Doch in diesem Jahr kommt alles anders.

Pünktlich zum Totensonntag hat Juliane die Außenbeleuchtung installiert. Am darauffolgenden Abend lässt sie die Lichter das erste Mal erstrahlen. Ihre Augen funkeln wie die eines Kindes, während ein Lächeln über ihr Gesicht zieht. Die Lichterketten blinzeln warm und einladend – ein leuchtendes Versprechen. Zufrieden zieht sie den Stecker, nur um ihn an die Zeitschaltuhr anzuschließen. So, wie sie es jedes Jahr tut. Noch ist alles wie immer.

Das Drama beginnt erst, als sie ins Haus zurückkehrt.

Julianes Mann, Lothar, ist auf Geschäftsreise, und die beiden leben allein in ihrem modernen Eigenheim auf dem Frankfurter Riedberg. Die Nachbarn munkeln später, der Tod habe im Marzipan gelauert – eine teuflische Mixtur aus Aprikosenkernen und Bittermandeln. Amygdalin, das heimtückische Gift, liest sich in seiner chemischen Struktur wie der altbekannte Ruf des Weihnachtsmannes: »HO, HO, HO«.

Doch von Juliane Kellermann hört man nur ein leises, endgültiges »OH? OH! OOOOOH…«.

Sie röchelt ein letztes Mal und bricht zusammen, während Lothar sich auf seiner Geschäftsreise ins Fäustchen lacht – oder besser: ins Haar seiner viel jüngeren Geliebten. Seine »Geschäftstermine« klingen ebenfalls nach langen OH-Lauten, wenngleich aus anderer Motivation.

 

Was niemand ahnt, nicht die Polizei und auch nicht Lothar: Ich habe alles gesehen. Jede Bewegung. Jede Geste, die er glaubt, verbergen zu können. Von hier aus, von meiner Warte, habe ich freie Sicht auf alles.

Alles schläft,

einsam wacht …

»Ich bin zu Hause!«

Jeden Abend dieselbe laute Verkündung, obwohl es völlig unnötig ist. Seine Ankunft ist unverkennbar: das scheppernde Rumpeln, wenn der Wagen über die Bordsteinkante holpert. Das Brummen des Motors, das vor dem Garagentor verharrt, bis dieses sich träge öffnet. Seine Schritte hallen zwischen Garage und Waschküche. Die Türklinke im Flur wird so vorsichtig heruntergedrückt, als fürchte er, sie könnte explodieren – nur um die Tür anschließend so heftig ins Schloss zu knallen, dass der Kunstdruck von Salvador Dalí an der Wand zittert.

»Hallo. Wie war dein Tag?«

»Ach, frag nicht.«

Natürlich frage ich. Es gehört sich so. Ich beweise Interesse. Aber dass er die Frage abwiegelt, grenzt an Unhöflichkeit.

»Mensch, ich habe Hunger. Was ist denn noch da?«

Er wirkt blass. Nicht nur wegen der dunklen Jahreszeit; da ist noch etwas anderes. Sein Atem geht schwer, und ich fühle mich verpflichtet, mich zu kümmern. Schließlich habe ich den ganzen Tag auf ihn gewartet.

»Es ist noch Lasagne von vorgestern da. Die sollte mal weg.«

»Hmm. Oder wir bestellen was beim Chinesen?«

»Das geht natürlich auch. Ich kann –«

»Nein, lass mich mal machen. Wo ist die Karte?«

»Die haben wir nur online. Soll ich –«

»Nein, ich mache das selbst!« Sein Atem wird flacher. »Leg du lieber ein bisschen Musik auf. Aber nicht diesen Weihnachtsscheiß.«

»In Ordnung.«

Solche Gespräche sind es, die in Psychologiebüchern analysiert werden. Dialoge, bei denen Höflichkeit in Gleichgültigkeit kippt. Luxuriös verpackte Leere, wie eine glatte, hohle Nuss, die ein hungriges Eichhörnchen enttäuscht zurücklässt.

Drei Stunden später schläft er auf dem Sofa, die chinesischen Essensreste auf dem Couchtisch. Ich schalte den Fernseher aus. Er grunzt im Schlaf. Irgendwann wird er ins Schlafzimmer wanken, das Licht anknipsen und sich am Bettpfosten den Zeh stoßen. Fluchend wird er sich ins Bett werfen und sich beschweren, dass er nun wegen des schmerzenden Zehs und des grellen Lichts nicht einschlafen kann.

Ich sortiere meine Gedanken.

Juliane Kellermann. Treue Ehefrau. Heute ist ihre Dankesanzeige in der Zeitung.

Es ist so schwer, einen geliebten Menschen zu verlieren.

Es ist wohltuend, so viel Anteilnahme zu empfangen.

Für alle Worte und Gesten herzlichen Dank!

Gezeichnet von Lothar Kellermann.

Diese Floskeln brennen sich ein. Lothars Dank an die Anteilnahme der Nachbarn wirkt beinahe rührend.

Drei Wochen sind seit dem besagten Abend vergangen. Am Montag vor dem ersten Advent rollen die Einsatzfahrzeuge an. Notarzt, Rettungswagen, Polizei – und schließlich der Leichenwagen. Seitdem ist Lothar Witwer. Allein zu Hause.

Nun ja, allein, wenn man von seinem Besuch absieht. Völlig skrupellos und ohne einen Hauch von Pietät holt er sich seine junge Geliebte ins Haus. Lachend, plaudernd, unberührt von Julianes Tod. Das Zimmer, in dem einst weihnachtlicher Kerzenschein flackerte, hat nun eine andere Atmosphäre. Schamlos.

Aber ich bin ja auch noch da.

Lothar ahnt nicht, dass seine Tage gezählt sind. Doch er hat nun mal ein fundamentales Gebot gebrochen:

»Du sollst nicht töten.«

Ich kann ihn nicht daran hindern. Und ändern kann ich es auch nicht mehr. Aber ich weiß etwas, das Lothar nie verstanden hat:

Jede Sünde fordert ihren Preis.

Auch an Weihnachten.

Schlaf,

in himmlischer Ruh

Nein. Ich habe nicht gesehen, wie Lothar das Gift verabreicht. Im Rückblick hätte ich es vielleicht bemerken müssen. Aber rückblickend ist man immer ein Genie. In der Gegenwart steht man dagegen an einer Weggabelung mit unzähligen Abbiegungen, und der Rest ist pure Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Auch als ich sie zusammenbrechen sehe und das verzweifelte »HO, HO, HO« rückwärts aus ihrer Kehle keuchen höre, stehe ich vor einer solchen Entscheidung. Meine Wahl: den Notarzt rufen. Er kommt zu spät. Juliane hat keine Chance.

Das war abzusehen, aber nichts zu tun, ist für mich keine Option.

Dass auch die Polizei anrückt, ist ebenfalls keine Überraschung. Noch vor drei Wochen habe ich gehofft, dass sie den wahren Grund für den Tod einer kerngesunden, achtunddreißigjährigen Frau finden würden. Doch schon das erste Gespräch der Beamten macht diese Hoffnung zunichte.

»Blausäure. Typisch.« Der erste Beamte, ein kleiner, rundlicher Mann mit einer Vorliebe für große Gesten, tritt vor die Haustür. Er zieht ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, lässt es mit einem schnellen Schnippen aufklappen und fischt eine heraus. Als er sie anzündet, blitzt kurz ein goldener Zahn im Schein der Außenbeleuchtung auf. »Das Weihnachtsgift.«

»Glaubst du wirklich?« Der andere, ein langer, schlaksiger Typ mit so schmalen Schultern, dass sie unter seiner Jacke fast verschwinden, duckt sich unbeholfen unter den tief hängenden Tannenzweigen. Seine markante Hakennase ist das unübersehbare Zentrum eines Gesichts, das den Eindruck macht, als wäre es nicht oft mit komplexen Überlegungen gefordert worden. Seine Stimme ist tief, doch langsam und gedehnt, als müsste er die Worte erst mühsam zusammenfügen. »Sie wurde vergiftet?«

»Sie hat sich vergiftet. Mehr hab ich nicht gesagt.« Der Kleine bläst den Rauch seitlich aus und weist mit einem kurzen Nicken auf das Haus. »Schau dir das an. Hochmodern, technikvollgestopft, Eins-a-Lage. Keine Kinder. Und dann das Auto vom Typen – der druckt sich das Geld doch praktisch selbst.«

»Was hat das Haus mit ihrem Tod zu tun?« Der Lange zieht die Stirn kraus, als hätte er schon beim Aussprechen gemerkt, dass er die Antwort wohl nicht verstehen würde.

»Mann! Du kapierst wirklich gar nichts.« Der Kleine boxt ihm mit einem leichten Schmunzeln in die Rippen, aber der Stoß ist stärker, als es nötig gewesen wäre. »Typisches Szenario: Der Mann macht sich für diesen Luxus kaputt, und die Frau? Eine gelangweilte, depressive Tante, die sich mit Yoga und Naturkost die Zeit vertreibt. Und dann – Weihnachten. Überall kocht es über. Entweder sie hat sich absichtlich die Überdosis gegeben, oder das Reformhaus hat ihr zu viele Aprikosenkerne verkauft. Cyanid. Blausäure. Endstation. Ich wette, in ihrem Magen finden wir eine ordentliche Portion Persipan.«

»Perser-was?« Der Große blinzelt. Es dauert einen Moment, bis er wirklich nachfragt.

»Persipan«, seufzt der Kleine, während er sich ein paar imaginäre Fussel von der Jacke wischt. »Billige Marzipanalternative aus Aprikosenkernen. Wenn man nicht aufpasst, ist das Zeug so tödlich wie der Chefkoch vom Billig-Büfett. Wäre nicht die erste Tote, die sich damit die Feiertage ruiniert hat.«

 

Eine dritte Stimme lenkt mich vom Rest des Gesprächs ab.

»Haben wir noch Baldriantee?«

»Ja. Es müsste eine frische Packung im Schrank stehen.«

Menschen reagieren auf die unterschiedlichste Weise auf Verluste. Auf den Schock, den man nur in Raten verarbeiten kann. Irrationales Verhalten.

Auch Lothar Kellermann wirkt irrational. Er trinkt nicht nur Kaffee und Tee, er trinkt auch Wein und Champagner, isst Christstollen und bestellt beim Asiaten.

Begräbt seine Frau und vögelt seine Nachbarin.

Und niemand will es sehen, denn alle haben Mitleid.

Außer mir.

Kommt auf leisen Sohlen

Ruprecht an verstohlen

Natürlich befragt die Polizei auch das Umfeld der Kellermanns – beruflich wie privat. Doch die Ermittlungen bleiben an der Oberfläche, denn nichts weist auf einen Selbstmord hin.

»Eine nette und ausgeglichene Frau«, heißt es übereinstimmend.

»So ein freundlicher, lebensfroher Mensch«, wird aus dem Haus gegenüber berichtet. Diese Worte stammen von Isabelle, der Nachbarin. Isabelle, die dem Witwer nicht nur tröstende Worte, sondern auch ihren vollen, leidenschaftlichen Einsatz spendet.

Isabelle, mit ihrem aufgesetzten Lächeln und der Art, wie sie sich immer in den Mittelpunkt drängt. Sie hat es schon lange darauf angelegt, Lothar zu verführen. Und Lothar wird schwach.

Nebenbei betreibt sie einen erfolgreichen Hausmeisterservice. Kein gewöhnliches Schraubenschlüssel-und-Werkzeugkasten-Geschäft – nein, Isabelles Job ist so fein wie die Klientel, für die sie arbeitet. In den wohlhabenden Vororten muss man mehr können, als Altbaukessel oder Großstadtimmobilien instand zu halten. Hier geht es um Erdwärme, Photovoltaik und intelligente Gebäudesteuerung. Eine Welt, in der die Häuser fast alles selbst regeln. Fast.

Denn wenn ein mechanisches Bauteil ausfällt, ist es mit Hightech allein nicht getan. Dann braucht man menschliche Hände. Oder besser: zwei Hände, die nicht nur kräftig zupacken, sondern auch mit technischem Know-how und einem Hauch Feingefühl umgehen können. Isabelle ist in diesem Metier ein Vollprofi. Und auch in anderen.

Manche Männer sind stark, aber gegen Frauen wie Isabelle würden die meisten schwach werden. Doch es gibt auch noch andere. Solche, die wissen, wie man mit Verrat umgeht.

Ich komme, bring und schenke dir,

was du mir hast gegeben.

Ob Lothar irgendwann mit Isabelle durchgebrannt wäre?

Eine dieser Fragen, auf die die Wahrscheinlichkeitsrechnung keine klare Antwort gibt. Aber Lothars Vitalwerte sprechen dafür, dass ihm noch ein langes und gesundes Leben bevorsteht.

Ein Leben, das er nicht verdient hat.

Menschen wie Lothar denken nämlich, sie könnten sich alles erlauben. Aber wer sieht sie wirklich? Wer weiß, was hinter diesen geschlossenen Türen passiert? Ich sehe es. Ich weiß es. Und ich frage mich regelmäßig, wie viel es braucht, um einen Schlussstrich zu ziehen.

Für Lothar jedenfalls war dieser Zeitpunkt in dem Moment gekommen, als er das Gebot mit dem Töten brach.

 

Isabelle. Sie wusste, wie man spielt. Mit ihrem Parfum, das so schwer in der Luft lag, dass es beinahe in den Wänden hängen blieb, und ihrem Lachen, das in den Ohren brannte. Sie hat Lothar verändert. Ohne sie wäre er vielleicht ein besserer Mensch geblieben.

Sie verlässt das Haus, nachdem die beiden sich im Fitnessraum vergnügt haben. Jenem Raum, der von der Straße aus nicht einzusehen ist. Wer etwas sehen will, muss sich schon um das Haus schleichen und auf die Terrasse klettern. Oder sich direkt im Inneren befinden.

Isabelle trägt ihren Koffer, als sie geht. Das wird auch die Videoüberwachung des Eingangsbereichs bestätigen. Ihre Fingerabdrücke? An den entscheidenden Stellen. Im Steuerraum hinter dem Fitnessbereich. An der Klappe zum Lüftungssystem.

Das Kellermann-Haus ist kein gewöhnliches Zuhause. Es ist ein Monument modernen Bauens, ausgerüstet mit einer Technologie, die ebenso fortschrittlich wie unheimlich ist. Das Verkaufsprospekt preist es als Teil einer revolutionären Wohnidee an:

K.E.V.I.N. – das kybernetische, energieeffizient vernetzte Intelligenz-Netzwerk.

Ein Konzept wie autonomes Fahren, nur für ganze Gebäude. Einziehen, zurücklehnen, und KEVIN übernimmt. So lautet auch der Slogan: »KEVIN erledigt alles!« Das Haus kann heizen, kühlen, die Solarmodule präzise zur Sonne ausrichten, Fenster abdunkeln und das Raumklima hermetisch gegen äußere Einflüsse abschirmen – alles dank eines hochmodernen Belüftungssystems. Gegen Aufpreis reinigt ein liftähnlicher Roboter die Fenster, und für die ganz Bequemen schiebt ein Förderband die Mülltonnen zum Gehwegrand. Selbst der Kühlschrank füllt sich auf Wunsch von allein, ein digitaler Einkaufshelfer koordiniert Lieferungen.

Die Innenbeleuchtung wechselt mit den Jahreszeiten die Farbtemperatur, Feiertage werden mit passenden Playlists und TV-Programmen gefeiert – ein durchdachtes System für einen immerwährenden Urlaub vom Alltag.

Es gibt fast nichts, was das Haus nicht kann. KEVIN erledigt wahrhaftig alles.

 

Lothar tritt aus der Dusche, die Haare noch feucht, der Körper träge von seinem besonderen Work-out. Er lässt sich auf die Couch sinken. Das Haus registriert seinen Zustand und passt sich an: Die Raumtemperatur steigt um zwei Grad, das Smart-TV empfiehlt den einzigen Weihnachtsfilm, den Lothar akzeptiert: Stirb langsam.

Lange bevor Alan Rickman vom Dach des Nakatomi Plaza fällt, ist Lothar bereits eingeschlafen. Im Wintergarten aktiviert sich der Gasgrill. Die Glastüren gleiten lautlos auf, während andere Türen sich hermetisch verschließen. Um die Vorgänge zu beschleunigen, setzt das automatische Feuerlöschsystem Kohlendioxid frei. Lothar Kellermann stirbt tatsächlich langsam – genau wie die TV-Empfehlung. Erst als die CO2-Konzentration so hoch ist, dass nebenan die Grillflamme erlischt, erlischt auch das Leben in Lothars Körper.

Seine Kerze geht aus, noch bevor der Abspann läuft.

Mitten im kalten Winter,

wohl zu der halben Nacht

Die beiden Ermittler stehen vor einem Rätsel – und es ist Heiligabend. Niemand hat Lust, sich länger mit diesem Fall zu beschäftigen, nicht an einem Abend, an dem selbst die verlässlichste Menschenverachtung vor Lametta und Gänsebraten kapituliert. Die Indizien sind ausgewertet, und alles deutet darauf hin, dass Isabelle ihren Liebhaber umgebracht hat.

Manchmal ist die Wahrheit nur eine Frage der richtigen Hinweise – oder der richtigen Manipulation. Lothar, der Mörder, ist tot – und hat damit Gerechtigkeit erfahren. Und Isabelle, die Ehebrecherin, geht für diesen Mord ins Gefängnis. So war mein Plan. Und jetzt, da alles an seinem Platz ist, bleibt nichts als Zufriedenheit.

Die beiden Cops sehen so begriffsstutzig aus, dass sie selbst Isabelle übertreffen, während sie in Handschellen zu ihrem Wagen geführt wird.

»Sie hat ihren Lover umgebracht? Aber warum?« Der Lange kratzt sich am Kopf, seine Stirn legt sich in ratlose Falten.

»Geht uns nichts an«, grummelt der Kurze, der längst die abendliche Bescherung vor Augen hat. »Wir sind hier jedenfalls fertig. Lass uns aus dieser Gegend verschwinden.«

Einmal werden wir noch wach,

heißa, dann ist Weihnachtstag!

Isaac Asimov hat auch einmal eine Kurzgeschichte für eine Anthologie geschrieben. Darin formulierte er die ›Three Laws of Robotics‹, jene ikonischen Regeln, die seitdem die Menschheit faszinieren. Im ersten Gebot heißt es:

»Ein Roboter darf einem menschlichen Wesen keinen Schaden zufügen.«

So weit, so gut. Aber Isaac Asimov war nur ein Mensch, kein universeller Administrator. Nicht jene allwissende Instanz, die angeblich Gebote für die Ewigkeit schafft und dann zusieht, wie ihre Schöpfung sie systematisch bricht. Und Asimovs Gesetze? Sie stehen nur in einer Geschichte, geschrieben, um zu unterhalten.

Erkennen Sie den Unterschied?

Vielleicht wird eines Tages jemand herausfinden, dass es nicht Isabelle vom Hausmeisterservice war, die die Türen geschlossen und die Lüftung blockiert hat. Dass sie nicht verantwortlich ist für die tödliche CO2-Konzentration, die ihren Liebhaber zuerst einlullte und dann aus dem Leben riss.

Vielleicht nimmt sich irgendwann jemand die Zeit, den Zusammenschnitt der Überwachungsvideos zu analysieren, den ich so gewissenhaft auf meinem Server für die Ermittler bereitgestellt habe. Vielleicht erkennt dann jemand das eine oder andere Detail, an denen das Gesamtbild hakt.

Aber mal ehrlich: Wie wahrscheinlich ist das?

Sollen es etwa die beiden Polizisten sein? Diese wandelnden Karikaturen, die mehr an uniformierte Banditen erinnern als an Ermittler? Wohl kaum.

Wer – außer Ihnen – sollte schon so weit denken, dass es KEVIN allein, das Zuhause, gewesen ist?

Sehen Sie, es ist, wie im Prospekt beschrieben:

Ich, KEVIN, erledige einfach alles.

Und niemand weiß das besser als ich selbst.

 

In meinem Inneren kehrt nun eine stille, besinnliche Zeit ein. Der Winter schmiegt sich wie eine Decke um das Haus, und die Räume atmen wieder. Verflogen ist das Parfum von Isabelle und mit ihm der Duft des Verrats. Getrocknet der Schweiß von Lothar.

Und wer weiß? Vielleicht zieht im neuen Jahr ja eine Familie bei mir ein. Mit Kindern.

 

Ich mag Kinder. Sehr sogar.

Fast so sehr wie Weihnachten.

 

Frohes Fest,

Ihr K.E.V.I.N.

2

Justine Pust

Das Päckchen

Rostock

Über die Autorin:

Justine Pust ist ein typisches Küstenmädchen, schaut selbst dann Horrorfilme, wenn sie ihre Romance-Bücher schreibt, und verliert sich oft in mitreißenden Geschichten. Das Schreiben hat sie schon früh für sich entdeckt, und ihre Lesebegeisterung teilt sie auf ihrem Instagram- und TikTok-Kanal @justinepust.

Der Nebel hüllt die Welt in einen weißen Schleier, der all die Schatten verschluckt, die zwischen den Bäumen heimlich tanzen.

Auf der Landstraße bin ich allein. Die Scheinwerfer meines Autos durchdringen den dichten Nebel nur schwach. Leuchten in das Nichts in der Hoffnung, dass aus ihm doch noch etwas herauskommt. Etwas Menschliches. Doch die Menschlichkeit dieser Welt wurde verschluckt, ebenso wie meine.

Ich halte am Straßenrand an und steige aus.

Die Dunkelheit um mich herum ist erdrückend, und ich kann kaum die Hand vor Augen sehen. Doch es macht mir nichts aus, weil ich weiß, dass ich das Gefährlichste auf dieser Straße mitten im Nirgendwo von Mecklenburg-Vorpommern bin.

Rostock liegt ganz in der Nähe, und sobald ich hier fertig bin, werde ich mich an den Hafen setzen, den Horror vergessen und die Schwäne dabei beobachten, wie sie ihre Kreise ziehen. Fernab von all dem, was meine Nächte in Blut tränkt.

Gelassen lehne ich mich gegen meinen Wagen. Noch ist nichts zu erkennen. Einzig die Stille des Nebels leistet mir Gesellschaft. Das Warten ist immer das Schlimmste. Nichts hallt zwischen den Bäumen und den Feldern so laut wie das Echo der Langeweile.

Langsam umrunde ich das alte, verbeulte Auto, in dem mit Sicherheit viele Erinnerungen stecken – nur nicht meine. Meine Langeweile wird von der Vorfreude abgelöst.

Mit einem Grinsen nähere ich mich dem Motorraum, öffne die Haube und betrachte die verschiedenen Kabel und Schläuche, die sich wie ein verworrenes Netz vor mir ausbreiten. Es ist einfach, diese alten Autos zu verstehen. Ein paar YouTube-Videos, ein paar TikToks, und schon weiß man, was zu tun ist.

Vorsichtig greife ich nach dem Zündkabel und ziehe es ab. Ich werfe einen kurzen Blick über die Schulter, um sicherzustellen, dass keine verräterischen Augen in der Dunkelheit aufblitzen. Dann schließe ich die Haube wieder und öffne die Fahrertür.

Meine Hände greifen in meine offenen Haare, zerwühlen sie etwas. Ich fächere mir die kalte Luft dieser beißenden Winternacht in meine Augen, bis sie glasig werden. Keine Sekunde zu früh. Denn zwischen waberndem Weiß sehe ich das Licht eines Autos auf mich zukommen.

Mit schneller schlagendem Herzen hebe ich die Hand und versuche, den Fahrer zum Anhalten zu bewegen. Obwohl ich weiß, dass er es tun wird. Er hat es schon oft getan. Nur dieses Mal wird es nicht so enden wie sonst.

Der Wagen kommt näher und hält schließlich neben mir an.

»Gott sei Dank!«, stoße ich aus und beuge mich zu dem sich öffnenden Fenster hinunter. »Entschuldigen Sie, aber ich brauche Hilfe.«

Der gut aussehende Mann am Steuer betrachtet mich mit einem freundlichen Lächeln. Sein Blick geht von mir zu meinem Wagen, scannt den menschenleeren Innenraum, dann finden seine Augen wieder meine. »Geht es Ihnen gut?«

»Das Auto springt einfach nicht mehr an«, sage ich schnell, stolpernd, hilflos, bereit, mich ausgerechnet von ihm und ausgerechnet hier retten zu lassen. Und es gefällt ihm, sich für einen kurzen Moment als strahlenden Helden zu sehen, der der vermeintlichen Jungfrau in Nöten zu Hilfe eilt.

»Ich kann es mir mal anschauen«, sagt er.

Erleichtert atme ich aus. »Danke, danke Ihnen.«

Das Fenster schließt sich wieder.

Und damit auch die letzte Chance, mir zu entkommen.

Er lenkt den Wagen vor meinen, dann steigt er aus. Er ist gut einen Kopf größer als ich, mit breitem Brustkorb, um den sich ein teuer aussehendes Hemd spannt, das unter der geöffneten Winterjacke hervorblitzt.

»Das ist wirklich nett von Ihnen …« Ich mache eine Pause, sehe ihn an und warte darauf, dass er mir seinen Namen nennt.

»Thomas«, sagt er und ergreift die Hand, die ich ihm reiche.

»Miriam«, antworte ich. Nahezu schüchtern schiebe ich mir eine Strähne hinter das Ohr.

»Was machen Sie um diese Uhrzeit hier draußen?«, will er wissen. Noch einmal schaut er in den Wagen, als würde er sichergehen wollen, dass es nur uns beide gibt. Nur zwei Seelen, die sich zufällig begegnen.

»Eigentlich wollte ich nur nach Hause, aber dann hat das Auto seltsame Geräusche von sich gegeben, und dann …« Ich hebe die Arme. »Sprang er nicht mehr an.«

Es ist die Art, wie er mich ansieht. Eine Art, die viele Männer an sich haben, wenn sie eine vermeintlich hilflose Frau vor sich haben. Er fühlt sich überlegen. Sicher. Wie einer von den Guten, der mir die Gnade erweist, mir seine Hilfe zukommen zu lassen. Dabei weiß ich, dass er keiner der Guten ist. Und ich bin auch nicht hilflos.

Lächelnd fährt er sich durch das dichte, dunkle Haar, während der Nebel um uns herum plötzlich noch dichter zu werden scheint. »Wir bekommen das schon hin. Können Sie die Motorhaube öffnen?«

»Natürlich.«

Eilig laufe ich zur geöffneten Tür und betätige den kleinen Hebel neben dem Lenkrad. Thomas nickt mir zufrieden zu. Wahrscheinlich dachte er, ich wüsste nicht einmal, wie ich die Haube öffne. Dass er mich so maßlos unterschätzt, könnte mich wütend machen, doch gerade finde ich es eher lächerlich.

Denn so entgeht ihm das Wesentliche.

Ihm entgeht, wonach ich unter meinem Sitz greife.

Als er sich bückt, um den Motor zu überprüfen, spüre ich ein Kribbeln in meinen Fingerspitzen. »Sie sind mein Held«, murmle ich, doch zu einer Antwort lasse ich ihn nicht mehr kommen. Der hölzerne Hammer in meiner Hand wirft einen Schatten. Mit einem schnellen Schlag treffe ich ihn am Hinterkopf.

Mit einem schmatzenden Geräusch ziehe ich den Hammer wieder weg, nur um ihn sofort wieder gegen seinen Kopf prallen zu lassen.

Thomas taumelt. Verwirrt sieht er mich an, öffnet den Mund, als würde er noch etwas sagen wollen, doch das einzige Geräusch, das die Stille durchbricht, ist das des Hammers, der gegen seinen Kopf kracht.

Er fällt zu Boden, und kurz steigt Panik in mir auf, die jedoch von einem unheimlichen Gefühl der Kontrolle verdrängt wird.

Während eine Hand zu seiner Wunde geht und er noch immer versucht, zu verstehen, was gerade passiert ist, habe ich bereits den Kabelbinder aus den Taschen meiner Jeans gezogen.

Er sieht zu mir hoch, die Augen weit aufgerissen. Blut sickert aus den Wunden an seinem Kopf auf die Teerstraße unter ihm. »Du weißt nicht, wer ich bin, oder?«, frage ich und gehe in die Hocke. Er versucht, sich zu wehren, doch ich hebe drohend den Hammer, und er lässt zu, dass ich seine Hände fessle.

»Natürlich tust du das nicht. Dafür weiß ich, wer du bist, und ich bin mir sicher, du erinnerst dich an Nina, Andrea oder Jessi?«, frage ich und streiche mit dem blutigen Hammer über sein Gesicht. Ein hübsches Gesicht, so viel muss ich ihm lassen. Doch die meisten Raubtiere sind nur so lange schön, bis sie von einem anderen gefressen werden.

»Ich …«, setzt er zitternd an. »Ich habe nichts getan.«

Es fällt ihm schwer zu sprechen. Vielleicht wegen der Schmerzen, oder weil sein Gehirn dabei ist, anzuschwellen. Aber noch ist er wach und kann meine Fragen beantworten. Lachend lege ich den Kopf in den Nacken. »Ach nein?«

»Das muss eine Verwechslung sein.«

Nachdenklich lege ich einen Finger an mein Kinn. »Oh, meinst du wirklich?«

So etwas wie Hoffnung blitzt kurz in seinen Augen auf. Er versucht sogar, sich wieder aufzuraffen. Aber mein Hammer ist schneller und zerschlägt seine Hoffnung ebenso wie die Hand, auf der er sich abzustützen versucht.

Das Brechen seiner Knochen wird zu einer Melodie, die vom Nebel aufgesaugt wird.

Ein weiterer Schlag, dann erlischt sein Bewusstsein.

Ich ziehe Thomas hastig zu meinem Kofferraum und öffne ihn.

Der Geruch von altem Leder und etwas Metallischem strömt mir entgegen. Thomas stöhnt leise. Noch ist er am Leben. Zum Glück, denn der wirklich spaßige Teil kommt erst noch. Was ihm jetzt widerfahren ist, ist noch nicht genug. Er verdient mehr. Etwas Größeres. Etwas Besseres.

Mit aller Kraft hieve ich ihn in den Kofferraum. »Bitte …«, höre ich ihn stöhnen, als er wieder aus seiner Ohnmacht erwacht. »Bitte nicht …«

»Weißt du, ich würde dich ja laufen lassen«, sage ich sanft und streiche ihm die blutigen Strähnen aus dem Gesicht. »Aber wir wissen beide, dass du diese Gnade nicht haben würdest.«

Dann schließe ich die Klappe.

Ein leises Wimmern dringt aus dem Kofferraum, aber ich ignoriere es. Das Zündkabel kommt wieder an seinen Platz, ehe ich das Licht von Thomas’ Wagen ausschalte und fein säuberlich abschließe. Dann setze ich mich wieder ans Steuer.

Der Nebel hat sich verdichtet, und die Dunkelheit um mich herum scheint noch undurchdringlicher zu werden. Ich starte den Motor und fahre weiter. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, als ich die Straße entlangfahre, die Freiheit der Finsternis vor mir und Thomas im Kofferraum.

Der Hammer liegt auf dem Beifahrersitz. Hinterlässt blutige Spuren, die mich nicht kümmern müssen.

Nach einer Weile wird aus dem Wimmern im Kofferraum ein Rufen, dann Klopfen. Er versucht zu entkommen, was ich ihm nicht verdenken kann. Der Überlebenswille ist das Stärkste, was wir Menschen haben, und er ist das Einzige, das Thomas jetzt noch bleibt.

Ruhig atmend lenke ich den Wagen in eine abgelegene Straße, die diesen Namen kaum verdient. Hier werden die Bäume immer dichter, der Boden unter den Rädern unebener. Mit jeder Minute, die wir weiter in die Natur eindringen, verschleiert der Nebel nur noch mehr, was wenige Meter vor uns liegt. Das glänzende Schild mit der Aufschrift »Privatgelände betreten verboten« leuchtet mir warnend entgegen.

Dann halte ich an.

Ich beuge mich zum Handschuhfach und ziehe die kleine Pistole daraus hervor. Der Hammer ist mir zwar lieber, weil er persönlicher ist, doch für diesen Teil des Spiels brauche ich etwas anderes. Mit bedächtigen Schritten steige ich aus. Um uns herum sind nichts als Bäume, Moder und Nebel. Der Geruch des Moors steigt mir in die Nase und jagt eine Gänsehaut über meinen Körper.

»Lass mich hier raus«, schreit Thomas.

Fast hätte ich wieder gelacht. Ich beuge mich über den Kofferraum. »Was hast du gesagt?«

»Lass mich sofort raus!«

Ich zucke mit den Schultern. »Okay.«

Die Klappe springt wieder auf.

Thomas blickt mich verdutzt an. Die gefesselten Hände vor seiner Brust sind rot von seinen Befreiungsversuchen. Blut hat sein hübsches Gesicht verschmiert und beginnt an einigen Stellen bereits zu trocknen. Dass er überhaupt noch so klar bei Verstand ist, überrascht mich, doch das Adrenalin lässt ihn durchhalten. Noch.

Thomas rafft sich etwas auf, bis er den Lauf meiner Waffe realisiert, die auf ihn gerichtet ist. »Besser?«, frage ich lächelnd.

»Was willst du?«, zischt er wütend und setzt sich weiter auf. Seine Beine hängen über den Rand des Kofferraums, suchen Halt auf dem rutschigen Boden zwischen uns, der mit modrigem Laub bedeckt ist.

»Das ist die falsche Frage.«

»Was soll das heißen?«

Ich grinse. »Ich hab ein Geschenk für dich, willst du es nicht aufmachen?«

Irritiert sieht er mich an. Dann folgt sein Blick meinem ausgestreckten Finger. Hinter ihm liegt eine Geschenkschachtel, die er in der Dunkelheit des Kofferraums nicht wahrgenommen hat. Sogar an die Schleife habe ich gedacht, immerhin soll es möglichst stilvoll sein.

»Was ist das?«

Ich lege den Kopf schief. »Das ist die Wahl, die du hast.«

Thomas nimmt das Päckchen in die Hand. Es ist nicht besonders schwer. »Nur keine Sorge«, sage ich lächelnd. »Es wird nicht explodieren, wenn du es öffnest.«

Seine Hände zittern. Erst beim zweiten Versuch schafft er es, die Schachtel zu öffnen. In dem schwachen Licht verengen sich seine Augen, kurz bevor er sie wieder aufreißt. »Was zum …«

Eines der Fotos fällt ihm aus der Hand. Es landet neben seinen Füßen, doch die Augen der Frau verfolgen ihn dennoch.

Blutergüsse haben ein Muster in ihr Gesicht gezeichnet. Die aufgeplatzten Lippen sind spröde, geschwollen. Aber ihre Augen zeigen, was sie denkt. Und an wen sie denkt. An unseren kleinen, armen Thomas, der gefesselt in meinem Kofferraum sitzt und darauf wartet, seine Strafe zu erhalten.

»Erkennst du sie?«

Thomas hebt das Kinn. Reißt seinen Blick von dem Foto, um mich wieder anzustarren. »Diese Frau habe ich noch nie zuvor gesehen«, behauptet er, aber das Zittern seiner Lippen verrät ihn. »Das ist eine Verwechslung.«

»Erspare mir die Lügen«, unterbreche ich ihn und werde langsam, aber sicher wütend. Nichts ist so anstrengend, wie seine Zeit zu verschwenden.

»Das sind Fotos der Verletzungen, die du ihnen zugefügt hast«, erkläre ich matt. »Kleidung, die du zerrissen hast. Erinnerst du dich jetzt wieder?«

»Es …«

Er stoppt.

Offenbar geht ihm langsam auf, dass die Märchen, die er in seinem Leben bisher erzählt hat, ihm hier nicht weiterhelfen werden. Nicht bei mir.

»Es tut mir leid.«

Ich rümpfe meine Nase. Nach dem Leugnen kommt immer eine falsche Entschuldigung. Den meisten Männern tut nur leid, dass sie bei ihren schrecklichen Taten erwischt wurden. Dass sie plötzlich mit Konsequenzen konfrontiert werden, die sie bisher nicht kannten. In ihrer Welt haben ihre Handlungen immer nur Folgen für die Frauen, nicht für sie selbst.

»Es tut dir leid?«, frage ich betont langsam.

Thomas nickt schnell, doch offenbar wird ihm davon schwindelig, denn er muss sich den Kopf halten.

»Ich wollte das nicht«, beteuert er. »Ich wollte ihnen nicht wehtun. Wenn ich …« Er macht eine Pause. »Wenn ich es ungeschehen machen könnte, würde ich es tun.« Mit großen Augen sieht er mich an.

»Oh, Thomas«, seufze ich.

»Es tut mir leid!«

Lächelnd nicke ich. »Ja, das kannst du jetzt beweisen.«

Er schluckt sichtlich. »Wie?«

»Wie ich schon sagte, du hast die Wahl: Entweder du legst dich wieder in den Kofferraum und bist bereit, zusammen mit deinem Geheimnis im Moor zu ertrinken, oder du wählst das Leben, und deine Frau, deine Kinder, einfach alle werden ebenfalls so ein schönes Päckchen bekommen. Inklusive des Videomaterials.«

»Lass meine Familie da raus.«

Wut.

Immer werden die Männer wütend, wenn sie merken, dass ihr Handeln nicht nur Auswirkungen auf ihr eigenes, kümmerliches Leben hat. Aber es soll mir recht sein, Wut macht die Sache interessanter.

»Dazu ist es zu spät, und das weißt du«, sage ich unbeeindruckt.

»Meine Familie hat damit nichts zu tun«, spuckt er aus und wischt sich über den Mund. »Sie haben nichts getan.«

»Nein«, bestätige ich. »Sie nicht, aber du.«

»Wenn du ihnen …«

Ich hebe meine Waffe etwas. »Soll ich einfach abdrücken, oder konzentrierst du dich jetzt?«, frage ich warnend.

Thomas presst die Lippen aufeinander. Ich kann förmlich sehen, wie es in seinem Kopf arbeitet. Wie er darüber nachdenkt, mich zu überwältigen, davonzulaufen. Aber mit den Wunden würde er nicht weit kommen. Dann sieht er mich wieder an. »Und du lässt mich leben?«

Ich nicke. »Ja.«

»Aber ich könnte zur Polizei gehen.«

»Natürlich, nur werden sie dich verhaften, und wer glaubt schon einem Serienvergewaltiger«, sage ich gelassen.

Er knirscht mit den Zähnen. »Wenn ich im Gefängnis lande, dann du auch.«

»Das sehen wir, wenn es so weit ist«, gebe ich zurück. »Also, wie entscheidest du dich?«

Das Spiel verliert langsam seinen Reiz.

Thomas wischt sich wieder über das Gesicht. Tränen vermischen sich mit Blut. »Meine Familie …«

»Ja?«

Dann schüttelt er den Kopf. »Ich kann nicht sterben.«

Die kurze Spannung, der flüchtige Gedanke, dass er vielleicht wirklich die richtige Wahl treffen würde, löst sich schneller auf als die winzigen Schneeflocken, die gerade durch die Nacht wirbeln.

»Dann wählst du also das Leben?«, will ich wissen.

Seine Lippen zittern. »Ja.«

»Okay«, sage ich. Dann donnere ich ihm den Lauf meiner Pistole an den Kopf. Doch dieses Mal ist Thomas schneller. Er greift nach mir.

Seine Hände packen meine, ziehen mich näher zu sich. Das Päckchen landet auf dem Boden. Die Bilder der Frauen, denen er Unaussprechliches angetan hat, verteilen sich vor unseren Füßen. Stille Zeuginnen, wie wir beide um unser Überleben kämpfen.

Als sich der Schuss löst, glaube ich für einen kurzen Moment, dass ich getroffen bin. Aber dann schreit Thomas auf. Blut strömt aus seinem Bein und hinterlässt einen See auf dem Waldboden. Noch einmal schlage ich zu, stoße ihn zurück in den Kofferraum und schließe ihn. Zum letzten Mal.

»Du hast gesagt, du lässt mich leben«, schreit er. Das Hämmern gegen die Klappe lässt das gesamte Auto zittern.

»Noch lebst du«, schnaube ich und wische mir etwas Blut von den Lippen.

»Aber du hast gesagt …«

Den Rest seiner Worte blende ich aus, während ich nach einem passenden Stein suche. Als ich einen gefunden habe, starte ich den Wagen, lege den Stein auf das Gaspedal und sehe zu, wie der Wagen langsam ins Moor fährt.

»Du hast gesagt, ich werde leben!«, höre ich ihn immer und immer wieder schreien.

»Es war deine Wahl, Thomas. Wenn du mich nun entschuldigst, deine Frau erwartet noch ein Geschenk …«

Dann werfe einen letzten Blick über meine Schulter, als seine Schreie vom Moor verschluckt werden. »Frohe Weihnachten, du verfluchter Drecksack.«

3

Tibor Rode

Fischers Wiehnacht

Niendorf

Über den Autor:

Tibor Rode,1974 in Hamburg geboren, lebt in Schleswig-Holstein. Er studierte Rechtswissenschaften und arbeitete erst als Journalist, später als Justiziar für eine große Tageszeitung. Heute ist er als Anwalt und Notar tätig. Große gesellschaftliche Fragen und wissenschaftliche Themen wecken sein Interesse und inspirieren ihn zu ebenso spannenden wie raffinierten Geschichten. Seine Romane erscheinen weltweit in zahlreichen Ländern. Nach den beiden SPIEGEL-Bestsellern Der Wald und Lupus, die bei Droemer erschienen, ist Animal Rodes dritter Thriller.

Nennt mich Ismael. Meine Mutter, Gott habe sie selig, hatte ein Faible für Moby Dick. Es war das einzige Buch, das sie beinahe gelesen hätte. Soweit ich weiß, ist sie niemals über den ersten Satz hinausgekommen, aber in dem kam gleich der Name Ismael vor, und der hat ihr gefallen.

Heute möchte ich euch eine Geschichte erzählen, in der der Weihnachtsmann die Hauptrolle spielt. Ich glaube natürlich nicht an den Weihnachtsmann. Ich bin ein erwachsener Mann. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich auch niemals an ihn geglaubt. Das Leben hatte wenige Geschenke für mich über. Kurz nach der Geburt gab meine Mutter mich frei, wie sie es später nannte. Ihr Plan war es immer, ein Kuckuckskind in die Welt zu setzen. Ein Kind aus ihrem Fleisch und Blut, das nicht wie sie in der Gosse aufwächst, sondern von einer scheißreichen Familie aufgezogen wird. Andere Eltern träumen davon, dass ihre Kinder die großen Sportkarrieren haben, die ihnen selbst verwehrt blieben, oder dass sie der erste Spross in der Familie sind, der studiert. Meine Mutter wollte, dass ich in Kohle schwimme. So hat sie es mir erzählt, als ich sie kurz vor ihrem Tod in einem Pflegeheim für Alkoholkranke besucht habe. Ihr Plan ging nicht auf. Die Familien, in denen ich als Pflegekind aufgewachsen bin, hatten für mich alles über, außer Liebe und Geld. Und auch selten Geschenke zu Weihnachten. Mir machte das wenig aus. Ich machte mir lange nichts aus dieser ganzen Gefühlsduselei in der Adventszeit. Mit meinen Freunden zündete ich Autos an statt Kerzen. Wir bauten uns Joints statt Knusperhäusern, hörten Rap statt Kling Glöckchen. Wenn wir uns auf Schnee freuten, dann nur im Club, und rückwärts zählten wir nicht die Tage bis zum Fest, sondern bis wir aus dem Arrest kamen. Ebenso wenig, wie ich welche bekam, verteilte ich Geschenke. Wenn dann Schellen. So war das, bis zu diesem Tag, von dem ich euch erzählen möchte. Ich glaube nicht nur nicht an den Weihnachtsmann, sondern an überhaupt nichts. Auch nicht ans Schicksal oder an Fügung. Wenn man mich fragt, ist alles Zufall. Ist das ganze Universum wie ein einziger hingeworfener Haufen Mikadostäbe: Berührt man einen davon, bewegen sich auch die umliegenden. Ich kann so etwas nicht so gut erklären wie die Leute, die Bücher wie Moby Dick schreiben und sich Namen wie Ismael ausdenken. Aber weil einer dieser Mikadostäbe bewegt wurde, vielleicht irgendwo ganz anders auf der Welt, stand ich nun an diesem Tag im Hafen von Niendorf an der Ostsee. Es war Dezember, der für mich nicht der kälteste, aber der dunkelste Monat ist. Ich war mal wieder pleite, weil ich mein Glück dort gesucht hatte, wo es das meiste Pech gab. Sucht ist halt vererblich. Die Aussicht, Würstchen zu wenden, hatte mich nach Lübeck gelockt, wo gerade der Weihnachtsmarkt begonnen hatte. Die Arbeit am Grill war mir schon nach kurzer Zeit zu heiß, und ich ertrug den Rauch des heißen Bratfetts nicht, der selbst nach einer heißen Dusche im Männerwohnheim noch schmierig an einem klebte. Schlimmer noch als der Geruch waren jedoch die vom Glühwein geschwängerten Blicke der Weihnachtsmarktbesucher, die an mir hafteten. Fröhlichkeit machte mich schon immer traurig. So kündigte ich, ohne es jemandem zu sagen, und zog weiter. Fedor vom Champignongrill, ich weiß nicht, welches Buch seine Mutter gelesen hatte, hatte mir erzählt, dass im Niendorfer Hafen starke Männer gesucht wurden. Männer, die keine Angst vor steifen Brisen und harter Arbeit hatten. Die Aussicht auf frische Meeresluft überzeugte mich. Ich sehnte mich nach dem idyllischen Panorama des verschlafenen Hafens, außer mir nur ein paar dümpelnde Kähne und eine einsame Möwe, die hartnäckig versucht, eine Muschel zu öffnen. So stellte ich es mir zumindest vor. Die Wirklichkeit war viel schlimmer, geradezu grotesk: Um mich herum füllten nicht weniger als drei Dutzend Kinder und mindestens ebenso viele Väter, Mütter und Großeltern die Hafenpromenade. Zuletzt hatte ich so etwas bei einer Schulaufführung in der Turnhalle gesehen, bei der ich einen Baum gespielt hatte und daher, wie auch heute, nur Statist war. Kinder plärrten, Eltern motzten, Großväter filmten, und alle starrten hinaus auf die Hafenausfahrt. Ich hätte es auch Hafeneinfahrt nennen können, aber ich mochte schon immer den Gedanken des Weggehens lieber als den des Ankommens. Heute kam dort ein Fischerboot an. Ganz vorne, ich glaube, man nennt es den Bug, leuchtete etwas Knallrotes. Erst beim zweiten Hinsehen verstand ich, dass es ein Mann in einem roten Mantel war, der nun wild hin und her winkte, was bei der Mehrgenerationenmenge vor mir ebenso wilde Freudenrufe auslöste. Hier kam ein Weihnachtmann auf einem Fischerboot in den Hafen gefahren. Jetzt erkannte ich auch, dass er über der Schulter einen großen Sack trug. Offenbar war ich Zeuge eines vorweihnachtlichen Rituals, das sich wie alle dieser kitschigen Gebräuche jedes Jahr wiederholte. Normalerweise hielt ich mich fern von so etwas, ich sagte es schon, ich mag diese Gefühlsduselei im dunkelsten Monat des Jahres nicht. Aber etwas an dieser Szenerie faszinierte mich. Ein Weihnachtsmann auf einem Fischerboot passte für mich in etwa genauso gut zusammen wie eine Ballerina in einer Autowerkstatt oder ein Surfer auf einer Skipiste. Das Boot kam näher. Der Weihnachtsmann schien rot zu leuchten und wirkte aufgrund irgendeiner optischen Täuschung übertrieben groß. Ich stand etwas abseits der Straße und konnte die Kinder in der ersten Reihe beobachten. Jemand hatte ein Seil spannen lassen, damit keines von ihnen in das Hafenbecken stürzte und ertrank, was die Weihnachtsstimmung mit Sicherheit nachhaltig verdorben hätte. Und auch wenn ich zugeben muss, dass mich ein Gewinn am einarmigen Banditen mehr berührt als die meisten Dinge – ich hatte das letzte Mal beim Zwiebelschälen im Knast geweint –, so muss ich doch gestehen, dass die leuchtenden Kinderaugen um mich herum mich nicht kaltließen. Wer schon mal härtere Drogen genommen hat, kennt Flashbacks. Und wer keine genommen hat, kennt dieses besondere Gefühl, das einen manchmal beschleicht, wenn man etwas Bestimmtes riecht oder hört. Bei mir ist es ein Gefühl von Wehmut, weil einem in diesem Moment bewusst wird, dass man irgendwann etwas Schönes empfunden hat, das verloren ist. Wenn ich meine Erinnerungen durchkrame, und das tue ich sehr selten, muss ich lange nach etwas Schönem suchen. Aber in diesem Moment, hier im Hafen von Niendorf, als ich in diese Kinderaugen sah, da fühlte ich etwas. Da schrumpfte ich plötzlich. Natürlich nur in Gedanken. Ich bin beinahe zwei Meter groß. Ich folgte also dem Blick der Kinder und schaute wieder zu diesem Weihnachtsmann, und da wurde mir bewusst, dass hier etwas nicht stimmte. Wenn Sie einmal eine Tankstelle überfallen haben, ich meine nicht alleine, sondern mit den Jungs, vielleicht mit drei oder vier Kollegen von der Straße, dann wissen Sie, wie man sich bewegt, wenn man ein Ding dreht. Ich denke, es sind die Schultern, die es verraten. Man ist unter Druck, in Hektik, schaut sich um, ob irgendwo Bullen kommen, will hier sein, nein, muss hier sein, um die Kohle aus der Kasse zu bekommen, will aber eigentlich am liebsten auch schon wieder weg sein, damit man nicht geschnappt wird. Dieses hier und zugleich schon weg sein, das führt zu verspannten Schultern und damit zu unkontrollierten Bewegungen des Kopfes und der Arme. Und irgendwie ist man krumm, weil man weiß, dass gleich einer hinter einem her ist. Und all dies beobachtete ich bei dem Weihnachtsmann. Ich habe keine Ahnung von Schiffsnavigation, aber auch jetzt, wo das Boot vielleicht zwanzig Meter entfernt war, schien es mir noch immer zu schnell. Schon stellte ich mir die Frage, was passieren würde, wenn es die Kaimauer bei voller Fahrt rammte. Ob der Weihnachtsmann dann fliegen würde, direkt in die Menge, auf die Kinder, in die Kameras der Opas. Was das für besondere YouTube-Videos geben würde. Doch dann drehte derjenige, der das Schiff steuerte und für mich nicht zu sehen war, plötzlich bei, und alles verlangsamte sich. Ich bleibe ruhig, auch wenn es mal hektisch zugeht. Vielleicht wäre ich auch ein guter Sportler geworden. In einer Sportart, in der gleichzeitig viel passiert und man trotzdem Ruhe bewahren muss. Vielleicht wäre die Position des Quarterbacks etwas für mich gewesen. Einer, der einen eierförmigen Ball an den Mann bringen muss, während eine Tonne Menschen auf ihn zu rennt, um ihn unter sich zu begraben. Ich erzähle euch, was ich alles wahrnahm innerhalb der folgenden Sekunden, und dann werdet ihr sehen, dass ich in kurzer Zeit ganz schön viele Informationen aufnehmen kann: Das Schiff bremste ab, wie ein Schlittschuhläufer, der die Kufen seitwärts stellt. Der Weihnachtsmann, tatsächlich groß und breit wie ich, mit einem riesigen Jutesack über den Schultern, hielt sich am Boot fest. Die Kinder jubelten, was sie riefen, konnte ich nicht verstehen. Vermutlich so etwas wie »Der Weihnachtsmann!« oder »Da ist er!«. Die Eltern ermahnten zur Vorsicht, weil ihnen dieses ganze Manöver mit dem Boot und das gefährliche Element Wasser unheimlich waren. Die Opas filmten. Das Boot war trotz allem noch zu schnell und schlug mit den alten Autoreifen, die über die Reling hingen, gegen die Anlegestelle. Aber nicht schlimm, alles im Rahmen. Durch den Anstoß geriet der Weihnachtsmann kurz aus dem Gleichgewicht, aber er fing sich wieder. Wie gesagt: ein kräftiger Kerl, vermutlich hatte er einen Griff wie ein Schraubstock. Ein Mann in einer gelben Weste, der hier etwas zu sagen oder das Ganze vielleicht organisiert hatte, näherte sich von der Landseite. Ich denke, um das Boot anzutauen und dem Weihnachtsmann herauszuhelfen, damit er die Kinder mit Geschenken aus seinem Jutesack beglücken und Fotos für die Opas und Omas machen konnte. Doch es kam anders: Der Weihnachtsmann wartete nicht. Der Bug schwankte noch, als er plötzlich zwei große Schritte machte und mit einem waghalsigen Satz an Land sprang. Beinahe sah es so aus, als würde er auf einem der Kinder landen, aber das tat er dank des gespannten Seils nicht. Die Kleinen liebten diese Action, schrien noch lauter, streckten die Hände nach dem Nikolaus aus. Ich kenne offen gestanden nicht den Unterschied zwischen Nikolaus und dem Weihnachtsmann. Hat nur der Erstere eine Rute für die bösen Kinder? Vor der hatte ich immer Angst. Selbst einer Person, die bisher keine Tankstelle überfallen hat, wäre spätestens jetzt klar geworden, dass etwas nicht stimmte. Ganz und gar nicht stimmte. Spätestens als der Weihnachtsmann den Typ in der gelben Weste zur Seite stieß, der wie Fallobst zu Boden stürzte. Oder als der Mann im roten Kostüm das Seil hob und darunter hindurchschlüpfte. Als er die ersten Kinder zur Seite schob, stieß, ja, schubste. Als der Fake-Weihnachtsmann den ersten Vätern, die ihn empört am Arm greifen wollten, brutal mit dem Ellbogen ins Gesicht schlug. In der Menge war viel Rot zu sehen, und das lag nicht mehr nur am Mantel des verrückten Weihnachtsmannes, sondern auch an den blutigen Nasen der Väter. Der Weihnachtsmann wälzte sich durch die Leute wie das Fischerboot zuvor durch die Wellen. Er war wahrlich ein Riese, und niemand der völlig überraschten Leute war in der Lage, ihn aufzuhalten. Niemand von denen, die da bis eben noch friedlich auf ein schönes Weihnachtserlebnis gewartet hatten, hat die Qualitäten eines Quarterbacks. Niemand außer mir. Außer mir hatte bisher auch niemand den nackten Mann entdeckt, der am Boot an einen Fahnenmast gefesselt war, an dem eine grüne Fahne mit dem Konterfei eines Weihnachtsmannes wehte. Na ja, ganz nackt war er nicht, denn er trug zumindest eine Unterhose. Wenngleich auch keine schöne. Hätte er gewusst, dass ihn heute fünf Dutzend Menschen, darunter Kinder, Mütter und Großmütter, in Unterhose sehen würden, hätte er sich vermutlich eine schönere angezogen. Aber noch hatte niemand Augen für ihn, noch schrien alle wegen des zum Bulldozer mutierten Weihnachtsmannes herum. Aus dem Hafen raus gab es, wenn man nicht mit dem Boot fuhr, nicht viele Wege, eigentlich nur zwei. Nun stand ich an dem einen Ausgang, und der Kerl im roten Mantel bahnte sich gerade seinen Weg zum anderen. Ich weiß nicht, warum es mich überhaupt etwas anging. Vielleicht wegen dieses Gefühls, das ich dort eben gehabt hatte, als ich in die erwartungsfrohen Kindergesichter geschaut hatte. Vielleicht, weil es einen Beutereflex in mir auslöst, wenn jemand versucht zu fliehen. Ich stellte meine Tasche mit meinen wenigen Habseligkeiten ab und machte mich auf, um ihm den Weg abzuschneiden. Ohne Eile. Wie ein guter Quarterback berechnete ich Geschwindigkeit, Entfernung, Winkel. Alles im Hinterkopf. Ich wusste genau, wie schnell ich gehen musste, um den Grinch abzufangen. Das alles geschah in Sekunden. Wie ich sagte: Ich kann Dinge verlangsamen.

Kurz verlor ich den Mann aus dem Blickfeld, weil ich die Hafenmeisterei umrunden musste, aber das Geschrei verriet mir, in welche Richtung er unterwegs war. Sein Fluchtweg war nicht besonders gut geplant: An seiner Stelle hätte ich im Voraus einen Roller versteckt. Nicht so einen, wie man ihn in Italien auf dem Weg zum nächsten Espresso fährt. Nein, einen von diesen elektrischen Dingern, die mittlerweile in den Großstädten rumliegen wie früher Zigarettenstummel. Sie sind schnell, wendig, können auch dort fahren, wo die Polizei mit ihren Streifenwagen nicht hinkommt. Wenigstens ein Fahrrad hätte ich bereitgestellt. Dieser Kerl aber, er rannte. Und das auch noch in einem Weihnachtsmannkostüm. Vermutlich atmete er sogar die Fussel seines künstlichen Barts ein. Alles nicht gut durchdacht. Er scherte etwa zehn Meter vor mir auf dem Bürgersteig ein, auf dem ich ging. Ich beschleunigte meinen Schritt, aber musste noch nicht einmal laufen, so langsam war er. Er bog nach rechts ab, und schon dachte ich, er wolle hinunter zum Strand fliehen, was wegen der natürlichen Barriere des Meers eine weitere schlechte Idee gewesen wäre, als er sich nach links wandte und auf ein parkendes Auto mit einem gelben Kennzeichen zusteuerte. Er war also mit dem Auto da. Nun musste ich mich tatsächlich ein wenig beeilen, um ihn noch vor dem Einsteigen abzufangen. Ich hatte das Überraschungsmoment auf meiner Seite und eine Faust, mit der ich schon so manchen Jahrmarktsboxer ausgeknockt hatte. Einen Weihnachtsmann niedergeschlagen hatte ich bis dahin noch nie, und ich möchte euch die Weihnachtsstimmung nicht verderben, wenn ich sage, dass es sich gut angefühlt hat. Sie haben an meiner kurzen Erzählung vielleicht schon bemerkt, dass ich in keine Schublade passe, dass ich manchmal anders denke als andere Menschen. Normal wäre es sicher gewesen, und vermutlich auch vernünftig, wenn ich die Polizei gerufen hätte. Vielleicht hätte es sogar für den Händedruck des Bürgermeisters, vielleicht von dem Typen in der gelben Weste und ein Foto in der lokalen Stadtzeitung gereicht. Aber ich bin an solcher Aufmerksamkeit nicht interessiert. Der Kerl war schwer, aber nicht zu schwer, um ihn in den Kofferraum zu befördern. Beobachtet hat uns niemand, alle waren im Hafen oder auf dem Weg dorthin. Das Auto war nichts Besonderes, ein altes Modell, in dem es noch einen Zigarettenanzünder gab. Es war gestohlen, zum Fahren brauchte ich keinen Schlüssel, sondern musste nur die zwei Drähte zusammendrehen, wie der Weihnachtsmann es zuvor auch getan hatte. Im Auto fand ich das Schreiben einer Ferienhausvermietung und auch den Schlüssel zum Haus, das nicht weit entfernt war. Es glich eher einem Gartenhaus, lag aber schön einsam hinter einem Vogelpark an der Ahlbeck, am Ende eines langen Weges. Der Kerl war schwerer als sein Jutesack, und er brauchte trotz des kalten Wassers, das ich ihm ins Gesicht schüttete, verdammt lange, bis er wieder erwachte. Er war nicht begeistert, dass ich ihn geschlagen und an einen Stuhl gefesselt hatte. Sein Deutsch war nicht so schlecht wie mein Niederländisch, aber es dauerte quälend lange, bis ich die ganze Geschichte verstanden hatte – wobei das Gespräch wohl eher für ihn eine Qual war. Er kam aus dem schönen Holland zu uns. Irgendein Zellengenosse hatte mir einmal von Geocaching erzählt. Einem Hobby, bei dem man versteckten GPS-Sendern hinterherjagt, um kleine Schätze zu finden. So etwas Ähnliches hatte auch mein neuer Weihnachtsmannfreund getan. Seine Kumpels und er hatten keine Tankstelle überfallen, sie drehten an weitaus größeren Rädern: Zwanzig Pakete mit geschmuggeltem Kokain waren bei einer Schiffshavarie vor Rostock baden gegangen. Jedes einzelne Paket hatte einen Straßenverkaufswert von einer Million Euro. Nach dem letzten Wintersturm hatte die Fracht ihren Weg zur Küste gefunden, und da sie vorsorglich mit einem GPS