Frühlingsgarten - Tomoka Shibasaki - E-Book

Frühlingsgarten E-Book

Tomoka Shibasaki

4,5

Beschreibung

Als Taro, der unscheinbare Angestellte einer PR-Agentur, beobachtet, wie seine Nachbarin über eine Mauer auf das Nachbargrundstück zu gelangen versucht, gerät sein Leben aus den Fugen. Was hat es mit dem Haus hinter der Mauer auf sich? Welches Geheimnis birgt die Geschichte seiner Bewohner? Taro kommt seiner Nachbarin immer näher und ist bald selbst besessen von der Idee, das Haus endlich von innen zu sehen. Ein modernes Märchen über Menschen und Häuser, über Wunden der Vergangenheit und über die Zerbrechlichkeit des Glücks.

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Das Erscheinen dieses Buches wurde ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung der Schweizerisch-Japanischen Gesellschaft und deren Präsidenten, Herrn Herbert Haag

japan edition

herausgegeben von Eduard Klopfenstein, Zürich

Die Schreibweise der japanischen Namen wurde in ihrer ursprünglichen japanischen Gestalt belassen, also erst der Familienname, dann der persönliche Name.

Shibasaki Tomoka

Frühlingsgarten

Roman

Aus dem Japanischen übersetzt

und mit einem Nachwort versehen

von Daniela Tan

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

Japanischer Originaltitel

Haru no niwa

© Shibasaki Tomoka, 2014

All rights reserved

Die Rechte für die Übersetzung ins Deutsche wurden übertragen von Shibasaki Tomoka/Bungeishunju Ltd. durch das Bureau des Copyrights Français, Tokyo.

© 2018 japan edition im be.bra verlag GmbH (für die deutsche Übersetzung)

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Ingrid Kirschey-Feix, Berlin

Umschlag: Hauke Sturm

ISBN 978-3-8393-2133-1 (epub)

ISBN 978-3-86124-921-4 (print)

www.bebraverlag.de

Auf dem Balkon im ersten Stock streckte eine Frau den Kopf hervor und betrachtete etwas. Sie hatte beide Hände auf das Balkongeländer gelegt und blieb so stehen, mit gerecktem Hals.

Tarō war eben dabei das Fenster zu schließen. Er hielt inne, um sie zu beobachten. Sie regte sich nicht. Ihre schwarz gerahmte Brille reflektierte das Licht. Es war nicht klar, wohin ihr Blick ging, aber ihr Gesicht war geradeaus gerichtet. Zum Haus ihrer Vermieterin auf der anderen Seite der Mauer aus Betonelementen.

Das Apartmenthaus hatte von oben gesehen die Form eines L-förmigen Hakens. Tarōs Wohnung befand sich in dessen vorspringendem Teil im Erdgeschoss. Er wollte gerade das zum Innenhof gewandte kleine Fenster schließen, als er die Frau auf dem Balkon ganz außen im ersten Stock bemerkte, von der Wohnung, die am weitesten von seiner entfernt lag. Die Bezeichnung Innenhof war übertrieben für diesen nur etwa drei Meter breiten ungenutzten Streifen, den man nicht betreten durfte, und zwischen dessen Zementplatten Unkraut hervor wucherte. Die Mauer aus Betonelementen, die Tarōs Apartmenthaus vom Grundstück um das Haus ihrer Vermieterin trennte, war im Frühling jeweils binnen kürzester Zeit von Efeu überwachsen. Der Ahorn und der Pflaumenbaum gleich hinter der Mauer streckten ihre ungestutzten Zweige über die Mauer. Hinter diesen Bäumen stand ein mit Brettern verschaltes, ziemlich altes zweistöckiges Haus. Es wirkte verlassen wie immer.

Tarō ließ seinen Blick wieder zu der Frau schweifen. Sie stand immer noch in der gleichen Haltung da. Von Tarōs Wohnung im Erdgeschoss aus war auf der anderen Seite der Mauer nur das Dach sichtbar, doch vom ersten Stock aus musste man auch das Erdgeschoss und den Garten beim Haus der Vermieterin sehen können. Doch er konnte sich schwerlich vorstellen, dass es da etwas Besonderes zu entdecken gab. Am Dach aus rot gestrichenem Blech wie an den dunkelbraunen getäfelten Wänden fielen die Abnutzungsschäden auf. Schon ein Jahr war vergangen, seit ihre alte Vermieterin, die alleine gelebt hatte, in ein Pflegeheim eingetreten war. Sie hatte einen energischen Eindruck gemacht, wenn er sie beim Wischen vor dem Haus angetroffen hatte, doch anscheinend war sie schon sechsundachtzig. Das hatte ihm der Immobilienhändler erzählt.

Über dem Dach sah man den Himmel und Wolken. Seit dem Morgen war der Himmel klar gewesen, nun hatten sich einige Wolken gebildet. Leuchtend weiße Haufen. Obwohl es erst Mai war, sahen sie hochsommerlich aus. Tarō betrachtete die hoch aufgetürmten und vorspringenden Formationen. Solche Wolken sollen Tausende von Metern hoch sein, dachte er bei sich. Der Kontrast zum tiefen Blau des Himmels war so stark, dass ihm die Augen schmerzten.

Wie er so die Wolken betrachtete, stellte er sich vor, er befinde sich selbst über den Wolken. Das hatte er schon immer getan. Weit, weit spazierte er über die Wolkendecke dahin, bis er schließlich zum Rand gelangte, wo er sich mit den Händen abstützte und nach unten schaute. Er sah eine Stadt. Auch aus einigen Kilometern Distanz waren alle einzelnen Straßenzüge in dem dichten Gewirr deutlich zu sehen, sogar jedes einzelne der eng aneinander gedrängten Häuser. Durch die Straßen glitten wie winzige Insekten die Autos. Zwischen der Stadt und dem Wolkenrand schwebte ein kleines Flugzeug. Das war nun ein Bild aus einem Trickfilm. Im gläsernen Cockpit saß niemand. Stille. Nicht nur das Flugzeug war lautlos, auch sonst war kein Geräusch zu hören. Als er langsam aufstand, stieß sein Kopf durch die Himmelsdecke. Kein Mensch weit und breit.

Bis zu diesem Punkt reichte die Abfolge der Szenerie, die er sich vorstellte, seit er klein war. Er blickte wieder zum Balkon im Erdgeschoss.

Nun sah man einen Teil eines weißen Vierecks, das vorhin noch nicht da gewesen war. Wann war denn das passiert? Die Frau hatte am Geländer Zeichenpapier, nein, ein Skizzenbuch hingestellt. Zeichnete sie etwa die Bäume? Der Balkon war nach Süden ausgerichtet und hatte ein kurzes Vordach. Es war jetzt zwei Uhr nachmittags. Das grelle Licht musste sie blenden.

Ab und zu lehnte sich die Frau vor. Dann konnte man wieder ihr Gesicht sehen. Zu der schwarz gerahmten Brille eine ungepflegte Frisur, die man mit viel Mühe als Pagenschnitt bezeichnen konnte. Sie war im Februar eingezogen. Tarō hatte sie einige Male vor dem Apartmenthaus gesehen. Nach seiner Einschätzung musste sie etwas über dreißig

sein, etwa gleich alt wie er oder etwas jünger. Sie war klein und trug immer nur T-Shirts oder Sweater. Plötzlich tauchte ihr Gesicht hinter dem Skizzenbuch auf. Sie wandte sich zu Tarō und neigte den Kopf. Jetzt endlich wurde ihm klar, dass die Frau nicht zum Haus der Vermieterin blickte, sondern zum Haus daneben, das in der Richtung seiner Wohnung lag. Das hellblaue Haus.

Plötzlich ertönte das hohe Zwitschern der Vögel zusammen mit dem Rascheln der Zweige und Blätter. Im nächsten Augenblick trafen sich ihre Blicke. Noch ehe er die Augen abwenden konnte, hatte sich die Frau mit dem Skizzenbuch zurückgezogen. Man hörte, wie das Fenster geschlossen wurde. Seitdem hatte sie sich nicht mehr blicken lassen.

Am Mittwochabend, als er von der Arbeit nach Hause kam, erwartete ihn die Nachbarin aus dem ersten Stock auf der Außentreppe.

Nicht die Frau auf dem Balkon von neulich, sondern die Nachbarin aus der Wohnung gleich neben ihr. Die Frau, die etwa gleich alt war wie seine Mutter, wohnte schon ziemlich lange hier. Das Apartmenthaus View Palace Saeki III, in dem Tarō lebte, verfügte über je vier Wohnungen im Erdgeschoss und im ersten Stock. Anstelle von Nummern waren die Wohnungen mit Tierkreiszeichen des chinesischen Kalenders beschriftet. Von Tarōs Wohnung beim Hauseingang her nach rechts in der Reihenfolge mit Wildschwein, Hund, Hahn und Affe, im ersten Stock mit Schaf, Pferd, Schlange, Drache. Heutzutage ist es keine Seltenheit, dass weder auf dem Namensschild noch auf dem Briefkasten ein Name steht. Es war die Frau aus der Wohnung »Schlange«, weshalb Tarō sie für sich Frau Schlange nannte. Sie war eine mitteilsame Person, die bei jeder Begegnung kurz mit ihm plauderte. Frau Schlange, die von oben auf der Treppe Ausschau auf das Erdgeschoss gehalten hatte, stieg hinunter, sobald sie Tarō am Hauseingang erspäht hatte. Sie hatte ihr Haar wie immer ganz oben auf dem Kopf zu einem Knoten geschlungen und trug Kleider, die wahrscheinlich aus alten Kimonos geschneidert waren. Heute war es eine weite Baumwollhose mit Schildkrötenmuster zu einem schwarzen Hemd.

»Ähm, kann es sein, dass Sie Ihren Schlüssel verloren haben?«

»Was, meinen Schlüssel?«

Ohne zu wollen, schaute Tarō auf seine Hände. Er hielt den Schlüssel fest umklammert.

»Diesen hier …?«

Der Schlüssel mit dem Pilzfigürchen, den ihm Frau Schlange vor die Nase hielt, kam ihm tatsächlich bekannt vor.

»Heute Morgen lag er hier. Aber, Sie haben ja einen Schlüssel, wie ich sehe.«

»Das ist mein Büroschlüssel. Von meiner Firma. Ich dachte, ich hätte ihn zuhause vergessen. Vielen Dank.«

»Wie gut! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, ob Sie mich nicht verdächtig finden, wenn ich auf einmal Ihren Schlüssel habe. Ich habe ihn nicht genommen, Sie müssen ihn wirklich verloren haben.«

»Kein Problem, vielen Dank.«

Frau Schlange kam näher und hielt ihm den Schlüssel hin. Tarō nahm ihn entgegen. Frau Schlange, die sehr klein war, schaute zu ihm auf, als wolle sie demnächst in seine Hemdtasche hineinkriechen.

»Oje, dann konnten Sie heute gar nicht arbeiten?«

»Doch, doch, ich bin ja nicht allein in der Firma, da sind auch noch andere.«

»Ach so, ja natürlich, wie dumm von mir, verzeihen Sie.«

»Kein Problem.«

Tarō erinnerte sich an die in Mirin eingelegten Sardinen in seiner Tasche. Ein Arbeitskollege hatte sie ihm von einer Geschäftsreise mitgebracht, aber er mochte getrockneten Fisch ganz allgemein nicht.

»Hier, bitte nehmen Sie das. Man kann es kaum als richtiges Dankeschön bezeichnen …«

Frau Schlange schien es zu mögen und freute sich sehr. Ihre überschwängliche Freude war Tarō etwas unangenehm. Sie bedankte sich unablässig und stieg dabei beschwingt die Treppe hoch.

Tarō betrachtete den Schlüssel, den ihm Frau Schlange überreicht hatte. Das Pilzfigürchen hatte er sich selbst gekauft an einem jener Automaten, wo man in Kapseln verpacktes kleines Spielzeug ziehen konnte. Es war ein Holzrasling. Aber eigentlich hätte auch noch ein Kräuterseitling daran hängen sollen. Er hatte beide Anhänger daran befestigt, damit der Schlüssel nicht so leicht verloren gehen konnte. Er fragte sich, ob er abgerissen sei, doch weder der Faden noch der Metallaufsatz waren noch dran. Während er sich überlegte, ob er ein Glöckchen daran befestigen sollte, wärmte er das Bentō mit über Holzkohle gebratenem Rindfleisch, das er unterwegs im 24-Stunden-Shop gekauft hatte, in der Mikrowelle auf und öffnete sich ein Bier dazu.

Als er die zum Trocknen aufgehängten Handtücher abnahm, schaute er zum Balkon von der Wohnung »Drache« im ersten Stock hinauf. Im Fenster brannte Licht. Seit jenem Vorfall vor drei Tagen hatte er sie nicht mehr gesehen.

Die Sardinen hatte ihm Numazu mitgebracht. Dieser hätte eigentlich am Dienstag geschäftlich nach Okayama fahren sollen, aber stattdessen hatte er am Montag frei genommen und war für drei Tage nach Kushiro verreist. Dort hatte er die Familie seiner Frau besucht. Sie hatten letzten Monat geheiratet. Seine Frau hatte keine Geschwister und trug einen seltenen Familiennamen, darum hatte Numazu vor einem Monat ihren Namen angenommen. Es gab Arbeitskollegen, die ihn immer noch beim alten Namen riefen, aber Numazu gefiel der Name und er hatte sich neue Visitenkarten machen lassen. Tarō hatte sich noch nicht an den neuen Namen gewöhnt und nannte ihn immer noch Numazu.

Als Numazu in der Mittagspause den getrockneten Lachs verteilte, den er als Mitbringsel von Hokkaidō dabei hatte, erzählte er Tarō, der Namenswechsel mache ihm nichts aus, aber er habe dabei gar nicht ans Grab gedacht. Sein Elternhaus sei in Shizuoka bei einem Fischereihafen, jedoch nicht in Numazu, trotz des Namens. Er habe sich irgendwie immer vorgestellt, eines Tages im Grab des von Mandarinenbäumen umgebenen Tempels am sonnigen Abhang bestattet zu werden. Als er dann den Friedhof mitten im Wald gesehen habe, wo es im Winter bestimmt eisig kalt war, hätte er sich ziemlich verlassen gefühlt. Würde ich als Frau einfach so ins Grab meines Partners gehen? Wäre es mir nicht zuwider, von lauter Fremden umgeben zu sein? So überlegte er hin und her.

Tarō dachte ernsthaft darüber nach und antwortete:

»Heute ist man da flexibler, und es gibt durchaus Alternativen. Es gibt ja auch Baumbegräbnisse. Die Asche meines Vaters zum Beispiel haben wir an verschiedenen Orten verstreut.«

»Wenn das so ist, möchte ich, dass man meine Asche im Garten meiner Eltern begräbt. Gleich neben Gepard, unserem Hund, den wir als Kinder dort begraben haben.«

Der Mischling, den Numazus älterer Bruder aufgelesen hatte, hatte am inneren Augenrand eine schwarze Linie und sah aus wie ein Gepard. Er liebte Hähnchenknochen und ließ sich nicht abgewöhnen, einem bis zur Schule nachzulaufen. Als er älter wurde, bekam er Schmerzen im Hüftgelenk und konnte nicht mehr spazieren gehen, doch er lebte sehr lange und wurde viel größer als vermutet, weshalb es furchtbar gewesen sei, das Loch zu schaufeln, um ihn zu begraben – so fasste Numazu Gepards elfjähriges Leben in etwa fünf Minuten zusammen. In seinen Augen standen Tränen.

»Wenn Knochen übrigbleiben, gilt es als illegales Vergraben eines Leichnams, darum muss man darauf achten, die Knochen komplett zu zermahlen.«

»Habt ihr das so gemacht?«

»Die Knochen waren ziemlich hart und es war eine mühsame Arbeit.«

»Ich hatte angenommen, nach dem Verbrennen seien die Knochen schon ganz porös.«

Tarōs Vater hatte kräftige Knochen und auch kaum schlechte Zähne gehabt. Er hätte ohne Probleme mit fast vollständigem Gebiss achtzig Jahre alt werden können, doch er war noch vor seinem sechzigsten Geburtstag verstorben. Das war nun schon fast zehn Jahre her. Das heißt, Tarō lebte bereits seit zehn Jahren in Tōkyō.

Den Mörser in der Größe einer Reisschale und den dazugehörigen Stößel, mit dem er die unvorstellbar harten Knochen seines Vaters zu Pulver zermahlen hatte, hatte er mitgenommen, als er von seinem Elternhaus in Ōsaka nach Tōkyō gezogen war. Auch jetzt befand sich das Set in seiner Wohnung. Und während der drei Jahre, die er mit seiner Frau zusammengelebt hatte, von der er nun seit drei Jahren geschieden war, hatte er es hinten im Geschirrschrank aufgestellt. Seine Exfrau hatte ihm zwar wiederholt gesagt, er solle es ordentlich aufstellen, wenn es ihm schon so viel bedeute, und außerdem könnte sie es versehentlich benutzen, doch Tarō beließ es an seinem Ort. Er war nicht besonders ordentlich und sorgte sich, dass er es sonst nicht wiederfinden würde. Außerdem befürchtete er zu vergessen, dass sein Vater nicht mehr lebte, wenn er es nicht vor Augen hätte. Gelegentlich wunderte er sich gar, ob er seinen Vater und dessen Tod nicht schon vergessen hätte.

»Was soll ich nur machen? Wenn ich mich erst darum kümmere, wenn ich schon tot bin, ist es zu spät. In Kushiro ist es kalt, und natürlich ist es schon schön so mitten in der Natur, aber es ist kalt, und ich mag es nicht, wenn es kalt ist.«

Wenn du tot bist, frierst du nicht mehr, wollte Tarō sagen, doch ihm wurde plötzlich klar, dass Numazu gar nicht mit ihm redete. Er sprach bloß laut aus, was ihm gerade durch den Kopf ging, ohne eine Antwort zu erwarten. Im Büro, einem einfachen Raum in einem Wohnhaus, befanden sich neben Tarō noch zwei weitere Mitarbeiter. Sie mussten die Unterhaltung gehört haben, doch keiner schloss sich an.

Tarō stopfte den getrockneten Lachs, den Numazu aus Kushiro mitgebracht hatte, ebenfalls vorerst in den Geschirrschrank. Danach überprüfte er im Geschirrschrank, den er zugleich als Bücherregal benutzte, die dritte Ablage von oben, wo die Gläser und Tassen standen. Dahinter befanden sich der Mörser und der Stößel, die er zwei Tage nach der Bestattung seines Vaters im Baumarkt gekauft hatte. Der Mörser hatte sich als Fehlkauf erwiesen. Die Knochenstückchen, die in die Rillen geraten waren, ließen sich kaum entfernen. Und irgendwie schien es ihm nicht richtig, alles gründlich abzuspülen. Darum fand sich auch jetzt noch weißes Pulver in den wie mit einem Kamm gezogenen feinen Rillen. Man sah es zwar nicht, aber es musste noch dort sein. Die Gebeine seines Vaters waren im Grab an seinem Heimatort und neben dem Hausaltar im Elternhaus aufbewahrt. Den Teil, den er zermahlen hatte, verstreute er auf dem offenen Meer bei einer Landzunge in Ehime, wo sie oft zum Fischen hinausgefahren waren. Wind und Wellen trugen das Pulver mit sich fort, bis nichts mehr zu sehen war. Derselbe feine Knochenstaub wie jener, der sich im Mörser festgesetzt hatte. Welcher Teil seines Vaters das wohl einmal gewesen sein mochte? Hatte sich jenes weiße, harte Etwas wirklich im Körper seines Vaters befunden? War es das gewesen, das sich hinsetzte und herumgelaufen war? Als Kind hatte sich Tarō einmal an einer Eisenstange den Kopf aufgeschlagen. Seine Mitschüler kamen einer nach dem anderen, um einen Blick auf den Schädelknochen zu werfen. Noch heute bereute er, dass er selber als einziger das nicht hatte sehen können.

Das Dosenbier war zu kalt. Der Kühlschrank, den er sich in einem Gebrauchtwarenladen gekauft hatte, gab in letzter Zeit komische Geräusche von sich.

Am Freitagmorgen, als Tarō die Tür aufmachte und zur Arbeit gehen wollte, bemerkte er die Frau aus der Wohnung »Drache«. Sie ging am Apartmenthaus vorbei nach rechts. Ohne Notiz zu nehmen von Tarō, der ihr aus der halb geöffneten Tür zuschaute, setzte sie ihren Weg fort. Es war die dem Bahnhof entgegengesetzte Richtung. Ein vager Gedanke schoss ihm durch den Kopf, den er selbst nicht ganz erfasste, und fast im selben Moment schlug er die gleiche Richtung ein.

Die Frau ging langsam vor dem Nachbarhaus durch, das wie ein riesiger Tresor vollständig von einer Betonwand umgeben war, und bog dann an der Ecke rechts ab. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie abgebogen war, folgte ihr Tarō ebenfalls bis zur Ecke. Im Innern des Betonbunkers musste ein Innenhof liegen, doch nach außen war nur ein winziges Fenster zu sehen. Tarō hatte schon das Auto mit Vierradantrieb eines englischen Herstellers aus dem nun geschlossenen Garagentor fahren sehen, doch die Bewohner hatte er noch nie zu Gesicht bekommen. An der Ecke der Betonwand blieb er stehen und schaute in die Richtung der Frau.

Sie hielt vor dem hellblauen Haus hinter dem Betonbunker an, streckte ihren kleinen Körper empor und versuchte, einen Blick über die Mauer zu erhaschen. Mit nach oben gerecktem Kopf wippte sie nach links und nach rechts, und ging dann weiter, den Blick stets auf das hellblaue Haus gerichtet. Zum zerknitterten Pullover trug sie eine Jogginghose, dazu eine Strickmütze, als ob sie darunter ihr ungekämmtes Haar verbergen wollte. Es machte nicht den Eindruck, als wäre sie auf dem Weg, um jemanden zu treffen. Strickmütze und Brille, ziemlich dubios. Dann folgte sie der weißen Wand und bog nach rechts ab.

Das hellblaue Haus war in der Tat ein auffälliges Gebäude im westlichen Stil. Die Holzbretter der Seitenwände waren in einem zarten Hellblau gestrichen. Das Dach aus rotbraunen Ziegeln hatte die Form einer abgeflachten Pyramide mit einer Verzierung zuoberst, die aussah wie eine Speerspitze.

In die weiße Mauer rundherum war mit der Gipserkelle ein Schuppenmuster eingedrückt. Von der Straße her sah man nur den ersten Stock des Gebäudes. An der linken Seite gab es einen Balkon, an der rechten zwei kleine längliche Klappfenster, deren Rahmen im gleichen Rotbraun gestrichen waren wie die Dachziegel. Die Torflügel aus schwarzem Metall waren zu einem Dornenmuster gearbeitet, und auch die Eingangstüre dahinter zierte eine Glasmalerei mit Pflanzenmotiven. Tarō kannte sich nicht gut aus, doch sie bestand aus Schwertlilien oder Irisblüten in Ultramarin, Grün und Gelb. Von Tarōs Wohnung aus konnte man genau die Rückseite dieses Hauses sehen. Auch dort gab es ein kleines Fenster mit einer Glasmalerei von stilisierten roten Libellen.

Tarō erinnerte sich an die Residenzen der Ausländer in Kobe, die er bei einem Ausflug in der Mittelschule gesehen hatte. Im Vergleich dazu kam ihm das hellblaue Haus irgendwie exzentrisch vor. Auf den ersten Blick verströmte es die Eleganz vergangener Tage, doch bei genauerem Hinsehen wirkten das Dach und die Wände, die Glasmalereien, die Mauer, das Tor und die Fenster seltsam zusammengewürfelt.

Auf der rechten Seite der Torflügel befand sich ein gläsernes Namensschild, in das »Morio« eingraviert war. Dieses Haus hatte seit etwa einem Jahr leer gestanden. Wann war denn hier jemand eingezogen? Neben dem Eingang standen ein Kinderfahrrad und ein Dreirad. Auf dem Doppelparkplatz links vom Tor stand ein hellblauer Kleinwagen, fast im gleichen Ton wie das Haus.

Der Garten nahm etwa ein Drittel des Grundstücks ein. Da er auf der vom Apartmenthaus abgewandten Seite lag, konnte man ihn von Tarōs Wohnung aus nicht sehen. In der Ecke zur Straße hin stand innerhalb der Mauer eine große Lagerströmie. Am teilweise abgeschälten, glatten Stamm erkannte selbst Tarō den Baum auf den ersten Blick. Etwas entfernt davon wuchsen zwei weitere Laubbäume, ein mittelgroßer und ein kleiner. Obwohl er nur selten an diesem Haus vorbeiging, konnte er sich an das Purpur dieser Lagerströmie, den mittelgroßen Pflaumenbaum mit seinen weißen Blüten und den kleinen Kirschbaum erinnern.