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Die junge Wienerin Charlotte Paul, genannt Charlie, hat einen Traumjob als Patissière im Hotel Elisabethhof und mit ihrem Freund Eddie einen Traumgatten in spe. Die Zukunft scheint süß wie Zuckerguss. Doch dann erhält Charlie einen neuen Chef, und gleich beim ersten Zusammentreffen gerät sie mit Daniel Eppensteiner aneinander. Auch privat kriselt es, nachdem sich der fesche Eddie immer mehr als Albtraummann entpuppt. Als Charlie dann noch gegen den Willen ihres Chefs eine Petit-Fours-Messe in ihrem Hotel ausrichten will, ist das Chaos perfekt. Das Leben hält aber nicht nur böse Überraschungen für Charlie bereit. Manchmal kommt auch das Glück ganz unverhofft …
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Seitenzahl: 400
Veröffentlichungsjahr: 2017
Buch
Charlotte Paul, genannt Charlie, hat einen Traumjob als Patissière im Wiener Hotel Elisabethhof. Doch just am ersten Arbeitstag ihres neuen Chefs Daniel Eppensteiner kommt Charlie zu spät und hinterlässt einen chaotischen Eindruck. Als Daniel dann auch noch die kurzfristige Verlegung der Petit-Four-Messe in das Hotel Elisabethhof ablehnt, setzt Charlie sich über seine Entscheidung hinweg und sagt hinter seinem Rücken zu. Aber auch privat läuft es nicht rund: Bei einem Abendessen mit den Eltern ihres Freundes Eddie zeigen diese deutlich, dass sie Charlie als Schwiegertochter ablehnen. Als sie Eddie dann auch noch in flagranti mit seiner Ex- (oder eben doch nicht so Ex-) Freundin im Bett erwischt, ist Charlies Leben nur noch eine einzige Katastrophe. Doch ausgerechnet Daniel gelingt es, sie zu trösten. Damit wird das Chaos aber erst perfekt …
Informationen zu Emilia Schilling finden Sie am Ende des Buches.
Emilia Schilling
***
Frühlingsglück
und Mandelküsse
***
Roman
Inhalt
Biskuitroulade
… geht schnell; bei schlechter Laune statt mit Marillenmarmelade dick mit Nuss-Nougat-Creme füllen
***
Esterházytorte
… schwierig, aber wesentlich besser als die Version der künftigen Schwiegermutter
***
Altwiener Apfelstrudel
… weckt Kindheitserinnerungen
***
Getränkte Rumschnitte
… die Menge an Rum ist der jeweiligen Stimmung anzupassen
***
Burgenländer Kipferl
… die Augen schließen und langsam im Mund zergehen lassen
***
Linzer Torte
… einem erfahrenen Chef kann man nichts vormachen
***
Mandelküsse
… einfach unwiderstehlich
***
Mozarttorte
… auch wenn dann doch alles anders kommt
***
Epilog
***
Glossar
*** Biskuitroulade ***
…geht schnell; bei schlechter Laune statt mit Marillenmarmelade dick mit Nuss-Nougat-Creme füllen
6 Eier, getrennt
200g Zucker
200g Mehl
eine Prise Salz
250g Marillenmarmelade
Eiklar mit Salz zu Schnee schlagen. Zucker einrieseln lassen und Eigelb nach und nach beigeben. Mehl unterheben und auf ein Backblech streichen. Bei 180° C etwa 15Minuten goldbraun backen. Sofort mit Marmelade bestreichen, noch warm einrollen und mit Staubzucker bestäuben.
Warum konstruiert man eine Parkgarage dermaßen eng? Als ob die Straßen der Wiener Innenstadt um diese Zeit nicht schon die reinste Zumutung wären. Hat niemand an die Konditorin gedacht, die verschlafen könnte und deswegen versucht, mit dem Auto ihres Freundes rechtzeitig zur Warenlieferung zu kommen? Um halb acht öffnen sich die Türen zum Speisesaal des Hotels Elisabethhof. Nur dass die Gäste heute vor einem leeren Frühstücksbuffet stehen werden. Nicht gerade das, was man sich von einem Fünfsternehotel am Ring erwarten darf.
Ich überfahre eine Sperrlinie, presche über einige leer stehende Parkplätze und steuere auf Richards Parkplatz direkt neben dem Treppenaufgang zu.
Richard Auer ist der Hotelleiter des Elisabethhofs und damit mein unmittelbarer Vorgesetzter. Momentan befindet er sich auf Geschäftsreise und wird sich bestimmt nicht daran stören, wenn seine liebste Patissière einen Tag lang ihr Auto hier abstellt. Immerhin pflegt er oft genug zu sagen, dass der Elisabethhof seinen guten Ruf für traditionelle Wiener Mehlspeisen auch meinen Backkünsten verdankt.
Von der anderen Seite blinkt mich eine schwarze Limousine an. Vermutlich um mich darauf aufmerksam zu machen, dass ich gegen die Einbahn fahre. Bestimmt ist das ein Hotelgast, der sich in die falsche Ebene verirrt hat.
Mit quietschenden Reifen manövriere ich den Wagen auf Richards Parkplatz und halte so knapp vor der Betonmauer, dass ich gerade noch das Schild mit dem Wort »Hotelleitung« lesen kann.
Eilig haste ich aus dem Wagen und ignoriere das Hupen der Limousine. Es gibt Wichtigeres, als dem Gast zu erklären, wo er parken kann.
Mit Schweiß auf der Stirn komme ich ins Parterre und verfluche meine Mitbewohnerin Kati aus unserer Dreier-WG, die mir zu diesen Slippern geraten hat.
»Die sind wie für dich gemacht, Charlie«, waren ihre Worte neulich in einem neuen Geschäft in der Kärntner Straße. »Dann nimm sie in 39, wenn es sie nicht in deiner Größe gibt. Schau, sie sind sogar runtergesetzt.«
Keinen Cent hätte ich dafür bezahlen sollen. Bei jedem Schritt rutschen sie über meine Ferse, sodass ich sie beinahe verliere. Damit breche ich mir noch den Hals.
Am Ende des Gangs taucht mein Lehrling Fridolin auf. Seine Wangen haben denselben Farbton wie seine karottenroten Haare angenommen. Immer wenn er gestresst ist, sieht er aus wie eine radioaktive Tomate.
»Charlie!«, ruft er, als er mich auf sich zukommen sieht, und reißt dann seine grünen Augen und den Mund weit auf.
Sehe ich so schlimm aus? In der Eile hatte ich heute Morgen keine Zeit, im Spiegel mein Aussehen zu kontrollieren. Gestern Abend hat Kati darauf bestanden, mir Locken zu drehen. Sie ist die Feminine in unserer WG und liebt es, Haare zu flechten und Fingernägel zu lackieren. Da Jasmin, die Dritte im Bunde, nicht viel von stylischen Frisuren und glitzernden Nägeln hält, mussten meine langen, hellbraunen Haare wieder einmal herhalten.
Kati und Jasmin sind seit Schultagen meine besten Freundinnen. Jasmin ist groß und hat bronzefarbene Haut und schwarzbraunes Haar. Sie ist die Vernünftigste von uns, die mitunter auch etwas kaltherzig und pragmatisch wirken kann. Ich pflege zu sagen, sie hat eine harte Schale, aber einen weichen Kern. Kati hingegen ist sensibel, romantisch und stets auf der Suche nach ihrem Traumprinzen. Sie ist zierlich, hat ein sehr feines Gesicht und lange, blonde Haare. Vom Typ her schätze ich mich irgendwo zwischen den beiden ein, sowohl optisch als auch im Charakter.
Während ich nach der Schule eine Lehre als Konditorin gemacht habe, ließen sich die beiden zu Fitnesstrainerinnen ausbilden und arbeiten heute in demselben Studio. Seit etwa sechs Jahren teilen wir uns eine Wohnung in der Nähe des Wiener Rathauses.
Mit unzähligen Papilloten hat Kati mich gestern ins Bett geschickt. In der Früh lagen die bunten Gummiwürmer im ganzen Bett verteilt. Obwohl sie versprochen hat, ich sähe hinterher aus wie Shakira, bin ich überzeugt, dass dies nicht annähernd der Fall ist. Mit meinen 26 Jahren sollte ich aufhören, mir von Kati solche Albernheiten einreden zu lassen. Erst die Schuhe und dann die Frisur!
»Wurde das Gebäck schon geliefert?«
Leider ahne ich die Antwort bereits. Unser Bäckerlieferant ist immer überpünktlich und superkorrekt. Laut Vorschrift dürfen nur ich, die Leiterin der Patisserie, sowie mein Mitarbeiter Alex die Waren übernehmen. Obwohl unser Lehrling jeden Morgen bei der Anlieferung dabei ist, darf Fridolin den Lieferschein nicht unterschreiben.
»Er wollte nicht die übliche Menge dalassen«, stottert Fridolin mit krebsroten Wangen. »Weil ich nicht die Befugnis hätte, die Ware zu übernehmen.«
»Idiot!«, murmle ich genervt.
Unser Bäckerlieferant kennt Fridolin, seit er im Herbst hier seine Lehre begonnen hat.
»Nicht du! Der Lieferant natürlich«, ergänze ich, als ich seinen verunsicherten Gesichtsausdruck bemerke.
Mit geschultem Blick wühle ich durch die grünen Plastikboxen, in denen das Gebäck jeden Morgen gebracht wird. Schnell bestätigt sich meine Vorahnung, dass etwas fehlt.
»Wo sind die Semmeln?«
»Semmeln?«
Fridolin wird ganz bleich um die Nase. Er krallt seine zitternden Hände in den Saum seiner weißen Kochjacke.
Ich will ihm keinen Vorwurf machen, immerhin war ich diejenige, die zu spät gekommen ist. Noch einmal prüfe ich den Inhalt. Vollkornbrötchen, Baguette, Kipferl, überraschenderweise sogar Croissants, aber keine einfachen Kaisersemmeln. Wie kann der Lieferant mir das nur antun? Immerhin kennen wir ihn seit vier Jahren und bestellen mehr oder weniger jeden Tag dasselbe.
»Kennst du die Bäckerei auf der anderen Seite vom Ring? Beim Eingang zum Stadtpark?« Hastig ziehe ich meine Geldbörse aus der Handtasche und drücke sie gegen Fridolins Brust. »Hol Semmeln! So viele du kriegen kannst.«
Der Junge nickt hastig, ehe er sich abwendet und aus der Küche eilt.
Kaum ist er weg, schwingt die Tür zum Speisesaal auf, und Martha, unsere Servicekraft für das Frühstück, schiebt ihren Servierwagen herein. Dunkle, zerzauste Locken zieren ihren großen Kopf und erinnern mich an mein heutiges Haardesaster.
»Kindchen, du bist ja ganz blass. Iss etwas! Am besten mit Zucker. Ein Stück Kuchen oder Torte.«
Kuchen? Um Himmels willen, ich habe keinen frischen Kuchen! So schnell ich kann, hole ich alles hervor, was ich für meine Marillen-Biskuitroulade brauche. Es ist ein einfaches Rezept, das ich von meiner Mutter habe, vermutlich das Einzige, das aus ihrer Rezeptsammlung zu gebrauchen ist. Sie backt diese Biskuitroulade immer, wenn eine meiner Tanten unangekündigt vor der Tür steht. Der Teig lässt sich schnell herstellen, benötigt nicht viel Backzeit und gelingt immer. Während ich die Eier trenne, kommt Nicki in die Küche. Sie ist das Lehrmädchen in der Küchenabteilung und bereits im zweiten Ausbildungsjahr.
»Guten Morgen«, zwitschert sie fröhlich und streift sich die Kochjacke über. Als käme sie gerade von einer Party – was ihr zuzutrauen ist –, tänzelt sie durch die Küche und schwenkt ihren fransigen Pferdeschwanz hin und her.
»Hey, Nicki!«, rufe ich und positioniere die Rührschüssel mit dem Eiklar in der Rührmaschine. »Kannst du heute einen Kaiserschmarrn machen? Ich habe verschlafen und wir …«
»Klar doch!« Der Grund für meine Bitte interessiert sie nicht. Stattdessen schiebt sie sich Kopfhörer in die Ohren und lässt einen MP3-Player in ihrer Kochjacke verschwinden. Von einem Bein auf das andere hüpfend, bereitet sie ihre Arbeitsutensilien vor.
Als ich gerade das mit Teig bestrichene Backblech in den Ofen schiebe, kommt Fridolin hereingestolpert. Sein Gesicht ist jetzt noch röter als sein Haar, und er keucht, als sei er eben einen Marathon gelaufen.
»Hallo Nicki«, bringt er atemlos hervor und legt zwei Papiertüten auf die Anrichte.
Nicki hört ihn jedoch nicht und wippt entspannt mit dem Kopf im Takt der Musik.
Das Telefon hinter mir lässt mich zusammenzucken. Da Fridolin noch immer völlig außer Atem ist, wische ich meine Hände an einem Geschirrtuch ab und hebe so unbeschwert wie möglich ab.
Es ist Linda, die Empfangschefin der Rezeption. Sie bittet mich, ein Frühstück nach oben zu bringen. Es ist weniger eine Bitte als ein Kommando. Ausgerechnet heute, wo ich ohnehin unter Zeitdruck stehe. Ich lasse mir nichts anmerken und verspreche, mich sofort darum zu kümmern.
»Fridolin, übernimmst du die Biskuitroulade?«
Ich mache eine Kopfbewegung Richtung Ofen. Nach allem, was er heute schon mitgemacht hat, kann ich ihn nicht auch noch in die Höhle des Löwen schicken. Linda kann ausgesprochen boshaft sein. Ganz besonders am frühen Morgen.
»Ich muss zur Hexe«, sage ich.
Fridolin weiß sofort, von wem ich spreche.
Linda hat keine konkreten Wünsche geäußert, also packe ich alles, was ich finden kann, auf den Servierwagen. Brötchen, Aufstrich, eine Schinken-Käse-Platte und frische Croissants. Zum Schluss stibitze ich von Marthas Servierwagen eine Kanne Kaffee und einen Krug Orangensaft.
Wenn mein Kollege Alex hier ist, übertrage ich ihm alle Aufgaben, die mit Linda zu tun haben. Als ich vor vier Jahren die Leitung der Patisserie im Elisabethhof übernommen habe, stellte ich ihn kurze Zeit später ein. Obwohl ich offiziell seine Vorgesetzte bin, pflegen wir ein sehr freundschaftliches Verhältnis, auch außerhalb der Arbeit.
Ich schiebe den Servierwagen zur Rezeption. Bei jeder Unebenheit klirrt das Geschirr. Leider habe ich vergessen, meine Kochjacke zu bügeln. Sie ist total zerknittert und lässt sich auch nicht glätten, indem ich über den Stoff streiche und fest daran ziehe. Am meisten stören mich jedoch die verfluchten Slipper. Die Hoffnung, meine zerzausten Haare in Form zu bringen, habe ich für heute längst begraben.
Linda erwartet mich bereits mit vor der Brust verschränkten Armen im Büro hinter der Rezeption. Sie wirkt wie immer makellos in der dunklen Uniform mit passendem Halstuch und perfekt sitzender Frisur. Heute trägt sie ihre rotblonden Haare streng zurückgekämmt zu einem Dutt, der ihre hohen Wangenknochen betont. Eine dünne goldene Spange ziert ihren Seitenscheitel. Am Tisch gegenüber sitzt Sissi, die seit ein paar Monaten ebenfalls im Empfang arbeitet. Sissi ist klein und sieht mit Anfang zwanzig wesentlich jünger aus, als sie ist. Das liegt sicher an den großen blauen Augen, dem braven Haarschnitt und dem unschuldigen Gesichtsausdruck. An ihrem ersten Arbeitstag fragte unser Concierge Martin, ob sie ihre Eltern suche. Bislang hat Lindas abschätziger Ton nicht auf sie abgefärbt, und ich hoffe, es bleibt so. Eine zweite Linda kann hier niemand gebrauchen.
Ich grüße freundlich, platziere den Servierwagen und will gleich wieder verschwinden. Nicht nur, weil ich keine Zeit, sondern auch, weil ich keine Lust auf Lindas überflüssige Bemerkungen habe.
»Schicke Frisur«, meint diese jedoch, ehe ich entkommen kann. Sie steht auf und lehnt sich mit der Hüfte an den Bürotisch.
Sissi sieht mich erschrocken an. Ihre Finger umklammern das Clipboard so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten.
»Das ist nicht für uns«, sagt Linda und deutet mit tadellos manikürtem Zeigefinger auf den Servierwagen. »Es gehört dem Gast, der hinten in der Lobby sitzt. Danke!«
Ihr Danke klingt gekünstelt, und ich wünschte, es würde ihr im Hals steckenbleiben.
»In fünf Minuten beginnt das Frühstück«, stelle ich verwundert fest, »kann er nicht …«
»Nein, kann er nicht«, fällt mir Linda mit ihrer zuckersüßen Stimme ins Wort. »Er ist ein spezieller Gast. Kein Hausgast.« Sie macht eine Handbewegung, die mich auffordern soll zu gehen.
Widerwillig schlucke ich meinen Groll hinunter und schiebe den Servierwagen in die Lobby.
Um diese Zeit ist hier nicht viel los. Vor der Rezeption stehen die barocken Sessel unbenützt zwischen den Stehlampen mit Messingfüßen und den beigefarbenen Schirmen, die den Bereich zusätzlich zu den Deckenlampen erhellen. Nahezu geräuschlos rollt der Wagen über den roten Teppich mit goldenen Ornamenten, der in der gesamten Hotelhalle ausgelegt ist. Vorbei an der geschwungenen Treppe, die in den ersten Stock führt, komme ich in den hinteren Teil der Lobby. Hier stehen den Gästen Mahagonitische und gepolsterte Stühle zur Verfügung. Am Nachmittag finden sich in diesem Bereich etliche der Besucher gern zu Kaffee und Kuchen ein.
Vier weiße Steinsäulen, die über die offene Galerie bis zur Decke im ersten Stock hinaufragen, grenzen die Lobby ein. Tief hängende Kristallleuchter tauchen die Halle in ein warmes, goldenes Licht.
An einem der Tische sitzt ein Mann, dessen Gesicht hinter einer überdimensionalen Tageszeitung verschwindet. Nur sein dunkles, gewelltes Haar ist zu erkennen, ordentlich zur Seite gekämmt. Nur eine kleine Locke sträubt sich und hängt ihm vorwitzig in die Stirn. Er trägt einen Anzug und hat sein rechtes Bein lässig über das linke geschlagen. Sicher ein Geschäftsmann, denke ich, wie die meisten im Hotel. Einer dieser typischen Unternehmer, die eine Nacht hier verbringen, geschäftlichen Terminen in der Wiener Innenstadt nachgehen und dann in der Business Class zurück zu ihren Familien fliegen.
»Einen schönen guten Morgen«, sage ich, als ich mit dem Servierwagen bei ihm ankomme. »Sie haben ein Frühstück bestellt?«
Ohne von seiner Zeitung aufzublicken, nickt er und bleibt zurückgelehnt in dem Polsterstuhl sitzen.
Ich räume das Frühstück vom Wagen auf den Tisch und wünsche ihm einen guten Appetit. In dem Moment faltet er die Zeitung zusammen und blickt auf. Seine fast schwarzen Augen unter dichten Augenbrauen in einem kantigen Gesicht mustern mich streng, beinahe missbilligend. Ein Dankeschön kommt ihm nicht über die Lippen. Immer noch rührt er sich nicht und lässt das Frühstück unbeachtet.
Also wirklich! Sehe ich so fürchterlich aus? Ich muss dringend eine Bürste und einen Haargummi auftreiben.
»Bitte sehr«, murmle ich, als hätte er sich bedankt, und rolle mit dem Servierwagen so schnell wie möglich davon. An der Rezeption sehe ich Linda, die mich mit Argusaugen beobachtet.
***
Eine Stunde später kann ich mich endlich meinen eigenen Bedürfnissen widmen. In der hintersten Ecke der Patisserie lasse ich mich mit einem Stück Marillenroulade erschöpft auf eine leere Kiste sinken. Gierig verschlinge ich die Süßspeise, ohne darauf zu achten, wie viele Brösel danebenfallen. Sie schmeckt viel zu gut, und ich nehme mir nicht die Zeit, erst herunterzuschlucken, bevor ich erneut hineinbeiße. Für eine so einfache und schnelle Mehlspeise ist die Biskuitroulade wirklich köstlich. Ich sollte mir gleich noch ein Stück holen.
»Das hier ist unsere Küche.« Lindas Stimme dringt bis in den hintersten Winkel der Backstube.
Irritiert hebe ich den Kopf und sehe, wie Nicki unauffällig ihre Stöpsel aus den Ohren zieht und in ihrer Jackentasche verschwinden lässt. Als sei nichts gewesen, fährt sie seelenruhig fort, den Kaiserschmarrn zu zerteilen.
Neben Linda steht ein Mann in maßgeschneidertem grauem Anzug. Der letzte Bissen bleibt mir im Hals stecken. Es ist derselbe Mann, dem ich heute Morgen das Frühstück serviert habe. Seinen strengen Blick erkenne ich sofort wieder. Seit wann führt Linda unsere Gäste in die Mitarbeiterbereiche des Hotels? Ich ziehe meinen Kopf ein und hoffe, die beiden verschwinden gleich wieder.
»Liebe Kollegen«, beginnt Linda wichtigtuerisch. »Ich darf euch Daniel Eppensteiner vorstellen. Er wird zukünftig die Position von Richard Auer übernehmen.«
Wie bitte? Das soll der Nachfolger unseres Hotelleiters sein? Richard hat vor seiner Abreise nicht erwähnt, dass es schon einen Kandidaten gibt. Abgesehen davon, dass der hier auftaucht, während sich Richard auf Dienstreise befindet.
Hastig schiebe ich die auf dem Boden verteilten Brösel mit meinem nackten Fuß unter die Anrichte. Während meines Sprints mit dem heißen Blech in der Hand habe ich vorhin einen Schuh verloren. Der zweite ist dann im hohen Bogen in der nächsten Ecke gelandet.
In der Hoffnung, dass Eppensteiner nicht bis in diesen Teil der Küche kommt, kauere ich mucksmäuschenstill unter der Anrichte. Als ich höre, wie er sich jedem persönlich vorstellt, ziehe ich erneut am Saum meiner Kochjacke, um die starken Falten zu glätten.
»Das ist Fridolin Gruber, der Lehrling der Konditorei«, erklärt Linda, die bedrohlich nahe klingt. Mit hoher Stimme, die vermuten lässt, er sei gerade in Stimmbruch, begrüßt Fridolin den zukünftigen Hotelleiter.
Ich halte die Luft an und bete, dass sie mich vergessen.
»Wo ist Charlie? Sie muss doch hier irgendwo sein.«
Als ich vorsichtig über die Kante der Anrichte schiele, sehe ich Lindas rotblonden Schopf, der sich in meine Richtung bewegt. Es ist zu spät.
»Da ist sie ja!«, ruft Linda, überaus erfreut, mich so vorzufinden. Am liebsten würde ich ihr ein Stück Biskuitroulade entgegenwerfen, doch ich habe keines zur Hand.
Also springe ich auf und versuche, einen professionellen Eindruck zu machen. So professionell, wie es mit zerzaustem Haar, zerknitterter Kleidung und barfuß möglich ist.
Eppensteiner schiebt überrascht eine Augenbraue in die Höhe, als er mich sieht.
»Charlotte Paul«, sage ich selbstbewusst und nehme seinen kräftigen Händedruck entgegen. Mit einem freundlichen Lächeln versuche ich, über mein chaotisches Auftauchen hinwegzutäuschen. »Ich bin die Patissière des Hauses.« Ohne überheblich sein zu wollen, finde ich den Begriff in einem Fünfsternehotel angebrachter als »Konditorin«.
»Sehr erfreut«, sagt Eppensteiner, auch wenn er keineswegs erfreut klingt. Sein Blick fällt auf meine bloßen Füße. »Und als Patissière ist es üblich, barfuß zu arbeiten?«
Sprachlos starre ich auf meine blanken Zehen, die Kati am vergangenen Wochenende mit einem hässlichen, pinkfarbenen Nagellack lackiert hat. »Normalerweise nicht«, antworte ich verlegen. Ohne die leiseste Regung mustert er mich weiter. Am liebsten würde ich im Erdboden versinken.
»Konntest du noch ausreichend Semmeln besorgen, nachdem du die Lieferung verschlafen hast?« Mit einem scheinheiligen Lächeln steht Linda hinter ihm und sieht mich triumphierend an.
Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich ihre Demütigung ärgert. Diese Genugtuung werde ich ihr nicht geben.
»Es war alles rechtzeitig angerichtet«, versichere ich, auch wenn es nicht ganz stimmt. Die Biskuitroulade kam mit einer kleinen Verspätung zum Buffet.
»Ein Gast bemerkte, dass das gestrige Frühstücksbuffet mehr Auswahl an Süßspeisen hatte«, stichelt Linda. Sie kann es nicht lassen, mich vor dem zukünftigen Hotelleiter bloßzustellen.
»Martha hat mir bestätigt, dass alle Gäste zufrieden waren.« Meine Stimme verliert an Überzeugungskraft. Ich fühle mich wie in einem Kreuzverhör. Jedoch gibt es hier nur zwei böse Cops. Wo ist der gute?
»Es wäre schön, wenn du von jetzt an pünktlich zur Arbeit erscheinst«, fügt Linda mit geheucheltem Wohlwollen hinzu. Als ob es sie etwas angehen würde. Miststück!
»Wie sonst auch«, entgegne ich kleinlaut. Das war das erste Mal, dass ich überhaupt zu spät kam. Wenn Jasmin nicht den ganzen Abend auf meinem Handy nach Bildern von Channing Tatum und Ryan Reynolds gesucht hätte, wäre der Akku nicht über Nacht leer gewesen. Ich benutze das Handy auch als Wecker, der somit leider nicht funktionierte. Und das nur, weil Jasmin wissen wollte, wer von den beiden heißer ist.
»Darf ich Ihnen nun unseren Speisesaal zeigen?«, setzt Linda an Herrn Eppensteiner gewandt fort und geht zur Tür. »Auch das ist einer der Bereiche, um die ich mich kümmern muss.« In ihrem selbstzufriedenen Geschwafel bemerkt sie gar nicht, dass er stehen geblieben ist.
»Sagen Sie, Charlotte …« Er greift an meinem Ohr vorbei, wobei mir der Geruch eines teuren Männerparfums in die Nase steigt. »Ist das ein Küchenutensil?« Er hält mir eine giftgrüne Papillote vor die Nase.
Verblüfft öffne ich den Mund. Ich hatte das Teil die ganze Zeit im Haar? Ich spüre, wie meine Wangen heiß werden. Schnell schnappe ich die Papillote und lasse sie hinter meinem Rücken verschwinden. »Ja … nein.« Es ist, als würde ein unsichtbares Seil meinen Hals zuschnüren. »Damit machen wir die Löcher in die Donuts.« Ich nicke, als würde das meine Erklärung bestätigen. »Ich weiß gar nicht, wie das da hingekommen ist.«
»So, so.« Er lässt seinen eiskalten Blick noch eine Sekunde auf mir verharren, ehe er sich abwendet, um Linda zu folgen.
Ich hole erleichtert Luft, doch dann bleibt er stehen und dreht sich erneut zu mir um.
»Ach, übrigens«, er tippt sich mit dem Zeigefinger ans Kinn, »ich würde Sie bitten, in Zukunft den Parkplatz der Hotelleitung frei zu halten.«
Im Hintergrund steht Linda in der Tür und beobachtet uns mit breitem Grinsen.
Mir dreht sich der Magen um. Die schwarze Limousine in der Garage war kein verirrter Gast, sondern Daniel Eppensteiner, Richards Nachfolger im Hotel.
Neben dem Türrahmen steht Fridolin, der mich ansieht, als wäre ich ein Geist.
»Hättest du mir nicht sagen können, dass ich das in den Haaren habe?«, frage ich ihn vorwurfsvoll, als Eppensteiner die Küche verlassen hat. Ich hole aus und werfe die Papillote gezielt in Fridolins Richtung.
»Ich dachte, das gehört so«, antwortet er kleinlaut, und binnen Sekunden werden seine Wangen wieder leuchtend rot.
Ich seufze und wünsche, ich hätte ein Lehrmädchen eingestellt. Die hätte gesagt, wie albern ich damit aussehe.
***
Es hat mich ganz schön viel Zeit und Aufwand gekostet, das morgendliche Haardesaster auszubürsten und mich halbwegs akzeptabel zu frisieren. Mit ausreichend Haarnadeln sieht es sogar nach einer richtig schicken Hochsteckfrisur aus.
»Mir gefällt dieser freche Look«, sagt Eddie, mein Freund, als ich ihn abhole. Er denkt wohl, die heraushängenden Strähnen seien Absicht. Sein strohblondes Haar ist wie immer ordentlich gekämmt und an den Seiten kurz geschnitten. Über seinem Hemd und der dunklen Stoffhose trägt er einen eleganten Tweedmantel. Eigentlich bevorzugt Eddie in seiner Freizeit bequeme, schlichte Kleidung, doch bei seinen Eltern präsentiert er sich stets geschniegelt und gestriegelt. Weil es für März noch ziemlich kühl ist, habe ich mich gegen ein Kleid und für eine dunkelblaue Jeans mit Stiefeln und einen beigen Strickpullover entschieden. Meiner Meinung nach ist das fein genug für ein Abendessen bei seinen Eltern.
Nachdem mir keine Ausreden eingefallen sind, musste ich zu diesem Termin zusagen. Ich bin wirklich ungerne bei ihnen zu Gast. Ihr Haus ist im Vergleich zu der Wohnung meiner Eltern eine andere Welt. Statt einer überfüllten 80-Quadratmeter-Wohnung in Wien Ottakring bewohnen Eddies Eltern eine riesige, superschicke Villa am Stadtrand in Döbling.
»Scheint wohl wichtig zu sein, wenn deine Mutter so auf einem Treffen beharrt«, sage ich, als wir in Eddies Auto sitzen und uns durch den dichten Abendverkehr schlängeln. Ansonsten stört es sie nicht, wenn ich mich mit erfundenen Ausreden vom Familienessen entschuldige.
»Hm«, antwortet er nur knapp und legt seine Hand auf mein Knie. Als wir an einer Ampel halten, zwinkert er mir kurz zu. »Du könntest danach bei mir schlafen. Wir hatten schon lange keinen Abend zu zweit mehr.«
Was in erster Linie daran liegt, dass Eddies und meine Dienstzeiten ständig kollidieren. Er arbeitet als Redakteur bei einem Fernsehsender und ist oft unterwegs, um Beiträge zu erstellen.
»Ich hab morgen Frühschicht«, sage ich.
Nicht, dass ich nicht bei Eddie übernachten will, aber von seiner Wohnung aus brauche ich 20 Minuten länger bis zum Hotel. Bei einem Dienstbeginn um halb sieben in der Früh ist das beachtlich. Abgesehen davon will ich unbedingt pünktlich sein, um bei Eppensteiner mein Image aufzubessern.
»Dann muss ich dich nach dem Abendessen in mein altes Zimmer entführen«, sagt Eddie entschlossen, während er durch die Döblinger Straßen fährt. »Versnobte Wiener Vorstadtgegend«, würde mein Kollege Alex sagen. Alex ist in ähnlich einfachen Verhältnissen aufgewachsen wie ich.
»Das hättest du wohl gerne«, kichere ich. Der Gedanke gefällt mir, doch wie ich seine Mutter Heidrun kenne, wird sie uns keine fünf Minuten Ruhe gönnen.
Wir stehen vor dem riesigen, weißen Eingangstor. Ich hole noch einmal tief Luft, ehe Eddie die Klingel drückt. Er lächelt mich von der Seite an, und ich gestehe, dass sein umwerfendes Gesicht mich alles andere vergessen lässt. Selbst seine grauenhaften Eltern. Eddie sieht einfach zu gut aus. Er hat diesen Surfer-Look, der mich jedes Mal dahinschmelzen lässt: eisblaue Augen, hellblondes Haar und eine wunderschöne Bräune das ganze Jahr über.
»Eduard!«
Seine Mutter Heidrun fällt ihm um den Hals und küsst ihn, als hätte sie ihn wochenlang nicht gesehen. Dann erblickt sie mich und nickt mir schmallippig lächelnd zu.
»Charlotte.« Sie verzieht das Gesicht zu einer Fratze. »Ist es so windig? Deine Frisur ist ganz zerzaust. Du kannst dich gerne im Bad frisch machen.«
Ich sehe hilfesuchend zu Eddie, doch der zuckt nur mit den Schultern und hilft mir aus dem Mantel.
»Oh, hat Eddie dir denn nicht erzählt, dass es ein besonderer Anlass ist?«
Abschätzig betrachtet sie meine Kleidung. Sie selbst trägt ein schickes, beiges Kostüm und eine Perlenkette. Ihre kurzen, blonden Haare sind wie üblich frisch drapiert. Keine Strähne wagt es, nicht genau dort zu liegen, wo ihr Platz ist. Dank einer ganzen Ladung Haarspray ist das auch nicht möglich.
Heidrun seufzt, dreht sich um und geht vor ins Wohnzimmer.
»Soll ich?«, frage ich leise und deute auf die Tür zum Gästebad.
»Blödsinn!« Eddie legt seine Hand um meine Taille und zieht mich an sich. »Nur wenn ich mitkommen und dir die Kleider vom Leib reißen darf«, raunt er mir ins Ohr und beißt mich sanft in den Hals. Ich spüre seinen heißen Atem auf meiner Haut.
»Schluss jetzt!«, mahne ich und presse meine Fäuste gegen seine Brust. Er wird mit seinen Anspielungen nicht aufhören, bis er bekommen hat, was er will.
Wir folgen Heidrun in den Wohnbereich. Auf einem hellen Sofa sitzt Eddies Vater Wolfram mit einem Glas Kir Royal in der Hand. Als er uns bemerkt, runzelt er die Stirn, als hätte er nicht mit unserem Erscheinen gerechnet. Unwillig steht er auf und schüttelt uns beiden die Hand.
»Eduard. Charlene.«
Wolfram nennt mich Charlene. Ich glaube, weil er Charlotte nicht extravagant genug findet. Die Familie legt großen Wert auf außergewöhnliche Namen. Deswegen heißen Heidruns und Wolframs Kinder auch Eduard und Cordula. Während Eddie außerhalb der Familie gerne mit seinem Kosenamen angesprochen wird, gibt es für Cordula keine passende Alternative. Laut Eddie wollte sie zu Schulzeiten Cordi genannt werden, doch das setzte sich nicht durch. Zum Glück, wie ich finde.
»Deine Schwester muss auch gleich hier sein«, sagt Heidrun, die partout nicht Heidi genannt werden will. Ich habe es einmal versucht, aber sie meinte, das wäre eine Verhunzung ihres Namens.
»Wollt ihr etwas trinken?«
Wolfram, der auch keine Abkürzungen mag, wendet sich der Hausbar zu und schenkt, ohne zu fragen, ein. Schon jetzt zieht sich mein Magen zusammen. Wenn Wolfram sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist er nicht mehr davon abzubringen. So wie der Name Charlene für mich. Leider glaubt Wolf – wie ich ihn insgeheim nenne –, Pastis sei mein Lieblingsdrink. Dabei wusste ich vor unserem Kennenlernen nicht einmal, was das ist.
»Mögen Sie Pastis?«, fragte er, als ich das erste Mal im Haus zu Gast war.
Ich dachte, er kenne die Mehrzahl von Pasta nicht und habe höflich genickt. Seit dem Tag bekomme ich jedes Mal vor dem Essen einen ekelhaft würzigen Pastis als Aperitif.
»Die Franzosen mögen ein eigentümliches Volk sein, doch was ihre Alkoholika betrifft, sind sie unübertroffen«, pflegt Wolf zu sagen.
Eddie bekommt wie üblich einen Martini. Ich würde alles tun, um mit ihm tauschen zu können.
»Seht, wer gekommen ist!«, ruft Heidi entzückt und kommt mit Eddies Zwillingsschwester Cordula und deren Freund Benedikt in den Raum.
Benedikt passt wesentlich besser in Eddies Familie als ich. Das liegt nicht nur an seinem Namen, sondern auch daran, dass er groß und blond ist. Wie die gesamte Familie, bis auf Wolfram, dessen schütteres Haar mittlerweile ergraut ist.
Alex nennt sie immer »Die Addams Family in Blond«, auch wenn er sie nur aus meinen Erzählungen kennt. Er ist der Einzige, der sich mein Gejammer über Eddies Familie geduldig anhört. Kati und Jasmin meinen, die Familie kann man sich nicht aussuchen, und Eddie sei immerhin ein guter Fang. Womit sie Recht haben.
»Liebling, schenkst du bitte Champagner ein«, weist Heidi Wolf an und klatscht freudig in die Hände, als hätte sie etwas zu verkünden. Ihr Blick schweift über mein Glas Pastis. Sie verzieht das Gesicht, als hätte sie Zahnschmerzen.
»Wie du das nur trinken kannst.«
»Charlene hat eben einen guten Geschmack«, brummt Wolf in seinen weißen Schnurrbart. »Wie man auch an unserem Sohn sieht.«
Er lächelt mir zu, auch wenn ich nicht sicher bin, ob das nett gemeint ist.
»Ja, da hört es aber auch schon auf«, fügt Heidi hinzu und blickt auf meine Jeans. Fehlt nur noch, dass sie sagt, Eddies Frauengeschmack sei miserabel.
Cordula und Benedikt begrüßen uns höflich. Cordula ist nach Eddie die Normalste in dieser Familie. Was nicht heißt, dass ich ihr nicht mit einer gewissen Vorsicht begegne. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie sich über mich lustig macht. Heute trägt sie ein hochgeschnittenes Kleid in der Farbe Taupe, das zu ihrem langweiligen, geraden Haarschnitt passt. Benedikt hingegen sieht in seinem karierten Hemd und dem senffarbenen Pullunder nicht nur wie ein richtiger Kotzbrocken aus, sondern er ist meiner Meinung nach auch einer. Das finde aber nur ich. Der Rest der Familie ist begeistert von ihm. Abgesehen davon, dass er Frauen während des Gesprächs prinzipiell ins Dekolleté glotzt – was außer mir scheinbar niemandem auffällt –, lässt er mindestens genauso viele herablassende Kommentare über meinen Beruf fallen wie Heidi.
»Es gibt tolle Neuigkeiten«, sagt Eddies Mutter und sieht zwischen Cordula und Benedikt freudestrahlend hin und her.
»Wir sind verlobt!«
Kichernd hält Cordula ihre linke Hand hoch und präsentiert einen klassischen weißgoldenen Verlobungsring. Der weiße Stein in der Mitte funkelt im Licht des über dem Tisch hängenden Kristallleuchters.
»Gratuliere!«, sagen Eddie und ich wie aus einem Munde. Ich setze ein freundliches Lächeln auf, auch wenn ich absolut nicht verstehe, was Cordula an Benedikt findet. Dieser aalglatte Typ mit seinem unsympathischen grunzenden Lachen.
Sehr zur Freude seiner Eltern ist Benedikt Arzt, wie auch Wolfram, und damit überaus willkommen in der Familie.
»Und wann wird geheiratet?«, erkundigt sich Eddie und nippt an seinem Champagner.
»Im Herbst.« Cordula klimpert Benedikt mit ihren langen Wimpern verliebt an. »Wir stecken mitten in der Planung. Es gibt so viel zu tun.«
»Ich kann gerne bei der Torte helfen«, biete ich zuvorkommend an. Als Konditorin ist das schließlich keine große Sache für mich. Viele Kollegen bitten mich um Torten für private Feiern.
»Das lassen wir mal lieber einen Profi machen«, sagt Heidi und schenkt mir einen herablassenden Blick. »Kommt, gehen wir zu Tisch.«
Noch bevor ich etwas entgegnen kann, schiebt Eddie mich in das Esszimmer. Obwohl ich ihn verdattert ansehe, scheint er nicht zu bemerken, wie sehr mich diese Aussage kränkt.
An den Wänden rund um den langen Mahagonitisch hängen unzählige golden gerahmte Bilder von der Familie. Wann immer Eddie auf einem Foto abgebildet ist, ist auch Cordula darauf zu sehen. Bei Zwillingen ist das anscheinend so üblich. Ebenso, dass man sie gleich kleidet. Heidi hat für besondere Anlässe schicke Kleidung für ihre Kinder aus demselben Stoff nähen lassen. So gibt es ein Foto von Eddie in blaukarierter Stoffhose mit dazu passender Schirmkappe und Cordula im blaukarierten Kleidchen. Auf einem anderen Foto tragen sie beide einen Matrosenanzug, nur dass Cordula einen weißen Rock statt der Bermudas anhat. Diese grässlichen Outfits nehmen erst ein Ende, als die beiden längst Teenager sind. Scheinbar konnten sie da endlich ihre eigenen Kleiderwünsche durchsetzen.
Während der Vorspeise – Blätterteig-Spinat-Lachs-Röllchen – und der Hauptspeise – Lammkeulen mit Ratatouille-Couscous – dreht sich das Gespräch ausschließlich um die Hochzeit. Eigentlich reden nur Heidi und Cordula. Ab und zu wirft Benedikt einen überflüssigen Kommentar ein, gefolgt von seinem grunzenden Lachen. Einmal sagt er: »Die Liebe ist das Licht des Lebens. Die Ehe ist die Stromabrechnung.« Oder: »Das Geheimnis einer glücklichen Ehe wird wohl immer geheim bleiben.«
Erst zur Nachspeise – Esterházytorte – wechseln sie das Thema. Ich nehme nur ein schmales Stück Torte, weil Heidis Backkünste wenig beeindruckend sind. Auch wenn sie selber stets vehement das Gegenteil behauptet.
»Die habe ich heute zwischen Kaffeeaufbrühen und Frühstück gebacken«, verkündet sie, als sie die Torte verteilt, und sieht mich mitleidig an. Hätte Benedikt in diesem Moment nicht davon erzählt, dass er die Flitterwochen am Kilimandscharo-Massiv verbringen will, hätte sie wahrscheinlich wie üblich hinzugefügt: »Zum Backen braucht man doch keine eigene Ausbildung. Das ist selbstverständlich für eine Frau, das lernt man von seiner Mutter. Wie das Kochen, nicht wahr, Charlotte?«
Eddie pflegt leider zu oft zu erwähnen, dass ich zwar ausgezeichnet backen kann, im Kochen jedoch eine Niete bin. Wenigstens meine Esterházytorte ist besser als ihre. Ich sollte im Hotel wieder mal eine backen.
Benedikt schwärmt davon, wie großartig es sei, den höchsten Berg Afrikas, den Kibo, mit nichts als einem Rucksack zu besteigen. Cordula nickt tapfer, sieht aber nicht so begeistert aus. Ich kann mir auch Schöneres vorstellen, als meine Flitterwochen mit Bergsteigen zu verbringen. Mein Mitgefühl mit Cordula hält sich jedoch in Grenzen. Schließlich hat sie sich diesen Mann freiwillig ausgesucht.
»Eduard, weißt du, was ich erfahren habe?«, sagt Heidi plötzlich aufgeregt. »Magdalena kommt nächste Woche von ihrem Auslandsaufenthalt in Australien zurück. Wie schnell die drei Jahre vergangen sind, nicht wahr? Du kannst sie doch zum Kaffee einladen.« Mit einem Zwinkern in Eddies Richtung schiebt sie sich einen Bissen Esterházytorte in den Mund. »Köstlich, nicht wahr, Charlotte?«
»Wenn man bedenkt, dass im Originalrezept kein Vanillepuddingpulver vorkommt und es fünf dünne Lagen Tortenboden sind anstelle von drei dicken«, hätte ich sagen sollen, doch ich nicke nur mit falschem Lächeln und überlege, was schlimmer ist, Heidis Esterházytorte oder Wolframs Pastis.
»Magdalena würde sich bestimmt freuen«, drängt Heidi, nachdem Eddie sich nicht dazu geäußert hat. »Sie hat doch jetzt niemanden mehr hier, nachdem sie so lange weg war.«
Magdalena ist Eddies Ex-Freundin, mit der er vor mir zusammen war. Als sie ein auf drei Jahre befristetes Jobangebot in Australien bekam, trennten sie sich. Magdalena kommt wie Eddie aus betuchteren Verhältnissen und ist, wie Cordula, Architektin. Abgesehen davon ist sie blond.
Nach dem Dessert schlägt Heidi vor, zur Feier des Tages Margaritas zu mixen.
»Ihr könnt euch schon mal in den Salon setzen.«
Damit meint sie das Wohnzimmer. Bei meinen Eltern heißt das Wohnzimmer Wohnzimmer, weil es auch so aussieht. Vollgestopft mit unzähligen selbstgebastelten Geschenken von meinen Geschwistern, meinem Neffen und mir. Dazwischen hässliche Porzellankatzen, die meine Mutter liebt, und jede Menge anderer Krimskrams, den niemand braucht. Im Vergleich dazu ist Heidruns Wohnzimmer tatsächlich ein Salon. Ich wette, dass hier noch nie ein selbstgemaltes Bild von Eddie oder Cordula an der Wand hing.
»Ich muss noch schnell etwas mit Charlie besprechen«, sagt Eddie und zieht mich an der Hand mit sich. »Wir sind kurz in meinem Zimmer.«
Noch bevor ich protestieren kann, führt er mich die Treppe hoch in sein altes Kinderzimmer, das wahrscheinlich größer ist als die Wohnung meiner Eltern.
Wenn er wirklich denkt, ich hätte nach all diesen Sticheleien noch Lust auf Sex, hat er sich getäuscht. Kaum ist die Türe zu, zieht er mich an sich und küsst mich auf den Mund. Er steckt seine Hände in meine hinteren Hosentaschen und drückt mich an sich.
»Wir müssen uns beeilen«, raunt er zwischen seinen Küssen.
»Wir müssen gar nichts.«
Ich schiebe ihn weg und wende mich ab.
Hinter mir höre ich ihn genervt seufzen.
»Du denkst doch nicht, dass ich nach all den Bemerkungen noch Lust auf Sex habe, oder?«, sage ich und wette, er verdreht gerade die Augen.
»Welche Bemerkungen?«, fragt er und schlingt seine Arme von hinten um meinen Bauch. Seine warmen Lippen küssen meinen Nacken, und für einen Moment bin ich unentschlossen, ob ich mich darauf einlassen soll. Doch dann fallen mir Heidruns Worte ein, als ich um das schmale Stück Esterházytorte bat. Bis zur Hochzeit hast du noch genug Zeit abzunehmen. Nicht alle Frauen sind solche Bohnenstangen wie Heidi und Cordula. Ich habe keine Lust, ihre Worte zu wiederholen.
»Warum, glaubst du, spricht sie von Magdalena?« Diese Frage kann ich mir wirklich nicht verkneifen. »Warum sagt sie nicht gleich, sie wünschte, du würdest sie zurücknehmen?«
»Das ist doch Unsinn.« Eddie dreht mich zu sich und legt seine Hand auf meine Wange. Er lächelt mir aufmunternd zu, doch ich weiß, er will sagen, dass ich mir das nur einbilde.
»Eduard! Charlotte!« Heidis fürchterliche Stimme bellt durchs ganze Haus. »Die Margaritas sind fertig!« Als wir Schritte auf der Treppe hören, lässt Eddie von mir ab.
»Ich hab doch gesagt, das geht sich nicht aus«, murmle ich und streiche meinen Pullover glatt.
»Ich wäre längst fertig«, entgegnet Eddie grinsend. Als ich die Augen verdrehe, fügt er noch hinzu: »Es ist ja schon ewig her.«
Dann macht er die Türe auf und lässt mir den Vortritt.
»Zwei Wochen!«, sage ich im Vorbeigehen.
»Da seid ihr ja!«
Heidi sieht mich so an, als wüsste sie, was wir vorhatten. Nur dass der Vorwurf einzig mir gilt. Ich glaube, ihre größte Sorge ist, ich könnte sie zur Großmutter machen.
Wenig später sitzen wir auf den beigen Sofas im Salon und schlürfen unsere Margaritas. Wenn Heidi etwas kann, dann kochen und Cocktails mixen. Nur beim Backen wage ich zu behaupten, wirklich besser zu sein.
»Magdalenas Mutter hat mir ein Foto von ihr gezeigt. Sie sieht bezaubernd aus.« Sie kann es nicht lassen und fasst Eddie an den Arm, um seine Aufmerksamkeit zu erhaschen. »In Australien ist gerade Sommer, und sie ist ganz braun gebrannt. Ach, sie würde gut an deine Seite passen.«
Eddie wirft mir einen kurzen Blick von der Seite zu und zuckt mit den Schultern. Vielleicht sollte er seiner Mutter sagen, dass er erstens schon eine Freundin hat und zweitens diese genau danebensitzt.
»Sie wird in der Innenstadt ein Architekturbüro eröffnen. Ist es nicht schön zu sehen, dass aus dem entzückenden, kleinen Mädchen eine so erfolgreiche, schöne Frau geworden ist? Stimmt’s, Wolfram?«
Ihr Mann knurrt nur, ohne zu wissen, was sie überhaupt gesagt hat. Er wendet sich wieder Benedikt zu, mit dem er über die Arbeit im Krankenhaus spricht. Cordula telefoniert währenddessen nebenan mit einer Tante, um auch ihr die Neuigkeit mitzuteilen.
Magdalena ist ein paar Häuser weiter aufgewachsen. Sie und Eddie kennen sich von klein auf und sind zusammen in die Schule gegangen. Schon mit sechzehn waren sie ein Paar und blieben das zehn Jahre lang. Heidi hatte wohl schon auf eine Hochzeit und kleine blonde Enkelkinder spekuliert, doch dann kam Magdalenas Auslandsaufenthalt. Dass ausgerechnet ich in Eddies Leben trat, war Heidis größter Rückschlag. So ähnlich hat sie es jedenfalls vor einigen Monaten auf einer Familienfeier ausgedrückt.
»Charlotte?« Selbst Benedikt kann sich nicht angewöhnen, Charlie zu sagen. »Kommende Woche haben wir einen Termin im Demel am Kohlmarkt. Kannst du die für eine Hochzeitstorte empfehlen?«
Sein Blick ist eindeutig auf meine Oberweite gerichtet, auch wenn ich einen hochgeschnittenen Pullover trage.
Die Konditorei Demel gilt als eine der besten des Landes. Aber auch als eine der teuersten. Ohne zu wissen, wie viel sie dafür zahlen würden, antworte ich: »Ich denke, es gibt auch andere gute Konditoren, die günstiger backen.«
Mich zum Beispiel.
»Papperlapapp!« Heidi schlägt die Hände zusammen und wirft mir einen vernichtenden Blick zu. »Am Preis soll es nicht scheitern. Meine Tochter wird die beste Hochzeitstorte vom besten Konditor bekommen.«
»Sie hat recht«, stimmt Benedikt zu. »Ohne Moos nichts los.«
»Charlie kann wirklich gut backen«, wirft Eddie ein und zwinkert mir zu. Wenn er glaubt, damit als Held dazustehen, täuscht er sich. »Sie backt ständig Torten. Die sehen klasse aus und schmecken gut.«
»Bei allem Respekt.« Den hat Heidi bestimmt nicht. »Dann könnte Cordula ja gleich selbst backen. Sie backt ausgezeichnet, und während Charlotte dazu eine Ausbildung brauchte, hat Cordula studiert.«
***
»Kommst du noch mit zu mir?«
Eddie startet den Motor und lenkt sein Auto aus der Einfahrt.
Mit verschränkten Armen sitze ich neben ihm und starre in die vorbeihuschenden Lichter der Straßenlaternen. »Die Kommentare deiner Mutter waren echt unmöglich.«
»Jetzt geht das wieder los«, murmelt Eddie genervt und stöhnt.
»Du hättest etwas sagen müssen!«
»Hab ich doch!« Seine Hände krallen sich um das Lenkrad. Er hasst es, wenn ich dieses Thema anspreche. Am liebsten wäre ihm, ich würde die Bemerkungen seiner Mutter einfach hinunterschlucken.
»Ich fasse es nicht, dass Heidi es nicht lassen kann, dich mit Magdalena zu verkuppeln. Vor meinen Augen!«
Wie kann er das nur so gelassen hinnehmen?
»Sag nicht Heidi«, mahnt er jedoch. »Da muss ich an Heidi Klum denken, und meine Mutter ist wahrlich keine Heidi Klum.«
»Da hast du recht! Am schlimmsten fand ich ihren Vorschlag, Magdalena solle vorübergehend bei dir wohnen, bis sie eine eigene Wohnung gefunden hat.«
Alleine dafür verfluche ich Heidi.
»Du regst dich wegen ungelegter Eier auf.«
»Ungelegte Eier?« Meine Stimme schnellt in die Höhe. »Soll ich etwa warten, bis sie neben dir im Bett liegt? Ich erinnere dich nur ungern daran, aber du hast kein Gästezimmer.«
»Aber ich habe eine Couch, und jetzt Schluss damit!«
Er dreht das Radio lauter und beißt die Zähne so fest aufeinander, dass die Kiefermuskeln hervortreten.
Als ob er Magdalena auf die Couch verbannen würde. Die ist zwar supermodern, aber absolut ungemütlich. Durch die geschwungene Form hat man ständig Angst hinunterzufallen. Ich weiß, wovon ich rede, immerhin haben Eddie und ich das bereits getestet.
Ich drehe das Radio wieder leiser und frage mit flehendem Unterton: »Kannst du mir versprechen, dass sie nicht bei dir wohnen wird?«
Es würde mich keine Nacht mehr ruhig schlafen lassen.
»Charlie!« Eddie ist sichtlich genervt, dass ich das Thema erneut anschneide. Aber seine Mutter durfte es mehrfach auf den Tisch bringen. »Sie ist eine gute Freundin, und ich werde sie nicht auf der Straße sitzen lassen, nur weil du ein Dickschädel bist.«
Aufgeregt schnappe ich nach Luft. Ich bin doch kein Dickschädel, bloß weil ich nicht will, dass er mit seiner Ex-Freundin zusammenwohnt. Mir steigen Tränen in die Augen. Wie kann er nur so unsensibel sein?
»Kommst du jetzt noch zu mir? Ich bring dich danach auch nach Hause.« Noch genervter hätte er diese Frage nicht stellen können.
»Du spinnst wohl!«
Nach diesem unerfreulichen Abend will ich einfach nur heim. Es ist schon nach neun und stockdunkel.
»Du bist ganz schön zickig. Wenn wir uns ohnehin nie sehen, macht das doch keinen Sinn.«
Sehen ist für ihn gleichbedeutend mit Sex haben.
»Das liegt ja wohl nicht nur an mir«, erwidere ich gereizt. »Wer ist denn ständig unterwegs?«
»Ich arbeite!«
»Ich auch!«
Vor einer Stopptafel bleibt er stehen und holt tief Luft. Er presst die Lippen aufeinander und starrt auf sein Lenkrad. »Vielleicht wäre es besser, wir würden uns eine Weile nicht sehen«, durchbricht er schließlich die Stille.
Als würde man mir ein Messer mitten ins Herz rammen, breitet sich ein unglaublicher Schmerz in meiner Brust aus. Ich wünsche, ich hätte mich eben verhört, doch leider konnte ich ihn nur zu gut verstehen.
»Ist es wegen Magdalena?«, frage ich kleinlaut.
»Nein, wegen dir.« Sein vorwurfsvoller Blick lässt mich zusammenzucken. »Charlie, ich will mich nicht zwischen dir und meiner Familie entscheiden müssen. Entweder du lernst, dich ihnen anzupassen, oder …« Er stockt und starrt das Lenkrad an. Sekunden vergehen, doch Eddie spricht nicht weiter.
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. Meine Panik weicht der Wut, die sich zunehmend in mir aufbaut.
»Damit weiß ich ja, welchen Stellenwert ich habe.«
Ich schnalle mich ab, greife nach meiner Handtasche, die im Fußraum liegt, und steige aus dem Auto.
»Charlie!«
Mit einem Knall stoße ich die Beifahrertür zu und marschiere einfach in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. In dieser Gegend kenne ich mich schon tagsüber nicht aus, und bei Dunkelheit erst recht nicht.
Eine Weile höre ich den Motor von Eddies Auto hinter mir, bis er Gas gibt und einfach davonfährt. Entsetzt drehe ich mich um. Ich stehe auf einer verlassenen Kreuzung, die von zwei hohen Straßenlaternen beleuchtet wird. Hat er mich tatsächlich stehen gelassen? Hier im Nirgendwo? Um diese Uhrzeit?
Die umliegenden Gärten sind von hohen Hecken umgeben. Wer weiß, was sich dahinter befindet. Meine Hände zittern, als ich das Handy aus der Tasche ziehe. Jasmin hat heute Spätschicht, und Kati ist verabredet. Es würde mich wundern, wenn sie um diese Uhrzeit schon zu Hause wäre. Es gibt nur eine Möglichkeit.
Nach zweimaligem Läuten hebt mein Kollege Alex ab.
»Hallo? Charlie ist hier.« Erst jetzt merke ich, wie weinerlich ich mich anhöre. »Kannst du mich bitte holen?«
***
Die ganze Fahrt über reden wir kein Wort miteinander. Er scheint zu wissen, was passiert ist, und lässt mich einfach in ein Taschentuch heulen.
Als wir vor meiner Wohnung ankommen, sehe ich ihn mit verquollenen Augen an. Es ist mir egal, wie erbärmlich ich im Moment aussehe. Wenn jemand so etwas kommentarlos wegsteckt, dann ist es Alex.
»Soll ich dich raufbringen?«, fragt er und lächelt mich an. Das Licht der Straßenlaterne spiegelt sich in seinen braunen Augen.
»Ich bin sicher, Jasmin hat noch eine Flasche Tequila in ihrem Zimmer.«
Das ist genau das, was ich jetzt brauche.
»Alles klar.«
Die Flasche ist nicht schwer zu finden. Jasmin hat sie zwischen ihre dicken Wollsocken gesteckt, von denen sie Dutzende besitzt. Das ist ihr Tick. Richtig dicke Wollsocken, die man sonst nur zum Skifahren trägt oder wenn man krank ist. Kati und ich vermuten, das liegt an ihren Genen. Jasmin hat persische Wurzeln und sich offenbar nicht an die Kälte gewöhnt. Selbst im Sommer trägt sie diese Dinger, hochgezogen bis zu den Knien. Jasmin allerdings meint, das liege nicht an ihren Genen, sondern daran, dass die Heizung in ihrem Zimmer defekt sei. Kati hat ihr vorgeschlagen, sich im Fitnessstudio einen Installateur zu angeln, der ihr die Heizung repariert, doch dann haben sie festgestellt, dass solche Typen nicht ins Fitnessstudio gehen, weil sie es nicht nötig haben.
»Hier ist sie.«
Ich schwenke die Flasche in der Luft, als ich in mein Zimmer komme. Alex hat in der Zwischenzeit zwei Schnapsgläser aus der Küche geholt.
Er sitzt auf dem Teppich vor dem Bett und reibt sich die Hände. Bereit für ein paar Kurze, um den Abend vergessen zu machen. Wir kippen den Tequila in unsere Kehle, und während ich noch warte, bis das Brennen in meinem Mund nachlässt, fragt er: »Was hat der Idiot denn angestellt?«
»Laut Eddie bin ich hier der Idiot. Und laut seiner Mutter, seinem Vater und ihrem zukünftigen Schwiegersohn natürlich auch.«
»Ah, die Addams Family.« Alex nickt verständnisvoll und nimmt mir die Flasche aus der Hand, um nachzuschenken.
»Danach darfst du aber nicht mehr fahren«, sage ich und zeige auf die zwei gefüllten Gläser.
»Dann geh ich halt zu Fuß.« Er hebt sein Glas, und wir stoßen an, ehe wir das Zeug trinken. Zumindest brennt es jetzt nicht mehr so sehr.