Lovett Island. Sommerflüstern - Emilia Schilling - E-Book
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Lovett Island. Sommerflüstern E-Book

Emilia Schilling

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Beschreibung

Gerade erst haben Maci und Trevor wieder zueinandergefunden und Pläne für die Zukunft geschmiedet, als ein Hurrikan alle Glücksgefühle dahinfegt. Der Sturm verwüstet die paradiesische Karibikinsel Lovett Island, und schlimmer noch: Trevor wird vermisst. Für Maci bricht eine Welt zusammen. Blair findet ausgerechnet bei den Menschen Halt, die sie früher abschätzig als Personal abgetan hat. Und Violet macht sich endlich auf die Suche nach ihrer Mutter und findet, wonach sich ihr Herz schon so lange gesehnt hat …

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Seitenzahl: 453

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Buch

Gerade erst haben Maci und Trevor wieder zueinandergefunden und Pläne für die Zukunft geschmiedet, als ein Hurrikan alle Glücksgefühle dahinfegt. Der Sturm verwüstet die paradiesische Karibikinsel Lovett Island, und schlimmer noch: Trevor wird vermisst. Maci ist am Boden zerstört, aber nicht bereit aufzugeben, und begibt sich auf die Suche nach ihm. Blair, die vor Kurzem die Leitung der Insel übernommen hat, steht vor einem Trümmerhaufen. Halt findet sie ausgerechnet bei den Menschen, die sie früher abschätzig als Personal abgetan hat. Doch um Lovett Island wieder zu der beliebten Trauminsel zu machen, braucht sie Geld – viel Geld. Der Einzige, der ihr das geben kann, ist der Mann, an den sie gerade erst ihr Herz verloren hat. Und Violet macht sich mit Brents Hilfe endlich auf die Suche nach ihrer Mutter und findet, wonach sie sich schon ihr ganzes Leben gesehnt hat …

Weitere Informationen zu Emilia Schilling

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

EMILIA SCHILLING

LOVETT ISLAND

Sommerflüstern

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe Oktober 2021

Copyright © 2021 by Emilia Schilling

Copyright © 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Li-Sa Vo Dieu

MR · Herstellung: ik

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-25138-3V002

www.goldmann-verlag.de

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Für Nadine,

weil mit dir das Schreiben noch viel mehr Spaß macht

1.Maci

Der Wind schlug mir entgegen, als ich auf den leeren Landeplatz zulief. Ich hielt mir den Unterarm vor die Augen, um sie vor Kies, kleinen Ästen und Blättern zu schützen. Es war, als wollte der Sturm in einem letzten Aufbäumen, bevor er vollständig vorüberzog, mich daran hindern weiterzulaufen. Doch mich konnte nichts aufhalten. So wie nichts den Schmerz und die Angst um Trevor aufhalten konnte. Meine Beine bewegten sich wie von selbst. Schritt für Schritt. Tränen strömten über mein Gesicht, als ich die Plattform überquerte. Nichts deutete darauf hin, dass hier in den letzten zwei Tagen ein Hubschrauber gelandet wäre. Trotzdem lief ich weiter und weiter.

Ich steuerte auf die Klippen zu. Von dort oben hatten wir den Sprung in die Tiefe gewagt. Seine Worte von damals hallten in meinem Kopf wider:

Wenn wir es schaffen, über diese Klippe zu springen, ist unsere Zukunft ein Klacks. Dann können wir alles bewältigen.

Welch höhnische Worte! Ich fühlte mich so schwach wie noch nie zuvor in meinem Leben.

Meine Schritte wurden dennoch nicht langsamer, während ich mich den Klippen näherte, bis sich vor mir das raue Meer ausbreitete. Die Wellen schaukelten meterhoch und waren genauso gewaltig und dunkel wie die Gefühle in mir.

Der Wind blies an den Klippen noch stärker. Er rauschte um mein Gesicht und peitschte mein Haar nach hinten. Jede Faser meines Körpers wollte da hinunter. Ich wollte zurück zu dem Moment, als ich Hand in Hand mit Trevor über diese Kante gelaufen war. Den freien Fall ein zweites Mal fühlen und vom Meer verschluckt werden. Es war für Trevor und mich ein so bedeutender Moment gewesen. Er hatte uns enger zueinander gebracht. Nur würde ich dieses Mal in keinen ruhigen klaren Ozean eintauchen. Das hier war der sichere Tod.

Ein Hauch von einem Sprung entfernt kam ich am Abhang zum Stehen. Steine rieselten lautlos die Klippen hinunter. Der Sturm übertönte alles. Auch mein lautes Schluchzen, das meine Brust erbeben ließ und in einen lauten Schrei überging.

Es war, als könnte ich erst hier und jetzt endlich alles herauslassen, was sich in mir angestaut hatte, was ich im Bunker zurückgehalten hatte. Wir waren gefangen gewesen unter der Erde, zu fünft eingepfercht in viel zu kleine Räume. Am Ende hätten wir noch alle den Verstand verloren.

»Maci!« Karlees Stimme drang durch den Sturm zu mir durch.

Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und drehte mich zu ihr um. In ihren großen Augen spiegelte sich das blanke Entsetzen.

Ich trat vom Abgrund zurück und einen Schritt auf sie zu, und auch sie kam näher, zog mich von der Kante der Klippen zurück, hinein in eine feste Umarmung.

»Ich dachte schon, du würdest springen.«

»Wo ist er?«, fragte ich mit bebender Brust, auch wenn ich wusste, sie würde mir nicht die Antwort geben können. Diese Frage zerriss mich innerlich. Sie war untragbar.

»Ich weiß es nicht.« Karlees zaghafte Stimme wurde vom Wind davongetragen.

Ich schluchzte, als ich mein Gesicht in ihre Schulter vergrub. Ich hatte in der Zeit im Bunker versucht, Ruhe zu bewahren und die Hoffnung nicht aufzugeben, doch der Anblick der verwüsteten Insel hatte mir die Augen geöffnet. Das hier war kein normales Unwetter gewesen, kein Sommersturm. Ein gottverdammter Hurrikan war über die Karibik gezogen. Und Trevor war irgendwo da draußen.

Als ich mich wieder von Karlee löste, schenkte sie mir ein aufbauendes Lächeln, das ihr nicht ganz glückte. »Komm! Lass uns von Blair das Satellitentelefon holen und herausfinden, wo er ist.«

Ich saß an Peytons Schreibtisch, den Kopf gegen die Rückenlehne gelegt, den Blick starr an die Decke gerichtet, als Karlee ins Büro kam und mir ein Glas auf den Tisch stellte.

»Was ist das?«, fragte ich, ohne den Kopf von der Lehne und den Blick von der Decke zu lösen.

»Eine heiße Schokolade mit Sahne. Beziehungsweise Sahne mit Schokolade aufgefüllt …«, antwortete meine Freundin und lehnte sich an die Tischkante neben mich. »Soll bei allen Sorgen des Lebens helfen. Los, trink schon!«

»Weiß ich danach, wo Trevor ist?«, fragte ich und legte meine Finger um das warme Glas.

»Nein, aber ohne weißt du es auch nicht.«

Da hatte sie recht. Ich richtete mich mühsam auf, trank die süße Sahne-Kakaomischung, die warm meine Kehle hinunterfloss. Immerhin fühlte ich noch etwas anderes als Frustration und Verzweiflung.

»Konntest du schon jeden erreichen, den du anrufen wolltest?«, fragte Karlee vorsichtig.

»Ja, und noch ein halbes Dutzend mehr Leute. Niemand weiß etwas von Trevor. Abgesehen davon haben sie alle gerade selbst genug zu tun.« Ich seufzte schwer, weil ich es in der momentanen Situation niemandem übel nehmen konnte, ich aber trotzdem deprimiert war.

»Das kann ich mir vorstellen.« Karlee lächelte mich bedauernd an. »Hast du es auch in den Krankenhäusern versucht?«

Ich nickte. »Sein Name taucht nirgends auf, und auch die Beschreibung stimmt mit niemandem überein, der in den letzten vierundzwanzig Stunden eingeliefert wurde.« Ich senkte meinen schweren Blick auf das Satellitentelefon, das zum Glück funktionierte. »Ich habe sogar bei einer Nachrichtenagentur nachgefragt, ob sie etwas von einem Helikopterabsturz wissen, aber nichts …« Ich hob meine Schultern, die sich wie mit Blei gefüllt anfühlten, und ließ sie wieder sacken. Das warme Gefühl in meinem Magen schien mich zu verhöhnen. Statt mich meine Sorgen leichter ertragen zu lassen, wogen sie nun noch schwerer. »Trevors Handy scheint tot zu sein, und seiner Mom konnte ich nur auf die Mailbox sprechen. Sie hat mich noch nicht zurückgerufen.«

»Das wird sie bestimmt.« Karlee legte mir die Hand auf die Schulter. »Nur hier zu sitzen zieht dich immer weiter hinunter. Du musst dich ablenken, solange du ohnehin nichts tun kannst.«

Mit brennenden Augen sah ich zu Karlee auf. »Ich kann nicht«, brachte ich schwach hervor. Wie sollte ich weitermachen, wenn ich nicht wusste, was mit Trevor passiert war?

»Nimm das Telefon mit.« Karlee ließ keine Widerrede zu und drückte es mir in die Hand. »Dann bist du jederzeit erreichbar und bekommst keinen steifen Nacken vom Rumsitzen.«

»Und du denkst, der Anblick da draußen stimmt mich fröhlicher?« Ich hob zweifelnd die Augenbrauen.

»Der erste Eindruck ist schlimmer, als es ist«, entgegnete sie mir. »Die Gebäude haben den Sturm mehr oder weniger überstanden. Der Hurrikan ist südlicher als prognostiziert vorbeigezogen.«

Obwohl es gute Nachrichten sein sollten, ließen sie mich kalt. Ich verstand aber, worauf meine Freundin hinauswollte. Ich war ihr dankbar für die eifrigen Versuche, mich abzulenken, doch ich würde Trevor keine Sekunde aus meinem Kopf bekommen. Er war meinetwegen aufgebrochen. In einer Situation, in der es viel zu gefährlich gewesen war. Aber vielleicht hatte sie gar nicht so unrecht.

»Also gut«, stöhnte ich und stand auf. Das Satellitentelefon steckte ich mir in die Hosentasche.

»Du solltest mal den Hauptstrand sehen«, sagte Karlee, als wollte sie verhindern, dass ich doch noch einen Rückzieher machte. »Die Hälfte des Sandes ist weg. Einfach fortgeblasen.«

Weg? Der konnte doch nicht einfach so weg sein? Wie krass war das? Gerade als ich es kommentieren wollte, läutete das Satellitentelefon vor mir. Mein Herz überschlug sich in meiner Brust. Ich hatte jedem die Nummer gegeben, mit dem ich heute telefoniert hatte. Sie sollten mich sofort anrufen, wenn sie irgendetwas von Trevor oder einem Helikopterabsturz hörten.

»Hallo?«, fragte ich noch, bevor ich mir das Telefon ans Ohr hielt.

Meine Ernüchterung kam schnell. Die Frau am Telefon hatte einen Urlaub auf Lovett Island gebucht, den sie in drei Wochen antreten wollte. Nun wollte sie nur mal nachfragen, ob der denn stattfinden könne.

»Das weiß ich leider nicht, aber ich notiere Ihre Telefonnummer, damit Ms Wilkins Sie zurückruft«, sagte ich, ohne die Enttäuschung in meiner Stimme verbergen zu können. Widerwillig kritzelte ich die Nummer auf ein Stück Papier und ließ sie auf Peytons Schreibtisch liegen. Blair würde sich schon darum kümmern. Nachdem ich aufgelegt hatte, steckte ich das Telefon wieder weg.

»Hast du auch mit Hugh Parker gesprochen?«, fragte Karlee vorsichtig.

»Nein.«

»Vielleicht kann er …«

»Nein«, sagte ich nun bestimmt. Ich war nicht bereit, mit ihm zu sprechen. Das musste jemand anders tun. Blair oder Trevors Mom. Ich kannte ihn ja nicht mal richtig. Mal abgesehen davon, dass er mich nicht leiden konnte. »Lass uns jetzt rausgehen.«

Erleichtert lächelte Karlee mich an. »Erst mal holen wir dir etwas zum Frühstück. Ich habe dich nichts mehr essen sehen, seit wir in den Bunker mussten.«

»Gute Idee«, sagte ich und musste zugeben, dass ich jetzt den Hunger spürte. Abgesehen davon würde ich die Kraft brauchen, egal, was noch auf mich zukommen würde.

Wir verließen das Nebengebäude direkt ins Freie.

»Blair meinte, wir sollen die Glasstege vorerst nicht benutzen«, erklärte Karlee. »Sie will erst die Statik prüfen lassen. Im Haupthaus gibt es einen Wasserschaden in der Lobby, wo das Dach undicht ist, aber die Küche ist intakt.«

Sie grinste mich von der Seite an, als würden wir etwas Verbotenes tun, wenn wir uns dort bedienten. Normalerweise war das das Reich des Küchenteams, und wenn wir etwas wollten, sollten wir es ihnen sagen.

Gerade als Karlee die Tür zum Haupthaus aufziehen wollte, hörte ich ein Geräusch zwischen dem Pfeifen des Windes. Ich hielt inne und hob den Blick zum Himmel. Außer dunklen Wolken war nicht viel zu sehen. Ich lauschte weiter, bis ich mir sicher war, dass ich mir das Geräusch nicht nur eingebildet hatte.

»Was ist?«, fragte Karlee irritiert und hielt die Tür auf. Sie hatte offenbar nichts bemerkt.

»Ein Hubschrauber«, sagte ich und trat vom Hauptgebäude weg, um besser in den Himmel sehen zu können.

»Bestimmt ein Erkundungsflug, um das Ausmaß der Schäden zu erfassen.« Auch Karlee sah hoch, machte sich aber nicht die Mühe, von der Tür wegzugehen. »Das wird wohl kaum Trevor sein.« Sie zuckte fast schon entschuldigend für diese Aussage mit den Schultern.

»Ich muss nachsehen«, rief ich und lief los in Richtung Helikopterlandeplatz, wo der höchste Punkt der Insel war. Meine Schuhe waren für solche Sprints nicht gemacht. In einer Kurve schlitterte ich über die nassen Steine, konnte mich aber gerade noch auf den Beinen halten. Keuchend rannte ich weiter. Das Flattern des Hubschraubers trieb mich an. Das war kein Erkundungsflug. Das war ein Landeanflug. Ich spürte es regelrecht mit diesem Wummern in meiner Brust.

Ich eilte die kahle Anhöhe zum Landeplatz hoch. Der Helikopter sank bereits auf den Boden. Der Wind der Rotorblätter, vermischt mit den Nachwehen des Hurrikans, schlug mir entgegen.

Die Wolken spiegelten sich auf dem gebogenen Glas des Cockpits, weshalb ich nicht erkennen konnte, wer dahinter saß. Ich wagte keinen Gedanken daran, ob es Trevor sein könnte.

Der Motor erlosch, und die Rotorblätter kamen langsam zum Stillstand. Erst dann öffnete sich die Cockpittür. Mein Herz blieb für einen Augenblick stehen, als ich sah, wer vor mir stand: Laureen.

Sie kam direkt auf mich zu, als hätte sie mich hier erwartet. Ein dunkler Schatten lag unter ihren Augen. »Maci.« Sie brachte ebenso wie ich kein Lächeln zustande, sah mich aber an, als würden wir uns schon lange kennen, obwohl uns außer unserer Sorge um Trevor bislang nicht viel verband. »Ich habe versucht, dich zu erreichen, bin aber nicht durchgekommen«, sagte sie.

»Hast du etwas von Trevor gehört?«, fragte ich atemlos.

Mein Herz klopfte laut in meinen Ohren, während ich auf ihre Antwort wartete. Ich starrte auf ihre Lippen, die sich leicht öffneten, jedoch nichts sagten. Ein drückendes Gefühl setzte sich in meiner Brust fest. Zittrig holte ich Luft, nicht wissend, wie ich eine schlechte Nachricht verarbeiten sollte.

»Nein«, antwortete sie mit dünner Stimme, und es war, als verdunkelte ein Schatten ihr Gesicht. Ein Schatten aus Angst. »Ich werde ihn mit dem Hubschrauber suchen. Hilfst du mir dabei?«

2.Violet

»Ist es das Haus?« Brent zog sich die Cap vom Kopf und wischte sich über die feuchte Stirn.

Ich verglich noch mal die Hausnummer mit der Adresse, die auf dem Zettel in meiner Hand stand, und nickte. »Das muss es sein.«

Ich hatte nicht gewusst, was mich erwarten würde, als ich mit Brent aufgebrochen war. Wir waren stundenlang zu Fuß durch das Centro bis in die Zona Norte von Recife gelaufen, durch einen Flickenteppich aus Pflastersteinen, Betonelementen und Asphaltflecken, während sich wildes Kabelgewirr über uns spannte. Die Straßen waren eng, sodass nur ein Auto hindurchpasste, die Fassaden der Häuser und Mauern größtenteils brüchig, mit Graffiti beschmiert oder grob mit Zement verputzt. Jede Öffnung, durch die man in ein Haus hätte gelangen können, war mit Gittern versperrt. Fenster, Türen, Tore und selbst die Parkplätze. Der Übergang zwischen Gehwegen und Straßen war aufgrund des heruntergekommenen Zustands kaum zu erkennen. Alles schien hier aus Stein, Beton oder Stahl zu bestehen. Die einzelnen Bäume, die am Straßenrand wuchsen, sahen aus, als wären sie hier abgestellt und vergessen worden.

Jetzt standen wir vor dem Haus, nahe dem Stadtrand von Recife. Es war ein vierstöckiger Wohnbau, an dem nur noch einzelne Flecken an die einst beige Fassade erinnerten. Weiß-braun gestreifte Markisen spannten sich über die Fenster und schirmten die brütende Mittagshitze ein wenig ab. Trotzdem zierte ein Dutzend Klimaanlagen die Hauswand, deren Surren sich mit dem Brummen der alten Autos, die durch die Gegend fuhren, vermischte.

Ich war froh, unser Ziel erreicht zu haben, auch wenn mich der Anblick dieser etwas trostlosen und heruntergekommenen Gegend nicht gerade fröhlich stimmte. Ich war in Vegas in keinem besonders schönen Viertel aufgewachsen, doch wir hatten ein kleines Haus und einen Vorgarten gehabt, der uns ein wenig Freiraum geboten hatte. Hier lebten die Menschen eng beisammen. Ein Wohnhaus reihte sich an das nächste. Es gab keine Vorgärten, keine Wiesen, keinen Platz für Kinder, um sich auszutoben.

Die Vorstellung, dass ich auch hier hätte aufwachsen können, wenn mich meine Mutter damals mitgenommen hätte, ließ mich mit gemischten Gefühlen zurück. Vielleicht hatte sie mich deshalb bei meinem Vater in den Staaten gelassen. Weil sie gewusst hatte, dass ich dort nicht nur in anderen Verhältnissen aufwachsen konnte, sondern sich mir auch andere Chancen boten. Trotzdem würde mein privilegiertes Leben in den USA nie meinen Wunsch nach ihrer Nähe kompensieren.

»Wollen wir?«, fragte Brent vorsichtig.

Ich nickte. Hier in der prallen Sonne zu stehen würde uns auch nicht weiterbringen. Mal abgesehen davon, dass mir der Rucksack, den ich von meinen Freunden bekommen hatte, auf meinem Rücken brannte.

Wir gingen zu der Eingangstür, aus der gerade ein Mann kam. Dafür, dass hier alles so vergittert und gesichert war, schien es ihn nicht zu stören, dass Brent die zufallende Tür aufhielt und uns damit den Zutritt in das Haus ermöglichte.

Im Treppenhaus schlug uns eine angestaute Hitze entgegen, in die sich warme Essensgerüche mischten. Offenbar wurden die Fenster willentlich geschlossen gehalten, weil es draußen noch heißer war.

Ich stieg mit weichen Knien die Stufen hoch und war völlig verschwitzt, als ich zwei Stockwerke später Tür Nummer sieben erreichte. Ich schaute noch mal auf den Zettel, der sich mittlerweile in meinen feuchten Händen wellte, um die Nummer zu vergleichen. Als ich an der Tür ein Schild mit dem Namen Braga fand, atmete ich befreit durch. Wir waren richtig!

Erleichtert lächelte ich Brent zu, der mir mutmachend zunickte.

Ich betätigte die Klingel, deren blechernes Surren laut durch die Tür zu hören war. Eine leicht abgehetzte Stimme folgte. Die Worte klangen nach einer Frage – bestimmt wollte sie wissen, wer vor der Tür stand.

Passend zu der Stimme riss eine kleine ältere Frau die Tür auf. Ihr prüfender Blick traf uns hart, als fühlte sie sich bestätigt, dass wir niemand waren, auf den sie gewartet hatte. Ihre nächsten Worte rollten ihr regelrecht von den Lippen. Obwohl ich versucht hatte, ein paar Wörter Portugiesisch zu lernen, verstand ich kein Wort. Ich konnte mir aber denken, dass sie ungeachtet unseres Besuchs kein Interesse hatte.

Plötzlich schob sie die Tür schon wieder zu und damit meiner Hoffnung, meine Mutter hier zu finden, einen Riegel vor.

Panisch trat ich einen Schritt nach vorne. »Nein, bitte warten Sie!«, rief ich und legte meine Hand auf das Türblatt, um sie daran zu hindern, uns auszusperren. »Eu sou Violet«, versuchte ich es mit den wenigen Worten, die ich mir gemerkt hatte. »Violet Braga.«

»Não conheço nenhuma Violet Braga.« Ihre Worte waren so schnell, dass ich nur anhand ihrer Mimik erahnen konnte, was sie meinte. Sie kannte keine Violet Braga – verständlich. Erneut wollte sie die Tür zudrücken.

Schnell brachte ich den Satz hervor, den ich am meisten geübt hatte. Übersetzt von einer Suchmaschine und mehrmals von mir laut aufgesagt, um es richtig auszusprechen. »Estou procurando minha mãe.«

Die Bewohnerin der Wohnung sah mich misstrauisch an. Entweder hatte sie mich nicht verstanden, weil der Satz keinen Sinn ergab, oder sie verstand einfach nicht, warum ich hier nach meiner Mutter suchte.

»Gabriela Maria Braga é minha mãe.« Damit hatte ich mein ganzes Repertoire an Portugiesischkenntnissen aufgebraucht. Ich hoffte so sehr, dass sie mir nun weiterhelfen würde. Diese Adresse war alles, was ich hatte.

»Não! Gabriela não tem filhos.« Ganz offensichtlich glaubte sie mir nicht. Gleichzeitig war da ein Ausdruck in ihrem Gesicht, als stünde ein Geist vor ihr. Sie starrte mich mit ihren graubraunen Augen voller Skepsis an. Dann schüttelte sie den Kopf. »Não!«, wiederholte sie, wobei es nun nicht mehr ganz so entschlossen klang.

»Bitte helfen Sie mir«, versuchte ich es weiter, nun auf Englisch, weil mir die passenden Worte auf Portugiesisch fehlten. Ich hoffte, sie würde mich trotzdem verstehen. »Ich muss sie finden. Wohnt Gabriela hier?«

Doch die Bewohnerin schüttelte erneut den Kopf, was allerdings keine Antwort auf meine Frage zu sein schien. Sie verstand offenbar ebenso wenig, was ich sagte, wie umgekehrt. Sie rasselte etwas auf Portugiesisch herunter, das ich aufgrund der Schnelligkeit wohl ebenso wenig verstünde, wenn ich die Wörter kennen würde.

Dann drückte sie einfach die Tür ins Schloss. So plötzlich, dass ich nicht rechtzeitig darauf hatte reagieren können.

Atemlos starrte ich auf die Tür, während mir der Schweiß in Rinnsalen den Rücken hinablief. Nur langsam löste ich mich davon und blickte zu Brent. »Soll ich noch mal läuten?«, fragte ich, auch wenn ich nicht glaubte, es würde etwas an der Reaktion der Frau ändern.

Brent hob ratlos die Schultern »Ich weiß es nicht«, stammelte er, selbst überfordert von der Situation. »Was willst du jetzt tun?«

Noch ehe ich mir einen Gedanken dazu machen konnte, riss die Frau erneut die Tür auf. Sie hatte ein Stück Papier in der Hand, und ich erkannte darauf eine lange Nummer. War das etwa die Telefonnummer meiner Mutter? Ein helles Gefühl breitete sich in mir aus.

Ich erfasste kein einziges Wort in dem Schwall, den die ältere Dame auf mich hereinbrechen ließ. Sie tippte mit der Fingerspitze auf den Zettel. »Bruno.« Abwartend, ob ich ihre Worte verstanden hatte, sah sie zu mir auf.

Ich hatte keine Ahnung, was sie gesagt hatte. »Bruno?«, wiederholte ich, völlig ahnungslos, ob das eine Name oder etwas anderes bedeuten sollte.

»Sim. Bruno. Ele fala inglês.« Mit hochgezogenen Augenbrauen starrte sie mich immer noch an. »Englisch.«

»Bruno spricht Englisch?«, fragte ich, nicht sicher, ob sie mir das sagen wollte.

»Sim.« Sie nickte, doch ich war nicht davon überzeugt, ob wir wirklich von demselben sprachen. Erneut folgte ein portugiesischer Wortschwall, von dem ich absolut nichts verstand.

»Ich soll Bruno anrufen?« Ich formte mit der Hand einen Telefonhörer und hielt sie ans Ohr, um meine Frage zu unterstreichen.

»Sim. Sim.« Dann drückte sie mir den Zettel in die Hand und schloss einfach die Tür. Mehr würde ich von ihr wohl nicht erfahren.

Langsam drehte ich mich zu Brent um.

»Dann rufen wir diesen Bruno mal an«, sagte er nur.

Wir waren zurück auf die Straße gegangen, wo es zwar auch drückend heiß war, die Luft aber nicht so stand wie in dem Wohnhaus. Ich tippte die Nummer mit zittrigen Fingern in mein Telefon und wählte mich einfach durch, ohne überhaupt zu überlegen, was ich diesem Bruno sagen wollte.

»Alô?« Seine Stimme klang jung und freundlich, wenn auch sichtlich irritiert über die fremde Nummer, die ihn da anrief.

»Hallo, spreche ich mit Bruno?«

Ein zögerliches »Ja« folgte vom anderen Ende der Leitung. Immerhin verstand er mich.

»Mein Name ist Violet. Ich habe diese Telefonnummer von Ms Braga bekommen.« Von der ich gar nicht den ganzen Namen kannte, weshalb ich hoffte, Bruno würde nicht weiter nachfragen. »Ich bin auf der Suche nach Gabriela Braga.«

Mein Herz klopfte wild, als ich auf seine Antwort wartete. In meinem Kopf überschlugen sich die Überlegungen, wer er war. Wie er zu meiner Mutter stand. War er ein Freund? Ein Partner? Ein Kind? Die Unwissenheit schnürte mir fast die Kehle zu.

»Ich weiß nicht, wo sie ist«, antwortete Bruno mit leichtem Akzent. »Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen.«

Ein dumpfes Gefühl breitete sich in mir aus. Ich durfte nicht zulassen, dass er auflegte. Dann hatte ich nichts mehr. Keinen Anhaltspunkt, keine Hoffnung.

»Können wir uns bitte treffen? Es ist wirklich wichtig für mich. Ich muss sie finden.«

»Violet, es tut mir leid, aber …«

»Bitte!«, unterbrach ich ihn, ehe er mich endgültig abwimmeln und auflegen konnte. Ich konnte seine Skepsis über diese fremde Anruferin durchaus verstehen, doch hoffte ich, er würde mir trotzdem helfen. »Ms Braga hat mir gesagt, du kannst mir helfen. Wir können uns treffen, wann und wo auch immer.«

Es war still in der Leitung.

Dann seufzte er leise. »Está bem! Kannst du in einer halben Stunde am Praia da Boa Viagem sein?«

»Am Strand? Ja, klar«, sagte ich zu, obwohl ich keine Ahnung hatte, ob ich es von hier in einer halben Stunde bis dorthin schaffte.

»Treffen wir uns auf der Avenida Boa Viagem auf Höhe des Parque Dona Lindu. Ich gehe dort mittagessen an der Tapiocaria.«

»Beim Parque Dona Lindu?«, wiederholte ich, um ihn auch wirklich richtig verstanden zu haben.

»Sim. Aber ich habe wirklich nur kurz Zeit.«

»Okay, danke! Bis gleich.« Ich legte auf und wandte mich Brent zu. Der hatte bereits sein Telefon in der Hand und tippte darauf herum. »Der Parque Dona Lindu liegt von hier aus am anderen Ende von Recife.«

»Wir müssen in einer halben Stunde dort sein«, sagte ich aufgeregt.

»Dann mal los.«

Brent und ich joggten die Straße hinunter. Der Rucksack schlug mir bei jedem Schritt auf mein durchgeschwitztes Shirt. Mein Gesicht glühte, und die Mittagshitze ließ meine Lunge brennen. Lange würde ich das nicht mehr durchhalten.

»Wir brauchen ein Taxi«, keuchte ich.

»Das sieht nicht wie eine Gegend aus, in der viele Taxis rumfahren«, antwortete Brent, der ebenfalls leicht außer Atem war.

Es dauerte noch vier Querstraßen, bis wir eine dichter befahrene Hauptstraße erreichten. Ich wusste nicht, ob wir in die richtige Richtung liefen, doch irgendwann entdeckten wir ein Taxi.

»Hey!«, rief Brent und winkte mit den Arm. Dann pfiff er einmal durch die Zähne. Das Taxi kam zum Stehen, und wir sprangen auf die Rückbank. Leider hatte es keine Klimaanlage, sodass uns eine stickige, überhitzte Luft einhüllte, die auch die offenen Fenster nicht aufwühlen konnte.

»Zur Avenida Boa Viagem beim Parque Dona Lindu«, sagte ich und holte etwas umständlich meinen Rucksack hervor. Ich kramte nach der Wasserflasche, die ich eingesteckt hatte, und trank gierig davon, ehe ich Brent den Rest anbot.

Er leerte ihn in einem Zug. »Wie liegen wir in der Zeit?«, fragte er, als er mir die Flasche zurückgab.

»Wir haben noch zwanzig Minuten Zeit«, antwortete ich mit einem Blick auf mein Handydisplay. »Entschuldigung, wie lange brauchen wir bis zum Ziel?«

Der Fahrer überlegte kurz. »Zirka eine halbe Stunde«, antwortete er in gebrochenem Englisch. »Viel Verkehr.« Er deutete auf die Straße, die eigentlich nicht sehr stark befahren war.

Ich ließ mich wieder zurücksinken und warf einen verzweifelten Blick zu Brent.

»Bitte versuchen Sie schneller dort zu sein«, bat er den Fahrer.

Tatsächlich wurde der Verkehr dichter, je näher wir dem Ziel kamen. Ich wusste, dass der Strand, an dem die Avenida Boa Viagem entlangführte, mehrere Meilen lang war. Brent zeigte mir am Handy, dass unser Ziel ausgerechnet am anderen Ende war.

»Ist das die richtige Straße?«, fragte ich, als wir gefühlt endlos eine dicht befahrene Straße entlangfuhren, die zwar in die richtige Richtung zu führen schien, aber von der aus der Strand nicht mal annähernd sichtbar war.

»Não, Avenida Boa Viagem ist Einbahn. Nur andere Richtung«, antwortete der Taxifahrer.

Ich presste frustriert die Augen zusammen. Wir waren schon jetzt zu spät. Ob Bruno warten würde?

»Wenn Sie dort aussteigen …« Der Taxifahrer zeigte die Straße entlang. »Fuß ist schneller als Auto.«

Eigentlich war es zu heiß, als dass ich noch einen Schritt zu Fuß gehen wollte, doch meine körperlichen Befindlichkeiten mussten jetzt erst mal warten.

»Nur über Brücke und durch Park«, fügte er hinzu.

»Okay, lassen Sie uns dort bitte raus.« Ich kramte nach meiner Geldtasche und bezahlte den Fahrer mit einem saftigen Trinkgeld, als er den Wagen am Seitenrand zum Stehen gebracht hatte. Er stand zum Teil auf einem Gehweg, trotzdem hupte ein Auto, das ausweichen musste.

Ich bedankte mich noch, dann rutschte ich aus dem Auto und knallte die Tür zu. Mit dem Rucksack wieder umgeschnallt eilte ich Brent hinterher. Hier gab es entlang der Straße mehrere Bäume, und ich schmeckte das Meer bereits in der Luft.

Eine kleine Fußgängerbrücke brachte uns über ein ausgetrocknetes Bachbett, dann mussten wir noch eine Straße überqueren, ehe wir den Park erreichten, von dem Bruno gesprochen hatte. Allerdings befanden wir uns noch auf der Rückseite, weshalb wir wieder zu joggen begannen. Der Rolltop schlug gegen meine Wirbelsäule, doch ich hielt mit Brent Schritt. Geradewegs am Park vorbei und direkt auf das Meer zu.

Wir erreichten eine dreispurige, stark befahrene Straße, von der ich annahm, dass es die Avenida Boa Viagem sein musste. Leider war die Fußgängerampel rot und der Verkehr zu stark, als dass wir hätten rüberlaufen können.

»Dort ist die Tapiocaria, an der wir uns treffen wollen«, sagte ich keuchend und deutete auf eine Imbissbude auf der anderen Seite der Straße. Gleich dahinter erstreckte sich der Strand und danach das weite Meer.

»Siehst du Bruno?«, fragte Brent und stützte seine Hände auf die Knie, um durchzuatmen.

»Ich weiß ja nicht mal, wie er aussieht!«

Die Ampel schaltete auf Grün um, und wir liefen direkt hinüber. An der Tapiocaria standen ein paar Menschen, die Snacks aßen.

»Bruno?«, fragte ich laut und hoffte, er würde sich gleich zu erkennen geben, doch außer ein paar fragenden Blicken ignorierten uns die Anwesenden.

»Violetta?« Die Stimme kam von der Seite, und ich entdeckte einen jungen Mann, der sich zu uns zurückdrehte. Es schien, als wäre er bereits dabei wegzugehen.

Ich lief auf ihn zu. »Violet«, korrigierte ich ihn, auch wenn es mir eigentlich egal war, wie er mich nannte. »Tut mir leid, dass wir zu spät sind. Hast du noch kurz Zeit?«

»Bist du Amerikanerin?«, fragte Bruno und musterte mich neugierig. Er war nicht viel älter als ich, etwa in meiner Größe und trug ein neongelbes Shirt, das sich sehr von seiner dunkelbraunen Haut abhob. Seine nackten Zehen steckten in Badeschlappen, und ich fragte mich, ob er so auf dem Weg zur Arbeit war.

»Ja.« Ich wandte mich zu Brent um, der ein Stück hinter mir geblieben war. »Das ist mein Freund Brent.«

Bruno grinste. »Er sieht aus wie echter estadunidense.«

»Estawas?«, fragte Brent leicht verstimmt. »Ich hoffe, das ist nichts Schlimmes.«

Bruno winkte mit einem freundlichen Lächeln ab. »Ein Ami«, erklärte er. »Typisch mit Basecap, Sneakers und Footballshirt.«

Nun musste auch ich grinsen. Tatsächlich waren die meisten Männer hier mit Badeschlappen unterwegs. Für Brents Sneakers war es hier echt zu heiß.

»Jaja, schon gut«, knurrte Brent, als ihm mein Blick auf die Schuhe nicht entging. »Ich hole uns was zu trinken.« Er deutete über seine Schulter nach hinten zu der Tapiocaria, an der es bestimmt gekühlte Getränke gab.

»Wollen wir uns setzen? Du siehst erschöpft aus.« Bruno deutete auf eine der Betonbänke, die sich entlang des Strandes reihten.

»Gern.« Meine Beine waren vom vielen Laufen müde, und ich musste erst mal in Ruhe durchatmen, ehe ich ihm erklären konnte, warum ich ihn treffen wollte. Aber Bruno hatte offenbar zu wenig Zeit, um mich erst mal durchschnaufen zu lassen.

»Du suchst also Gabriela?«, fragte er unverzüglich.

»Gabriela Maria Braga«, vervollständigte ich den Namen, um Missverständnisse vorwegzunehmen. Nicht, dass wir von unterschiedlichen Personen sprachen.

»Sim. Aber ich habe sie lange nicht gesehen. Warum suchst du sie?« Bruno klang ehrlich interessiert.

»Sie ist meine Mutter.«

Bruno zuckte bei meinen Worten zusammen. Er blinzelte mehrmals, dann schüttelte er leicht den Kopf. »Não, Gabriela hat keine Kinder. Sie … sie hat nie von welchen erzählt.« In seinen Augen erkannte ich, wie es in seinem Kopf ratterte, ob ich nicht doch recht haben könnte. Er musterte mich nachdenklich.

»Gabriela war bis vor zwanzig Jahren in den USA«, sagte ich. »Sie hat mich als einjähriges Kind dort zurückgelassen.« Das auszusprechen tat nicht mehr weh. Ich hatte es in meinem Leben schon zu oft erklärt.

Brunos Mund öffnete sich, doch er sagte nichts darauf. Offenbar wusste er von ihrem Aufenthalt in den Staaten. Nicht aber von dem Kind, das sie dort bekommen hatte.

»Kannst du mir helfen, sie zu finden?«, fragte ich hoffnungsvoll.

Bruno starrte mich an, als hätte er meine Frage gar nicht gehört. Währenddessen ließ sich Brent neben mir auf die Bank nieder und legte mir eine eisgekühlte Wasserflasche in die Hand. Ich war aber gerade zu aufgeregt, um einen Schluck davon zu trinken, auch wenn mein Körper danach verlangte.

»Du bist Gabrielas Tochter«, sagte Bruno nur, ohne es als Frage klingen zu lassen. Ein sanftes Lächeln legte sich um seine Lippen. »Jetzt sehe ich die Ähnlichkeit. Du hast ihre Augen. Schöne Augen.«

»Ja, die hat sie«, sagte Brent hinter mir, und ich spürte seine von den Getränken leicht gekühlte Hand, die mir über den Oberschenkel strich.

»Gabriela war sehr jung, als sie nach Amerika gegangen ist. Sie war drei Jahre weg«, erklärte Bruno plötzlich. Obwohl er mich dabei ansah, merkte ich, wie er versuchte, die Erinnerungen daran abzurufen. Ob er sich überhaupt noch daran erinnern konnte? Ich schätzte ihn nicht viel älter als mich. »Danach hat sie einige Jahre in São Paulo gelebt, ehe sie nach Recife zurückgekommen ist.«

»Und dann?«, drängte ich ruhelos. Es war schwer, geduldig zu bleiben, wenn ich so kurz davor war, endlich zu erfahren, wo meine Mutter war.

»Sie blieb nur kurz in Recife«, setzte Bruno fort. »Das war vor … vor drei, nein, vier Jahren. Dann wollte sie nach Buenos Aires, aber wir haben nichts mehr von ihr gehört. Der Kontakt ist abgebrochen.«

»Meine Mutter ist in Buenos Aires?« Mir klappte der Mund auf. Warum wollte meine Mutter nach Argentinien?

»Não, Buenos Aires, Argentina«, sagte Bruno, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Buenos Aires in Brasil. Es ist etwa zwei Stunden mit dem Auto von Recife entfernt.«

»Und dort lebt sie jetzt?«

»Vielleicht. Ich weiß es nicht.« Bruno blickte mich mitfühlend an, als täte es ihm leid, mir nichts Genaueres sagen zu können. »Gabriela war immer …« Er stockte erneut und suchte offenbar nach dem richtigen Begriff. Ungeduldig schnippte er mit den Fingern. »In Bewegung.« Er verzog verärgert das Gesicht, offenbar, weil ihm nicht das richtige Wort einfiel. »Sie wollte immer unterwegs sein und war nie lange an einem Ort.«

Ich war ihm dankbar für jedes Detail, das er mir über meine Mutter erzählen konnte. Bislang hatte ich nichts über sie gewusst, außer ihrem Namen. Mein Vater hatte nichts aufbewahrt, was an sie erinnern konnte. Nicht einmal ein Foto. Wenn ich Fragen gestellt hatte, wollte er nie über sie sprechen. Wahrscheinlich, weil er ihr nie verziehen hatte, dass sie gegangen war.

»Deshalb ist Gabriela in die USA gegangen«, erklärte Bruno weiter. »Tia Luara sagt, sie wollte etwas Großes erleben, etwas Neues.«

Das Neue war dann wohl ich gewesen.

»Wie alt war sie damals?«

»Jung«, antwortete Bruno. »Ich glaube neunzehn.«

Laut meiner Geburtsurkunde war meine Mutter zum Zeitpunkt meiner Geburt einundzwanzig gewesen. Genauso alt, wie ich es jetzt war. Vielleicht war sie in dem Alter mit einem Baby überfordert gewesen, vielleicht hatte ich nicht zu ihrer Lebenseinstellung gepasst, wenn sie immer unterwegs sein wollte.

»Wer ist Tia Luara?«, fragte Brent und erinnerte mich damit an den Namen, den Bruno zuvor erwähnt hatte.

»Tia Luara ist meine Großtante«, antwortete Bruno.

»Ist das die Frau, die uns deine Telefonnummer gegeben hat?«, fragte ich, auch wenn er das vermutlich gar nicht wissen konnte.

Bruno schmunzelte. »Sim. Sie hat mich gleich angerufen, nachdem wir telefoniert haben. Sie wird außer sich sein, wenn sie hört, wer du bist.«

»Und bin ich auch mit Tia Luara verwandt?«, wollte ich wissen, weil ich die Familienzusammenhänge durchschauen wollte. Vielleicht fand ich hier ja nicht nur meine Mutter, sondern gleich meine ganze Familie.

Bruno dachte nur kurz nach. »Sie ist auch deine Großtante«, sagte er dann. »Deine Großmutter, mein Großvater und Tia Luara sind Geschwister.«

»Also sind wir so etwas wie Cousins zweiten Grades«, fasste ich zusammen.

»Ich glaube, ja.« Bruno war anzusehen, dass ihn diese Neuigkeit ziemlich überraschte. Aus seiner Freude wurde aber plötzlich Ernst. »Sie hat nie von einer Tochter erzählt.«

Es fühlte sich wie ein Stich in meine Brust an. Meine Mutter hatte bei ihrer Rückkehr nach Brasilien nicht einmal von mir erzählt. Dabei war ich doch ihre Tochter. Bedeutete ihr das denn gar nichts?

Die Worte hingen schwer zwischen uns und übertönten alles. Den Lärm der vorbeifahrenden Autos, die spielenden Kinder am Strand, das Rauschen des Meeres. Selbst meine Gedanken rückten nun weit in die Ferne.

Als hätte Brent meine innere Leere gespürt, legte er seine Hand auf meine. Er schob seine Finger in meine und strich mit dem Daumen sanft über meinen Handrücken. Ich war unglaublich froh, ihn an meiner Seite zu haben. Ihm bedeutete ich etwas.

»Kannst du mich dorthin bringen?«, bat ich Bruno wie von selbst. »Nach Buenos Aires?«

»Buenos Aires? Ich habe kein Auto.«

»Ich miete eines. Kommst du mit? Bitte?« Die Kosten dafür waren mir egal. Ich hatte im letzten Jahr genug gespart, und dank des Erbes von Wyatt musste ich mir darüber keine Gedanken machen. »Ich brauche jemanden, der Englisch spricht und sich hier auskennt. Und du kennst meine Mutter!« All meine Hoffnungen lagen in diesem Mann, der mir gegenübersaß und den ich erst seit fünf Minuten kannte. Er war mir so fremd, und gleichzeitig fühlte ich mich ihm so verbunden. Nicht nur, weil wir über einige Ecken miteinander verwandt waren.

»Ich muss arbeiten«, sagte Bruno und wand sich mit den Worten, als wäre es ihm unangenehm, mich zurückzuweisen. So schnell würde ich aber nicht lockerlassen.

»Bitte, Bruno, ich brauche deine Hilfe.«

Er holte tief Luft und sah mich nachdenklich an. »Está bem! Wir können am Samstag fahren.«

»Samstag?«, wiederholte ich, nur um sicherzugehen, dass ich ihn richtig verstanden hatte. Das war in zwei Tagen.

»Ja, Samstag«, bestätigte er. »Ich muss morgen arbeiten, und Sonntag ist immer ein Essen bei Tia Luara.«

»Samstag ist toll!«, sagte ich schnell, nur um ihm zu zeigen, dass ich jeden vorgeschlagenen Tag akzeptierte. Wenn meine Mutter so in Bewegung war, wie Bruno es angedeutet hatte, bestand leider auch das Risiko, dass sie gar nicht mehr in Buenos Aires war. Doch das würde ich mit etwas Glück am Samstag erfahren.

»Gut, Samstag. Du mietest ein Auto.«

Ich nickte schnell. »Vielen Dank.«

3.Blair

Der Punchingball zitterte noch von meinem Schlag. Er gehörte zwar Peyton, aber irgendwie musste ich ja rauslassen, was sich in mir angestaut hatte. Die Verzweiflung, die Wut, die Angst davor, was jetzt auf mich zukommen würde.

Mit zusammengepressten Lippen rieb ich über meine Handknöchel, die von den Schlägen schmerzten. Dann wandte ich mich um und ging zu dem Sofa, auf dessen Beistelltisch ich eine Flasche Rum und ein Glas gestellt hatte.

Erschöpft ließ ich mich in die Kissen fallen und schloss für einen Moment die Augen. Ich war müde, weil ich den ganzen Tag mit dem Staff die Insel aufgeräumt hatte, und frustriert, weil es immer noch aussah, als wäre Elsa gerade erst über unsere Köpfe hinweggefegt. Immerhin hatte der Wind nachgelassen, und die Wolken am Himmel sahen nicht mehr ganz so bedrohlich aus.

Und obwohl der Hurrikan die Karibik nicht mit voller Wucht getroffen hatte, war die Liste der Schäden, die wir im Laufe des Tages erstellt hatten, erschreckend lang. Gebrochene Terrassentüren in den Gästezimmern, gesprungene Fensterscheiben, beschädigte Fassadenteile und massenhaft geknickte und ausgerissene Palmen und Bäume waren nur ein Teil davon.

»Bist du okay?«, hörte ich plötzlich Ezras Stimme.

»Seh ich so aus?«, murmelte ich und machte mir nicht mal die Mühe, die Augen zu öffnen. Ich hörte, wie er näher kam und neben meinem Kopf stehen blieb.

»Sorry, unnötige Frage.« Er lachte tief, bevor er fragte: »Hast du noch ein Glas?«

»Warum bist du überhaupt noch hier? Hast du nicht eine Ranch in Texas oder so, wohin du dich absetzen kannst?« In Wahrheit war ich ihm sehr dankbar, dass er heute mit Jesse die schweren Trümmer beiseitegeschafft hatte, die die Eingänge versperrt hatten. Er konnte wirklich gut anpacken, ich nahm an, das lag an den Cowboy-Genen. Aber dass ich ihn schätzte, brauchte er nicht zu wissen. Dass ich ihn mochte, ebenfalls nicht.

Neben mir senkte sich das Sofa. »Cheers.«

Ich sah auf und fand vor meiner Nase ein gefülltes Glas Rum. Ezra hatte mir offenbar auch eingeschenkt. »Danke.« Ich stieß mit ihm an. »Auf Umweltkatastrophen.«

»Auf Zusammenhalt und Freunde, die für einen da sind«, verbesserte Ezra mich mit seinem typischen unerschütterlichen Optimismus und nahm einen Schluck.

»Habe ich nicht. Kenne ich auch nicht«, erwiderte ich nur und trank von dem Rum.

»Das darfst du nicht sagen.« Ezra schenkte mir einen bedauernden Blick, doch der ließ mich kalt.

»Ich habe Trevor verraten«, sprach ich aus, was schon viel zu lange in mir gärte. Ich hatte meinen einzigen Freund verraten, indem ich das Foto von ihm und Maci verkauft hatte. Verkauft für diese Insel, die nun zerstört war. Das war Schicksal. Karma! Ich hatte es nicht anders verdient.

Es fühlte sich erleichternd an, es auszusprechen, auch wenn ich mich gleichzeitig wie ein richtiges Miststück fühlte. Ein Miststück, das es nicht wert war, mit Trevor befreundet zu sein. Stattdessen saß Ezra neben mir und hörte mir schweigend zu. Ich wusste nicht, womit ich das verdient hatte, doch ich war froh, dass er hier war.

»Trevor war der wichtigste Mensch in meinem Leben, trotzdem habe ich nur an mich gedacht, weil ich diese Insel haben wollte. Es geschieht mir nur recht, dass jetzt alles zerstört ist. Lovett Island, unsere Freundschaft.« Ich schüttete verbittert den restlichen Rum in mich hinein.

»Sag das nicht. Die Insel kann wieder aufgebaut werden, und wenn du dich ehrlich bei Trevor entschuldigst, wird er dir verzeihen. Vielleicht nicht sofort, aber er kennt dich und weiß, dass du es manchmal nicht so meinst.« Ezra glaubte das wohl wirklich. In seiner schönen Welt mochte das funktionieren, aber nicht bei mir.

»Und wenn sie ihn nicht finden?«, fragte ich, weil das eine Option war, die wir bislang konsequent von uns fortschoben. Wir wussten, dass Laureen und Maci ihn den ganzen Tag gesucht hatten, doch da wir noch keine erlösende Nachricht gehört hatten, war die Suche wohl noch nicht erfolgreich gewesen. »Dann waren seine letzten Gedanken an mich, dass ich an allem schuld war.«

»Gerade deshalb ist es jetzt so wichtig, dass wir die Hoffnung nicht aufgeben.« Ezra drehte sich ein Stück mehr zu mir. »Ich glaube fest daran, dass sie ihn finden. Oder er irgendwo auftaucht. Lebend.«

»Deinen Optimismus hätte ich gerne«, murmelte ich, weil ich das nicht nur in Bezug auf Trevor meinte. Ich beugte mich vor und griff nach der Rumflasche, um uns beiden nachzuschenken. Ezra hatte zwar noch etwas im Glas, doch das gehörte definitiv aufgefüllt. »Willst du gar nicht wissen, was ich getan habe?«, fragte ich und stellte die Flasche auf den Tisch zurück. Als ich mich wieder zurücksinken ließ, streifte mein Arm seinen. Es kribbelte auf meiner Haut, und ich versuchte zwanghaft, dieses Gefühl zu verdrängen.

»Willst du es erzählen?« Er ließ mir die Wahl, was wieder einmal so typisch für ihn war. Er war zu gut. Zu gut für mich.

Ich nahm erst einen Schluck Rum, der endlich seine Wirkung entfaltete und mich ein wenig beruhigte. Dann sah ich zu Ezra und sagte: »Kannst du dich an meinen Geburtstag und das Karten-Kuss-Spiel erinnern, bei dem Trevor Maci geküsst hat?«

Heute erinnerte ich mich selbst nur ungern daran. Nicht wegen des Kusses, sondern weil ich deshalb eifersüchtig gewesen war. Weil ich solch kindische Spielchen überhaupt nötig gehabt hatte. Tja, anders konnte sich eine Blair Wilkins offenbar nicht helfen, dachte ich verbittert.

Er nickte leicht.

»Als ich den Anteil meines Vaters an der Insel haben wollte, habe ich ihm das Foto davon angeboten.« Und im Gegenzug noch Scott bekommen, der genauso eine Katastrophe gewesen war wie der Hurrikan. Nur, dass er auch Menschen auf der Insel verletzt hatte. »Mein Vater hat sich das Bild teuer von Hugh abkaufen lassen.«

»Warum sollte Hugh das tun?«

»Weil mein Dad es sonst im Prozess hätte nutzen können. Die beiden streiten vor Gericht um seine Anteile an Parkins. Das alles ist an einen Vertrag geknüpft, der regelt, dass sämtliche Anteile an Hugh übergehen, wenn mein Vater sich etwas zu Schulden kommen lässt«, erklärte ich. Keine Ahnung, warum ich Ezra das überhaupt erzählte. Oder warum er sich das anhörte. Wahrscheinlich, weil ich niemand anders zum Reden hatte und weil Ezra zu nett war und sich nicht traute, einfach wieder zu gehen.

»Mit diesem Foto hätte mein Vater die Chance gehabt, den Prozess zu kippen. Maci war es, die als Erste Anschuldigungen erhoben hat, und ihre Verbindung zu Hughs Sohn hätte diese Vorwürfe in ein schiefes Licht gerückt.«

»Aber Baron wurde dafür doch schon verurteilt«, warf Ezra nachdenklich ein.

»Das sind zwei unterschiedliche Prozesse«, antwortete ich und zuckte mit den Schultern. Ich warf ihm erneut einen flüchtigen Seitenblick zu, sah aber schnell wieder weg, als er mich interessiert betrachtete. Stattdessen starrte ich nun auf meine Hände im Schoß. »Vielleicht wäre es auch gar nicht durchgegangen. Das Risiko wollten offenbar beide nicht eingehen, weshalb Hugh meinem Vater zwanzig Millionen Dollar dafür bezahlt hat.«

»Was?« Ezra, der gerade von seinem Rum trinken wollte, verschluckte sich. Er stellte das Glas weg und sah mich mit großen Augen an. »So viel für ein Handyfoto?«

Mein Blick blieb für einen kurzen Atemzug auf seinen Lippen hängen, und ich dachte automatisch an unseren Kuss, nachdem wir völlig durchnässt dem Sturm entkommen waren. So schön der Moment auch gewesen war, war es wohl nicht mehr als eine Adrenalinabbaureaktion. Auf keinen Fall würde sich das aber wiederholen.

Ich verdrängte meine Gedanken mit einem Räuspern. »Für Hugh ist das wohl nicht viel«, sagte ich. »Für meinen Vater, wie es aussieht, aber schon. Er hat wohl Geldprobleme.«

»Das wusste ich nicht.«

»Ich bis vor wenigen Tagen auch nicht.« Ich massierte mit den Fingerspitzen meine Schläfen, die leicht pulsierten. »Aber woher auch? Ich habe den Kontakt abgebrochen, und das ist gut so.«

Ezra sagte nichts dazu, was auch besser war. Entweder er akzeptierte diesen Bruch, oder er sollte die Klappe halten. Es gab Dinge, die man nicht verzeihen konnte, und ich fürchtete, meine Taten würde Trevor auch nicht verzeihen.

»Und warum sollte Trevor denken, dass du an allem schuld bist?«, fragte er.

»Weil Hugh befürchtet, Trevor könnte seinen eigenen Weg gehen. Sich von Parkins abwenden und ihm nicht mehr die Kontrolle über sein Leben überlassen«, antwortete ich und wollte mir am liebsten noch ein Glas Rum genehmigen, doch das würde mich wohl schneller aus den Latschen kippen lassen, als gut war.

»Was haben Maci und das Foto damit zu tun?«

»Maci ist nur die Spitze des Eisbergs. Hugh will nicht, dass Trevor mit ihr zusammen ist, und wenn sich Trevor darüber hinwegsetzt, wird er auch nicht davor zurückschrecken, seine eigenen Zukunftswege zu verfolgen.« Ich langte doch nach der Rumflasche. Noch lieber wäre ich zum Punchingball gegangen, um meinen Ärger über Hugh dort rausgelassen, aber meine Hände schmerzten jetzt noch davon. Wahrscheinlich hätte mich aber auch eine Umarmung beruhigt. »Hugh hat gedroht, dass er dafür sorgt, dass Maci an keiner Uni mehr angenommen wird, wenn Trevor nicht zu Parkins geht.«

»Das kann er doch nicht, oder?« Er sah mich stirnrunzelnd an. »Kann er das?«

»Kann er zwanzig Millionen Dollar für ein beschissenes Foto lockermachen?«, stellte ich als rhetorische Gegenfrage. Natürlich konnte er.

Einen Moment lang dachte Ezra darüber nach, dann fuhr er sich frustriert durch sein Haar und nahm den Rum entgegen, den ich ihm eingeschenkt hatte. »Und das nur, weil Maci ihr Stipendium nicht mehr hat. Warum auch immer.« Er schüttelte kurz den Kopf, ehe er von dem Rum trank.

Ich stieß ein angestrengtes Stöhnen aus, ließ mich wieder in die Kissen des Sofas sinken und legte den Kopf in den Nacken.

»Sag bloß, du hast auch damit zu tun.« Ezra hatte mich natürlich durchschaut. Er brauchte nicht mal eine Antwort meinerseits, um weiterzusprechen. »Blair, willst du es unbedingt darauf anlegen, Trevor zu verlieren?«

»Natürlich nicht!« Ich hob den Kopf und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Das ist alles anders gelaufen, als ich gedacht hätte.«

»Du meinst, wenn es so gelaufen wäre, wie du dir das vorgestellt hättest, würde das deine Entscheidungen rechtfertigen?«

»Falls du denkst, ich hätte nicht kapiert, dass ich Scheiße gebaut habe, kann ich dich beruhigen. Ich sehe doch selbst, wie gerade alles rund um mich auseinanderbricht!«, fauchte ich ihn an. Ich stand auf und ging energischen Schrittes zu dem Punchingball. Mir war es egal, ob Ezra mich noch mochte. Mir war es egal, ob er mich jetzt hasste für das, was ich seinem besten Freund Trevor und Maci angetan hatte.

»Dann behalte genau diese Emotionen im Hinterkopf.« Ezra stand auf und kam zu mir herüber. »Und wenn es wieder bergauf geht, Lovett Island wieder zur Trauminsel wird und du die Chance bekommst, dich bei Trevor zu entschuldigen, dann erinnere dich an die Gefühle, die du jetzt in dir trägst. Lerne zu schätzen, was du hast.«

Ich schlug heftig gegen das Leder des Punchingballs. »Du solltest so einen Kalender machen, mit einem weisen Spruch jeden Tag.« Noch ein Schlag.

»Sag mal, stellst du dir gerade mich vor? So schlimm war mein Spruch gar nicht.« In der einen Hand das Glas und die andere Hand in der Hosentasche, stellte er sich zu mir.

Aber ich bin so schlimm.

Ich ballte meine Faust aufs Neue und drosch auf diesen blöden Punchingball ein, bis sich meine Knöchel schmerzhaft rot färbten. Aber ich hörte nicht auf, zu sehr war ich frustriert. Alles lief schief: die Freundschaft zu Trevor, die Beziehung zu meinem Vater, der Waffenstillstand mit Maci – und jetzt zerstörte auch noch der verdammte Hurrikan meine Insel.

Ich holte für den nächsten Schlag noch mal weit aus, als sich Ezras Hand auf meine Faust legte.

»Was ist?«, fauchte ich ihn erneut an. Ich wollte nicht aufgehalten werden. Nicht mit vernünftigen Gründen, dass jetzt genug sei … es war nie genug.

Dennoch hielt ich inne und sah ihn an. In seinem ernsten Gesicht tauchte ein Lächeln auf. Seine Hand war immer noch auf meiner, warm und fest und mit einer elektrisierenden Intensität, die ich kaum aushielt.

»Warum verziehst du dich nicht einfach zu deinen Kühen?«, blaffte ich ihn daher an und wandte mich ab.

»Kühe?«

»Dann halt Rinder, oder wie die Dinger heißen.«

»Welche Rinder?«, wiederholte er.

»Hast du nicht gesagt, dass du auf einer texanischen Ranch groß geworden bist?«

Ezra lachte so schallend los, dass sein Kehlkopf bebte. Als er sich wieder beruhigte, nickte er zum Sofa hinüber. »Setzen wir uns noch mal, dann verrate ich dir, was für eine Ranch das ist.«

Skeptisch kniff ich die Augen leicht zusammen und musterte ihn, als könnte ich dadurch erkennen, ob er mich nur necken wollte.

»Hast du Angst, dass ich beiße?«

Ich hab eher Angst, dass ich dich noch mal küsse, dachte ich, aber ich sagte: »Als ob, Cowboy!« Ich stolzierte auf die Couch zu und ließ mich elegant hineinfallen. »Dann erzähl mal.«

»Diese Ranch gehörte ursprünglich meinem Großvater. Er hat auch Rinder gehalten«, erklärte Ezra und ließ sich entspannt in die Kissen sinken. »Mein Vater hat daraus ein Luxusresort mit Golfplatz und Spa gemacht.«

Das konnte doch nur ein Scherz sein. Das musste ein Scherz sein. All meine Witze verloren jegliche Wirksamkeit, wenn das stimmte.

»Also habt ihr gar keine Rinder?«

Ezra schüttelte amüsiert den Kopf.

»Und was ist mit der anderen Hälfte der Familie? Haben die wenigstens Rinder?«

»Der Familie meiner Mutter gehört ein Medienkonzern mit Fernsehsendern, Zeitschriften- und einem Publikumsverlag«, antwortete er, als wäre das selbstverständlich.

Ich starrte ihn an, als hätte er mir eben erzählt, er wäre im Buckingham Palace aufgewachsen und Queen Elizabeth wäre seine Großmutter. Warum hatte Trevor das nie erwähnt? Ich erinnerte mich genau, wie er mir mal von einem Wochenende auf der Ranch von Ezras Vater erzählt hatte. Da war von Golf und Spa keine Rede gewesen.

»Studierst du deshalb Literatur? Weil du in die Fußstapfen deiner Mutter treten willst?« Ich versuchte, es ganz beiläufig klingen zu lassen. Er sollte nicht denken, dass ich mehr über den Mann erfahren wollte, dessen weiche Lippen ständig meine Aufmerksamkeit auf sich zogen.

Ezra schwenkte sein Rumglas sanft, sodass die braune Flüssigkeit rotierte. »Ich weiß noch nicht genau, in welche Richtung es für mich geht. Mein älterer Bruder wird das Resort meines Vaters übernehmen, und meine Schwestern arbeiten bereits im Medienkonzern.«

»Du hast drei Geschwister?« Nicht einmal das hatte ich gewusst.

»Vier«, korrigierte er mich. »Mein kleiner Bruder will Astronaut werden. Er ist erst acht.«

Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Jetzt kannte ich Ezra schon so lange und hatte ein völlig falsches Bild von ihm gehabt. Warum hatte er nie etwas gesagt? Kein Wunder, dass er sich die meisten meiner Beleidigungen nicht zu Herzen genommen hatte.

»Das heißt, du kannst tun, was du willst?« Das klang irgendwie ganz eigenartig aus meinem Mund. Trevor und ich waren immer in diese Schiene gepresst worden, auch wenn für mich nun alles anders kam. Es gab Morgen, da wachte ich auf und glaubte noch, meine Zukunft läge bei Parkins. Nach einundzwanzig Jahren, in denen man mir das eingeredet hatte, ließ sich diese Vorstellung nicht so einfach abschütteln.

»Ich würde gerne Schriftsteller betreuen und ihre Texte lektorieren. Vielleicht auch mal ein eigenes Buch schreiben, wenn mich die Muse küsst.«

Das passte wiederum sehr zu dem Ezra, den ich immer gesehen hatte. Dennoch beeindruckte es mich. Vielleicht auch, weil er mit einer solchen Leichtigkeit an seine Zukunftspläne heranging. »Das klingt interessant«, gab ich zu.

Er lächelte. »Vielleicht wirst du ja meine Muse.«

Ob er damit meinte, dass ich seine Kreativität anregte, oder dass ich ihn küssen sollte?

Ich wusste es nicht und wollte mir in diesem Augenblick auch keine Gedanken darüber machen. Es reichte mir erstmal, sein Lächeln zu erwidern.

4.Maci

Das FireflyHotel auf Saint Croix war eines der wenigen, die momentan Gäste beherbergten. Obwohl die Insel im Großen und Ganzen glimpflich davongekommen war, hatte der Sturm auch hier seine Spuren hinterlassen.

Die Zimmer des Hotels waren im Vergleich zu Lovett Island einfach, ein schmales Doppelbett, eine kleine Kommode und ein Badezimmer ohne Fenster. Laureen und ich hatten hier eingecheckt, weil es nicht weit zum Hubschrauberlandeplatz war, von dem aus wir unsere Erkundungsflüge starten konnten. Wir waren den ganzen Tag unterwegs gewesen und würden auch den morgigen Tag in der Luft verbringen. So lange, bis wir Trevor gefunden hatten.

Ich hatte mich nach unserer Rückkehr ins Hotel geduscht und machte mich nun auf dem Weg zur Bar. Von der Treppe aus ging ich an der Rezeption vorbei in die kleine Bar, die nur aus einer Theke und einigen Tischen bestand, die zum Teil besetzt waren. Leise Musik lief im Hintergrund und vermischte sich mit dem Surren der Klimaanlage.

Laureen saß über eine Landkarte gebeugt und studierte diese konzentriert. Eine kleine Falte lag zwischen ihren Augenbrauen und ließ sie ein paar Jahre älter wirken. Ihr langes braunes Haar hatte sie mit einer Klammer am Hinterkopf hochgesteckt, doch eine Strähne hatte sich gelöst und hing bis auf das Papier hinunter. Daneben standen ein Glas Wasser und ein Glas Rum.

»Hey.« Ich rutschte auf den Sessel ihr gegenüber und warf auch einen Blick auf die Landkarte.

»Warte!« Ohne aufzusehen, hob Laureen die Hand, um sich noch einen Moment Konzentration zu bewahren. Sie kniff die Augen leicht zusammen, um ein Detail auf der Karte besser lesen zu können. Dann ließ sie ihre Fingerspitze so langsam und fest über das Papier gleiten, dass ich es hören konnte. Mit der anderen Hand schob sie mir eine Schüssel mit Erdnüssen herüber.

Wie automatisch griff ich hinein und steckte mir ein paar davon in den Mund. Der salzig-nussige Geschmack auf meiner Zunge weckte für einen kurzen Moment sogar meinen Appetit. Ich hatte außer ein paar schnellen Snacks, um meinen größten Hunger zu stillen, bislang nichts gegessen. Dafür würde immer noch genug Zeit sein, wenn wir mehr über Trevor wussten.