Für damals, für immer - Leesa Cross-Smith - E-Book

Für damals, für immer E-Book

Leesa Cross-Smith

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Beschreibung

Evangelines Leben war perfekt: Sie war glücklich verheiratet und erwartete ihr erstes Kind. Aber dann kommt ihr Ehemann Eamon kurz vor der Geburt ihres Sohnes auf tragische Weise ums Leben. In einem Sekundenbruchteil verwandelt sich ihr gesamtes Glück in einen Scherbenhaufen. In dieser schweren Zeit ist Eamons bester Freund Dalton ihr rettender Engel. Doch je besser Evangeline mit der Zeit die Trauer verarbeitet, umso weniger kann sie die Gefühle unterdrücken, die sie inzwischen für Dalton entwickelt. Aber können Evangeline und Dalton glücklich werden, ohne Eamon zu verraten?

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Seitenzahl: 435

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungErstes – Evangeline RoyceEamon RoyceDalton Berkeley-RoyceZweites – EvangelineEamonDaltonDrittes – EvangelineEamonDaltonViertes – EvangelineEamonDaltonFünftes – EvangelineEamonDaltonSechstes – EvangelineEamonDaltonSiebtes – EvangelineDaltonEvangelineDaltonEvangelineDaltonEvangeline

Über dieses Buch

Evangelines Leben war perfekt: Sie war glücklich verheiratet und erwartete ihr erstes Kind. Aber dann kommt ihr Ehemann Eamon kurz vor der Geburt ihres Sohnes auf tragische Weise ums Leben. In einem Sekundenbruchteil verwandelt sich ihr gesamtes Glück in einen Scherbenhaufen. In dieser schweren Zeit ist Eamons bester Freund Dalton ihr rettender Engel. Doch je besser Evangeline mit der Zeit die Trauer verarbeitet, umso weniger kann sie die Gefühle unterdrücken, die sie inzwischen für Dalton entwickelt. Aber können Evangeline und Dalton glücklich werden, ohne Eamon zu verraten?

Über die Autorin

Leesa Cross-Smith hat bis jetzt Kurzgeschichten veröffentlicht, die mit mehreren amerikanischen Literaturpreisen ausgezeichnet wurden. Sie ist außerdem selbst Lektorin und Mitbegründerin eines Literaturmagazins. Leesa Cross-Smith lebt in Kentucky, USA.

L  E  E  S  AC  R  O  S  S  -  S  M  I  T  H

Für

damals,

für

immer

Roman

Aus dem Amerikanischen vonAntonia Zauner

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2018 by Leesa Cross-Smith

Illustrationen © Gillian Biease 2013

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Whiskey & Ribbons«

Originalverlag: Hubb City Press

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Ilse Wagner

Einband-/Umschlagmotiv: © shutterstock: Kjpargeter | Dn Br | Lauritta | iperion | Yoko Design

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7795-8

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für dich und dich und dich.

Fuge, die: [Musik] kontrapunktische Komposition, in der ein musikalisches Thema eingeführt und dann in verschiedenen Stimmen zeitlich versetzt wieder aufgegriffen und so miteinander verwoben wird.

Fuge, die: [Bauwesen] schmaler Zwischenraum oder Spalt, an dem zwei Bauteile oder Materialien aufeinandertreffen.

Fuga: lateinisch, »Flucht«; verwandt mit fugere »fliehen« und fugare »verjagen«.

Fugue: [Psychologie] Zustand, in dem ein Mensch für bestimmte Zeit die eigene Identität vergisst.

Requiem für

Eamon Michael Royce

Verstorben am

11. Juli

*

Finale

*

Da Capo

Noah Michael Royce

Geboren am

27. Juli

Erstes –Evangeline Royce

Während ich schlief, wurde mein Ehemann Eamon im Dienst erschossen. Ich war im neunten Monat schwanger mit unserem Sohn Noah. Wie eine Cashewnuss lag ich mit dickem Bauch bei offenem Fenster in unserem Schlafzimmer, in unserem Sommerbett. Eamon hörte den Notruf über den Polizeifunk – häuslicher Streit. Er war auf dem Heimweg, zurück zu mir, doch dann entschied er sich, kurz am Ort des Geschehens vorbeizuschauen, da er sich zufällig in der Nähe befand. Ich stelle mir vor, wie er dorthin fährt, wie das sanfte, pfirsichfarbene Julimorgenlicht seine letzten Momente erhellt, seinen letzten Herzschlag, seinen letzten Atemzug. Wie das göttliche Strahlen und der unsichtbare Schatten des Todes ihn umgeben. Der sechzehn Jahre alte Junge, der ihn erschoss, war mit seinem Stiefvater in Streit geraten. Der Junge sprang aus dem Fenster seines Schlafzimmers und erschoss Eamon. Eamons Kollege Brian hatte gerade erst den Dienstwagen auf dem Rasen abgestellt. Er überwältigte den Jungen schließlich.

Brian und ein anderer Cop kamen zu unserem Haus und weckten mich. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich in die Küche gegangen bin, wo Dalton mich schließlich fand, zitternd, auf den Boden pissend wie ein Tier. Er kam sofort nach meinem Anruf. Ich kann mich nicht erinnern, ihn angerufen zu haben, doch er erzählte mir, dass ich es getan hatte. Dalton war schon vor Langem von Eamons Eltern adoptiert worden, sie waren Brüder. Brian und der Cop gingen wieder. Dalton wollte mich nicht allein lassen.

Am Sonntag nach der Beerdigung schnitten wir uns beide gemeinsam das Haar.

Finale.

Da Capo. Zurück zum Anfang.

Das ist jetzt sechs Monate her. Noah ist sechs Monate alt. Ein lebender, tickender Zeitmesser dafür, wie lange Eamon fort ist.

Wo kommst du her?, frage ich Noah manchmal. Wo ist dein Daddy?

Doch letzte Nacht.

Da Capo.

*

Dalton und ich haben uns geküsst.

Ich küsste ihn. Ich küsste Dalton.

Er spielte Klavier, und ich saß auf seinem Schoß, das Gesicht ihm zugewandt. Wein, so dunkel wie ein Drachenherz, war im Spiel und strahlend goldener Whiskey. Noch ein wenig mehr, und wir wären betrunken gewesen. Wir warteten an der richtigen Haltestelle, und der Rauschexpress würde uns in fünf Minuten abholen.

Dalton ist ein ausgezeichneter Pianist. Seine Mutter war Konzertpianistin und arbeitete als Klavierlehrerin. Er kann alles spielen. Er spielte mehrere Songs, bevor er sich entschied, das Geklimper am Anfang von »Piano Man« mit herrlich übertriebener Hingabe zu interpretieren, weil er weiß, dass ich das mag, und weil Dalton der geborene Unterhalter ist. Er spielt auf dem Klavier, als versuchte er, auf der Straße Almosen zu sammeln und säße nicht in unserem Wohnzimmer. Nur wir beide, allein. Ich sage unser Wohnzimmer, weil er jetzt mit Noah und mir hier lebt.

Letzte Nacht schneite und schneite und schneite und schneite es, doch davor kam der Frost. Ich hatte Noah zuvor bei meinen Eltern abgeliefert und so zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Sie konnten einige Stunden mit ihrem einzigen Enkel verbringen, und ich konnte ein wenig Freizeit vom Mamasein genießen. Auf dem Heimweg hatte ich einen Platten. Zum Glück fuhr Dalton gerade vorbei, sah mich und wechselte den Reifen. Doch bevor er das tat, brachten wir ein Mädchen namens Cassidy nach Hause, das manchmal ins B’s, seinen Fahrradladen, kommt.

Dalton wechselte den Reifen, und wir fuhren nach Hause und machten uns heiße Schokolade. Meine Mutter rief an, um mir zu sagen, dass der Sturm schlimmer werde und ich zu Hause bleiben solle, weil es sicherer für Noah sei, die Nacht bei ihnen zu verbringen. Deal.

Ich fühlte Dalton wegen Cassidy ordentlich auf den Zahn und versuchte herauszufinden, ob er etwas für sie übrighatte. Er verneinte. Ich stellte ihm Fragen, wie es nur eine beste Freundin oder Schwägerin kann, und ich hörte gut zu, sogar wenn ich mir sicher war, dass er mich anlog. Er sagte Nein, aber vielleicht meinte er Ja.

Trauer strahlt ab. Seit Eamons Tod schmerzen meine Knochen vor Traurigkeit. Da ist ein hartnäckiger Fleck schwarzen Tees auf meinem Herzen, auf jedem meiner Organe.

Doch manchmal.

Manchmal, wenn ich mit Dalton zusammen bin, manchmal, wenn Noah mich anstrahlt – mit Eamons Lächeln –, manchmal verschwindet der Teefleck. Obwohl er keine Zeit verliert und nur noch dunkler zurückkehrt, sehne ich mich stets danach, dass er erneut von mir genommen wird. Wie kann ich mich nicht danach sehnen?

Cassidy oder irgendeine andere Frau könnte mir da einen Strich durch die Rechnung machen. Wenn Dalton uns verlässt, wenn Dalton sie liebt. Wenn Dalton sie mehr liebt als mich, mehr als uns. Ja, ich habe ihm auf den Zahn gefühlt. Und später habe ich ihn geküsst. Es war ein besitzergreifender Kuss. Es war ein heißes, tropfendes Wachssiegel. Der Kuss war ein Schloss und ein Schlüssel. Der Kuss war ein quietschendes Tor im Wind.

Anfangs küsste Dalton mich nicht zurück. Er hörte auf, Klavier zu spielen, und sah mich an.

»Evangeline«, sagte er.

Manchmal war ich Evangeline. Evi. Manchmal Leeny oder Evangeleeny. Ich war nie nur E. Eamon war E.

Dalton sagte meinen Namen. Ich sagte nichts.

Ich küsste ihn noch einmal.

Er stellte sich als großartiger Küsser heraus, als er mich schließlich zurückküsste. Sein Kuss war ein Lied. Das Klavier begann, sich mit meinem Rücken selbst zu spielen, mit der Apfelwölbung meines Pos, als Dalton unsere Position veränderte. Adagio, disharmonisch. Ich hatte eine gute klassische Ballettausbildung genossen, unterrichtete winzige Mädchen und Jungen, die nach Babypuder und Haferflocken rochen, doch nein – das hier hatte mit Grazie nichts zu tun.

Ich küsste Dalton Berkeley-Royce in dem Haus, in dem ich mit meinem Ehemann Eamon gelebt hatte. Ich küsste Dalton, meinen Schwager, meinen Freund. Nicht mehr. Ich kannte ihn so lange, wie ich Eamon kannte, denn die beiden bekam man nur im Doppelpack, und jeder wusste das. Daltons Mutter starb, als er in der Mittelstufe war. Danach zogen ihn die Royces zusammen mit Eamon auf. Ich kannte ihre Geschichte, als wäre sie meine eigene. Er war mein Bruder von dem Moment an, in dem ich Eamon heiratete, und nun war Eamon fort. Verschwunden. Tot. Ich war eine Witwe – ein Wort, geisterhaft und leer, ein Wort, das ein Palindrom hätte sein sollen, es aber nicht war, mit diesen beiden Ws, die ihre Arme weit ausbreiteten, um Gnade flehend.

Ich wollte mir Flügel wachsen lassen und in Daltons Mund fliegen, wollte uns beide zerkratzen, wollte in ihm bluten. Tränen über ihn vergießen wie Honig. Noch immer fiel Schnee. Schnee fiel immer noch. Das Haus ruhte. Lavendel-Minz-Whiskey-Küsse. Herzschlagatmen. Klaviersaitenklimpern, langsamer. Langsamer. Nocturne.

Dalton zog sich zurück. Ich nicht. Er legte die Hände auf meine Schultern, rosige Hitze überflutete meine Wangen. Der Kamin knisterte.

»Lass uns erst hierüber reden«, sagte er.

Ich schüttelte den Kopf und küsste ihn noch einmal. Wenn ich die Augen schloss, hörte ich die Glut zischen und sah Funken sprühen.

Zäsur.

Das Telefon klingelte.

Meine Mom. Will sich versichern, dass wir nicht mit dem Auto draußen im Schneesturm unterwegs sind, will sich versichern, dass ich sicher zu Hause bin, wie ich erklärt habe. Ich hatte die paranoide Angst, etwas über das Küssen zu sagen. Dass mir irgendwo zwischendrin das Wort Mund herausrutschen oder ich Daltons Zunge erwähnen würde. Daltons Lippen. Sie waren nicht Eamons. Eamons Lippen waren voller. Er hatte eine Unterlippe, an der ich wochenlang hätte knabbern können. Ich konnte sie noch immer zwischen meinen Zähnen spüren. Eamon war für immer fort, doch er war überall. Wie konnte das passieren? Ich hörte sein Meeresgott-Timbre sogar im Nachklang von Noahs Schreien.

Ich ließ meine Mutter Noah das Telefon ans Ohr halten, damit ich ihm Gute Nacht sagen konnte. Als das Gespräch endete, schlug ich die Hände vors Gesicht und weinte.

»Hey hey hey«, sagte Dalton leise, wie er es immer tat. Als könnte er mich aufhalten, mich auffangen, bevor die Tränen tropften, alles auf Pause stellen, bevor der Regen einsetzte.

Doch das funktionierte nicht.

Es regnete und regnete und regnete, denn das ist es, was ich tue, ich bin gut darin geworden. Regenkönigin.

Ich versuchte, zu Atem zu kommen, doch es gelang mir nicht. Dalton ging in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen, und ich ließ mich an der Wohnzimmerwand zu Boden gleiten und regnete noch mehr.

Dalton ging in die Hocke, um mir näher zu sein, mit seinen langen Beinen, die Knie weit gespreizt.

»Evi, trink das. Ein Glas Wasser. Ich hab Zitrone reingetan. Trink ein wenig, für mich, bitte«, sagte er ruhig. Auch das war etwas, das er immer tat. Vor allem, als ich mich im Dazwischen befand.

*

Das Dazwischen: Sechzehn Tage lagen zwischen Eamons Tod und Noahs Geburt, als hätten ihre Seelen diese sechzehn Tage zusammen im Himmel verbracht, in einem ätherischen »Boys Club« irgendwo dort, wo ich nicht hinkommen konnte. Sie ruhten sechzehn Takte lang – sechzehn Takte, die zu sechzehn gewaltigen, dunklen Tagen wurden, die sich wie sechzehnhundert endlose Nächte anfühlten – au repos.

In meinem türkisfarbenen Umstandskleid und den tabakfarbenen Cowboystiefeln wanderte ich vollmondschwanger durch den Garten und verirrte mich. Dalton fand mich. Er fand mich immer wieder. Er versuchte, mich nach drinnen zu locken, mit Zitronenwasser, mit klebrigem Stinkekäse oder einer kleinen grünen Schale Mandeln, mit den dunkelsten Schokoladenstückchen, die man sich nur vorstellen kann. Er schüttelte die Schale, als wäre ich ein Kätzchen, das darauf wartete, das Geräusch des Trockenfutters zu hören.

Sobald ich dann im Haus war, ging ich ins Bett und schlief stundenlang. Wenn ich aufwachte, war Dalton meistens dabei, zu kochen, zu putzen oder in der Garage an einem Fahrrad herumzuschrauben. Manchmal legte er im Wohnzimmer Handtücher aus und arbeitete dort an einem Rad, den Fernseher oder die Musik so leise gedreht, dass sie mich nicht wecken würden. Er wurde mein Beschützer, unser Beschützer, Noah, noch immer warm und sicher in meinem Bauch.

Das Herumwandern hörte weitgehend auf, als Noah auf der Welt war. Noah erdete mich. Stellte mich ruhig. Ein willkommenes Gewicht.

*

»Trink noch etwas mehr für mich, bitte«, sagte Dalton noch einmal. Er saß neben mir auf dem Boden, mit dem Rücken an die Wand gelehnt.

Ich schüttelte den Kopf.

»Leeny. Für mich, bitte«, sagte er.

Also tat ich es.

»Es soll angeblich weiter schneien«, sagte ich, mein Hals rau vom Weinen.

»Okay«, erwiderte er und strich mir über den Rücken, als ich mich nach vorn beugte.

»Ich vermisse ihn so schrecklich«, sagte ich und presste die Fäuste gegen die Schläfen.

»Ich auch«, sagte er.

Er weinte. Das ist es, was wir zusammen tun. Wenn jemand mich fragte, ob ich mit Dalton intim gewesen sei, dann würde ich mit Ja antworten. Miteinander zu weinen ist eine ganz eigene Form der Intimität – ein Band, das so eng um uns gewickelt war, dass es unseren Blutkreislauf vom Rest der Welt abschnitt.

Dalton erhob sich und streckte mir die Hand hin. Er ging in die Küche. Er beugte sich vor und trank Wasser direkt aus dem Hahn. Ich nahm mir eine Satsuma vom Küchentresen, fühlte ihr kühles Gewicht in meiner Hand und machte Otis Redding an, bevor ich begann, sie zu schälen. Otis Redding, Sade, Phil Collins oder Journey abzuspielen, das fühlte sich an, als wäre Eamon noch immer hier. Es waren seine Lieblingsmusiker. Und jetzt waren sie meine.

Bevor Dalton und ich zum Klavier gegangen waren, hatten wir in der Küche langsam zu »Chained and Bound« getanzt. Ich machte es noch einmal an und aß meine Satsuma. Dalton lehnte am Tresen und sah mir zu.

»Ich bin erschöpft, und ich weiß, dass ich für den Rest meines Lebens erschöpft sein werde«, gab ich zu. »Ich will nicht, dass du dich hier mit Noah und mir gefangen fühlst«, sagte ich.

»Du verstehst es einfach nicht«, erwiderte Dalton.

Ich zuckte die Schultern.

Dalton stieß sich ab und drückte einen süßen Kuss auf meine nektargetränkten Lippen. Diese Küsse waren anders als die Klavierküsse. Diese Küsse waren hungrig. Dalton aß. Wir atmeten, als würden wir kämpfen. Der Otis-Redding-Song endete, und »One More Night« von Phil Collins setzte ein.

Dalton hielt inne, löste sich von mir.

»Fuck«, sagte er und wandte sich ab. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Er verschränkte die Finger über dem Kopf.

Ich suchte im Gefrierfach nach dem Whiskey.

*

Wenn Noah in der Nacht zu weinen beginnt und ich ihn nicht höre, steht Dalton im Licht des Kühlschranks und holt eine Flasche mit meiner Muttermilch heraus. Oft, wenn ich aufstand, um zur Toilette zu gehen, fand ich Dalton in Noahs Zimmer, wo beide schliefen, die Köpfe zur Seite gerollt, die leere Flasche zu Daltons Füßen am Boden. Ich fühle mich schuldig, weil ich wegen meiner Blase aufwache, nicht aber wegen meines Babys. Ich fühle mich schuldig, weil ich Dalton so dankbar bin, dass er jetzt hier ist und ich nicht alles allein machen muss.

Dalton liebt Noah sehr, und er hat Tausende Kosenamen für ihn. Noah-Bär, No-No, Noahlicious. Manchmal legt er Noah in sein Tragetuch und nimmt ihn mit in die Garage, damit sie zusammen Männerdinge tun können, während ich schlafe. Manchmal nimmt Dalton Noah mit zu Eamons Eltern, wenn ich nicht in der Lage bin, das Haus zu verlassen. Wenn ich nicht in der Lage bin, das Bett zu verlassen.

Eamon konnte sein Baby nie im Arm halten, und das ist für mich wie eine dicke, juckende Wimper im Auge. Für immer.

*

In der Küche lief das Prélude von Bachs Suite für Violoncello solo Nr. 1, während ich etwas trank und nach dem Wetter sah. Es lagen mehr als zehn Zentimeter Schnee, und über Nacht wurden weitere fünfundzwanzig erwartet. Dalton ging zum Klavier und fragte mich, ob ich irgendwelche Wünsche hätte. Während ich noch überlegte, begann er mit einem Stück von Rachmaninow, das ich wiedererkannte. Es war leise. Es klang wie der Schnee.

»Sonst willst du immer …«, sagte er und wechselte in die Klaviereröffnung von »Hold me« von Fleetwood Mac.

»Ja, ich will immer Fleetwood Mac.« Ich nickte und setzte mich neben ihn auf die Bank.

Er begann, »Gypsy« zu spielen, meinen Lieblingssong.

Ich legte meine Hand auf seine, um ihn zum Aufhören zu bewegen. Bevor Eamon mich kennenlernte, hatte er Fleetwood Mac gehasst. Doch er hatte keine Wahl. Er wusste, ich würde niemals einen Mann heiraten, der Fleetwood Mac nicht ebenso liebte wie ich. »Gypsy« war in diesem Moment einfach zu viel für mich. Dalton hörte auf zu spielen und legte die Hände in den Schoß.

Als Daltons Mutter Penelope starb, bestand Eamons Mutter Loretta darauf, dass Dalton weiterhin Klavierstunden nahm. Penelope und Loretta hatten sich kennengelernt, als ihre kleinen innerstädtischen Kirchengemeinden zusammengelegt wurden – die eine schwarz, die andere weiß –, in einer Stadt, in der Schwarze und Weiße nicht oft zusammen die Messe feierten. Louisville war eine Stadt mit starker Rassentrennung, und als eine weiße und eine schwarze Kirchengemeinde beschlossen, dass sie die Dinge anders machen wollten, war dies ein mutiges Statement. Es hatte etwas von der rebellischen Hippie-Radikalität der frühen Achtziger, und Penelope und Loretta liebten das. Sie lernten sich, ein Jahr bevor beide schwanger wurden, in der Sonntagsschule kennen und wurden beste Freundinnen. Penelope gab auch Eamon Klavierstunden, doch bei ihm blieb nichts hängen. Loretta sagte Dalton, es sei wichtig für ihn, weiterhin Klavier zu spielen, auch wenn seine Mutter tot sei – das Klavier wäre immer eine Möglichkeit, eine Verbindung zu ihr herzustellen.

Ich sorgte mich um Daltons Hände. Was, wenn er damit an einem Werkzeug hängen blieb oder sich schnitt, oder wenn er seine Finger beim Reparieren in den Speichen einklemmte? Wie sollte er dann Klavier spielen? Er war kein Berufsmusiker, aber er hätte es sein können. Er war in der Lage, klassische Stücke zu spielen, er konnte Jazz spielen, er könnte unterrichten, wenn er wollte. Einmal sah ich eine Anzeige, in der man einen Pianisten suchte, der im Einkaufszentrum Weihnachtslieder spielen würde, und ich zeigte sie ihm. Er sah mich finster an.

Er hatte so etwas schon mal während seiner College-Zeit und davor gemacht, hatte an den Wochenenden in den Lobbys schicker Hotels gespielt.

»Okay, dann das«, schlug er vor. Er spielte das Outro von Faith No Mores »Epic«.

»Das gefällt mir«, sagte ich.

Er spielte den Song zu Ende.

»Hey. Es tut mir leid, dass ich dich noch einmal geküsst habe«, sagte er.

»Das muss dir nicht leidtun. Ich habe angefangen«, erwiderte ich.

»Ja, aber ich meine, in der Küche«, sagte er.

»Tut es dir das denn? Also leid?«

»Willst du das nicht?«

Er nahm mir das Glas aus der Hand und stürzte den Whiskey hinunter.

»Ich muss akzeptieren, dass der Rest meines Lebens keinen Sinn mehr ergeben wird«, sagte ich.

Ich wartete nicht darauf, dass er etwas erwiderte. Ich war betrunken, ich war schläfrig, ich bildete mir ständig ein, Noah schreien zu hören, erinnerte mich aber dann, dass er gar nicht bei uns war. Er war warm und sicher im Haus meiner Eltern, in zwanzig Minuten Entfernung.

Dalton begann, »Moondance« zu spielen.

»Du spielst nach Gehör. Wie kannst du all diese Songs im Gedächtnis behalten? Wie spielst du, wenn du betrunken bist?«, fragte ich. Manchmal spielte er vom Blatt, aber die meiste Zeit verzichtete er darauf.

»Ich habe die Noten dieser Songs fast alle irgendwann mal gesehen. Ich habe geübt. Ich höre die Musik, und meine Finger wissen, was zu tun ist. Ich habe einfach nur beschlossen, dass ich die Kapazitäten meines Gehirns dafür benutze. Ich habe eine Menge Raum hier oben«, erklärte er und tippte sich an die Schläfe.

Ich lauschte, er spielte. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter.

»Übrigens, unser Leben ergibt Sinn für mich.«

Ich schloss die Augen. Daltons Worte, begleitet von der Musik. Ein neuer Song.

*

Er spielte ein wenig Oscar Peterson. Irgendwann stand ich auf und begann, mich hin und her zu wiegen. Dalton erhob sich mit mir, und wir tanzten erneut, zur Stille. Das letzte Stück, das Dalton spielte, war »Desperado«. Ja, es war bedrückend. So funktionierten wir seit dem Sommer. Mein Leben ist jetzt bedrückend. Zuvor? War Eamon am Leben, und Dalton und ich alberten herum, wann immer wir zusammen waren. Er war ständig bei uns oder wir bei ihm. Dalton war ein angenehmer Zeitgenosse, er war mir vertraut, und ich fühlte mich wohl mit ihm. Er war die einzige Person, die ich in meiner Nähe ertragen konnte, in jenen empfindlichen Tagen in der Woche nach Eamons Beerdigung, als ich nur schlief und schlief und schlief und schlief und schlief und weinte und weinte und weinte und weinte und weinte. Er kochte für mich und machte mir Tee. Afrikanischen Honeybush am Morgen, Rooibos am Nachmittag, abendliche Kamille mit Lavendel. Wir saßen schweigend nebeneinander und sahen fern. Ich mochte vor allem die Sendungen über Holzarbeiten und Gärtnern, die meinen Kopf ruhigstellten. Ich liebte es, Auflistungen mit Namen von Dingen zu hören. Um zwei Uhr waren es Amerikanische Stechpalme, Grenadill, Esche, Platane, Bolivianisches Rosenholz, Rio-Palisander, Ostindischer Palisander, Honduras-Palisander. Um drei Uhr Acantholobivia euanthema, Dhalia hybridia Monsonia crassicaule, Zygocactus bridgesii, auch bekannt als Weihnachtskaktus.

Damals, als ich Noahs Babydecke strickte. Eine rechts, eine links, eine rechts, eine links. Lieber Gott, du hast mir versprochen, mich nie zu verlassen, und ich fühle mich verlassen. Eine rechts, eine links, eine rechts, eine links, eine rechts, eine links, eine rechts, eine links. Eine links, eine rechts, eine links, eine rechts, eine links, eine rechts, eine links, eine rechts. Lieber Gott, ich kann das hier nicht. Ich will es nicht. Scheiß drauf.

Damals, als Ballett und Unterrichten das Letzte waren, was ich tun wollte, die französischen Begriffe, die den Großteil meines Lebens bestimmt hatten, jedoch weiterhin Pirouetten durch meinen Geist zogen – das Geräusch von Blumen. Erblühen. Das Geräusch von Blütenblättern. Fallen. Arabesque. Développé. Échappé sur les pointes. Fouetté. Glissade. Grande jeté. Pas de chat. Port de bras. Relevé. Rond de jambe. Temps lié sur les pointes.

Damals, als ich keinen einzigen Gedanken fassen konnte, ohne zu hören: Sergeant Royce war zehn Jahre im Dienst. Er hinterlässt seine Frau Evangeline und ihr ungeborenes Kind. Die Worte ordneten sich in meinem Kopf neu an – eine Ammoniakmigräne aus Silben. Royce, ungeboren. Er hinterlässt. Eamon Evangeline, zehn. Ihr. Er ist Eamangelon. Evameline. Und ihr Kind, Dienst.

*

Es schneite, noch immer. Dalton spielte langsam »Desperado«, und wie immer, wenn er sich in ein Stück, das er spielt, vertieft, biss er sich auf die Unterlippe und schloss die Augen. Ich beobachtete ihn dabei. Dachte an die Küsse. Dachte daran, dass das heute Nacht ein Unfall gewesen war. Dachte an die Tatsache, dass es so etwas wie Unfälle nicht gab.

Ich wusste nicht, ob es am Schnee, an den Küssen oder daran lag, dass wir uns fühlten wie ein gerade erst zerbrochenes Ei, zerschmettert auf einem kalten Betonboden – Dalton spielte jeden Tag Klavier –, aber es war, als könnte er nicht aufhören. Als würden wir verschwinden, wenn er aufhörte zu spielen. Also spielte er.

Zäsur.

Donnerschnee.

Wir wandten uns gleichzeitig dem Fenster zu. Das Licht flackerte.

Ich glaube nicht an Geister, doch in diesem Moment spürte ich Eamons Anwesenheit, auch wenn ich sie nicht richtig wahrnehmen konnte – als wenn man mich gebeten hätte, etwas anzufassen, das ich jedoch nicht wirklich unter meinen Fingern spürte, weil ich dicke Handschuhe trug. Möglicherweise hatte Eamon eine Million verschiedener Emotionen wegen der Tatsache, dass Dalton und ich uns geküsst hatten, vielleicht hatte er auch nur eine. Hatte er überhaupt Emotionen? Nichts ergab Sinn, und ich konnte mir auch keinen zusammenreimen, sosehr ich es versuchte. Es war ermüdend, ärgerlich, zwecklos. Es brachte mich dazu, mich unendlich klein zu fühlen. Das Einzige, was mich erdete, war Noah. Und Dalton. Aber ich wusste, dass er mir nicht auf die gleiche Weise gehörte wie Noah.

*

Später, als wir müde genug waren, um ins Bett zu gehen, sagte ich Dalton, er könne in meinem Bett schlafen, wenn er verspreche, seine Finger bei sich zu behalten. Kurz nachdem Eamon gestorben und noch bevor Dalton eingezogen war, schlief er manchmal auf dem Boden vor meiner Schlafzimmertür. Jetzt schlief er im blauen Gästezimmer am Ende des Flurs. Wenn ich unerwartet nach Hause kam und er ohne Hemd herumlief, zog er sofort wieder eines an. Er achtete sorgsam darauf, sich wie ein Gentleman zu verhalten.

»Ich verspreche es«, sagte er.

»Bist du immer noch betrunken?«, fragte ich.

Wir hatten vor etwa einer Stunde aufgehört zu trinken und uns vor das Feuer gesetzt und Karten gespielt. Ich hatte beide Runden Quartett gewonnen. Dalton vernichtete mich in Leben und Tod. Er versuchte, sich an die komplizierten Regeln von President zu erinnern, doch wir waren uns nicht sicher, ob wir genug Personen dafür waren, also gaben wir es auf. Wir spielten eine Runde Rook. Auf dem Küchenboden sitzend, teilten wir uns bei offener Hintertür zwei Zigaretten. Wir hatten noch nie zuvor zusammen geraucht, doch nun taten wir es. Wir waren wie ausgewechselt. Es war eine Sache, wenn Noah bei uns war, und eine ganz andere, wenn wir allein waren. Manchmal fragte ich mich, was meine Eltern über uns dachten, was Eamon über uns dachte. Vielleicht dachte jeder, dass wir beide, Dalton und ich, den Verstand verloren hätten. Aber ehrlich gesagt war es egal, was andere Leute über uns dachten. Eamon war tot, und damit hatte sich auch meine Liste an wichtigen Dingen dramatisch verkürzt.

»Ich bin schon irgendwie betrunken«, sagte Dalton und lehnte sich an den Rahmen der Schlafzimmertür.

»Lass deine Finger bei dir«, sagte ich noch einmal, und Dalton nickte langsam.

Ich ging ins Bett, und eine Minute später schlüpfte Dalton neben mir hinein. Er trug genau wie ich ein T-Shirt und seine Pyjamahosen. Er schlang einen Arm um mich. Eamon war der einzige Mann, mit dem ich je zusammen gewesen war. Dalton und ich hatten nie im gleichen Bett gelegen, hatten nie Witze darüber gemacht. Und jetzt waren wir hier, Löffelchen. Mehr nicht. Das Schlafzimmer, leise tickend. Der Schnee flüsterte vom Februarhimmel herab. Er leuchtete in Ballettschuhrosa.

Eamon Royce

Als ich Evangeline das erste Mal getroffen habe, arbeitete ich bei der Security der Megachurch, und ja, das war genauso glamourös, wie es klingt. Der Kaffee war umsonst, und mein Posten am Ausgang ruhig. Ich stand dort und beobachtete das Geschehen. Es passierte nie etwas, nicht mal annähernd, doch das war es, wofür ich bezahlt wurde – dort in meiner Uniform zu stehen, die Dinge im Auge zu behalten und den Menschen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, während sie die Messe feierten. Als ich Evangeline das erste Mal sah, war ich mit den Gedanken ganz woanders. Mein Handy wurde mit Nachrichten bombardiert. Lisabeth.

Das machst du immer.

Fick dich, Eamon!!!

Sprich mich nie wieder an.

Warum schreibst du nicht zurück???

Wo bist du?!?!?

Hast du meine orangefarbenen Yogapants gesehen?

Ich hasse dich gerade so sehr.

Ruf mich einfach später an, ja?

Herrgott, Eamon.

Ich steckte gerade das Telefon in die Tasche, als Evangeline zu mir kam, nur wusste ich damals noch nicht, dass sie Evangeline war. Ich wusste, dass sie absurd schön war, sie trug Lila – die Farbe erinnerte mich an die Traubenmarmelade, die meine Großmutter immer gemacht hatte. In dem Moment, als mir bewusst wurde, dass ich ihr Kleid gerade mit der Marmelade meiner Großmutter verglich, war mir klar, dass ich ihr bereits zu viel Aufmerksamkeit schenkte. Ich hatte eine Freundin, doch Evangeline war eine Gans.

Dalton und ich hatten eine Geheimsprache, wenn es um Frauen ging. Wir hatten sie in der Mittelstufe erfunden, und wenn wir unter uns waren, benutzten wir die Wörter noch immer. Wir hatten sie vor einer Ewigkeit in unseren Wortschatz aufgenommen, und sie tauchten in meinen Gedanken auf, wann immer ich eine schöne Frau sah. Wir entschieden uns für Wörter, die unverdächtig waren. Wir wollten nicht, dass die Mädchen oder meine Mutter in der Lage wären, sie zu entschlüsseln. Mieze wäre zu verräterisch gewesen, also benutzten wir das Wort nicht. Eine Gans war die höchste Stufe. Das bedeutete, dass ein Mädchen sowohl hübsch als auch heiß war, es konnte auch bedeuten, dass sie sowohl süß als auch heiß war, doch darüber ließe sich streiten. Wir hatten uns für Gans entschieden, weil es ein albernes Wort war, das nie Verdacht erregen würde. Ein Eichhörnchen war ein Mädchen, das heiß war, aber nicht ganz so hübsch. Eine Ente war ein Mädchen, das hübsch war, aber nicht ganz so heiß. Eine Raupe war ein Mädchen, das weder besonders hübsch noch besonders heiß war, das wir aber nicht ganz ausschließen wollten. Vielleicht brauchte es einfach noch ein paar Jahre. Ein Frettchen dagegen war ein hoffnungsloser Fall und nicht der Mühe wert.

Evangeline war eine Gans durch und durch. Lisabeth war ebenfalls eine Gans. Eine wütende Gans. Mein Handy vibrierte erneut in meiner Tasche. Ich schaltete es aus, ohne auf das Display zu schauen. Richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf die Gans vor mir.

»Hi. Die Kleinen haben heute Morgen einen Auftritt, also werden wir sie durch diesen Eingang und dann da entlang hereinführen«, sagte sie gestikulierend. Kein Ehering. Die Gans war nicht verheiratet. »Wenn Sie also sicherstellen könnten, dass niemand sich in diese beiden Reihen setzt, wäre das ganz wunderbar«, schloss sie und ließ die Arme sinken.

»Okay.« Ich nickte.

»Was ist eigentlich mit Russ? Er war sonst immer unser Security-Mann«, sagte sie und legte den Kopf schräg.

»Oh, der ist nach Florida gezogen. Deshalb bin ich jetzt da«, erwiderte ich. Die Kirche füllte sich schnell. Die Musiker stimmten ihre Instrumente. Ich sah zu ihnen hinüber, um zumindest den Anschein zu erwecken, dass ich meinen Job machte. Ich hatte allerdings keine Lust, meinen Job zu machen. Ich wollte mit Evangeline sprechen. Leeny. Gänschen.

»Schade, wir werden ihn vermissen. Er war nett«, fügte sie hinzu.

Zwei der Kinder, die sie erwähnt hatte, kamen zu ihr und lugten hinter ihren Beinen hervor.

»Hey, ihr zwei, wo ist Miss Donna? Lauft los und sucht Miss Donna, gleich geht es los«, sagte sie mit ruhiger Stimme zu ihnen. Sie waren so plötzlich wieder weg, wie sie aufgetaucht waren. Sie glättete die Rückseite ihres Kleides.

»Mein Name ist Eamon Royce«, erklärte ich und zeigte auf meinen Nachnamen auf der Uniform. »Und ich bin nicht besonders nett, also laufen Sie nicht Gefahr, mich mit Russ zu verwechseln.«

Ich lächelte nicht.

Sie aber. Es war herrlich.

»Ach, ich bin mir sicher, Sie sind nett genug. Wir werden sehen. Ich bin Evangeline«, erwiderte sie und winkte mir zu.

Ein paar Leute wollten in den Reihen Platz nehmen, die Evangeline mich gebeten hatte freizuhalten, und ich teilte ihnen freundlich mit, dass sie für die Kleinen aus der Sonntagsschule reserviert seien. Die Lichter wurden gedämpft, die Musik setzte ein.

»Es war schön, Sie kennenzulernen, Evangeline«, sagte ich.

»Gleichfalls«, flüsterte sie und wandte sich ab.

Ich schaltete mein Handy nicht wieder an. Zwei volle Minuten hatte ich nicht an Lisabeth gedacht. Ich stand mit dem Rücken zur Wand und hielt ganz bewusst nicht Ausschau nach Evangeline, doch das spielte keine Rolle, denn sie war bereits allgegenwärtig.

*

Als ich nach Hause kam, kochte Lisabeth immer noch vor Wut.

»Es ist mitten am Tag. Wie kannst du bei der Sonne so zornig sein? Das ist eher Nachtzorn«, sagte ich und schloss die Tür hinter mir.

Wir wohnten nicht zusammen, aber sie hatte einen Schlüssel von meiner Wohnung. Sie stand in der Küche und trug eines meiner alten T-Shirts, darunter nichts als ihren Slip. Mein Körper reagierte auf sie. Ihre Beine, das wilde Haar hinter die Ohren gestrichen. Dieser Streit könnte mit Sex enden. Hätte ich nichts dagegen. Hatte ich nie etwas dagegen. Vielleicht aber doch. Vielleicht war es an der Zeit, etwas dagegen zu haben.

»Eamon. Eamon! Du bist so ein Arsch!«, rief sie und zeigte mit dem Finger auf mich.

»Okay«, sagte ich und zuckte die Schultern.

»Das ist deine Antwort? Okay.«

»Was willst du hören, Lisabeth? Sag mir, was du hören willst, und ich sage es, und dann können wir das hier abschließen«, erwiderte ich. Ich machte mich auf den Weg ins Schlafzimmer, um meine Uniform auszuziehen.

»Ich will dir nicht erklären müssen, was du sagen sollst«, sagte sie und kam hinter mir her.

»Ganz ehrlich? Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, worum es hier geht. Den ganzen Morgen habe ich mir das Gehirn zermartert, und ich schwöre dir, ich habe keinen Schimmer«, gab ich zu.

Ich legte meine Waffe wie immer in die oberste Schublade. Ich nahm meinen Einsatzgürtel ab und begann damit, die Knöpfe meines Hemds zu öffnen. Ich sah sie nicht an.

»Du hattest versprochen, morgen Abend zum Essen zu meinen Eltern zu kommen, und später meintest du, du müsstest arbeiten. Ich habe dich gebeten, mit jemandem zu tauschen. Du hast Nein gesagt. Daran kannst du dich nicht erinnern?«, fragte sie so ruhig, dass es mir beinahe Angst machte. Wie konnte sie ihre Wut so verdammt schnell abstellen?

»Ah.« Ich erinnerte mich. Ich wollte ihre Eltern nicht zum Essen besuchen, denn ihre Eltern zum Essen zu besuchen wäre eine Lüge. Diese Beziehung neigte sich ihrem Ende zu. Das wussten wir beide. Die Nachspielzeit tickte bereits herunter. Bald würden wir den Schlusspfiff des Schiedsrichters hören.

»Also kannst du nicht mit jemandem tauschen?«, fragte sie.

Ich zog mein Hemd aus, meine Hosen, meine Socken. Ich stand da in meinen Boxershorts und kratzte mir den Kopf.

»Nein, Lisabeth, das kann ich nicht. Und das ist doch keine große Sache«, erklärte ich.

»Für mich ist es eine große Sache. Du willst es einfach nur nicht hören.«

»Ich bin müde«, sagte ich.

»Ich gehe«, sagte sie.

Ich lasse sie gehen.

*

Später treffe ich mich mit Dalton auf ein Bier und Chicken Wings.

»UofL wirft einfach keine Dreier. Das ist das Problem«, sagte ich, während wir uns das Basketballspiel auf den Flachbildschirmen um uns herum ansahen.

»Das ist das Problem«, echote Dalton und griff nach einer Pommes.

Dalton und ich kannten uns so gut, dass wir nicht ständig sprechen mussten. Wir hatten beide unsere stillen Momente, und wir konnten es ziemlich lange schweigend miteinander aushalten. So waren wir schon immer gewesen. Aber wenn es etwas zu besprechen gab, dann sprachen wir auch miteinander. Und ich brauchte gerade jemanden zum Reden.

»Hey, ich habe mit Lisabeth Schluss gemacht, ich habe es ihr nur noch nicht gesagt«, erklärte ich.

»Wow.« Dalton klang allerdings wenig überrascht.

»Ich versuche, mich um ein Endlosgespräch zu drücken«, fuhr ich fort und behielt die Tür im Auge. Es war eine meiner Angewohnheiten, die ich vermutlich nie loswerden würde. Ich war ein Cop, ich achtete auf diese Dinge, selbst wenn ich gerade keine Uniform trug und nicht in einem Dienstwagen saß. Ich konnte das nicht einfach an- und abstellen, wann immer ich wollte. So funktionierte mein Gehirn eben. Ein paar Jungs kamen rein, wühlten in ihren Geldbeuteln und spielten an ihren leuchtenden Handys herum.

»Sie ist verrückt«, sagte Dalton. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte einen Arm auf die Lehne des unbesetzten Stuhls daneben.

»Ich weiß, das mochte ich so an ihr.« Ich lachte.

»Und jetzt zahlst du den Preis. Such dir doch eine andere Verrückte, das macht den Übergang leichter«, sagte Dalton.

»Hat Frances eine Freundin?«, fragte ich und bezog mich dabei auf Daltons On-off-Beziehung.

»Ich weiß genau, wann Frances wütend wird, aber ich kann es einfach nicht lassen«, sagte er.

»Mom ist der Meinung, dass du dir bei deiner Beziehung nicht genug Mühe gibst. Du weißt, was sie über Frances denkt«, sagte ich. Meine Mutter hatte wirklich versucht, eine gute Beziehung zu Frances aufzubauen, hatte sie eingeladen, war immer wieder auf sie zugegangen, aber egal, was sie tat, die beiden kamen nicht miteinander klar. Es sollte einfach nicht sein.

»Mom hat recht«, sagte Dalton leichthin.

»Ich habe in der Kirche eine Gans getroffen. Das ist es, was ich will. Eine neue Gans«, sagte ich und sah zu, wie ein Typ aus unserem Team auf dem Flachbildschirm gerade kraftvoll einen Ball versenkte. Ich reckte die Faust, ehe ich mein Bierglas leerte.

»Wer ist es?«

»Evangeline«, antwortete ich und versuchte, ihrem Namen einen gewissen Klang zu geben.

Dalton hob eine Augenbraue.

»Kümmere dich erst um dein Lisabeth-Problem, ja?«

»Ja, Chef. Kümmere du dich erst um dein Frances-Problem, ja?«, erwiderte ich.

»Erst einmal kümmere ich mich schnell um dieses Bier-Problem«, meinte Dalton, stand auf und ging zum Tresen, um eine zweite Runde zu bestellen.

In den darauffolgenden Wochen stürzte ich mich in die Arbeit. Im Vergleich zu anderen Städten in Amerika war die Kriminalitätsrate in Louisville extrem hoch. Louisville war die größte Stadt in Kentucky. Eine Stadt mit 1,2 Millionen Einwohnern, in der die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Verbrechens zu werden, bei eins zu zwanzig lag. Unser Police Department kam nie zur Ruhe. Ich versuchte, so gut es ging, die Arbeit am Arbeitsplatz zu lassen, kam meistens in meiner Uniform nach Hause und wusch mir unter der Dusche den Gestank von der Haut – den Schmutz und das Elend der Straßen, die bisweilen willkommene Langeweile im zähen Verkehr. Lisabeth hatte dieses frische, minzige Duschgel, das ich nach einer Schicht am liebsten verwendete, weil es mir das Gefühl gab, besonders sauber zu sein. Als könnte ich das Blut und die Niedertracht der Welt abwaschen. Neu anfangen. Doch sonntagmorgens sah ich Evangeline in der Kirche. Ich meldete mich freiwillig auch für die Sonntagabende und hoffte, dass sie auch dort sein würde. Sie war es. Mit der Zeit hatte sich unser Verhältnis von Polizist und Lehrerin an einer Sonntagsschule zu Eamon und Evangeline gewandelt, doch ich hatte sie nie außerhalb der Kirche getroffen. Sie kam jedes Mal zu mir, um mich zu begrüßen und mir für meinen Einsatz zu danken. Manchmal erinnerte sie mich daran, wo ich mir Kaffee holen konnte. Ich tat so, als wüsste ich es nicht, weil ich es mochte, ihr dabei zuzuhören, wie sie Dinge erklärte. Sie gestikulierte viel, und ich vermutete, dass das an ihrer Arbeit mit kleinen Kindern lag, denen sie ständig den Weg zeigen musste. Sie hatte den Körper einer Ballerina, und wenn sie lief, drehte sie die Füße ein wenig nach außen.

Evangeline war eine zierliche Schönheit. Manchmal überwältigte mich der Wunsch beinahe, sie hochzuheben und sie hinaus und in meinen Wagen zu tragen, sie überall hinzubringen, wo sie hinwollte, nur sie und ich. Ich stellte fest, dass ich mehr an sie dachte, als gut für mich war.

*

Das erste Mal, dass ich Evangeline außerhalb der Kirche sah, war im Theater. Ich hatte Lisabeth versprochen, dass ich mir mit ihr Les Misèrables ansehen würde. Ich war bereits vor dem Ende des ersten Akts eingeschlafen und sah nicht ein, mich großartig dafür zu entschuldigen, schließlich hatte ich viele Nächte durchgearbeitet, und obwohl Lisabeth das wusste, hatte sie darauf bestanden, dass ich sie begleite. Auf dem Weg zum Theater versuchte sie, mir das Musical zu erklären, aber ich konnte mich an nichts mehr erinnern. Meine Gefühle für Lisabeth waren unverändert, aber Schluss gemacht hatte ich trotzdem nicht mit ihr. Ich ging noch immer zu ihr, sie kam noch immer zu mir, wir hatten weiterhin Sex, ich fand sie noch immer sexy, wenn sie am Morgen mein Hemd trug. Ich wusste, dass wir nicht für immer zusammenbleiben würden, aber sie wusste das nicht. Ich fühlte mich schuldig, weil ich mich so sehr auf das Zusammentreffen mit Evangeline freute und weil meine Hände feucht wurden, wenn ich ihren Kopf aus der Menschenmenge in der Kirche herausragen sah. Sie hatte langes, gelocktes Haar, das aussah wie flauschige, in sich verdrehte Federn.

»Dieser Typ, Javert, er ist ein Cop … ihr habt also was gemeinsam«, hatte Lisabeth zu mir gesagt, als ich meinen Truck im Parkhaus neben dem Theater abgestellt hatte.

»Moment mal. Ich dachte, er sei der Böse?«

»Das ist er«, bestätigte sie.

»Inwiefern haben wir dann etwas gemeinsam? Denkst du, ich bin der Böse? Nein, ernsthaft … sei ehrlich«, sagte ich, beinahe zu ernst. Ich wusste nicht, ob sie darüber hinwegsehen würde. Ich wusste nicht, ob ich wollte, dass sie es tat.

»Er ist ein Cop, aber er jagt ständig Jean Valjean, unseren Helden. Was meinst du damit, ob ich denke, du seist der Böse? Willst du Streit? Worum geht es hier?«, fragte sie.

Ich stellte den Motor ab, und wir stiegen aus. Instinktiv nahm ich ihre Hand, als wir die Straße überquerten. Wenn ich mit ihr zusammen war, tat ich weiterhin diese Dinge: ihre Hand nehmen, an der Außenseite zwischen ihr und dem Verkehr laufen. Der Gedanke, dass ihr etwas Schreckliches passieren könnte, trieb mir die Tränen in die Augen, und ich sah täglich, wie viele schreckliche Dinge passierten. Am Tag vor dem Theaterbesuch war ich zu einem Autounfall mit Todesfolge gerufen worden und kümmerte mich um den Verkehr, während der Gerichtsmediziner den Leichensack schloss. Ich wollte Lisabeth nicht verletzen. Ich wusste nicht, was ich wollte. Vielleicht wollte ich gar nichts. Vielleicht war ich einfach nur ein wenig verknallt in Evangeline. Eine kleine Schwärmerei. Ich war zu alt für so was. Ich fühlte mich schuldig und wie ein Idiot.

»Es geht um nichts. Es tut mir leid, das war albern«, sagte ich, umschloss ihre Hand mit meinen beiden Händen und küsste sie auf die Fingerknöchel. Sie lächelte, und wir betraten das Theater und setzten uns auf unsere Plätze.

*

In der Pause ging ich zur Toilette und wollte uns danach noch zwei Drinks holen. Einen Bourbon für mich, Wodka Cranberry für Lisabeth. Ich war gerade auf dem Rückweg, als ich Evangeline entdeckte. Sie riss die Augen auf und breitete die Arme aus wie ein Flugzeug im Landeanflug.

»Eamon! Hi!« Sie umarmte mich. Wir hatten uns nie zuvor umarmt. Ich achtete darauf, die Drinks nicht auf ihr Kleid zu verschütten. Es war kurz und tigerorange. Sie hatte großartige Beine. Kleine Ballerinabeine. Kleine Evangeline.

»Hey! Verfolgst du mich jetzt?«, sagte ich. »Ich hätte nichts dagegen.«

Sie löste sich von mir und trat einen Schritt zurück. Ich lehnte mich gegen die Wand, sie stemmte die Hände in die Hüften.

»Dachte mir schon, dass du ein heimlicher Musical-Fan bist«, erklärte sie mit einem Augenzwinkern.

»Bin ich so leicht zu durchschauen? Verdammt, ich muss mich mehr anstrengen«, sagte ich.

»Du bist nicht allein hier.« Sie zeigte auf die beiden Drinks.

»Was, trinkst du etwa nicht beidhändig im Theater? Ich mache es nie mehr anders. Du hast nicht gelebt, bevor du dich nicht beidhändig durch Les Misérables getrunken hast. Aber Spaß beiseite, nein, bin ich nicht. Ich bin noch vor der Pause eingeschlafen, und meine Freundin war nicht allzu glücklich darüber«, erklärte ich und bereute es sofort. Ich hätte Lisabeth nicht in ein schlechtes Licht rücken sollen. Nicht nett von mir. Ließ mich nicht gut aussehen.

»Die Schlange ist so lang«, beklagte sich Evangeline und warf einen Blick zur Bar hinüber.

»Du kannst meinen Bourbon haben. Hier«, sagte ich und hielt ihn ihr hin.

»Nein. Nein, ist schon gut. Ich sehe einfach zu, dass ich noch einen bekomme, bevor die Lichter zu blinken beginnen.«

Ich sah sie verwundert an.

»Wenn es Zeit ist, sich wieder hinzusetzen, lassen sie die Lichter blinken«, erläuterte sie.

»Aha. Da weißt du Dinge, die mir unbekannt sind«, sagte ich, nippte an meinem Bourbon und wünschte, sie hätte davon getrunken. Ein ungeplanter Moment der Intimität.

»Mit wem bist du hier?«

»Mit meiner besten Freundin und ihrer Nichte. Wir sehen Les Mis jetzt zum siebten Mal. Wenn ich könnte, würde ich im Theater wohnen«, sagte sie.

»Machst du so was seit deiner Kindheit? Du tanzt offensichtlich …«, sagte ich. Die Schlange setzte sich in Bewegung. Noch blinkten die Lichter nicht. Ich wollte nicht, dass sie es taten. Ich wollte, dass uns grelle Leuchtfeuer für den Rest unseres Lebens einhüllten.

»So ziemlich. Ich habe mit drei angefangen zu tanzen … wuchs mit Schauspiel und Tanz auf. Es ist eine ganz andere Welt«, sagte sie.

»Mein Bruder … er spielt Klavier. Seine Mutter war Konzertpianistin. Er ist großartig. Er könnte für so was hier spielen.« Ich wies auf den Zuschauerraum, die Decke und die Wände.

»Ist er dein Halbbruder?«, fragte sie.

Ich hatte Daltons Mutter erwähnt, nicht meine. Ihr war die Ungereimtheit aufgefallen.

»Er ist mein Adoptivbruder. Meine Eltern haben ihn nach dem Tod seiner Mutter adoptiert«, erklärte ich und hatte vermutlich schon zu viel gesagt, auch wenn ich das Wort Selbstmord nur Menschen gegenüber erwähnte, die ich gut kannte. Ich wollte Evangeline mit dem Wort Selbstmord überschütten, wollte ihr hübsches Kleid damit bleichen.

Als sie an der Reihe war, bestellte sie ein Glas Weißwein.

»Das geht auf mich«, sagte ich, stellte eines meiner Gläser ab und zog meine Geldbörse aus der Tasche.

»Auf keinen Fall«, widersprach sie.

»Und ob«, sagte ich, reichte dem Barkeeper eine Zwanzig-Dollar-Note und sagte ihm, er könne den Rest behalten.

»Nun denn, danke schön. Du bist ein echter Gentleman, Eamon Royce.«

»Gern geschehen. Es war mir ein Vergnügen.«

Die Lichter flackerten und verwandelten den Flur in ein U-Boot.

»Es ist so weit«, sagte sie und zeigte nach oben.

»Wir sehen uns dann am Sonntag?«, fragte ich.

»Ja! War schön, dich auch mal draußen in der Welt zu treffen.«

»Definitiv.«

Ich ging zurück zu meinem Platz und reichte Lisabeth ihren Drink. Ich leerte den meinen. Die Lichter gingen aus, der Vorhang hob sich. Ich dachte an Evi. An ihren Geruch nach sauberem, klarem, lebensspendendem Wasser.

*

Ich arbeitete. Stellte Strafzettel aus. Nahm einige Typen fest, die sich in einer Bar prügelten, musste vor Gericht in ein paar Fällen aussagen. Am Samstag machte meine Mutter gebratenes Hühnchen und Kartoffeln und lud Dalton und mich zum Essen ein. Sie fragte uns auch, ob wir unsere Freundinnen mitbringen wollten, und wir lehnten beide ab. Das freute sie ungemein. Mom liebte es, ihre Jungs für sich zu haben.

*

»Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte Mom, sobald ich bei meinen Eltern ankam. Die meisten unserer Gespräche begannen so. Vor allem, wenn sie gerade erst gehört hatte, dass ein Polizist irgendwo auf der Welt zu Schaden gekommen war oder sie mal wieder einen besonders dramatischen Fernsehkrimi gesehen hatte. Sie legte eine Hand auf meine Wange und tätschelte sie sanft. Dalton und ich waren zusammen gekommen, er stand hinter mir. Nachdem Mom mich umarmt hatte, schlang sie die Arme um ihn.

»Ich will, dass du kündigst. Arbeite irgendwo in einem Büro. Dein Vater und ich können dir helfen, wenn du Geld brauchst. Ich sorge mich um meinen Jungen da draußen in den Straßen«, fuhr sie fort.

Sie machte sich vor allem Sorgen, wenn ich Downtown oder im West oder South End arbeitete, wo die Kriminalität am schlimmsten war. Sie rief mich an, um sich zu vergewissern, dass es mir gut ging, wann immer sie von Schießereien in den Sozialwohnsiedlungen hörte oder irgendwo ein Meth-Labor hochgegangen war. Ich arbeitete an einigen dieser Fälle, verbrachte nicht unerhebliche Zeit in den übelsten Gegenden der Stadt, die besonders stark von Kriminalität heimgesucht wurden, bevor ich wieder in mein nettes, sicheres Viertel zurückkehrte und mich beinahe schuldig fühlte, weil ich so fernab der Kriminalität lebte, wenn ich keinen Dienst hatte. Ich konnte mich im Haus meiner Eltern aufhalten, deren Garten in einen Golfplatz überging, und für einen Moment vergessen, dass sich vermutlich genau in diesem Moment zwei Kerle irgendwo in einer Seitengasse wegen eines Würfelspiels oder zwei Dollar zu Brei schlugen.

»Ich bin nicht in den Straßen, Mom. Ich bin hier, in deiner Küche«, erwiderte ich, nahm ein Stück Hühnchen vom Teller und steckte es mir in den Mund. Wie erwartet gab sie mir einen Klaps auf die Finger. Wie sie es immer tat.

»Finger weg. Es ist in der Ruhephase«, sagte sie.

»Es ist vor allem lecker.« Ich grinste.

»Dalton, sag ihm, dass er sich nicht täglich in Gefahr begeben muss, nur weil er in einer Uniform gut aussieht«, sagte sie.

»Irgendwer muss den Job machen, nicht? Ich meine, wenn jetzt etwas passieren würde, dann würdest du die Polizei anrufen. Das bin ich. Ich bin diese Person, die du rufen würdest. Irgendwer muss es ja sein, nicht wahr?«, sagte ich zu den beiden. Ich blickte zwischen ihren Gesichtern hin und her, als mein Vater in die Küche kam.

»Lass den Jungen in Ruhe«, sagte Dad. Das sagte er immer.

»Solange du mein Kind bist, mache ich mir Sorgen. Die Menschen sind verrückt, Eamon Michael«, beharrte meine Mom.

Dad und Dalton umarmten sich, setzten sich an den Tisch und begannen eine Unterhaltung. Ich blieb bei meiner Mutter am Herd. Sie beugte sich vor, um die Kartoffeln aus dem Backrohr zu holen. Ich nahm ihr die Topflappen aus den Händen, hob das Essen selbst heraus und stellte es auf die Arbeitsplatte. Sie ging zum Küchenschrank und holte vier Teller heraus.

»Was wollt ihr trinken?«, fragte sie und hielt zwei Flaschen Wein hoch. Einen Shiraz und einen Chardonnay.

»Bier«, sagte Vater. Ich bezweifelte, dass mein Vater in seinem ganzen Leben je einen Tropfen Wein getrunken hatte. Er war Biertrinker durch und durch und dem Alkohol ohnehin nicht sonderlich zugetan. Meine Mom dagegen? Mom liebte ihren Wein.

»Dalton, du trinkst doch sicher ein Glas Wein mit mir«, sagte sie lächelnd.

»Klar doch, auf jeden Fall«, antwortete er, sprang auf und holte den Korkenzieher aus der Schublade. Er öffnete den Rotwein für sie beide und füllte zwei Gläser. Mein Vater bot mir eine braune Flasche Bier an, und ich nahm sie und stellte sie an meinen Platz am Tisch. Ich füllte mir den Teller. Gerade als ich nach einem Brötchen griff, trat Dalton neben mich, seinen Teller in den Händen.

»Ich finde, sie hat recht. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass ich mir keine Sorgen um dich mache«, sagte er.

Ich sah das so: Ich würde meine Polizeimarke abgeben, wenn ich das Gefühl hatte, dass es Zeit war, und keinen Moment früher.

»Was, wenn ich von dir verlangen würde, den Fahrradladen zu schließen?«, fragte ich ihn.

»Warum willst du den Fahrradladen schließen?«, fragte Mom. Wenn sie wollte, hatte sie Ohren wie ein Luchs.

»Das will ich gar nicht, Ma«, erwiderte Dalton. »Wir haben uns nur unterhalten.«

»Ich liebe den Fahrradladen. Du solltest dort arbeiten«, sagte sie und zeigte auf mich. Sie setzte sich. Dad saß ihr gegenüber und aß bereits.

»Der Junge will nicht im Fahrradladen arbeiten, Loretta«, erklärte er. Dad zeigte mit seiner Gabel auf mich. Mein Vater war vor einigen Jahren aus dem Dienst ausgeschieden. Das alles war nicht neu für meine Mutter, nichts davon war neu für irgendeinen von uns.

»Ich hatte nicht geplant, mich in einen Polizisten zu verlieben. Ich habe mich nachts immer zu Tode gesorgt. Ich konnte nicht schlafen! Und kaum ging dein Vater in den Ruhestand, warst du zur Stelle. Ich konnte nicht einmal kurz durchatmen«, sagte sie.

»Mom, Ma. Mom, hör auf«, sagte Dalton. Er stellte seinen Teller auf den Tisch und schlang die Arme um sie. »Eamon geht es gut. Er ist hier, und es geht ihm gut. Allen geht es gut.«

»Mom. Ich weiß. Ich weiß. Ich liebe dich«, sagte ich und ging zu ihr.

Mein Dad stützte das Kinn auf die Hand.

»Loretta, komm, lass uns essen. Es tut mir leid, wenn ich dich geärgert habe«, sagte er.

»Nein, mir tut es leid. Es tut mir leid«, erwiderte sie und tupfte sich mit der Serviette die Augenwinkel ab. Es war wie in einem Film. Ich mochte es nicht, mich zu fühlen wie in einem Film. Wer setzten uns, wir aßen, wir redeten. Der Alarm des Ofens meldete sich, der Pfirsich-Pie war fertig. Ich holte ihn aus dem Ofen. Wir aßen weiter und sprachen nicht mehr über meinen Job. Mom fragte Dalton über Frances aus. Sie wollte nicht viel über Lisabeth wissen, und ich war erleichtert. Dalton tat mir leid, weil er nicht viel über Frances zu erzählen hatte, Mom aber nicht locker ließ.

»Ich werde sie vermutlich niemals heiraten«, sagte Dalton schließlich, nachdem Mom ihn gefragt hatte, ob sie nicht allmählich planten, sich zu verloben.

»Ich habe dir das noch nie erzählt, aber die wenigen Dinge, die ich an Frances mag – und es sind weiß Gott nicht viele –, diese Dinge erinnern mich an deine Mutter«, sagte Mom.

»Wirklich?«, meinte Dalton.

»Ich vermisse sie«, sagte Mom. War heute Vollmond? Mom war immer etwas emotional, aber heute war es extrem.