Für immer in meinem Herzen - Melody Thomas - E-Book
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Für immer in meinem Herzen E-Book

Melody Thomas

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Beschreibung

Hals über Kopf verliebt sich Lady Alexandra in den Offizier Christopher Donally. Ihn will sie, sonst keinen - auch wenn ihr Vater gegen diese Verbindung ist! Wagemutig brennt sie mit dem Mann ihres Herzens durch, um ihn zu heiraten. Aber das Glück währt nur kurz: Alexandras einflussreicher Vater zwingt das junge Paar, die Ehe annullieren zu lassen. Doch die gemeinsamen Stunden bleiben unvergessen - eine Liebe in der Erinnerung. Bis Lady Alexandra - zehn Jahre später - in schreckliche Bedrängnis gerät: Sie wird des Betrugs verdächtigt. Und nur ein Mann kann ihr helfen: Christopher …

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Seitenzahl: 505

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IMPRESSUM

Für immer in meinem Herzen erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2004 by Laura Renken Originaltitel: „In My Heart“ erschienen bei: Avon Books, New YorkPublished by arrangement with Avon, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL GOLDBand 192 - 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Maria Fuks

Umschlagsmotive: The Killion Group / Hot Damn Designs

Veröffentlicht im ePub Format in 11/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733769390

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

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1. KAPITEL

London, im Frühjahr 1866

Haben Sie den Verstand verloren, Alexandra?“ Professor Atler ließ ihren Bericht mit einer so entsetzten Miene auf den Tisch fallen, dass man hätte meinen können, das Papier sei mit der Pest infiziert.

„Es gibt einen Dieb hier im Museum, Herr Professor“, erklärte Lady Alexandra Marshall. Vor Aufregung klang ihre Stimme ein bisschen heiser. „Einen, der sich sehr gut auskennt. Das gefällt mir ebenso wenig wie Ihnen. Aber es nützt nichts, die Tatsachen zu leugnen. Was ich herausgefunden habe, lässt keine andere Interpretation zu. Deshalb stehe ich zu dem, was ich hier aufgeschrieben habe. Ich bringe keine falschen Anschuldigungen vor. “

„Ihre Schlussfolgerungen sind der reine Wahnsinn! Himmel und Hölle, überlegen Sie doch, was Sie da tun!“

Seine Worte jagten Alexandra einen kalten Schauer über den Rücken. Und plötzlich begriff sie, wie sich früher die Überbringer schlechter Botschaften gefühlt haben mussten. Damals, als man diese noch umbrachte … Sie senkte den Blick.

Es war nicht sehr hell in dem Raum, weil dort eine große Anzahl wertvoller Altertümer aufbewahrt wurde. In einer Ecke standen einige mit Glasplatten abgedeckte Särge, in denen sich uralte Mumien befanden, die stets für einen irgendwie muffigen Geruch sorgten. In langen Regalen waren kleine Kunstwerke versammelt, darunter auch einige chinesische Vasen und Krüge, die dem ähnelten, den Alexandra in der Hand hielt. Sie betrachtete ihn einen Moment lang und wusste plötzlich, dass ihr Schicksal besiegelt war.

Wenn die falschen Leute von ihrer Entdeckung erfuhren, würde das die gesamte akademische Elite gegen sie aufbringen. Unvorstellbar, dass es in den „geheiligten Hallen“ des Britischen Museums einen Dieb gab! Wenn Alexandras Verdacht sich bestätigte – und sie hatte keinen Zweifel daran –, dann würde dadurch der Ruf aller Museumskuratoren und aller mit dem Museum verbundenen Wissenschaftler gefährdet. Am schlimmsten würde es natürlich den Direktor treffen.

Unwillkürlich seufzte sie auf. Fest stand, dass irgendwer sich an den unschätzbar wertvollen Exponaten zu schaffen gemacht hatte. Und dass es sich bei diesem Jemand um einen Menschen handelte, der mit den Abläufen im Museum ebenso vertraut war wie mit den Schätzen, die dort gehütet wurden.

„Ich habe nicht die Absicht, dem Museum auf irgendeine Art zu schaden.“ Sie stellte den chinesischen Krug vor sich auf den Tisch. „Aber ich bin diejenige, die die Kunstwerke bei ihrem Eintreffen in Empfang genommen und untersucht hat. Deshalb weiß ich, dass einige Originale gegen Nachahmungen vertauscht worden sind. Häufiger allerdings wurden nur die echten Edelsteine, mit denen die Becher und Krüge verziert waren, gegen künstliche Steine ersetzt. Alle Fälschungen wurden sehr geschickt ausgeführt.“

„Ist Ihnen klar, dass manch einer Ihnen vorwerfen wird, Sie wollten eigene Fehler bei Ihren Untersuchungen und Klassifizierungen durch diese Anschuldigungen verdecken? Haben Sie darüber nachgedacht, dass Sie sich vielleicht wirklich in dem einen oder anderen Fall geirrt haben?“

„Ich …“ Sie errötete vor Zorn. „Ich habe mich nicht geirrt, Sir.“ Aber die Bemerkung des Professors hatte ihren Zweck erfüllt. Erste Zweifel regten sich in Alexandra. Was war, wenn sie sich wirklich – und sei es nur ein einziges Mal – getäuscht hatte? Sie faltete die Hände im Schoß, damit Atler nicht sehen konnte, wie sie zitterten. „Sir, ich habe keinen Fehler gemacht.“

„Wie können Sie da so sicher sein?“

„Man sieht es, wenn sich das Licht in den Steinen bricht. Schauen Sie sich die Rubine und Smaragde auf diesem Krug aus dem 16. Jahrhundert an. Nicht einer von ihnen ist echt. Und was die anderen Kunstwerke betrifft“, sie wies auf die Gegenstände, die sie auf dem Tisch aufgereiht hatte, „auch sie sind verändert oder ganz ausgetauscht worden. Die Smaragdelefanten zum Beispiel sind keineswegs aus echten Edelsteinen gefertigt. Es handelt sich nicht um die Elefanten, die wir aus China erhalten haben, sondern um hervorragend ausgeführte Fälschungen. Und das ist leider noch längst nicht alles. Ich habe nicht jedes Teil mitgebracht, an dem unser Dieb sich zu schaffen gemacht hat. Und ich kann Ihnen versichern, dass der Dieb sich die größte Mühe gegeben hat, sein Tun zu verheimlichen. “

„Trotzdem haben Sie – und nur Sie – es bemerkt.“

Seine Stimme verriet deutlich, was er damit sagen wollte. Für Alexandra war die Anklage, die seine Worte enthielten, unüberhörbar. Erneut lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Doch sie holte tief Luft und erklärte: „Ich wiederhole: Es war die Lichtbrechung, die mich misstrauisch gemacht hat. Synthetische Edelsteine reagieren auf Licht anders als echte. Daran kann man, wenn man einige Erfahrung hat, eine Fälschung erkennen. Der Austausch der Originale gegen die Nachahmungen kann erst kürzlich stattgefunden haben. Sonst wären mir die Diebstähle schon eher aufgefallen.“

Professor Atler hob die Augenbrauen. „Ach ja?“

Alexandra zwang sich, zumindest äußerlich, zur Ruhe. „Wie Sie wissen, wechseln wir alle drei Monate die Ausstellungsstücke aus, und den Rest lagern wir in der Zwischenzeit unzugänglich für das Publikum ein. Dieser Krug hätte jetzt ausgestellt werden sollen. Als ich ihn hervorholte, um ihn zu polieren, fiel mir auf, dass etwas nicht stimmte. Ich holte meine Notizen zu Hilfe, alles, was ich aufgeschrieben hatte, als ich den Krug untersuchte. Außerdem haben wir natürlich eine Kartei, in der alle Kunstwerke erfasst sind, die wir besitzen. Nun, es ist offensichtlich, dass dieser Krug nicht mit dem Original übereinstimmt, das uns damals aus China geliefert wurde. Jemand hat die echten Edelsteine gegen synthetische Nachahmungen ausgetauscht.“

Ihr Gegenüber schwieg beharrlich.

„Sir“, sagte sie, „ich habe diesen Bericht geschrieben, weil ich eine Untersuchung der Vorfälle wünsche.“

Professor Atler starrte die Papiere an, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Nicht ein einziges Mal hatte er die Kunstwerke beziehungsweise die Fälschungen eingehender betrachtet. Er schien in sich zusammengesunken zu sein. Die braune Wolljacke hing über seinen Schultern, als sei sie ihm plötzlich zu weit geworden. Sein Gesicht wirkte grau und müde.

Unvermutet empfand Alexandra Mitleid mit ihm. Atler war kein junger Mann mehr. Sein Haar war schon seit Jahren ergraut. Und zweifellos trug er schwer an der Verantwortung, die ihm als Direktor des Museum zukam. Ein Skandal würde ihn ruinieren. Verständlich also, dass er nicht wollte, dass etwas von den Diebstählen an die Öffentlichkeit drang. Zudem ging es auch um den Ruf und damit um die Zukunft des Museums.

Darüber hatte sie sich bisher keine Gedanken gemacht. Ihr Herz schlug schneller, und sie empfand fast so etwas wie Schuldbewusstsein. Ihr ganzes Leben lang hatte sie den Professor gekannt. Er war ein Kollege und ein Freund ihres Vaters Lord Ware und hatte wie dieser lange als Diplomat im Ausland zugebracht. Irgendwann, kurz bevor Alexandra ihre Universitätsstudien abgeschlossen hatte, war er nach England zurückgekehrt, um eine Stellung im Museum anzunehmen. Dort hatte er eine steile Karriere gemacht. Und nun war er schon seit einiger Zeit Direktor des Museums.

Als sie, Alexandra, vor vier Jahren die Universität verlassen hatte, war es Atler gewesen, der sich dafür einsetzte, dass sie Arbeit im Museum fand. Das würde sie ihm nie vergessen. Mit Können, Hingabe und Ehrgeiz hatte sie sich all ihren unterschiedlichen Aufgaben gewidmet. Seit ihrer Einstellung hatte sie mehr wissenschaftliche Aufsätze veröffentlicht als die meisten ihrer Kollegen. Am bekanntesten waren ihre Veröffentlichungen zu Themen aus dem anthropologischen Bereich, ihre Aufsätze zur natur- und geisteswissenschaftlichen Entwicklung des Menschen.

Ihre Begeisterung für dieses wissenschaftliche Gebiet hing damit zusammen, dass die Liebe ihres Vaters von jeher der Erforschung der menschlichen Vergangenheit gehört hatte. So hatte sie von Kindheit an Gelegenheit gehabt, verschiedene Ausgrabungsstätten zu besuchen, sich mit den unterschiedlichen Arbeiten dort vertraut zu machen und ein ureigenes Interesse an archäologischen Unternehmungen zu entwickeln.

Das war zweifellos eine Leidenschaft, die sie mit Professor Atler teilte. Damals, als er für ihre Übernahme als Mitarbeiterin des Museums plädiert hatte, war er gerade aus Ägypten zurückgekehrt, wo er mehrere Mumien entdeckt hatte. Er hatte sie nach England gebracht und war dafür von Königin Victoria persönlich geehrt worden. Diese königliche Anerkennung hatte gewiss dazu beigetragen, dass man ihn kurz darauf zum Direktor des Museums ernannt hatte.

Alexandra schätzte den Professor sehr, ja, sie bewunderte ihn, sodass sie stets bestrebt war, sich ihm gegenüber von ihrer besten Seite zu zeigen. Gleichzeitig versuchte sie, ihren ausnahmslos männlichen Kollegen zu beweisen, dass sie eine gute Wissenschaftlerin war, die genauso logisch denken konnte wie sie. Ähnliche Anstrengungen unternahm sie auch, wenn sie Kontakt zu den Besuchern des Museums hatte oder wenn sie – bei den seltenen Gelegenheiten, da sie an gesellschaftlichen Ereignissen teilnahm – mit einflussreichen und hochgestellten Menschen zusammenkam. Ohne sich zu den Frauenrechtlerinnen zu rechnen, jenen Damen, die für mehr Rechte kämpften, wollte sie doch unter Beweis stellen, dass man kein Mann sein musste, um gute wissenschaftliche Arbeit zu leisten. Warum nur glaubten so viele Menschen, dass es jemandem an Verstand mangelte, nur weil er Brüste hatte?

Manchmal, wenn sie darüber nachdachte, regte sich ein heftiger Zorn in ihr.

Atlers Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Hat Lord Ware Ihren Bericht gelesen?“

Tatsächlich hatte sie ihrem Vater gegenüber die Diebstähle noch mit keinem Wort erwähnt. Sie fürchtete nämlich seine Reaktion auf diese Nachricht. Als Mitglied des House of Lords gehörte er zu denen, die über die finanzielle Unterstützung der kulturellen Einrichtungen Londons entschieden und daher ein großes Interesse daran hatten, dass der Ruf des Museum untadelig war. Doch das wollte sie dem Professor vorerst nicht erklären. Also sagte sie nur: „Ich bin selbstverständlich zuerst zu Ihnen, dem Direktor des Museums, gekommen. Mein Wunsch ist es, dass wir gemeinsam die Kuratoren über das informieren, was ich herausgefunden habe. Wir sollten eine Untersuchung der Vorfälle einleiten. Und selbstverständlich müssen wir Vorkehrungen treffen, damit nichts von alldem an die Öffentlichkeit gelangt.“

Mit gerunzelter Stirn sah Atler sie an. „Die Kuratoren haben mit großzügigen Spenden die Anschaffung vieler Exponate ermöglicht. Und nun wollen Sie ihnen mitteilen, dass genau diese Exponate verschwunden sind? Dass das Spendengeld verloren ist? Himmel, so denken Sie doch erst einmal nach! Was werden die Kuratoren tun, wenn sich herausstellt, dass es gar keinen Diebstahl gegeben hat, sondern dass der Fehler allein bei Ihnen liegt?“

Wieder errötete sie vor Zorn. Da sie nicht sicher war, dass sie die richtigen Worte für eine Erwiderung finden würde, schwieg sie einen Moment lang.

„Und wenn es wirklich einen Dieb gibt“, fuhr Atler fort, „dann wird der Skandal uns alle ruinieren. Er wird auch Ihrem Vater schaden, der einerseits der Vorsitzende des Museumskomitees ist und andererseits im House of Lords sitzt. Er und die anderen Mitglieder des Oberhauses entscheiden darüber, welche finanzielle Unterstützung wir erhalten. Die Existenz des Museums ist nur gesichert, wenn wir die Politiker auf unserer Seite haben. Wir können uns keinen Skandal leisten!“

„Dann legen Sie mir also nahe, Fehler bei der Untersuchung der Kunstwerke einzugestehen, obwohl ich keine begangen habe? Sie halten diese Lüge für besser, als dass wir den Dieb finden und zur Rechenschaft ziehen?“ Ihre Stimme bebte.

Zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs schaute Professor Atler ihr in die Augen. „So leid es mir tut, meine Liebe, das ist wirklich meine Überzeugung.“ Damit wandte er den Blick ab und zerriss ihren Bericht in kleine Schnipsel. Diese – sie erschienen Alexandra wie ein Symbol für das, was von ihrer Karriere übrig war – warf er in den Papierkorb unter seinem Schreibtisch. „Wenn Sie weiterhin im Museum arbeiten wollen, werden Sie, zumindest vorerst, die vermeintlichen Diebstähle mit keinem Wort erwähnen.“

Ungläubig starrte sie ihn an. Bestimmt hatte sie sich verhört! Ja, sie musste ihn falsch verstanden haben.

„Ich werde mich selbst um alles kümmern und die Kuratoren über das informieren, was ich für notwendig und richtig halte“, fuhr Atler fort. Er sah jetzt bedeutend besser aus als zu Beginn ihres Gesprächs. Seine Haut wirkte nicht mehr grau; er hielt den Rücken gerade und die Schultern gestrafft.

Alexandra hingegen war, als müsse sie ersticken. Ihr Korsett war ihr noch nie so eng und erdrückend erschienen. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Zorn, Angst, Verzweiflung erfüllten sie. Sie war nicht so unerfahren, dass sie nicht begriffen hätte, was Atlers Entschluss bedeutete. Er hatte sie zum Sündenbock gemacht. Und das bedeutete, dass sie, wenn sie überhaupt weiter im Museum bleiben konnte, früher oder später in einen der Kellerräume verbannt werden würde, um Manuskripte zu kopieren. Im schlimmsten Fall würde man ihr die Diebstähle zur Last legen. Alles, wofür sie gekämpft hatte, war verloren. Es gab keine Gerechtigkeit!

Sie schluckte, schluckte noch einmal und konnte endlich wieder atmen. Sie bemühte sich, ihre Lungen langsam und regelmäßig mit Luft zu füllen. Dabei überlegte sie fieberhaft, welche Mittel und Wege ihr noch blieben, um ihren Ruf und ihre Karriere zu retten.

Fest stand, dass es im Museum einen Dieb gab. Jemanden, der sich mit Altertümern auskannte. Jemanden, der ein großes Risiko eingegangen war, um Originale durch Fälschungen zu ersetzen. Oder war das Risiko gar nicht so groß? Hatte der Dieb von Anfang an darauf spekuliert, dass man sie, Alexandra, verdächtigen würde? Wusste er, dass sie die betreffenden Kunstwerke bei ihrem Eintreffen untersucht hatte, und hielt er sie, da sie eine Frau war, für besonders angreifbar?

„Professor Atler?“

Er schob die Papiere, mit denen er bei ihrem Eintreten beschäftigt gewesen war, auf dem Schreibtisch hin und her, suchte einige heraus und verstaute sie in seiner ledernen Aktentasche. „Am besten gehen Sie jetzt nach Hause, Alexandra. Ruhen Sie sich aus. Es ist zu Ihrem eigenen Besten und zum Besten des Museums. Vertrauen Sie mir! Ich werde mich um alles kümmern.“

Alexandra stand an einem der großen Fenster des Museums und ließ den Blick auf den Häusern und Straßen von London ruhen. Ihrer Meinung nach gehörte die Stadt zu den schönsten der Welt. Sie betrachtete die Silhouetten der Kirchen mit ihren hohen Türmen und architektonisch ausgefeilten Hauptgebäuden und Seitenschiffen. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die St. Pauls Kathedrale. In der hereinbrechenden Dämmerung konnte sie die Umrisse gerade noch erkennen.

Es begann zu regnen, und Alexandra wandte sich ab. Ihr war plötzlich kalt, und unwillkürlich griff sie nach dem Kettchen des silbernen Medaillons, das sie seit Jahren Tag und Nacht unter ihrer Kleidung verborgen trug. Sie zog das Schmuckstück hervor und umschloss es mit den Fingern.

Schließlich holte sie tief Luft, ging ein paar Schritte, blieb dort, wo der Flur rechtwinklig abbog, stehen und schaute vorsichtig um die Ecke. Nachdem sie Professor Atlers Büro verlassen hatte, war sie fast eine Stunde lang im Lesesaal des Museums geblieben. Dann erst hatte sie den Mut aufgebracht, den Weg zurück zu ihrem eigenen kleinen Zimmer einzuschlagen. Sie wollte von niemandem gesehen werden, und deshalb hatte sie den Raum auch nicht direkt betreten, sondern im Flur gewartet, bis es in den Gängen ruhig geworden war.

Jetzt schien sich niemand mehr in diesem Teil des Gebäudes aufzuhalten. Nur die Putzfrau ging ihrer Arbeit nach. Alexandra konnte hören, wie ein Putzlappen ausgewrungen und dann mit kraftvollen Schwüngen der Boden gewischt wurde. Zu sehen war niemand.

Leise holte sie das Ledermäppchen hervor, in dem sie mehrere Schlüssel aufbewahrte, die ihr Zugang zu verschiedenen Räumen des Museums verschafften, und suchte den zu ihrem Büro heraus. Dann raffte sie ihre Röcke und lief, so schnell sie konnte, den Gang entlang. Ihr Korsett war so eng, dass sie einen Moment fürchtete, aus Sauerstoffmangel das Bewusstsein zu verlieren. Völlig außer Atem erreichte sie die Tür und schob den Schlüssel ins Schloss. Dabei war ihr nur zu deutlich bewusst, dass sie den Schlüsselbund eigentlich längst hätte abgeben sollen. Pünktlich zum Feierabend wurde das von allen Mitarbeitern des Museums erwartet.

Die Putzfrau hatte zu singen begonnen. Sie hatte eine angenehme klare Stimme. Hätte Alexandra sich in einer weniger heiklen Situation befunden, so hätte sie vermutlich einen Moment lang lächelnd zugehört. So jedoch schlüpfte sie ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Dann lehnte sie sich gegen die Wand, um abzuwarten, dass ihr Herzschlag sich normalisierte und sie wieder genug Luft bekam.

Das Büro war klein, vollgestellt und nur mit einem einzigen schmalen Fenster ausgestattet. Auf jeden anderen hätten die Bücherstapel auf dem Boden, die Regale voller Kunstwerke und die Papiere, die scheinbar ungeordnet auf dem Schreibtisch lagen, chaotisch gewirkt. Doch Alexandra wusste genau, wo sich alles befand. Nachdem ihre Augen sich an das schwache Licht gewöhnt hatten und ihr Atem sich beruhigt hatte, dauert es keine dreißig Sekunden, bis sie die Notizen gefunden hatte, die ihrem Bericht über die Diebstähle zugrunde lagen.

Gewissenhaft hatte sie aufgelistet, unter welcher Nummer die Exponate archiviert waren, die der Dieb ausgetauscht oder verändert hatte. Weiterhin gab es eine kurze Beschreibung des Originals und der jeweiligen Nachahmung.

Sie nahm die Notizen und begab sich, wieder sorgfältig darauf achtend, dass niemand sie sah, zum Archiv, das sich ganz in der Nähe befand. Dort wurden Tausende von Akten aufbewahrt. Jede von ihnen war einem Kunstwerk, einer archäologischen Kostbarkeit oder einem Gebrauchsgegenstand von historischer Bedeutung zugeordnet. Hier war alles verzeichnet, was das Museum besaß. Und nur die wirklich wichtigen Mitarbeiter hatten Zutritt zu dem Raum.

Alexandra wusste, dass sie vielleicht schon am nächsten Tag nicht mehr zu den Zugangsberechtigten zählen würde. Also machte sie sich daran, anhand ihrer Notizen verschiedene Akten zu überprüfen. Mit jedem Blatt, das sie zurücklegte, wurde sie blasser. Schließlich ließ sie sich fassungslos auf einen Stuhl sinken. In jeder Akte, die sie zur Hand genommen hatte, war vermerkt, dass Lady Alexandra Marshall das jeweilige Exponat bei seinem Eintreffen überprüft und katalogisiert hatte. Es gab nicht eine einzige Ausnahme.

Unter diesen Umständen würde es für Professor Atler ein Leichtes sein, ihr die Schuld zuzuschieben. Oh Gott, was sollte sie nur tun?

Nun, sie würde nicht aufgeben! Sie war keine Diebin, und sie war nicht bereit, widerstandslos die Rolle des Sündenbocks zu übernehmen. Ihr wurde klar, dass sie zu ihrem eigenen Schutz nun etwas tun musste, was ihr noch vor wenigen Stunden ganz unmöglich erschienen war: Sie musste gegen die Regeln verstoßen, an die alle Mitarbeiter des Museum gebunden waren.

Mit klopfendem Herzen, aber fest entschlossen, für ihr Recht zu kämpfen, suchte sie aus den Akten die für sie wichtigen Seiten heraus, legte sie in ein dünnes Büchlein und verstaute dieses in ihrem Retikül. Sie hatte Angst, aber schon während ihrer Zeit an der Universität hatte sie gelernt, ihre Ängste zu überwinden. Als Frau in einer reinen Männerwelt hatte sie stets gegen eine Unmenge von Widerständen kämpfen müssen. Ihrem Mut, ihrer Beharrlichkeit und ihrer Klugheit war es zu verdanken, dass sie sich einen Ruf als Archäologin und ernst zu nehmende Wissenschaftlerin erworben hatte, obwohl sie nie einen offiziellen Abschluss an der Universität erhalten hatte.

Andererseits machte sie sich keine Illusionen darüber, dass ihr beruflicher Erfolg auch ihrer Herkunft geschuldet war. Sie war die Tochter des einflussreichen Earl of Ware. Sein Ruf und seine Beziehungen waren mit dafür verantwortlich, dass sie die Stellung im Museum erhalten hatte.

Niemand sah Alexandra, als sie in ihr Büro zurückkehrte. Dort trat sie zu einem der Regale, nahm mehrere kleine Gegenstände heraus und ließ sie in ihr inzwischen ungewöhnlich volles Retikül gleiten. Dann schlüpfte sie in ihren Mantel.

Längst hatte sie beschlossen, die Hintertreppe zu nehmen, durch die sie in die große Halle gelangen konnte. Dort wollte sie versuchen, sich unter eine Gruppe von Menschen zu mischen, die im Begriff waren, das Museum zu verlassen. So würde sie vielleicht der Aufmerksamkeit des Wachpersonals, dem sie natürlich bekannt war, entgehen. Und das erschien ihr wichtig, damit niemand nachvollziehen konnte, wie lange sie tatsächlich noch geblieben war, nachdem Professor Atler sie aufgefordert hatte, sich nach Hause zu begeben.

Sie wandte sich zur Tür – und erstarrte. Jemand drückte von außen die Klinke herunter!

Sie wusste natürlich, dass einer der Wachleute stets kurz vor der allabendlichen Schließung des Museums eine letzte Sicherheitsrunde in diesem Teil des Gebäudes drehte. Aber sie war der Meinung gewesen, er hätte bereits Feierabend gemacht. Konnte Professor Atler bemerkt haben, dass sie ihren Schlüssel nicht abgegeben hatte? Hatte er deshalb noch einmal jemanden zu ihrem Zimmer geschickt?

Zwei Schritte nur, und sie stand neben der Tür. Den Rücken gegen die Wand gepresst, wartete sie. Mit etwas Glück würde niemand sie bemerken.

„Meine Güte, Dickie“, hörte sie eine weibliche Stimme sagen, „du hast mich fast zu Tode erschreckt. Was tust du denn noch hier?“

Ein Mann murmelte eine Antwort, die Alexandra nicht verstehen konnte. Dann wurde es still. Was taten die beiden? Warum sprachen sie nicht miteinander? Küssten sie sich womöglich? Dieses leise Stöhnen mochte ein Hinweis darauf sein. Schließlich erklang wieder Gemurmel und danach das Geräusch sich entfernender Schritte.

Alexandra wartete noch zwei oder drei Minuten lang, ehe sie vorsichtig die Tür öffnete und den leeren Flur entlang zur Hintertreppe eilte. Wenig später stand sie in der großen Halle. Es war kein Problem, sich unauffällig zwischen einige Leute zu mischen, die auf dem Weg nach draußen waren, wo sie eine künstliche Darstellung der afrikanischen Savanne erwartete, bevölkert von verschiedenen wilden Tieren.

Bemüht, sich möglichst unsichtbar zu machen, zog Alexandra die Kapuze übers Haar, senkte den Kopf und schritt mit den anderen die breite marmorne Treppe hinunter, an einem Wachmann vorbei, der ihr keinerlei Aufmerksamkeit schenkte. Und das war gut so, denn Alexandra war, wie sie sehr genau wusste, eine miserable Lügnerin. Hätte jemand sie angesprochen, so hätte sie sich bestimmt sofort verraten.

In diesem Moment bemerkte sie, dass ein zweiter Wachmann auftauchte und etwas zu dem ersten sagte. Sie erschrak und blieb unwillkürlich stehen. Jemand stieß sie von hinten an, und sie musste einen großen Schritt nach vorn machen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Verflixt, jetzt war sie doch noch gestolpert! Unwillkürlich stützte sie sich an der Schulter des Mannes ab, der neben ihr ging.

Er reagierte nicht sofort, sondern vollendete den Satz, der wohl an die Dame gerichtet war, die sich bei ihm eingehakt hatte. „… eine gewisse Ähnlichkeit zu diesen Giraffen“, hörte sie ihn sagen.

Seine Stimme war dunkel, warm, männlich und klang so vertraut, dass Alexandra der Atem stockte. Sie musste sich zwingen, den Blick gesenkt zu halten. Zu gern hätte sie das Gesicht des Mannes gesehen.

Seine Begleiterin kicherte. „Sie sehen so … unecht aus. Und sie sind so riesig! Ich glaube, selbst Onkel David ist nicht so groß wie sie, nicht einmal, wenn er auf einen Stuhl klettert.“

„Er sieht auch nicht so gut aus“, stimmte der Mann zu.

Der humorvolle Wortwechsel bewirkte, dass Alexandra sich ein wenig entspannte. Zum Glück hatte sie inzwischen auch das Gleichgewicht zurückgewonnen. Da sie ihr Gesicht nicht zeigen wollte, betrachtete sie mit nach wie vor gesenktem Kopf den aus guter Wolle geschneiderten Rock des Fremden und seine in Lederhandschuhen steckende Hände, die er auf den Griff eines Stocks gelegt hatte.

„Da steht, dass sie zu den Ungulata gehören. Himmel, was für ein verrückter Name! Was bedeutet er?“

Alexandra ließ den Blick zu dem Schild wandern, das auf dem Boden vor den Giraffen aufgestellt war. Ungulata, allerdings …

„Hier steht, dass sie mit Bessie verwandt sind, Liebes.“

Die junge Frau lachte amüsiert. „Das glaube ich nicht. Eine Kuh hat doch überhaupt keine Ähnlichkeit mit einer Giraffe.“

„Du könntest die für diese Darstellung Verantwortlichen darauf hinweisen.“

„Ja, das sollte ich vielleicht wirklich tun.“ Neuerliches Kichern.

Alexandra war fasziniert von der ungezwungenen liebevollen Art, in der die beiden miteinander umgingen. Plötzlich fühlte sie sich noch einsamer als zuvor.

„Ungulata“, hörte sie sich zu ihrem eigenen Erstaunen sagen, „ist der wissenschaftliche Ausdruck für Huftiere. Dazu gehören Pferde, Rinder und andere Säugetiere. Man unterscheidet zwei Untergruppen, Paarhufer und Unpaarhufer. Kühe und Giraffen zählen zu den Paarhufern.“

Keine Antwort.

Die Stille dehnte sich aus, bis Alexandra ein leichtes Kribbeln im Rücken fühlte. Doch es war, wie sie erleichtert feststellte, keine Angst. Vielleicht ein bisschen Nervosität … Obwohl sie deutlich spürte, dass der Mann und seine Begleiterin sie anstarrten, fühlte sie sich plötzlich selbstbewusst und stark. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Es war ihr gelungen, die beiden zu schockieren. Gewiss hätte sie das nie gewagt, wenn sie nicht durch die Kapuze vor neugierigen Blicken geschützt gewesen wäre. So jedoch schämte sie sich nicht, ihr Wissen unter Beweis zu stellen.

„Siehst du“, ließ sich der Fremde schließlich vernehmen, „ich habe dir doch gesagt, dass Bessie Verwandte in Afrika hat.“

„Paarhufer und Unpaarhufer ….“, meinte die junge Frau nachdenklich. „Kühe und Giraffen … Und wozu, bitte schön, gehören die Pferde?“

Alexandra wandte leicht den Kopf, um herauszufinden, ob die Frage an sie gerichtet war. Sogleich stieg ihr ein Duft nach Rasierseife und irgendetwas Exotischem in die Nase. Sehr männlich … Unwillkürlich atmete sie tief ein.

Dann fiel ihr auf, dass die Menge sich zerstreut hatte. Auch die Wachleute waren verschwunden. Es war an der Zeit zu gehen.

Aber zuerst wollte sie den Wissensdurst der jungen Frau stillen. „Pferde gehören zu den Unpaarhufern.“ Und da man ihre Erklärung mit großem Interesse aufzunehmen schien, fügte sie hinzu: „Wie zum Beispiel auch die Nashörner.“ Damit wies sie auf die Nachbildung eines Rhinozerosses, die nicht weit von den Giraffen entfernt stand.

Direkt daneben befand sich ein afrikanischer Elefant, und auf diesen richtete die junge Frau nun ihre Aufmerksamkeit. „Gibt es Unterschiede zwischen afrikanischen und indischen Elefanten?“, erkundigte sie sich.

„Sie unterscheiden sich durch die Füße“, gab ihr Begleiter zurück. „Indische Elefanten haben mehr Zehen pro Fuß.“

Alexandra war beeindruckt. Dem ersten Eindruck nach zu urteilen, war er kein Wissenschaftler. Warum wusste er dann solche Einzelheiten? Sie konnte ihre Neugier jetzt kaum noch beherrschen. Zu gern hätte sie sein Gesicht gesehen.

„Ich habe die Zehennägel gezählt“, verkündete er.

Seine Stimme verriet Amüsiertheit – und vielleicht den Anflug eines irischen Akzents. Alexandras Herz begann plötzlich zu rasen.

Die junge Frau hingegen lachte. „Gibt es keinen einfacheren Weg, die beiden Elefantenarten zu unterscheiden? Du musst es doch wissen.“

Alexandra hatte den Kopf unterdessen weit genug gehoben, um feststellen zu können, dass der Mann seinen gut geschnittenen Rock offen über einer silberfarbenen Paisley-Weste trug.

„Afrikanische Elefanten haben bedeutend kleinere Ohren als indische“, erklärte er und beugte sich ein wenig nach vorn, um einen Blick auf Alexandras Gesicht werfen zu können.

In diesem Moment sah sie seine Augen. Blau. Wie der Himmel über Irland. Wie in Trance hob sie die Hand, um die Kapuze zurückzuschieben.

„Mein Bruder hat in Indien gedient“, teilte die junge Frau ihr mit. „Deshalb weiß er eine Menge über das Land. Nicht wahr, Christopher?“

Die blauen Augen änderten ihren Ausdruck, als ihrem Besitzer klar wurde, wem er gegenüberstand. Er schien ebenso schockiert zu sein wie sie.

Allerdings nur ein paar Sekunden lang. Dann sagte er: „Schon gut, Kleines. Ich bin sicher, die junge Dame hat Wichtigeres zu tun, als meinen indischen Geschichten zu lauschen.“

Die Kleine, die in Wirklichkeit recht groß für eine Frau war, ließ sich nicht entmutigen. „Er war in Bengalen“, berichtete sie. „Und für seine herausragenden Dienste dort hat die Königin ihn zum Ritter geschlagen.“

Christopher warf seiner Schwester einen leicht gereizten Blick zu.

„Ja, ich weiß“, sagte Alexandra.

Ihr war bekannt, dass Christopher Donally als Offizier in Indien gedient hatte und schwer verwundet worden war. Das erklärte den Stock, auf den er sich stützte. Natürlich … Sie erinnerte sich sehr gut daran, dass sie gehört hatte, es hätte über ein Jahr gedauert, bis er überhaupt wieder hatte gehen können. Allerdings hatten die Ärzte zunächst behauptet, er würde das verletzte Bein überhaupt nicht mehr nutzen können. Nun, er hatte von jeher einen starken Willen gehabt und war nie davor zurückgeschreckt, sich über die Meinung anderer hinwegzusetzen.

Sie war noch sehr jung gewesen, als sie zum letzten Mal so nahe bei Donally gestanden hatte. Damals hatte er sein schwarzes Haar noch länger getragen. Jetzt entsprach der Schnitt der herrschenden Mode. Auch seine Gesichtszüge waren verändert, immer noch kantig und doch sehr anziehend, dabei allerdings selbstbewusster und reifer als in jener Zeit. Mit seinen breiten Schultern, den schmalen Hüften, den muskulösen Oberschenkeln und Armen hatte er in seiner Uniform unwiderstehlich männlich gewirkt. Genau wie jetzt auch noch, selbst wenn er nun wie ein dem Müßiggang frönender Gentleman gekleidet war.

Natürlich war er kein Müßiggänger. Schon immer war es ihm unerträglich gewesen, nichts zu tun. Also war er auch nach seiner Rückkehr aus Indien nicht untätig gewesen. Gelegentlich hatten die Zeitungen über seine Unternehmungen berichtet. Alexandra hatte jeden dieser Artikel gelesen.

Himmel, wieso hatte sie nirgends einen Hinweis darauf entdeckt, dass er sich in London aufhielt?

„Wie geht es Ihnen, Christopher?“, fragte sie.

Ein ironisches Lächeln spielte um seine Lippen. Fand er es so amüsant, dass sie ihn siezte? „Danke, Mylady, es geht mir hervorragend.“ Dann wandte er sich seiner Schwester zu, und ein warmes Licht leuchtete in seinen Augen auf. „Wollen wir gehen, Brianna? Ich würde ungern zu spät zu unserer Verabredung kommen.“

Alexandra warf der jungen Frau einen kurzen Blick zu. Vor langer Zeit war sie Brianna Donally schon einmal begegnet. Ob diese sich noch daran erinnerte? Sollte sie das Mädchen …

„Sir Christopher!“

Das war Professor Atlers Stimme!

Ich muss fort, dachte Alexandra, und zwar rasch! „Auf Wiedersehen, Miss Donally, Sir Christopher“, sagte sie und beeilte sich, das Museumsgelände zu verlassen.

Trotzdem konnte sie der Versuchung, sich nach Christopher umzuschauen, nicht widerstehen. Enttäuscht stellte sie fest, dass er ihr keinen zweiten Blick gönnte, sondern bereits in ein angeregtes Gespräch mit Atler vertieft war. Brianna allerdings schaute ihr nach. Auf ihrem Gesicht lag ein leicht verwirrter Ausdruck.

Nun, es ist beinahe zehn Jahre her, dass wir einander begegnet sind, überlegte Alexandra, Brianna war damals ein Kind von sieben oder acht Jahren; es wäre erstaunlich, wenn sie sich wirklich noch an mich erinnerte.

Entschlossen setzte sie ihren Weg fort. Ihre Gedanken, die kurz zuvor noch ganz von den Diebstählen in Anspruch genommen worden waren, kreisten jetzt um Christopher. Es gab kaum einen Menschen in England, über den die Presse während der letzten Jahre mehr berichtet hatte. Schließlich gab es ja auch genug über ihn zu schreiben: Er stammte aus Irland, war einfacher Herkunft, hatte sich für den Militärdienst entschieden und viele Auszeichnungen erhalten. Nach seiner schweren Verwundung war er nach England zurückgekehrt, wo er, kaum genesen, die Führung des Familienunternehmens übernommen hatte.

Sein Vater hatte zu denen gehört, die die erste Schienenverbindung nach London gebaut hatten. Damit hatte er den Grundstein zu einem florierenden Bauunternehmen gelegt. Christopher hatte das Unternehmen ausgebaut und den Reichtum der Familie vergrößert. Inzwischen erhielt er sogar staatliche Aufträge. Man schätzte die Qualität der Arbeit, die er und seine Leute leisteten. Und man achtete ihn für seine Zielstrebigkeit, sein Durchsetzungsvermögen, seine Risikobereitschaft, die sich bisher nie als Nachteil erwiesen hatte. Einige wenige allerdings machten ihm seine unkonventionelle Art zum Vorwurf.

Alexandra gehörte nicht zu ihnen. Sie hatte andere Gründe, Christopher Vorwürfe zu machen. Aber, sagte sie sich jetzt, ich habe schon vor Jahren beschlossen, mit der Vergangenheit abzuschließen.

In diesem Moment entdeckte sie den Straßenjungen, dem sie jeden Abend ein Stück Brot schenkte. Himmel, heute war sie so mit ihren Problemen beschäftigt gewesen, dass sie das Brot vergessen hatte! Mit schlechtem Gewissen ging sie an dem Jungen vorbei auf die Kutsche ihres Vaters zu, die wie üblich in der Nähe des Museums auf sie wartete.

2. KAPITEL

Lord Ware war in seine Zeitung vertieft.

„Guten Abend, Papa“, grüßte Alexandra ihn, als sie in die Kutsche stieg, und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Sie bemühte sich sehr, so zu sein wie immer.

Er zog seine Taschenuhr hervor, warf einen Blick darauf und meinte vorwurfsvoll: „Du hast dich verspätet. Dabei weißt du doch, wie sehr ich es verabscheue zu warten.“

Sie setzte sich, strich ihre Röcke glatt und erkundigte sich freundlich, wie sein Tag verlaufen war.

Ohne den Blick von der Zeitung zu heben, sagte er: „Hast du vergessen, dass wir zum Dinner eingeladen waren?“

Von Professor Atler, verflixt! Sie hatte es tatsächlich vergessen.

„Ich habe mich entschlossen, in meinem Klub zu Abend zu speisen“, fuhr Lord Ware fort. „Richard kam vorbei, während ich auf dich wartete. Er redet wie ein Wasserfall, schlimmer als die meisten Frauen. Ich verstehe, dass Atler nicht sehr zufrieden ist mit seinem Sohn. Nun, jedenfalls habe ich ihn gebeten, uns bei seinem Vater zu entschuldigen.“

„Ich finde es sehr nett von Richard, dich zu begrüßen.“ Alexandra mochte den jungen Mann, der fast wie ein Bruder für sie war, und ergriff, wann immer möglich, seine Partei. Sie wusste sehr wohl, dass er seinem Vater nichts recht machen konnte.

Manchmal – jetzt zum Beispiel – hatte sie das Gefühl, dass es ihr selbst nicht viel besser erging als Richard. Auch Lord Ware war schwer zufriedenzustellen. Und Wärme hatte er ihr, so weit sie sich erinnern konnte, nie gegeben. Dabei sehnte sie sich gerade heute so sehr nach einem freundlichen Wort, einer mitfühlenden Geste.

Unwillkürlich griff sie nach dem Medaillon, das ihr so viel bedeutete.

„Ich will dieses Ding nicht sehen!“ Die Stimme ihres Vaters klang gereizt.

Alexandra schluckte. In diesem Moment wusste sie nicht, was sie schlimmer fand: dass ihr Vater immer noch solche Macht über sie hatte oder dass ihr der Wille, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, abhandengekommen war.

„Sir Christopher, dieser Brief von Ihrem Anwalt in London wurde gerade für Sie abgegeben.“

Donally, der in seinen Morgenmantel gehüllt war, schaute von der Zeitschrift auf, in der er gelesen hatte, und nickte dem schon recht alten Mann, der gleichzeitig als Sekretär und Butler fungierte, freundlich zu. Dass er eine schlaflose Nacht hinter sich hatte und dass sein Bein schmerzte, wollte er sich nicht anmerken lassen.

Allerdings gab es niemanden, der ihn besser kannte als Barnaby. Der wusste genau, wie es um Donally stand. Deshalb legte er ihm die Post auf den Schreibtisch und wollte sich mit einer Verbeugung zurückziehen.

„Barnaby?“

„Ja, Sir?“

„Haben Sie den Boten in die Küche geschickt, damit er eine kleine Stärkung zu sich nehmen kann?“

„Selbstverständlich, Sir. Ihre Schwester hätte mir sonst gewiss die Leviten gelesen. Sie hat den jungen Master Williams gesehen, als er völlig durchnässt ankam, und darauf bestanden, ihn persönlich in die Küche zu begleiten.“

Christopher runzelte die Stirn.

„Sie war sehr fürsorglich und …“ Der alte Bedienstete unterbrach sich, als er bemerkte, wie die Miene seines Herrn sich veränderte.

Der wiederum hatte plötzlich das Interesse an dem Schreiben des Anwalts verloren. Seine Gedanken drehten sich um Brianna. Trotzdem fragte er: „Ist noch andere Post gekommen?“

„Von Ihrem Büro in Southwark sind zwei Verträge geschickt worden.“

„Mit denen habe ich mich schon beschäftigt. Sie können heute noch zurückgesandt werden.“

„Dann ist ein Schreiben vom Britischen Museum eingetroffen. Man dankt Ihnen herzlich für Ihre Unterstützung. Weiterhin hat Ihr Bruder aus Carlisle geschrieben. Und die Vierteljahresberichte der Stahlwerke in Galloway und Sheffield sind angekommen.“

Donallys & Baileys Stahl- und Bau-Unternehmen, kurz D&B genannt, war eine florierende Firma, die Gewinne in unterschiedlichen Branchen erwirtschaftete.

„Für Miss Brianna war nichts dabei“, meinte Barnaby abschließend. Wie alle anderen Dienstboten empfand er große Sympathie für die junge Dame. „Aber bestimmt wird sie mit der Nachmittagspost etwas erhalten.“

Christopher erhob sich und ging, das verletzte Bein nachziehend, zu einem Beistelltisch, auf dem mehrere Flaschen standen. Allerdings enthielt nicht eine davon Alkohol. Er entschied sich für frisches Wasser aus der zum Haus gehörenden Quelle und stellte fest: „Ich mache mir keine Illusionen über das, was vorgeht. Genauso wenig wie Sie.“

„Natürlich, Sir. Brauchen Sie Ihren Stock?“

Er antwortete nicht sofort. Himmel, wie sehr er die Beschwerden hasste und verachtete, die seine Verletzung ihm noch immer bereitete. Jeden Witterungsumschwung bekam er schmerzhaft zu spüren. Und nichts war schlimmer als der Londoner Nebel. Das war einer der Gründe dafür, warum er die Stadt normalerweise mied.

Verflixt, er hätte damit rechnen sollen, dass er Alexandra Marshall irgendwann in London begegnen würde!

Er stellte sein Glas heftiger als nötig auf den Tisch zurück und wandte sich noch einmal Barnaby zu. „Teilen Sie meiner Schwester mit, dass wir die Premiere der neuen Oper besuchen werden. Ich werde es nicht zulassen, dass man meine Schwester wie eine Aussätzige behandelt.“

„Aber Sie mögen die Oper nicht, Sir. “

Professor Atler hatte ihm freigestellt, die für die Kuratoren des Museums reservierte Loge in der Oper zu nutzen. Und Christopher hatte sich soeben entschieden, das Angebot anzunehmen. Er war fest entschlossen, sich von der sogenannten guten Gesellschaft nicht ignorieren zu lassen. „Wenn Gracie irgendetwas für Brianna braucht, lassen Sie es mich wissen. Noch haben wir eine Woche Zeit, alles vorzubereiten.“

„Jawohl, Sir.“ Das Gesicht des alten Mannes strahlte plötzlich. „Miss Brianna wird außer sich sein vor Freude. Sie war noch nie in der Oper. “

Christopher trat zum Kamin und starrte in die Flammen. Dabei bemerkte er nicht, wie Barnaby den Raum verließ. Und er dachte auch nicht mehr an den so ungeduldig erwarteten Brief seines Londoner Anwalts. Er machte sich Gedanken um Brianna.

Das Mädchen war das jüngste Kind in der Geschwisterreihe. Zusammen mit ihren fünf Brüdern war Brianna in Carlisle aufgewachsen. Sie war von allen umsorgt, beschützt und geliebt worden. Dieses behütete Leben hatte sie nicht darauf vorbereiten können, wie man in London junge Damen behandelte, die einerseits irischer Herkunft und andererseits ohne enge Kontakte zur Welt des Adels waren. Die sogenannte gute Gesellschaft konnte sehr intolerant und grausam sein. Für ein Mädchen, das sich danach sehnte, von allen gemocht zu werden, war das nicht leicht zu ertragen.

Vielleicht, dachte Christopher, war es falsch gewesen, sie zu ermutigen, mich nach London zu begleiten. Aber er hatte ihren Bitten einfach nicht widerstehen können. Es war so offensichtlich gewesen, wie sehr sie sich wünschte, die Hauptstadt kennenzulernen. Zweifellos hatte sie darauf vertraut, dass ihr großer Bruder Christopher alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen würde. Er war ihr Held.

Leider war er im wirklichen Leben alles andere als ein Held …

Er hinkte zum Fenster und schaute in den Park mit seinem künstlichen See und den exotischen Bäumen hinaus. Es regnete noch immer heftig, wodurch die Landschaft einen melancholischen Anstrich erhielt. Trotzdem war nicht zu übersehen, dass hier Menschen lebten, die über einen nicht unbeträchtlichen Reichtum verfügten und einen nicht alltäglichen Geschmack hatten.

Sicher, in vielem hatte Christopher sich der derzeitigen Mode angepasst. Es gab Chippendale-Möbel, chinesische Tapeten und Vitrinen voller feinstem Kristall und hauchdünnem Porzellan. Das alles war für Geld zu haben – für jedermann, der es sich leisten konnte. In anderen Bereichen konnte selbst ein großes Vermögen wenig ausrichten. Brianna beispielsweise wünschte sich eine Saison in London. Das war, wie sich bereits gezeigt hatte, schwierig. Doch Donally war fest entschlossen, sie ihr zu ermöglichen.

„Christopher?“

Er drehte sich um, als er ihre helle Stimme hörte.

Ihr Reifrock schien zu tanzen, als Brianna auf ihren Bruder zulief. Ihre Augen strahlten, und das leuchtende Gelb ihres Kleides erinnerte an einen Sonnenstrahl. „Stimmt es, was Barnaby sagt? Werden wir wirklich die Oper besuchen?“

„Ja, Wildfang.“ Seine Laune besserte sich, als er sah, wie glücklich Brianna war.

„Darf ich dann mein neues Abendkleid anziehen? Das mit dem tiefen Ausschnitt?“

„Habe ich dir etwa ein Kleid mit tiefem Dekolleté gekauft?“

Sie lachte. „Und nicht nur das! Du hast mir eine Menge neuer Kleider gekauft. Ach, ich liebe sie alle!“

Er betrachtete seine Schwester lächelnd. Ihre dunklen Locken und die klaren blauen Augen verrieten ihre Verwandtschaft. Darüber hinaus allerdings ähnelten sie sich nicht sehr. Brianna war zierlich, während er groß und kräftig war. Und wenn man ihn als Rebellen bezeichnen konnte, dann war sie eine junge Frau, die gefallen wollte. Weil sie mitfühlend und hilfsbereit war, fiel es ihr leicht, die Herzen ihrer Mitmenschen zu gewinnen. Nur der Zutritt zu den sogenannten besten Kreisen war ihr bisher verwehrt geblieben – was allerdings nichts mit ihrem Charakter zu tun hatte.

Impulsiv wie sie war, trat sie auf Christopher zu und schloss ihn in die Arme. „Als ich klein war, hat Mama manchmal von London erzählt. Ich dachte, es würde … anders sein.“

„Ich weiß, dass du schon einige Enttäuschungen erlebt hast, seit wir hier sind, Kleines. Möchtest du lieber nach Carlisle zurückkehren?“

„Nein!“ Heftig schüttelte sie den Kopf. „Ich möchte, dass du mir all die Sehenswürdigkeiten zeigst. Und die Orte, an denen du beruflich zu tun hast.“ Sie ging zum Schreibtisch und ließ den Blick über seine Geschäftsbriefe wandern. Dabei bemerkte sie die Zeitschrift, in der er gelesen hatte. Neugierig griff sie danach. „Oh, ich ahnte ja nicht, dass du dich für Lady Alexandras Arbeit interessierst.“

Er nahm ihr das Magazin ab und erklärte: „Du weißt doch, dass ich das Britische Museum finanziell unterstütze. Ich bin mit den Fachgebieten aller wichtigen Mitarbeiter dort vertraut. Dabei fällt mir ein, dass ich vor dem Mittagessen noch einiges an Arbeit zu erledigen habe.“

Statt sich zu verabschieden, blieb Brianna stehen und schaute ihrem Bruder fest in die Augen. „Die Dame, die wir gestern am Museum getroffen haben, war Lady Alexandra, nicht wahr?“

„Ja.“ Die Tochter des niederträchtigen Lord Ware!

„Ich habe immer gedacht, sie sähe aus wie eine alte Hexe. Aber jetzt frage ich mich, ob sie nicht sogar hübscher ist als Rachel.“

„Unsinn!“

„Rachel ist nett. Und sie glaubt, dass du sie heiraten wirst. Das hat sie mir bei unserer Weihnachtsfeier anvertraut.“

„Brianna!“ Er war kurz davor, die Geduld zu verlieren. „Ich habe zu arbeiten! Und ich möchte, dass du dich wie eine junge Dame benimmst. In der Küche beispielsweise hast du nichts zu suchen. Du gehörst nicht zum Personal.“

Schmollend wandte sie sich zur Tür. Kurz bevor sie den Raum verließ, drehte sie sich noch einmal um. „Du bist gar nicht so schlimm wie du tust, Christophen “

Er ließ sich in den Lehnstuhl am Schreibtisch sinken und nahm seine Geschäftspost zur Hand. Doch dann wanderte sein Blick noch einmal zu der Zeitschrift mit Alexandra Marshalls Artikel. Er beschäftigte sich mit fernöstlichen Antiquitäten. Lady Alexandra war eine anerkannte Autorität auf diesem Gebiet. Keine andere Frau in England hatte einen so guten Ruf als Wissenschaftlerin. Offenbar hatte sie erreicht, wovon sie immer geträumt hatte.

Bloß warum hatte sie dann am Tag zuvor so unglücklich ausgesehen? Warum war in ihren Augen kein Funke jenes Feuers zu erkennen gewesen, das er damals so an ihr bewundert hatte? Sie hatte sehr … fremd auf ihn gewirkt.

Andererseits war das nach all diesen Jahren wohl zu erwarten gewesen.

Das kalte Nass umschloss ihren Körper. Alexandra machte unter Wasser ein paar kräftige Schwimmzüge und kam dann an die Oberfläche. Mit geschlossenen Augen holte sie Luft.

Ihre Schwimmübungen konnten nur als exzentrisch bezeichnet werden. Kein normaler Mensch wäre auf die Idee gekommen, bei diesen kühlen Frühjahrstemperaturen in einem Teich zu baden. Nun, Alexandra war 28 Jahre alt und fand, dass sie ein Recht darauf hatte, etwas Verrücktes zu tun.

Sie tauchte erneut. Und als sie diesmal an die Oberfläche kam, war sie von warmer feuchter Luft umgeben. Nun befand sie sich im Inneren des Gewächshauses, das ihr Vater bei seiner Rückkehr aus Borneo hatte anlegen lassen. Sie stieg aus dem Wasser und ließ sich von ihrer Zofe das große Badetuch umlegen.

„Sie werden sich noch den Tod holen, Mylady“, klagte Mary, die ihre Herrin liebte und schon längst zu ihrer engsten Vertrauten geworden war. „Und wer wird dann wagen, Ihrem Vater die schlechte Nachricht zu überbringen? Er …“

„Er hat wieder schlechte Laune?“

„Ich habe gehört, wie er mit einem jungen Mann geschimpft hat.“

„So früh hat er schon Besuch?“

„Hm. Ich denke, der junge Mann bereut es, überhaupt gekommen zu sein.“

Hoffentlich, dachte Alexandra, handelt es sich nicht um einen Mitarbeiter des Museums oder – schlimmer noch – um einen Reporter.

Mary hatte sie unterdessen abgetrocknet und ihr geholfen, in einen warmen Bademantel zu schlüpfen. Jetzt schlang die Zofe ihrer Herrin noch ein trockenes Handtuch wie einen Turban um den Kopf. So konnte Alexandra ins Haus zurückkehren. Das Anwesen ihres Vaters war groß, und nicht nur das Gewächshaus zeugte von Reichtum. Der Garten war so gestaltet, dass niemand von der Straße oder auch vom Haus her sehen konnte, wenn die junge Frau nach dem morgendlichen Bad in ihre Räume zurückkehrte.

Dort angekommen beschloss sie nach einem kurzen Blick in den Spiegel, dass sie nicht warten würde, bis ihr Haar trocken war. Sie wollte sich sofort ankleiden und wählte, wie meistens, ein unauffälliges graues Kleid. Sie fand, dass es zu ihrem eintönigen Leben passte. Außer ihrer Arbeit gab es in London wenig, das ihr Freude machte.

Ihr Vater plante, im kommenden Jahr zu weiteren archäologischen Untersuchungen nach Ägypten zu gehen; einem Vorhaben, dem Alexandra mit gemischten Gefühlen gegenüberstand. Wenn er aufbrach, würde er bestimmt von ihr erwarten, dass sie sich ihm anschloss. Das aber bedeutete, dass sie ihre Tätigkeit im Museum würde aufgeben müssen. Daher empfand sie eine gewisse Erleichterung darüber, dass es Lord Ware bisher nicht gelungen war, die Finanzierung der Expedition zu sichern.

Außerdem habe ich vielleicht nächstes Jahr gar keine Stellung mehr, dachte Alexandra mit einer Grimasse. Sie hatte einen Teil der Nacht damit zugebracht, ihre eigenen Aufzeichnungen und die Aktennotizen noch einmal durchzugehen. Das Ergebnis war niederschmetternd. Jedes der Kunstwerke, an dem Änderungen vorgenommen worden waren, jede archäologische Kostbarkeit, die gegen eine Nachahmung ausgetauscht worden war, war zuvor von ihr selbst untersucht und katalogisiert worden. Viele Menschen würden das als Beweis dafür ansehen, dass sie in die Diebstähle verwickelt war.

Sie seufzte tief und hob den Blick. Aus dem Spiegel schaute sie eine blasse junge Frau mit gerunzelter Stirn und einem entschlossenen Zug um den Mund an. Sie kam sich selbst fremd vor und fragte sich plötzlich, was Christopher wohl gesehen hatte, als er sie am vergangenen Abend so überrascht gemustert hatte.

Früher einmal hatte sie ihr schwaches Selbstbewusstsein damit aufzubauen versucht, dass sie sich sagte, sie sei zwar nicht schön im herkömmlichen Sinn, aber zumindest interessant. Jetzt fand sie nichts mehr an sich bemerkenswert. Die blasse Haut, das hellbraune Haar, die gegenwärtige Mode, die sie unbequem und unvorteilhaft fand … Kein Wunder, dass sie die Blicke der Männer nicht mehr auf sich zog.

Glücklicherweise war wenigstens Richard immer galant zu ihr. Sie hatte Professor Atlers Sohn schon als Kind gekannt und brachte ihm schwesterliche Gefühle entgegen. Manchmal allerdings war sie sich nicht sicher, ob ihm das genug war.

In diesem Moment betrat Mary den Raum. „Mylady“, sagte sie, „ich weiß, dass Sie es nicht mögen, wenn ich so offen mit Ihnen rede. Aber ich mache mir Sorgen um Sie. Sie haben die Nacht wieder draußen zugebracht, und man sieht Ihnen an, dass Sie nicht genug geschlafen haben.“

„Sie übertreiben. Erstens war ich nicht draußen, sondern im Kutscherhaus. Und zweitens habe ich geschlafen, auch wenn ich zugeben muss, dass ich einige Stunden über meiner Arbeit gesessen habe.“

Vor etwa fünf Jahren hatte sie das Kutscherhaus zu ihrem Rückzugsort erkoren. Dort konnte sie ungestört lesen, schreiben oder einfach ihren Gedanken nachhängen. Manchmal kam sie sich in dieser selbst gewählten Einsamkeit vor wie eine Gestalt aus Dickens’ Romanen.

Sie erhob sich, warf Mary ein kurzes Lächeln zu und eilte aus dem Raum. Ihr Vater hasste es, wenn sie zu spät zum Frühstück kam.

Doch auch diesmal gelang es ihr nicht, pünktlich zu sein. Lord Ware hatte bereits gegessen und las nun die Zeitung. Seine Stimme klang ruhig, als er sagte: „Du hast dich verspätet.“ Dass er ihr dabei keinen Blick gönnte, war Beweis genug für seine Unzufriedenheit mit ihr.

„Bitte verzeih, Papa.“ Sie ließ sich auf ihren Stuhl sinken.

„Dass die Verantwortlichen sich nicht schämen, solchen Müll zu veröffentlichen“, schimpfte Lord Ware plötzlich los und knallte die Zeitung auf den Tisch.

Alexandra reckte den Hals, um erkennen zu können, was ihren Vater so erzürnte. Es musste das Bild von Christopher Donally sein.

„Der irische Bastard hat dem Britischen Museum eine große Summe gespendet. Ha! Er hat doch keine Ahnung von Kunst! Ihm geht es nur darum, sich in der Gesellschaft einen Platz zu erkaufen, der ihm nicht zusteht.“

Die Summe war wirklich sehr groß. Groß genug, um für eine Schlagzeile zu sorgen. Und groß genug, um bei Alexandra Verständnis für die Aufregung ihres Vaters zu wecken. Zögernd gestand sie sich ein, dass sie auch eine gewisse Genugtuung darüber empfand, dass es Christopher gelungen war, Lord Ware so aus dem Gleichgewicht zu bringen. „Ich finde“, stellte sie fest, „du solltest einfach daran denken, wie gut das Museum das Geld gebrauchen kann.“

„So, findest du?“ Er war jetzt so wütend, dass er seine Tochter tatsächlich ansah. „Ich hingegen frage mich, warum seit Kurzem niemand aus dem Museumsvorstand mehr bereit ist, meine Pläne zu unterstützen. Außerdem interessiert sich jemand viel zu sehr für meine Spielschulden. Irgendwer hat begonnen, die Schuldscheine aufzukaufen, die ich im Klub ausgestellt habe und …“

„Papa, du …“, versuchte sie ihn zu unterbrechen.

„… und die Bank hat die Hypothek, die auf diesem Haus liegt, weiterverkauft. Zudem weigert sie sich, mir einen Kredit für die geplante Expedition einzuräumen. Das sind wahrhaftig Probleme genug, auch ohne dass ausgerechnet dieser Bastard zum neuen Kurator des Museums gemacht wird. Und wie erfahre ich davon? Werde ich etwa von Atler darüber informiert? Nein, natürlich nicht! Ich lese es in der Zeitung!“

Alexandra starrte auf ihren Teller. Glaubte ihr Vater wirklich, alle Welt habe sich plötzlich gegen ihn verschworen? Welch ein Unsinn! Jeder, der sich auch nur am Rande für solche Dinge interessiert, wusste, wie häufig es geschah, dass Banken Hypotheken weiterveräußerten und Privatleute sich aus den unterschiedlichsten Gründen entschlossen, Schuldscheine aufzukaufen. Und dass es Zeiten gab, in denen niemand bereit war, eine risikoreiche Expedition zu finanzieren, konnte nun wirklich nicht erstaunen.

Doch es war sinnlos, ihren Vater darauf aufmerksam zu machen. „Vielleicht wäre es klug gewesen, die Versammlung der Kuratoren im letzten Jahr zu besuchen“, sagte sie stattdessen.

Er schlug so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass Tassen und Teller klirrten. Alexandra zuckte zusammen, aß dann aber weiter, als sei nichts geschehen.

„Eins kannst du mir glauben: Donally hat dem Museum diese Spende nicht gemacht, weil er antike Kunstwerke liebt. Er verfolgt ein eigennütziges Ziel. Ja, dass er sich überhaupt in London aufhält, hat zweifellos etwas mit seinen ehrgeizigen, nein, größenwahnsinnigen geschäftlichen und privaten Plänen zu tun.“

„Eine Spende ist eine Spende. Wie könnte er dir damit schaden? Im Übrigen ist mir unbegreiflich, warum du ihn immer noch so hasst. Stets denkst du nur das Schlechteste von ihm. Ich selber glaube, dass er in London ist, weil er seiner Schwester eine Saison hier ermöglichen möchte. Dabei wird er jede nur mögliche Unterstützung brauchen können.“

„Wie kommst du darauf? Hast du diesen Schurken etwa gesprochen?“

Ihr war, als lege sich eine Last auf ihre Schultern. „Wir sind uns gestern im Museum begegnet.“

Lord Ware setzte eine zutiefst gekränkte Miene auf. „Wie schön, dass ich das nun auch erfahre. Und wie großherzig von dir, ihn mir gegenüber zu verteidigen.“

Alexandras Augen blitzten auf. „Ich habe ihn nicht verteidigt! Ich habe lediglich versucht, dir klarzumachen, dass dein Verdacht ziemlich weit hergeholt ist. Sir Christopher lebt schon seit Jahren wieder in England. Wenn er dir hätte schaden wollen, hätte er längst Gelegenheit dazu gehabt.“

Zornig warf ihr Vater die Serviette auf den Tisch und sprang von seinem Stuhl auf. „Ich hätte dir wirklich etwas mehr Verstand zugetraut. Nach den Erfahrungen, die du gemacht hast, solltest du dich eigentlich keinen Illusionen über Donallys Charakter hingeben. Aber du bist einfach nicht in der Lage, den Realitäten ins Auge zu blicken. Weißt du denn nicht, wie sehr er uns verabscheut?“

Sprachlos vor Entrüstung, schaute Alexandra ihm nach, als er aus dem Raum schritt. Laut fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Dann war nichts mehr zu hören außer dem Ticken der großen Standuhr.

Ein paar Sekunden vergingen, ehe Alexandra bewusst wurde, dass die im Zimmer anwesenden Bediensteten sie anstarrten. Sie hob den Kopf und warf einen Blick in Richtung der Anrichte. Sogleich tat Alfred, als sei er damit beschäftigt, die Schüsseln zurechtzurücken. Und Nell fragte: „Darf ich Ihnen noch eine Tasse Kaffee eingießen, Mylady?“

„Danke, gern.“ Im Gegensatz zu den meisten ihrer Landsleute mochte sie Kaffee lieber als Tee. Vermutlich hing das damit zusammen, dass sie viele Jahre im Ausland verbracht hatte.

Sobald ihre Tasse wieder gefüllt war, nahm sie einen tiefen Schluck. Das Benehmen ihres Vaters war ihr peinlich, aber was hätte sie tun sollen? Sie hatte gelernt, dass man sich stets so verhielt, als seien Dienstboten taub, blind und unsichtbar.

Zögernd streckte sie die Hand nach der Zeitung aus. Was hatte der Reporter über Donally geschrieben? Sie betrachtete Christophers Bild – und plötzlich war die Erinnerung wieder da. Mit großer Deutlichkeit fielen ihr Einzelheiten ein, an die sie jahrelang nicht gedacht hatte. Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht. So viele Menschen hatten Christopher seinen Erfolg missgönnt. Aber er hatte trotzdem unbeirrt an seinen Zielen festgehalten und sie – soweit Alexandra das beurteilen konnte – erreicht. Darüber war sie froh.

Es war nun beinahe zehn Jahre her, dass er aus ihrem Leben verschwunden war und sie anscheinend völlig aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte. Nie hatte er sich bei ihr gemeldet. Nie waren sie sich begegnet – bis zum vergangenen Abend …

Unwillkürlich seufzte Alexandra auf. Christopher Donally war der einzige Mann, den sie jemals geliebt hatte.

Damals hatte er zu den Untergebenen ihres Vaters gehört, der als Diplomat in Tanger weilte. Dort hatte sie ihn als Siebzehnjährige getroffen. Er war ein kluger, charmanter und gut aussehender Offizier gewesen. Hals über Kopf hatte sie sich in ihn verliebt und ihn geheiratet.

Das Glück war von kurzer Dauer gewesen. Ehe das Gerücht, dass Lord Wares Tochter mit einem Offizier durchgebrannt war, verbreitet werden konnte, hatte Christopher Tanger den Rücken kehren müssen, weil er sonst riskiert hätte, unehrenhaft entlassen zu werden. Alexandra war allein und schwanger zurückgeblieben.

Auf dem Papier hatte die Ehe noch eine Zeit lang gedauert. Alexandra war achtzehn, als ihr Sohn nach einer schwierigen Schwangerschaft einige Wochen zu früh geboren wurde und schon nach wenigen Stunden wieder aus dem Leben schied.

Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie blinzelte, schluckte und griff nach dem Medaillon, das ihr Vater so verachtete.

Lord Ware hatte – wie er es ausdrückte – ihr Leben nach dem Tod des Kindes in Ordnung gebracht. Halb wahnsinnig vor Trauer, körperlich geschwächt und kaum erwachsen, hatte sie sich nicht in der Lage gesehen, sich gegen ihren mächtigen Vater zur Wehr zu setzen. Er hatte auf einer Annullierung der Ehe bestanden, und Alexandra hatte schließlich eingewilligt.

Trotzdem hatte sie noch monatelang auf Christopher gewartet. Ihre Koffer waren gepackt gewesen, und sie hatte genau geplant, wie sie das Haus ihres Vaters unbemerkt würde verlassen können.

Doch Christopher war nicht gekommen.

Irgendwann, Jahre später, hatte sie geglaubt, die Enttäuschung überwunden zu haben.

Seit dem zufälligen Treffen am Vortag wusste sie, dass sie sich geirrt hatte.

Begleitet von Mary, hatte Alexandra sich auf den Weg gemacht, um eine Lösung für ihre Probleme im Museum zu finden. Jetzt, fast drei Stunden später, saß sie entmutigt in der Kutsche, die sich langsam vom Stadtpalais des Präsidenten der Akademie für moderne Physik entfernte. Sie seufzte tief auf und straffte die Schultern. So leicht würde sie sich nicht geschlagen geben. Sicher, es war eine schwere Enttäuschung gewesen zu erfahren, dass Sir Donald Owensby sich auf einer Reise durch Italien befand. Sie hatte so große Hoffnungen in ihn gesetzt, nachdem bereits drei andere Museums-Kuratoren sie – aus welchen Gründen auch immer – nicht empfangen hatten.

Nun stand nur noch ein Name auf ihrer Liste.

„Zum Grosvenor Square“, hatte sie dem Kutscher befohlen. Denn dort befand sich das Haus der Wellsbys. Alexandra kannte alle Familienmitglieder. Lord Wellsby selbst, weil er einer der Kuratoren war, seine neun erwachsenen Kinder, weil sie ihnen bei verschiedenen Wohltätigkeitsveranstaltungen begegnet war, und seine Gattin, weil diese ein aktives Mitglied eines Vereins war, der sich der Stärkung der moralischen Werte innerhalb der Gesellschaft verschrieben hatte.

Die Kutsche kam vor einem großzügig angelegten Backsteinhaus zum Stehen. Alexandra und Mary stiegen aus. Wenig später öffnete auf ihr Klopfen hin ein betagter Butler die Tür, erkundigte sich höflich nach ihrem Anliegen und erklärte, er werde nachschauen, ob Lady Wellsby daheim sei. Ob die Besucherin solange im kleinen Salon warten würde?

Wenig später trat die Dame des Hauses in den Raum. „Alexandra“, meinte sie lächelnd, „welch freudige Überraschung, Sie zu sehen. Wie lange ist es her, dass wir Gelegenheit hatten, miteinander zu reden?“

Alexandra, die bereits den Mund zu einer Entgegnung geöffnet hatte, biss sich auf die Unterlippe. Lady Wellsby trug Schwarz. „Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich zu einer unpassenden Zeit gekommen bin.“

„Nein, nein, meine Liebe. Bitte, nehmen Sie doch wieder Platz. Sie ahnen ja nicht, welch angenehme Abwechselung Ihr Besuch für mich ist. Ich habe mich so nach Gesellschaft gesehnt. Ich musste so viele gesellschaftliche Verpflichtungen absagen, dass ich inzwischen das Gefühl habe, vor Langeweile bald den Verstand zu verlieren.“

„Ich muss gestehen, dass mein Besuch weniger einen gesellschaftlichen als einen beruflichen Hintergrund hat.“

„Beruflich? Meine Teure, da weiß ich nicht, wie ich Ihnen helfen kann. Aber vielleicht darf ich Ihnen zunächst einmal eine Erfrischung anbieten? Eine Tasse Tee vielleicht?“

„Danke, gern.“

Lady Wellsby läutete nach Tee und Gebäck.

„Der Onkel meines Gatten hat uns vor drei Monaten verlassen“, vertraute die Hausherrin ihrer Besucherin an. „Mein Gatte musste deshalb nach Yorkshire reisen, um die Angelegenheiten des Verstorbenen zu regeln. Söhne hatte der Arme nämlich nicht. Für uns bedeutet das unter anderem, dass wir passende Gatten für seine Töchter finden müssen.“

„Eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe“, meinte Alexandra mitfühlend, obwohl ihre Gedanken in diesem Moment nur um eines kreisten: Lord Wellsby würde in nächster Zeit für sie unerreichbar sein.

„Allerdings. Die armen Mädchen sind praktisch mittellos.“ Lady Wellsby seufzte tief, ehe sie hinzufügte: „Soweit ich weiß, hat Ihr Vater ja gut für Sie vorgesorgt, meine Liebe. Als einziges Kind werden Sie einmal seinen Titel und seinen Besitz erben, nicht wahr. Sehr ungewöhnlich und ein großes Glück für eine Frau.“

Alexandra, die auf gar keinen Fall in eine Diskussion über Frauenrechte und Erbschaftsregeln verwickelt werden wollte, nickte und bemühte sich, das Thema zu wechseln. Das war leichter als sie erwartet hatte, führte jedoch dazu, dass Lady Wellsby begann, über bevorstehende gesellschaftliche Ereignisse zu sprechen. „Ist es nicht ein Jammer, dass es dieses Feuer in der Royal Academy of Arts gegeben hat? Nun wird man die Gala verschieben müssen, und die Gemäldeausstellung, auf die wir alle so gespannt warten, wird mit großer Verspätung eröffnet.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin mir nicht sicher, dass die Oper als ein passender Ersatz für die Gala gelten kann …“

Alexandra war das alles völlig gleichgültig. Doch weil sie spürte, wie wichtig es für ihre Gastgeberin war, eine Zuhörerin zu haben, fasste sie sich in Geduld. So mochte fast eine Stunde vergangen sein, ehe sie – da sie zu der Überzeugung gekommen war, Lady Wellsby vertrauen zu können – auf ihr eigenes Anliegen zu sprechen kam.

Die im Umgang mit jungen Leuten erfahrene Dame unterbrach sie kein einziges Mal. Und als Alexandra mit den Worten „Ich denke, ich brauche einen Rat bezüglich meines weiteren Vorgehens“ endete, nickte Lady Wellsby mehrmals. Sie schaute ihre Besucherin nachdenklich an und meinte schließlich: „Ich will ganz offen mit Ihnen sein, meine Liebe. Ich habe Sie immer gemocht, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass ich Ihre Mutter gekannt habe. Sie wissen, dass wir zur gleichen Zeit in Alexandria gelebt haben? Ich erinnere mich noch gut, dass Lord Ware sie buchstäblich angebetet hat. Sie haben übrigens ihre Augen geerbt …“

Lady Ware war in Alexandria begraben. Sie hatte die Geburt ihrer Tochter, die nach der Stadt in Ägypten benannt war, nur um wenige Tage überlebt.

„. und gewiss auch ihre Intelligenz. Trotzdem muss ich Ihnen sagen, dass mein Gatte nicht für Ihre Einstellung im Museum gestimmt hätte, wenn Ihr Vater sich nicht so sehr dafür eingesetzt hätte.“

Obwohl sie sofort begriff, was Lady Wellsby damit sagen wollte, meinte Alexandra: „Ich verstehe nicht …“