Fütter mich, Vater – Die Akte Hämmerling - Elias Hartmann - E-Book

Fütter mich, Vater – Die Akte Hämmerling E-Book

Elias Hartmann

0,0
1,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Wo Berlin endet, beginnt das Labyrinth – und im Labyrinth hat der Hunger einen Namen. Als ein ehemaliger Kinderpsychiater hohl – von innen heraus ausgesaugt – in einem Abrisshaus gefunden wird, glaubt Kommissar Joel Hämmerling an den schlimmsten Fall seiner Laufbahn. Doch die Leere im Körper des Toten ist nur der ­Auftakt. Sie führt Hämmerling zurück in die eigenen Anfänge – zu vergessenen Akten, verschwundenen Kindern und einem Jungen, der einst flüsterte: "Füttere mich, Vater." Gemeinsam mit der kompromisslosen Ermittlerin Nora Seidel dringt Hämmerling in ein unterirdisches Netz aus Kacheln, Knochen und verhunzten Ritualen vor. Jede Spur, die sie finden, frisst sich tiefer in ihre Gedanken – und in ihre Haut. Denn das, was hier hungert, kennt nur drei Gänge: den Nährvater, den Geburtsbrunnen … und den Jäger. Psychothriller / Body Horror at its darkest: Elias Hartmann zerlegt in zwanzig Kapiteln die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit, Fleisch und Schuld, Liebe und Kannibalismus. Ein Roman, der atmet, pocht – und niemals satt wird.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

Vorwort

Dieses Buch entstand aus nächtlichen Gesprächen, verlorenen Fallakten und einer Handvoll Spuren, die besser im Dunkel geblieben wären. Fütter mich, Vater – Die Akte Hämmerling ist kein klassischer Kriminalroman, obwohl ein Ermittler im Zentrum steht. Es ist auch kein reiner Horror, obwohl das Grauen jede Seite durchzieht. Vielmehr treibt hier ein Hunger sein Unwesen – ein Hunger, der die vertrauten Mauern von Erinnerung, Vernunft und Körper aufweicht, bis nicht mehr zu unterscheiden ist, wer füttert und wer gefressen wird.

Ich lade Sie ein, Kommissar Joel Hämmerling auf seinem letzten, vielleicht persönlichsten Fall zu begleiten. Sie werden verlassene Klinikflure betreten, in deren Schlingen das Echo fremder Kinderstimmen hängt. Sie werden Augenzeugen einer Ermittlung, die tiefer unter die Haut geht, als es selbst erfahrene Seelen ertragen. Und Sie werden erfahren, dass das, was wir verdrängen, manchmal nur darauf wartet, sich an uns zu nähren.

Lesen Sie diese Seiten nicht hastig. Nehmen Sie sich Zeit für die leisen Pausen zwischen den Kapiteln, denn dort lauert etwas, das man nur im Augenwinkel sieht. Vertrauen Sie keinem Datum, keinem Bericht, keiner Erinnerung ohne Narben. Und wenn Sie das Gefühl beschleicht, eine Stimme flüstere hinter Ihnen: „Füttere mich“… wenden Sie sich nicht um. Manche Rätsel wollen keine Antwort, sie wollen nur wachsen.

Möge dieses Buch Sie unterhalten, beunruhigen und vielleicht daran erinnern, dass die Grenzen zwischen Fürsorge und Verzehr dünner sind, als wir gern glauben. Öffnen wir gemeinsam die Akte Hämmerling – aber lassen wir sie danach niemals unbeaufsichtigt.

Elias Hartmann, Berlin, im stummen Sommer

 

 

1 – Der hohle Mann

Der Regen hing wie ein nasser Vorhang in der Luft, fein genug, um kaum zu tropfen, dicht genug, um alles zu verschleiern. Das Abrisshaus in der Rathenower Straße stand wie ein faulender Backenzahn zwischen zwei frisch sanierten Fassaden: aufgerissen, verpackt in Gerüste, die im Wind klirrten, als atmete das Gebäude schwer. Ein roter Bagger lehnte daneben, der Arm erhoben, erstarrt in einer Geste, die an ein Insekt erinnerte, das im letzten Moment seines Lebens die Beine spreizt.

Kommissar Joel Hämmerling stieg aus dem Wagen und spürte, wie ihm die Kälte unter den Mantel kroch. Er war zu früh wach geworden; das passierte seit einiger Zeit oft. Es waren die schnellen, kurzen Träume, die ihn weckten – diffuse Bilder, dunkle Flure, ein Kinderzimmer ohne Fenster. Ein paar Sekunden später war alles weg, bis auf den Geschmack von Metall im Mund und den Druck hinter den Augen, als hätte ihm jemand die Schädeldecke aufgeklappt und wieder falsch aufgesetzt.

Die uniformierten Kräfte standen unter dem Gerüst zusammen wie Raucher, die kein Feuerzeug finden. Ein Flatterband, schief gezurrt, markierte den Eingang. Ein junger Kollege, dessen Name ihm entglitten war, hob die Hand: „Morgen, Herr Kommissar.“

Er nickte nur, strich sich den Regen von der Stirn und trat ins Halbdunkel des Hauses. Die Luft roch nach feuchtem Putz, nach Moder, aber darunter lag etwas anderes, etwas Süßliches, das er nicht sofort einordnen konnte. Ein Geruch, der wie eine Erinnerung war, die man nicht haben wollte.

Der Flur gähnte offen und nackt, die Kabel aus den Wänden gerissen, der Boden fleckig von alten Klebekanten, bröseliger Estrich darunter. Eine Mobile-Lampe der Spurensicherung flackerte im Treppenhaus und projizierte zitternde Schatten an die Wände. Jeder Schritt Hämmerlings hallte, als sei das Haus hohl.

„Im zweiten Stock, durch bis hinten links“, sagte eine Stimme hinter ihm. Paula Kern, KTU, tauchte aus dem Dunkel auf, Schutzanzug halb geschlossen, die Kapuze zurückgeschoben. Ihre Brille war beschlagen. „Sie wollen das sehen, bevor wir weiter anfangen.“

„Hätte ich eine Wahl?“, murmelte er.

Sie zuckte mit den Schultern. „Nicht wirklich.“

Er folgte ihr die Treppe hinauf. Die Stufen gaben nach, als wären sie aufgequollen. Im zweiten Stock standen noch zwei Türen, eine angelehnt, eine aus den Angeln gerissen und gegen die Wand gelehnt. Dahinter lag ein Raum, dessen Fenster mit Brettern vernagelt waren. Schmale Ritzen ließen graues Licht hinein. Im Zentrum, auf einer Plastikplane, lag etwas, das zuerst aussah wie ein Anzug aus Fleisch, der falsch gefaltet worden war.

„Dr. Malte Berger“, sagte Paula. „Zumindest laut Ausweis, den wir in der Jacke im Erdgeschoss gefunden haben. Ehemaliger Kinder- und Jugendpsychiater. Sie haben vielleicht den Namen…?“

Der Name traf ihn, als wäre er in eine tiefe Pfütze getreten. Es schoss kalt durchs Bein. Er blinzelte. „Berger…“, wiederholte er, langsam, als schmecke er das Wort. Dann nickte er. „Ja. Ich habe den Namen gehört.“

Paula deutete auf den Körper. „Es wird Ihnen nicht gefallen.“

Er trat näher. Was er zuerst für eine Hautpuppe gehalten hatte, war… tatsächlich genau das. Eine entleerte Hülle. Die Haut war fast unversehrt, nur dünne Risse, wie gedehnte Nähte, zogen sich über Bauch und Brust. Die Augenhöhlen waren leer, aber nicht ausgestochen – eher so, als wären die Augäpfel von innen verschwunden, der Druck entladen, das Gesicht eingesackt. Der Mund stand offen, nicht in einem Schrei, sondern in… Erwartung. Als würde die Hülle darauf warten, wieder gefüllt zu werden.

„Keine äußeren Schnittwunden“, sagte Paula, als hätte sie seine Gedanken gehört. „Keine klassischen. Wir werden natürlich noch genauer schauen, aber… das hier sieht nicht aus, als hätte jemand aufgeschnitten. Eher… na ja. Als hätte man ihn von innen ausgelöffelt.“

Das Süßliche im Geruch bekam plötzlich eine Form, eine Erinnerung, und Hämmerling musste die Zunge gegen den Gaumen pressen, um nicht zu würgen. Er schluckte gegen einen Kloß an, der keiner war. „Wer hat ihn gefunden?“

„Ein Bauarbeiter. Der Baggerfahrer. Er sollte heute mit der Innenentkernung anfangen. Hat im Erdgeschoss Werkzeug geholt, roch was, ist hoch und…“ Sie machte eine kreisende Bewegung mit der Hand. „Telefoniert gerade unten mit seinem Boss. Wir nehmen ihn gleich auf.“

Hämmerling hockte sich hin, kniete auf den Rand der Plane und betrachtete die feinen Linien auf der Haut. Wie Nähte, aber ohne Faden. Keine Einstiche. Keine klassischen Spuren. Die Hände des Toten lagen neben der Hülle, wie wenn jemand die Arbeit unterbrochen hätte. Die Fingernägel waren brüchig, in den Rillen dunkle Reste – Erde? Farbe? Blut? „Habt ihr Abdrücke?“

„Schon genommen. Wir fanden an den Rändern der Plane eine Mischung aus Betonstaub und—“ Sie stockte, als hätte sie sich verhört. „Organischem Material. Noch keine Zuordnung.“

„Organisch“, wiederholte er. „Menschlich?“

„Zu früh. Aber…“ Paula warf ihm einen Blick zu, der sagte, dass sie das Gleiche dachte.

Er ließ den Blick durch den Raum schweifen. Auf der gegenüberliegenden Wand war die Tapete halb abgerissen, dahinter gemusterter Putz, und in einer Ecke prangte etwas, das wie eine Kinderzeichnung aussah: krude, mit etwas Rötlichem aufgetragen, das längst trocken war. Er trat näher. Ein Kreis, darin ein Strichmännchen, dessen Bauch als leerer Kreis dargestellt war. Daneben stand, in ungelenken Buchstaben: FÜTTER MICH, VATER.

Sein Magen zog sich zusammen. Eben noch hatte der Name Berger etwas ausgelöst; jetzt war es ein Satz. Aus der Tiefe seines Gedächtnisses stieg eine Stimme auf, kratzig, brüchig, kindlich und doch alt: „Wenn ich nicht füttere, werde ich gefressen.“ Die Worte waren Jahrzehnte alt. Er hatte sie in einem grauen Vernehmungszimmer gehört, in einem Gebäude, das nicht mehr stand. Er hatte geglaubt, sie hinter sich gelassen zu haben.

„Wer hat das gesehen?“, fragte er und deutete auf die Wand.

„Bisher nur ich und zwei aus meinem Team. Ich hab’s fotografiert. Es war hinter einem Stück Tapete – der Bauarbeiter hat’s wahrscheinlich noch nicht bemerkt.“ Paula zog die Augenbrauen zusammen. „Sie kennen das, oder?“

Er antwortete nicht. Er war wieder 32, nicht 64. Er sah den Jungen vor sich, die schmalen Hände, den Blick, der immer an ihm vorbeisah, als ob dort hinter ihm etwas stand, dem er nicht ins Gesicht schauen durfte. Er hörte wieder diese zweite Stimme, die nicht aus dem Jungen kam und doch aus seinem Mund floss. Er roch wieder diese süßliche Note, die damals im Vernehmungsraum gehangen hatte, obwohl niemand es erklären konnte. „Was war mit Berger? Hat er aktuell praktiziert?“

„Nein. Scheint seit Jahren in Rente gewesen zu sein. Aber wir haben – das ist noch ganz frisch – einen Schlüsselbund in seiner Jacke gefunden. Ein Schlüsselanhänger mit einer alten Klinikmarke. Kinder- und Jugendpsychiatrie am Plänterwald. Offiziell geschlossen seit…“ Sie sah in ihr Notizheft. „1994.“

Das Jahr war ein Messer, das beim Herausziehen mehr wehtat als beim Einstich. 1994 war das Jahr, in dem er die Akte geschlossen hatte, gegen seinen Willen. Ein Vorgesetzter hatte ihm den Rücken gestreichelt wie einem Hund, der nicht begreift, warum man ihm den Napf wegnimmt. „Zuständigkeit abgegeben“, hatte es geheißen. „Zu wenig Substanz. Keine Beweise.“ In Wahrheit hatte niemand genug Mut gehabt, dorthin zu sehen, wohin die Spuren geführt hatten.

„Ich möchte den Bauarbeiter selbst hören“, sagte Hämmerling und zwang sich, sich zu lösen. Seine Knie knackten, als er aufstand. „Und alles, was ihr hier findet, geht direkt über meinen Schreibtisch. Keine Presse, kein Leak. Ich will nicht, dass die Wörter an der Wand in irgendeinem Boulevard auftauchen, bevor ich…“

„Bevor Sie was?“, fragte Paula.

Bevor ich verstehe, wie tief das Loch diesmal ist, dachte er. „Bevor wir eine Richtung haben“, sagte er stattdessen.

Im Treppenhaus war es noch dunkler. Der Regen draußen schien den Lärm der Stadt verschluckt zu haben. Auf halber Höhe blieb er stehen, legte die Hand an das Geländer. Das Metall war kalt, und unter seiner Haut pulsierte ein dumpfes Pochen, das nicht sein Herzschlag war, sondern eine Erinnerung an einen anderen Puls, den er einmal unter der Hand gehalten hatte: den eines Jungen, der behauptet hatte, in seiner Brust wohne jemand, der hungrig sei. Er holte tief Luft. Vor nicht einmal zwei Wochen hatte er seinen Rentenantrag unterschrieben. Noch ein paar Monate, hatte es geheißen. Ein sauberer Übergang, ein ruhiger Abschied. Und jetzt stand er hier in einer Ruine, und die Vergangenheit hatte ein neues Maul aufgerissen.

Unten, im Erdgeschoss, saß der Baggerfahrer auf einer umgedrehten Palette, eine Decke um die Schultern. Er kaute an einer Zigarette, die er nicht angezündet hatte. Sein Gesicht war grauer Beton mit roten Sprenkeln. Als Hämmerling sich vorstellte, nickte er nur, als sei er zu müde, um überrascht zu sein.

„Ich bin Hämmerling. Sie sind…?“

„Kowalski. Marek Kowalski.“ Die Zigarette hing an seiner Lippe. „Ich hab da oben nur geguckt, ob der Boden… also, ob wir… Sie wissen schon. Und dann… ich hab gerochen. Das riecht wie… meine Oma, als sie gestorben ist. Also, nicht so. Aber Sie wissen schon.“

Er wusste es. Jeder wusste es, der lange genug gearbeitet hatte. „Haben Sie jemanden gesehen?“

„Nur den Körper. Und das… das Zeug an der Wand. Aber nicht richtig, ich hab’s nur…“ Er winkte ab, als wolle er die Erinnerung verscheuchen. „Ich hab niemanden rein oder raus gesehen. Wir haben gestern Feierabend gemacht, abgesperrt. Der Bauleiter hat den Schlüssel. Also, hatte. Jetzt hat die Polizei ihn.“

„Der Bauleiter ist…?“

„Kommt gleich. Ist im Stau.“ Kowalski zuckte die Schultern. „Berlin.“

„Sie haben das Haus abgesperrt“, wiederholte Hämmerling. „Von außen?“

„Von außen und innen. Die Türen sind verklebt. Da oben – die Tür hing schon locker. Ich hab die nicht angefasst.“

Hämmerling sah zu Paula, die schweigend notierte. „Gibt es Spuren von Einbruch?“

„Noch nichts eindeutiges“, sagte sie. „Die Klebesiegel sind zerbröselt. Kann alt sein. Kann neu sein. Es hat geregnet, es ist Staub, es ist eine Baustelle – kurz: Scheiße.“

Er nickte. „Wir nehmen Ihre Aussage gleich auf, Herr Kowalski. Danach sehen Sie bitte einen Arzt. Nur routinemäßig. Sie wollten nicht wirklich hier sein, nehme ich an.“

Kowalski schnaubte. „Ich will überall sein, nur nicht hier.“

Als sie den Mann in einen Nebenraum führten, blieb Hämmerling allein am Eingang stehen. Er zog das Handy aus der Tasche, starrte auf die leere Kontaktliste, bei der die letzten Anrufe alle Dienststellen, keine Menschen waren. Er zögerte. Dann wählte er eine Nummer, die er seit Jahren nicht mehr gebraucht hatte – eine Direktwahl ins Archiv, Altakten, ein Kellergeschoß, das man aus Kostengründen zusammengelegt hatte mit der Asservatenkammer, als ob man Vergangenheit und Dinge, die niemand mehr haben wollte, zusammen in einen Schrank sperren könne.

„Archiv“, sagte eine Stimme. „Wen darf ich—“

„Hämmerling. Ich brauche die Akte eines Falles, der 1989 aufgemacht wurde. Kind, zwölf Jahre alt, Vorname Adrian. Nachname…“ Er stockte. Er wusste ihn nicht mehr. Ein Detail, das ihm entfallen war wie ein Zahn, der schon lange lose gewesen war. „Die Akte trug eine interne Nummer: Protokoll 17/89. Ich brauche sie heute.“

Kurzes Schweigen. Dann: „Ich schaue… Moment. 17/89… Das ist eine der gesperrten. Zugriffsrechte aus 2001. Sie sind nicht in der Liste.“

„Ich bin der, der die Liste gemacht hat“, sagte Hämmerling, ohne den Ärger rauszulassen, der plötzlich in ihm hochstieg. „Und ich lasse sie hiermit aufheben. Schreiben Sie meinetwegen eine Mail an meinen Vorgesetzten, aber holen Sie mir diese Akte. Dann rufen Sie mich zurück, wenn Sie sie in der Hand haben.“

„Ich… gut. Das kann dauern. Wir haben heute—“

„Es hat dreißig Jahre gedauert“, sagte Hämmerling leise. „Eine Stunde mehr oder weniger spielt keine Rolle. Und doch: Beeilen Sie sich.“

Er legte auf und spürte, wie sein Puls langsam wieder in seinen Brustkorb sank. Als er den Kopf hob, stand im Eingang unten, halb vom Flatterband verdeckt, eine Gestalt, die nicht hierher gehörte. Schlank, regennass, kurzhaarig. Nora Seidel. Seine junge Kollegin, die er eigentlich vor diesem Fall hatte schützen wollen – oder vor welchem Erdbeben auch immer ihm heute der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Er wusste noch nicht, ob er froh war, sie zu sehen, oder ob es die Sache komplizierter machte.

„Chef“, sagte sie und hob das Band an, trat darunter. „Sie haben mich nicht angerufen. Also bin ich gekommen.“

„Sie sind stur“, sagte er.

„Sie sind alt“, erwiderte sie, ohne Respektlosigkeit, eher wie eine Feststellung. „Was liegt oben?“

Er überlegte kurz. Sie würde es ohnehin sehen. Und vielleicht brauchte er jemanden, der ihm die Worte aus dem Kopf schüttelte, die sich dort verfilzten. „Ein Mann, ausgehöhlt von innen. Dr. Malte Berger. Name sagt Ihnen etwas?“

Sie kniff die Augen zusammen. „War das nicht der Typ, der—“

„Später.“ Er hob die Hand. „Oben ist eine Zeichnung an der Wand. ‚Füttere mich, Vater‘. Wenn Sie das sehen, werden Sie mich fragen, ob ich…“ Er verstummte. Er wollte den Satz nicht zu Ende sprechen.

„Ob Sie etwas damit zu tun haben?“, half sie. „Das frage ich eh immer. Standardfrage.“

Er schnaubte, ein Laut, der wie ein Lachen klang, aber keines war. „Kommen Sie. Und fassen Sie nichts an.“

Sie gingen die Treppe hinauf, und während sie stieg, sprach Nora: „Die Presse weiß noch nichts. Zwei Uniformierte reden draußen schon zu viel. Ich habe einem das Handy abgenommen – er wollte seinem Bruder schreiben. Können wir ihn feuern?“

„Es gibt gerade größere Löcher zu stopfen als seine Integrität“, sagte Hämmerling. „Aber gut, dass Sie es getan haben.“

Im Zimmer blieb Nora wie angewurzelt stehen. Ihr Blick fiel zuerst auf die Hülle, dann auf die Wand. „Jesus.“ Dann: „Das ist—“

„Ja“, sagte er. „Es ist wie damals.“

„Damals?“

Er sah sie an. Sie war zu jung, um 1989 bewusst verlebt zu haben. Für sie war die Wende ein Kapitel im Geschichtsbuch, kein Datum, das in ihren Knochen vibrierte. „Ein Fall. Ein Junge. Adrian. Er sagte damals, er müsse füttern, sonst werde er gefressen. Ich hab ihn nicht verstanden. Niemand hat ihn verstanden. Und dann…“ Er machte eine Geste, die nichts erklärte.

„Und dann hat jemand die Akte gesperrt“, beendete sie.

Er lächelte dünn. „Sie lernen schnell.“

„Ich stalke Ihre Altlasten in der Datenbank. Ein Hobby.“ Sie trat näher an die Zeichnung. „Das ist mit Blut, oder?“

„Es ist trocken. Wir werden es sehen. Halten Sie Ihre Gedanken vorerst bei sich.“

Sie nickte. „Gut. Dann gehört noch etwas Ihnen.“ Sie zog ihr Handy aus der Tasche, zeigte ihm einen Screenshot. Eine Anrufliste. Eine unbekannte Nummer hatte in der Nacht um 3:17 Uhr bei ihm angerufen. „Sie haben nicht abgenommen.“

Er starrte die Zahlen an. Es war eine Berliner Festnetznummer. Er wusste, wie Festnetz klang. Er wusste, wie alt es roch. „Sie haben meine Anrufe im Blick?“

„Ich habe die Benachrichtigung eingestellt, als Sie letztes Jahr diese… Episode hatten.“ Sie sagte das Wort, als hätte es keine Scham. „Sie sagten, ich solle es tun.“

Er erinnerte sich. Lange Nächte, zu viel Whisky, zu viele Stimmen im Kopf, nur eine echte, die ihn aus dem Strudel gezogen hatte. Noras. „Sie sind sich sicher, dass—“

„—dass der Anruf aus der Klinik am Plänterwald kam“, sagte sie. „Die Nummer ist registriert. Offiziell wird der Anschluss nicht mehr verwendet. Aber anscheinend… Stand da jemand im Keller, Chef? Und hat eine alte Leitung gefunden?“

Er sah die Wand an. Die Zeichnung schien ihn anzustarren. „Oder der Keller hat einen neuen Wirt gefunden“, murmelte er.

„Bitte?“

„Nichts.“ Er fuhr sich durch den Bart. Er fühlte sich plötzlich müde. Nicht körperlich, sondern müde in einer Tiefe, in der man nicht mehr schläft. „Wir fahren nachher hin. Wenn Paula hier durch ist. Bis dahin will ich alles über Berger. Patientenlisten, Kollegenkreis, Klinikjahre. Und suchen Sie mir jeden Vermisstenfall zwischen 1989 und 1994, der in einen klinischen Kontext passt. Kinder, Jugendliche. Und…“ Er schloss kurz die Augen. „Und schauen Sie nach, ob wir irgendwo… eine Erwähnung von ‚Fütter mich‘ in Zeugenprotokollen haben. Nicht nur im Wortlaut. Synonyme. Umschreibungen. ‚Ich muss, sonst—‘ Sie wissen, was ich meine.“

„Sie wollen, dass ich die Worte finde, mit denen Leute ihren Hunger beschreiben“, sagte Nora. „Verstanden.“

Er nickte. „Und lassen Sie sich nicht fressen.“

„Sie klingen, als sei das eine reale Gefahr.“

„Ist es“, sagte er, ohne zu wissen, warum er das so sicher behauptete.

Ein dumpfes Geräusch aus dem Flur ließ sie herumfahren. Paula stand in der Tür, ein Beweismittelbeutel in der Hand. „Das lag unter der Plane. Offenbar rausgerutscht, als wir das Licht aufgebaut haben.“ In dem Beutel lag etwas, das aussah wie ein zusammengefaltetes, dünnes Hemd. Doch als Hämmerling genauer hinsah, sah er Nähte. Nicht Stoff, sondern… Haut. Zusammengefügt mit einem Faden, der aussah wie… Haar.

„Das ist doch nicht…“, begann Nora.

„Wir wissen es noch nicht“, sagte Paula schnell. „Aber wenn es ist, was es zu sein scheint, dann… war jemand sehr beschäftigt. Und sehr geübt.“

Hämmerling spürte, wie sich sein Magen hob. Er zwang seine Gedanken in Bahnen. „Sicher es. Ich will, dass es heute noch im Labor ist. Und Paula – rufen Sie mich an, sobald Sie eine erste Einschätzung haben. Ich werde… draußen sein.“

„Wo?“

„Ein altes Haus besuchen“, sagte er. „Ein Keller. Eine Nummer, die nicht mehr existieren sollte.“

Als er und Nora das Haus verließen, hatte der Regen aufgehört. Die Luft fühlte sich schwerer an, als habe sie etwas in sich aufgenommen, das man nicht sah. Hämmerling blieb kurz auf der Straße stehen, schaute hoch zum zweiten Stock, wo hinter den Brettern ein schwaches Licht flackerte. Er dachte an den Jungen, an die Worte, die er damals ins Protokoll hatte diktieren lassen, an den Satz am Ende, den jemand später gestrichen hatte: „Er sagt, ich sei sein Vater. Er sagt, wenn ich nicht füttere, frisst er mich. Aber er frisst mich sowieso, wenn ich aufhöre.“

„Chef?“, fragte Nora. „Sind Sie okay?“

Er nickte. „Noch“, sagte er.

Sein Handy vibrierte. Archiv. Er hob ab. „Ja?“

„Ich habe die Akte“, sagte die Stimme. „Aber das ist merkwürdig. Sie ist… dünn.“

„Wie dünn?“

„Ein Deckblatt. Zwei Seiten. Der Rest… ist offenbar ausgelagert worden. Wohin, steht nicht drin. Es gibt eine Notiz: ‚Verwahrt bei W.R.‘“

W.R. Sein Herz machte einen stolpernden Schlag. „Lesen Sie mir vor, was auf dem Deckblatt steht.“

Er hörte das Rascheln von Papier. „‚Fall Adrian (Nachname unkenntlich gemacht), geb. 1977, Einlieferung in die KJP Plänterwald am 4. Oktober 1989. Diagnose: dissoziative Symptomatik, mutmaßliche induzierte Phobie. Hinweise auf…‘ – das Wort ist überstempelt. Dann: ‚Auffällige Auditivaudolien‘ – das ist falsch geschrieben –, ‚der Patient spricht in fremden Stimmen.‘ Und unten eine Signatur. Ihres. Und eine zweite. ‚Dr. Wolfram Reick.‘“

Reick.

Ein Name, den man nicht laut aussprach, wenn man eine ruhige Nacht wollte.

„Danke“, sagte Hämmerling. „Legen Sie das Deckblatt für mich zurück. Ich hole es ab. Und… informieren Sie niemanden sonst. Noch nicht.“ Er beendete das Gespräch, bevor die Stimme protestieren konnte.

„Wer ist W.R.?“, fragte Nora.

„Jemand, der tot ist“, sagte Hämmerling.

„Dann hat er unsere Akte gut versteckt.“

„Tote sind manchmal die besten Verstecke.“

Sie gingen zum Wagen. Als Hämmerling sich hinter das Steuer setzte, sah er im Rückspiegel eine Bewegung. Im Fenster des zweiten Stockes löste sich eine Bretterritze vom Rahmen, als hätte sie jemand mit dem Finger aufgehebelt. Dahinter, für einen Atemzug lang, glaubte er, ein Auge zu sehen. Dunkel. Starr. Unendlich hungrig.

Dann war es weg.

„Haben Sie das gesehen?“, fragte Nora.

Er schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich nur der Wind.“

„In einem vernagelten Fenster?“

„Der Wind findet Wege“, sagte er. Und fuhr los. Während der Wagen anrollte, hörte er, ganz leise, aus der Tiefe seines Tunnels ein Flüstern, das nicht von außen kam: Füttere mich, Vater.

Er legte die Hand auf sein Brustbein, als müsse er etwas festhalten, das drinnen rutschte.

Der Himmel über Berlin war ein graues, zähes Tuch. Und irgendwo, dachte Hämmerling, irgendwo hatte jemand angefangen zu essen – und nicht vor, aufzuhören.

 

 

2 – Offene Fugen

Der Leichensaal der Gerichtsmedizin wirkte immer wie ein Sakrileg an der Stille: Neonlicht, das summte, sterile Kacheln, die Geräusche doppelt zurückwarfen, und ein Geruch aus Formalin, Reinigungsmittel und einem unterschwelligen Metallton, den man erst bemerkte, wenn man wieder draußen war. Kommissar Joel Hämmerling setzte einen Fuß über die Schwelle, fühlte sofort, wie die Kälte durch die Sohlen kroch, als würde der Raum ihm ankündigen, er solle hier keine Wärme erwarten.

Dr. Carolin Jäger, leitende Rechtsmedizinerin, stand über dem geöffneten Stahltisch gebeugt. Ihr blondes Haar war sauber unter einer Haube verstaut, Schutzschild vor dem Gesicht, latexfarbene Handschuhe bis zu den Ellenbogen. Neben ihr leuchtete der Monitor eines digitalen Stereomikroskops; darauf ein Bild, das aussah wie die bröckelige Innenseite einer Grotte, in Wahrheit aber ein Schnitt durch menschliche Haut war – oder das, was davon übrig geblieben war.

„Joel. Gut, dass sie da sind“, sagte Jäger, ohne aufzusehen. „Ich weiß, Sie mögen Autopsien nicht. Diesmal müssen Sie trotzdem bleiben. So etwas habe ich noch nie gesehen.“

„Das dachte ich mir“, murmelte er und verschränkte die Arme. „Ergebnis?“

„Beginnen wir von außen.“ Jäger hob Bergers entleerte Hülle mit beiden Händen leicht an – wie eine Lederjacke, dachte Hämmerling, viel zu leicht, viel zu biegsam. „Makroskopisch keinerlei Schnitt- oder Stauchungsspuren. Die Haut ist unbeschädigt, abgesehen von mikrofeinen Dehnungsrissen entlang natürlicher Spannungslinien. Keine Hämatome, keine Abwehrverletzungen.«

„Als hätte niemand ihn berührt.“

„Oder er selbst.“ Sie warf ihm einen seltsamen Blick zu, dann schaltete sie den Monitor um: eine Nahaufnahme der inneren Hautschicht. „Sehen Sie diese Ausfransungen? Das sind keine glatten chirurgischen Resektionsränder. Es sieht eher aus, als sei Gewebe… verflüssigt worden.“

„Wie Mazeration?“

„Nur, dass Mazeration mit Wasser arbeitet. Hier sehe ich keine Einwirkung von Flüssigkeit. Außerdem wären dann die äußeren Schichten aufgedunsen. Nein. Das hier ist… enzymatische Auflösung.“ Sie klickte weiter: Querschnitte, die hellblau unterlegt waren, winzige Inseln unversehrten Fasern in einem Meer aus abgestorbener, leerer Matrix. „Der Körper wurde von innen heraus aufgelöst. Gerinnt, entfernt – aber nicht restlos, eher sauber abgetragen wie Fleisch von einem Knochen, nur dass der Knochen hier die Haut war.“

Ein Phantomschmerz kribbelte über Hämmerlings Rippen. „Also kein Skalpell, keine Klingen.“

„Nichts, was ich kenne. Selbst hochpräzise Lasersektionen würden Verbrennungssäume hinterlassen. Hier: nichts. Die Zellmembranen wirken punktiert, wie von unendlich feinen Nadeln angeritzt, bis Druckgefälle entstand und der Inhalt abfloß. Aber wohin?“ Jäger holte tief Luft, als müsste sie das selbst begreifen. „Und es gibt noch etwas.“ Sie griff nach einem Stahltablett. Darauf lagen zwei geleeartige Kugeln, durchsichtig, jede kaum größer als eine Murmel.

„Was ist das?“

„Drüsen.“ Jäger deutete auf den Display, wo die Struktur gezoomt war. „Exokrine Anteile. Abgeschnürt, konserviert. Offenbar gezielt stehengelassen, während alles andere… ausgesaugt wurde.“

„Warum ausgerechnet die?“

„Sie produzieren Enzyme. Speichel-, Magen-, Pankreas-, Schweißdrüsen – sehr spezifisch. Vielleicht brauchte der Täter ihren Inhalt für den Vorgang, vielleicht sind sie Abfall. Ich spekuliere.“ Sie sah ihn ernst an. „Aber mir drängt sich ein Bild auf, Joel. Als sei jemand in diesen Körper hineingestiegen, auf zellulärer Ebene, und habe sich ernährt, bis nichts mehr übrig war als das Gerüst. Wie ein Pilzgeflecht in einem Baumstamm.“

Ein Gedanke flackerte in seinem Kopf: Ich werde gefressen, wenn ich nicht selber füttere. Zurück in das Kellerzimmer, zurück zu diesem Jungen, der glasig ins Nichts starrte, während seine Stimme flackerte wie schlechtes Neon. Eine zweite Stimme, dunkel, kehlig, hatte damals aus der gleichen Kehle gesprochen: „Erlaubst du mir zu essen?“ Und ein drittes Wispern, das nur Hämmerling gehört zu haben glaubte: Fütter mich, Vater.

Die Neonröhren über ihm summten lauter. Wärme stieg in seinem Bauch wie Gärung, drohte aufzuwallen, als müsse er sich über die blitzenden Kacheln beugen. Stattdessen drückte er zwei Finger gegen den Nasenrücken. „Todeszeitpunkt?“

„Angesichts des Zustands schwierig zu schätzen. Die üblichen Kriterien – Totenstarre, Livores – versagen, weil die Muskeln fehlen. Kerntemperaturbestimmung ist… sinnlos. Ich kann nur einen Zeitrahmen geben: zwölf bis 24 Stunden vor Auffindung. Vielleicht auch früher, wenn die zelluläre Auflösung sehr schnell war.“

„Gibt es Toxikologie?“

„Ich habe Blutreste aus Kapillaren gewonnen. Ergebnisse dauern. Aber schon die Vorprobe zeigt keine klassischen Rauschmittel. Vielleicht ein hochspezifisches Enzympräparat. Ich suche weiter.“

Er nickte, zwang sich, die Bilder auf dem Monitor aufzunehmen: eine Landschaft aus zerfressener Biologie. „Gibt es DNA-Spuren eines Dritten?“

„Wir haben Speichelreste in Mund und Rachen – außer Bergers.“ Ein erschütterndes Lächeln. „Jemand muss ihm sehr nahegekommen sein, ohne die Haut zu traumatisieren. Ich jage die Sequenz durch die Datenbank. Bis heute Abend weiß ich, ob wir ein Match haben.“

„Wenn es diesen Täter schon länger gibt, hat er nicht im System.“ Hämmerling stützte sich auf den Tischrand, spürte unter dem Edelstahl die vibrationslose Masse, als sei die Oberfläche nur Deckel auf einem Abgrund. „Er hinterlässt seine Opfer als… leere Schalen – und war drei Jahrzehnte unauffällig.“ Er hörte die Bitterkeit.

Jäger musterte ihn. „Sie kannten Berger, stimmt’s?“