Gang ga ggùgge - Christian Schmutz - E-Book

Gang ga ggùgge E-Book

Christian Schmutz

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Beschreibung

Senslerdeutsch ist die Alltagssprache der Leute aus dem deutschfreiburgischen Sensebezirk, meist Sensler genannt. Ihre Sprache ist verhältnismässig wenig bekannt. Bei Nichtsenslern löst sie meist den Drang nach einem lächelnden Kopfschütteln aus: «Das klingt herzig, aber komisch.» Man sagt, diese Sensler würden sich bedeckt halten und überall anpassen, damit niemand sie wahrnehme. Eine Masche! Aber wo verstecken sie sich? Gibt es die Sensler und ihre sagenhafte Sprache wirklich? Ist es womöglich ein totemügerliesk erfundenes Idiom, das absichtlich so viele Kuriositäten enthält? Allerlei Forschende und sonstige Gwundernasen machen sich auf die Suche nach dem Phänomen und erleben dabei mancherlei Überraschung.

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Seitenzahl: 145

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«Wir kommen nicht darum herum, diese Sensler sinnlich wahrzunehmen! Erst wenn wir sie gesehen, gehört, gespürt und gerochen haben, wissen wir, dass es sie gibt.»

Nach einer schlaflosen Nacht will er eine Entdeckungsreise in diesen exotischen Landstrich unternehmen. Das muss sein – allen erdenklichen Risiken zum Trotz! Er lässt sich gegen Maulund Klauenseuche impfen, streicht Sonnencreme ein, trägt einen Helm am Arm, Thermowäsche und einen Hakenstecken mit eisernen Beschlägen. Im Rucksack befindet sich ein Airbag gegen Schnee-und Schlammlawinen. Sicher ist sicher. Er hat keine Ahnung, was ihn erwartet.

CHRISTIAN SCHMUTZGANG GA GGÙGGE

Der Autor und der Verlag danken herzlich für die Unterstützung:

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

In Zusammenarbeit mit:

© 2019 Zytglogge Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Angelia Schwaller

Korrektorat: Jakob Salzmann

e-Book: mbassador GmbH, Basel

ISBN ePub 978-3-7296-2286-9

ISBN mobi 978-3-7296-2287-6

www.zytglogge.ch

Christian Schmutz

Gang gaggùgge

Senslerdeutschendlich verstehen

Inhalt

Totemǜgerliesk

Die Suche nach den Exoten

Wie Senslerinnen und Sensler reden

Ihre Sprache begreifen

Ein Leben im Konjunktiv

Das zeichnet diese Region aus

Jeder Kontakt birgt Missverständnisse

Beliebte Vorbilder

Plagierer oder Neider

Relativ geschafft

Dank

Totemǜgerliesk

Senslerdeutsch ist die Alltagssprache der Personen aus dem Sensebezirk, meist Sensler genannt. Der Sensebezirk ist der einzige vollständig deutschsprachige Bezirk des zweisprachigen Kantons Freiburg. Die Einheimischen fühlen sich manchmal eher der Deutsch-, manchmal eher der Westschweiz zugehörig. Manchmal sind sie Sowohl-Als-Aucher, manchmal Weder-Nocher.

Es heisst, die Welschen lieben die Sensler – aber sie verstehen sie nicht. Man braucht sich offenbar nicht zu verstehen, um sich zu lieben. Schön.

Diese Aussage zeigt: Die auffälligste Besonderheit der Sensler ist ihr höchstalemannischer Dialekt – und dieser fällt dies- wie jenseits der Saane auf. Geschätzte 30 000 Personen sprechen diese Mundart.

Dieses Senslerdeutsche scheint bei Nichtsenslern einen bestimmten Reflex auszulösen – Kopfschütteln kombiniert mit einem Lächeln: «Schön, dass es so etwas gibt, aber ernst zu nehmen brauchen wir es nicht.» Dies ist vergleichbar mit der Erforschung einer exotischen Kuriosität, etwa einer seltenen Tierart. Gibt es die Sensler und ihre sagenhafte Sprache wirklich?

Eines lässt sich nach der eingehenden Beschäftigung mit Senslern und Senslerdeutsch sagen: Das hartnäckige Gerücht, dass die Sensler totemǜgerliesk erfundene Gestalten sind und Senslerdeutsch ein erfundenes Idiom, um die Sprecher anderer Sprachen und Dialekte zu beschäftigen und zu ärgern, das können Sie getrost kǜdere. Die Sensler gibts tatsächlich – grad gestern sei einer gesehen worden.

Wahrscheinlich.

Eventuell.

Zumindest hat jemand hinter einem Gebüsch etwas wackeln sehen.

Die Suche nach den Exoten

Ein Genfer, ein Basler und ein Berner wetten, wer als Erster beweisen kann, dass es die Sensler gibt. Alle drei machen sich unabhängig voneinander auf die Suche und treffen sich eine Woche später wieder.

Der Genfer sagt: «Ich habe vernommen, Freiburger und eben Sensler seien in Genf effiziente Arbeiter. Aber sie erledigen jede Arbeit so rasch, dass ich es nicht geschafft habe, einen zu sehen.»

Der Basler hat von einem Sensler Zuzüger in Basel gehört. «Aber der hat sich so rasch und so stark den Baslern angepasst, dass er nach drei Tagen nicht mehr als Sensler zu erkennen war.»

Der Berner hat nicht daheim gewartet. Er hat sich von Schwarzenburg aus durch den Sense-Urwald gekämpft und nach tagelanger Suche hinter einem Felsen hervor eine Gruppe gesehen.

«Wirklich?», fragen der Genfer und der Basler erstaunt.

«Zumindest einen hab ich gesehen», relativiert der Berner. Und erst nach einer längeren Pause führt er halblaut an: «Das war ein eingewanderter Berner, der seit drei Generationen im Senseland lebt.»

 

Eine alte Schriftrolle

Ein Genfer, ein Basler und ein Berner sind derart ratlos, ob es die Sensler tatsächlich gibt, dass sie die Wissenschaft zurate ziehen. Es heisst zwar, im Elfenbeinturm sei sie weit vom echten Leben entfernt. Aber die Universität Freiburg erforscht gezielt Land, Leute und Sprache der Region. Das trifft sich gut.

Ein Professor der Universität hat sich sein Forscherleben lang mit der Thematik befasst. Er bietet ein interdisziplinäres und interaktives Seminar mit dem Titel ‹Land und Leute zwischen Ärgera und Sense› an. «Nennen wir sie mal Ärgerer», sagt der Professor in der ersten Sitzung.

Sein Interesse, sich mit dieser Spezies zu beschäftigten, wurde bei der Lektüre eines alten Schriftstücks geweckt: Er stiess im Keller der Universität in einer dunklen Ecke auf eine Papierrolle in alter deutscher Schrift. Mühsam musste er Buchstabe für Buchstabe entziffern und erschliessen. Die Entdeckung fesselte ihn mit jeder Minute mehr. Das Ganze kam ihm vor wie ein Kreuzworträtsel – jeder gefundene Buchstabe öffnete neue Türen.

Der unbekannte Autor beginnt mit: «Wärum sy d Ärgerer so speziell? Haben Sie die wahre Geschichte schon vernommen, dass die Ärgerer die einzigen Leute auf dieser Welt sind, die nicht von Adam und Eva abstammen? – Bekanntlich sind sie ziemliche Schnapsdrossle. Darum heisst es, Adam und Eva seien sicher keine Ärgerer gewesen, sonst hätten sie den Apfel nicht gegessen, sondern gebrannt. Schnaps gemacht. – Ja, und es waren sicher keine Chinesen, sonst hätten sie nicht den Apfel gegessen, sondern die Schlange. – Und es waren sicher keine Kannibalen, sonst würden wir heute von der Schlange abstammen. Oder vom Apfel.»

Der Autor schreibt weiter, dieser Schnapsgschǜcht selbst nachgegangen zu sein – und Unglaubliches herausgefunden zu haben.

Wollte der unbekannte Autor seine Leser in die Irre leiten? Der Professor decodierte trotzdem weiter, weil die Hoffnung zu gross war, die genau richtige Entdeckung gemacht zu haben. Es stand weiter auf der Papierrolle:

«Die ersten Menschen auf der Welt waren nicht Adam und Eva, sondern Odem und Ave. Diese zwei lebten in jenem Gebiet zwischen Ärgera und Sense. Die Schlange wollte Ave und Odem mit dem Apfel verführen, aber die beiden sagten: ‹Aba, ki Zytt! Neei, zeersch no epis wärche, bevors a Znüüni-Pousa git!› Sie legten den Apfel auf einen Stein und arbeiteten weiter. Es gab in ihrem neuen Garten viel zu tun. Die Frucht aber brachte sie auf eine Idee. Sie könnten stattdessen aus erlaubten Äpfeln as Schnäpsli brennen. Sie bauten sich einen Ofen mit Dampfkessel und Hafen sowie Destillieranlage und begannen mit Brennen – zum Glück hatte kurz zuvor ein Blitz eingeschlagen und ihnen zu Feuer verholfen.

Nach einigen Wochen wollte der Herrgott mal nachschauen, was diese beiden Urmenschen so trieben. Als er um die Hecke kam, strahlten die beiden. Er käme genau zum richtigen Zeitpunkt für die Degustation ihres ersten Apfelschnapses. Es gebe ein Apérööli, selbst gemachte Brätzele hätten sie dafür auch schon parat.

Das geplante Apérööli wuchs zu einem ausgewachsenen Apéro. Es zog sich in den Nachmittag, in den Abend und bis in alle Nacht hinein und endete damit, dass der Herrgott den Weg zurück in den Himmel fast nicht mehr fand.

Als er sich am nächsten Tag gegen Mittag mit schrecklichen Kopfschmerzen an seinen Schreibtisch setzte, seinen Laptop aufklappte und mit zerknautschtem Gesicht die Schläfe festhielt, gab er sich einen Ruck. Er überlegte: ‹Das war ein rauschendes Apéro. Odem und Ave sind sehr herzlich, gastfreundlich und angenehm. Aber dass zwei so Trinkfeste die Urahnen der ganzen Menschheit sein könnten – das wäre nicht gut.›

Den halben Nachmittag hatte Gott gebraucht, um diese Erkenntnis zu formulieren. Das war genug an Denkarbeit für heute. Er legte sich wieder schlafen und beamte sich am nächsten Tag ins Quellgebiet von Euphrat und Tigris, schuf dort Adam und Eva und die beiden erlagen den Verführungen der Schlange.

Odem und Ave waren mit denen nicht verwandt und lebten in ihrem Ärgereländli weiter. Ihre Nachfahren trafen erst Jahrtausende später auf Nachfahren von Adam und Eva. Von denen konnten sie einiges lernen. Aber die Ave-und-Odem-Kinder waren ihnen auch in einigen Dingen voraus – so bei der Apéro-Kultur. Darum sind sie auch heute noch ein kleines eigen­artiges Volk mit einem eigenen Dialekt.»

Der Professor jubilierte: «Geschafft!»

Das Anti-Freiburg-Kreuz

In der ersten Stunde des Seminars ‹Land und Leute zwischen Ärgera und Sense› begeistert der Professor die Studierenden mit der ‹Odem und Ave›-Geschichte und weiteren Vermutungen zu den Ärgerern. Ganz gwundrig geworden wollen sich die Studierenden nun auf die Suche nach den Exoten machen. Das Rätselfieber packt jede und jeden. Sie wollen die Ersten sein, welche diese Ärgerer entdecken!

Reicht die ‹Odem und Ave›-Geschichte wirklich als Beweis für die Existenz dieser Spezies aus? Wohl höchstens als Indiz. Es braucht mehr solcher Elemente für ein schlüssiges Bild.

Für einen Solothurner Studenten ist klar: Falls es die Ärgerer gibt, muss man sie geografisch verorten können. Ihr Stammesgebiet liegt irgendwo zwischen Freiburg und Bern. Er hat herausgefunden, dass diese Region im Spätmittelalter umstritten war. Freiburg (mit Habsburg verbündet) und Bern (meist mit Savoyen) haben zwischen 1298 und 1448 vier grössere militärische Konflikte gegeneinander erlebt. Einer davon war für die Freiburger und mit ihnen für die Ärgerer prägend:

Bei der Schlacht von Laupen im Jahr 1339 kämpften die papsttreuen Berner gegen die kaisertreuen Freiburger. Der Solothurner lässt sich diesen Passus auf der Zunge vergehen: «die papsttreuen Berner gegen die kaisertreuen Freiburger». Er findet eine interessante, mundartliche Aufstellung der Schlachtteilnehmer:

Bäärn het Ùnderstǜtzig ǜberchoo vo au dene Innerschwizer Eidgenosse vo 1291.

Frybùrg ù d Bùrgùnder hii Ùnderstǜtzig bechoo vo Basler, Nüebùrger, Losanner, Walisser ù Savoyer.

Bäärn defǜǜr vo Mùùrte ù Solothurn, Payerne ù Burgdorf.

Frybùrg vo Kybùùrger, Elsässer ù im Erzbischof vo Öschtryych.

Bäärn vo Thun ù de Oberländer vo Haslitaau, Wyssebùrg ù Blankebùrg.

Frybùrg o vo Arbäärger, Bäupper ù Nydauer.

Auso ifach fǜrchterlich kompliziert!

Auf beiden Seiten dieser Schlacht standen die unterschiedlichsten Typen mit den unterschiedlichsten Uniformen. Wer ist mit mir, wer gegen mich? Wem soll ich den Grind abhacken – dann dessen Ohren als Aschenbecher brauchen – den Schädel als Bowlingkugel – und die Zähne als Bieröffner? Und mit wem verabrede ich mich für nach der Schlacht in der Buvette zur feuchtfröhlichen dritten Halbzeit?

Plötzlich hatte ein Berner Anführer namens Marcus Luethi-Löienberger senior eine Idee: Für den Erfolg braucht es Organisation und klare Strukturen. Vor der entscheidenden Schlacht von Laupen nähten sich darum die Berner und ihre Verbündeten ein weisses Kreuz aus Leinen auf ihre Uniformen – als gemeinsames Erkennungszeichen.

So eine Markierung hat grundsätzlich Vor- und Nachteile. Man weiss zwar, wem man nicht den Grind abhacken – dann dessen Ohren als Aschenbecher brauchen soll – den Schädel als Bowlingkugel – und die Zähne als Bieröffner. Aber: Ein weisses Kreuz auf der Brust ist etwa gleich eindeutig wie eine Zielscheibe auf der Stirn.

Man muss wissen, dass offenbar knapp 7000 Berner und Verbündete gegen rund 12 000 Freiburger und Verbündete gekämpft haben. Die Taktik mit einer klaren Markierung – wie eben dem gemeinsamen weissen Kreuz – macht vor allem für den Mächtigen Sinn: Der braucht klare Unternehmensstrukturen mit Organisation und Überwachung. In einem kleinen Verbund macht jeder alles, und alles wird irgendwie gut.

Also eigentlich müsste ein Aussenseiter und personell Unterlegener auf Chaos setzen, um eine Chance zu haben. Je mehr von den Übermächtigen verwirrt sind und den eigenen Kollegen den Grind abhacken – dann dessen Ohren als Aschen­becher brauchen – den Schädel als Bowlingkugel – und die Zähne als Bieröffner –, desto grösser die Chance auf den Schlacht­erfolg. Aber eben: Bei den Bernern hat die Markierungstaktik funktioniert und sie haben gewonnen, obwohl sie in der Unterzahl waren.

Der Solothurner Student ist einer, der schnell denken und eins und eins zusammenzählen kann. Er findet fünf Punkte, die Freiburger, Ärgerer und die interessierte Schweiz von der Schlacht bei Laupen lernen können:

1.Manchmal sorgten sogar die langweilige Berner Verwaltung, Ordnung und Struktur bei den Welschen für Überraschungsmomente.

2.Sportwetten auf Aussenseiter waren schon immer beliebt. Der Papst hatte auf die richtigen Sieger gewettet und ein paar Kapellen, Ländereien und Sommerresidenzen abgesahnt. Es hatte sich gelohnt, nicht auf einen Favoritensieg zu setzen.

3.Aus dem weissen Kreuz hat sich das Schweizerkreuz entwickelt. Freiburg hat mit diesem Kreuz nichts zu tun. Bis ins 19. Jahrhundert waren die einzelnen Kantone viel identitätsstiftender als der gemeinsame Bund.

4.Die Kommentatoren waren sich nach der Schlacht einig: Die Freiburger hatten gut und offensiv gekämpft, aber das Stadttor der Gegner zu wenig getroffen. Sie waren die moralischen Sieger. Wer von den Freiburgern noch eines hatte, konnte sich erhobenen Hauptes vom Schlachtplatz ent­fernen.

5.Diese Geschichte ist der Beweis, dass das Derby SC Bern – HC Freiburg-Gottéron seinen Anfang schon im 14. Jahrhundert nahm. Manch ein Berner oder Freiburger Spieler oder Fan hätte seither dem Gegner gern den Grind abgehackt – dann dessen Ohren als Aschenbecher gebraucht – den Schädel als Bowlingkugel – und die Zähne als Bieröffner.

Es ist auch der Beweis, dass die Berner schon damals erfolgreicher waren, wie Meister auftraten und in diesem Krieg den Titel holten. Nicht etwa wegen einer ausgeklügelten Taktik, sondern einfach, weil sie genügend Selbstvertrauen hatten, etwas Unerwartetes zu tun. Oder vielleicht stimmen die Vorurteile eben doch und die Welschen waren in dem Augenblick, als es losging – gerade beim Apéro.

Für den Solothurner ist jetzt klar: Genau auf dieser Reibfläche zwischen Berner Verwaltung und Freiburger Chùnt scho guet muss man die Ärgerer suchen. In diesem Dazwischen leben sie. Andere schriftliche Quellen kennen sogar einen Spruch für die Mittelländer dieser Region: «Zwǜsche Chees ù Broot!» Das Dazwischen scheint ihre Lebensaufgabe zu sein – als Senf der Schweizer Geschichte.

Eine Expedition

Falls es diese Personen tatsächlich gibt, haben sie als Senf historisch eine klare Rolle gespielt. Das aber reicht den Forschenden nicht. Die Studenten sind weiter daran, Ergebnisse zusammenzutragen, zu prüfen und abzuwägen. Neuerdings werden ihre Bestrebungen hinausgetragen – eine regionale Fernsehstation begleitet und beschreibt ihre Suche in der Sendung ‹Gang ga ggùgge›.

«Aber das ist doch Pflästerlipolitik», ärgert sich ein Krankenpfleger aus Thun vor dem Fernseher. Er kennt sich aus mit Pflästerli und haut wütend auf den Tisch. Der Thuner verfolgt mit, wie unterschiedliche Forscher archäologische, biologische und volkskundliche Mosaiksteine herbeikarren, um ein Bild dieser Ärgerer abzuleiten. Das reicht ihm nicht. «Wir kommen nicht darum herum, diese sinnlich wahrzunehmen! Erst wenn wir sie gesehen, gehört, gespürt und gerochen haben, wissen wir, dass es sie gibt.»

Nach einer schlaflosen Nacht will der Thuner der Forschergruppe zuvorkommen. Wenn ihn jemand nach dem Ansporn für diese Aktionitis fragt, antwortet er: «Ein Zellhaufen ohne Neugier und Forschungsdrang ist kein richtiger Mensch.» Er plant eine Entdeckungsreise in diesen exotischen Landstrich. Das muss sein – allen erdenklichen Risiken zum Trotz! Der Thuner lässt sich gegen Maul- und Klauenseuche impfen, streicht Sonnen­creme ein, trägt einen Helm am Arm, Thermowäsche und einen Hakenstecken mit eisernen Beschlägen. Im Rucksack befindet sich ein Airbag gegen Schnee- und Schlammlawinen. Sicher ist sicher. Er hat keine Ahnung, was ihn erwartet.

Nach eingehenden Überlegungen entwickelt er folgende Theorie: Wenn das so arbeitsame Leute sind, wie die Forschungsarbeiten beschreiben, geht er am besten morgens um acht auf seine Expedition ins unbekannte Land.

Doch sein Mut wird nicht belohnt. Er geht durch Bösingen und trifft keine Menschenseele. Er macht sich auf nach Schmitten: dasselbe. Und auch in St. Antoni, Alterswil und Plaffeien: nichts. Alle Dörfer wie ausgestorben. «Es hat sie wohl jemand gewarnt, oder gibt es sie tatsächlich nicht?» Der Thuner zuckt nur mit den Schultern.

Immerhin findet er in Tafers eine Thunstrasse. Er fotografiert das Strassenschild, veröffentlicht es in den Sozialen Medien und fährt dieser Strasse entlang nach Hause.

Vielleicht wäre er erfolgreicher gewesen, wenn er seine Erkundungstour nicht am 15. August gemacht hätte – dem katho­lischen Feiertag Mariä Himmelfahrt.

Das Instagram-Bild des leeren Dorfplatzes von Alterswil entdeckt ein junger Mann aus Matran. Der Französischsprachige ist Teil der universitären Freiburger Forschergruppe und trägt schon lange eine ähnliche Idee mit sich herum. Über Sinn und Gefahren hat er wochenlang gebrütet. Jetzt will er den Schritt wagen und selber ins Land zwischen Ärgera und Sense fahren.

Doch auch er hat Pech. Die Hinweisschildplaner an Freiburgs Strassen haben vergessen, an der neuen Poyabrücke einen Ort aus diesem Landstrich anzuschreiben. Das Gebiet ist für die welschen Beschrifter offensichtlich Niemandsland. Keine Chance für den Studenten aus Matran, der bei seinem ersten Versuch nach Bulle gelangt. Das ist angeschrieben.

Doch er lässt sich nicht entmutigen. Der Mann besorgt sich ein brandneues Navigationsgerät, die zweite Fahrt kann losgehen. Jetzt erwischt er nach der Poyabrücke im Schönberg die richtige Strasse. Bis zum Automobilbüro läuft alles reibungslos. «Tournez à droite», schlägt ihm dort das Navi vor. Als der Student aber weiter in Richtung Tafers fährt, läuft der Bordcomputer Amok: «Tournez! Bitte wenden! Vous sortez de la zone numérisée. Sie verlassen den digitalisierten Bereich! Cette région elle n’est pas cartographiée! Tournez!»

Er findet also heraus: Für sein welsches Navi sind die Strassen in diesen Landstrich nicht kartografiert. Ein Besuch dieser Region ist nicht vorgesehen – und niemand hat bisher danach gefragt.

Familiennamen verbinden

Immer mehr Leute in und auch ausserhalb der Forschergruppe sind von der Suche betroffen. Sie bringen selber Ideen ein. Das Rätsel zieht nicht nur Forscher an, sondern auch Geldgeber, die auf diese Weise den Weg in die Medien suchen. Eine grosse europäische Stiftung – die jetzt absichtlich nicht genannt wird – schreibt eine Belohnung für die beste Studie oder gar einen Existenzbeweis der von ihnen Sensler genannten Leute aus.

Die Stiftung wählt bewusst einen anderen Namen als die Freiburger Forschergruppe – einen weniger angriffigen. «Vielleicht zeigen sich die Ärgerer deshalb nicht, weil sie von aussen so bezeichnet werden. Ähnlich wie die Eskimo, die sich selbst ‹Inuit› nennen.» In der Begründung für die Belohnung der Stiftung heisst es: Es habe auch einen äusseren Anreiz gebraucht, um die Welt der Kannibalen auf Papua-Neuguinea zu erschliessen.

Das erhoffte Bargeld lässt Dutzende Goldgräber und Menschenjäger aus der halben Welt in die Schweiz reisen. Darunter ist auch ein Namensforscher aus Uppsala in Schweden.