Ganz ich! - Jackson MacKenzie - E-Book

Ganz ich! E-Book

Jackson MacKenzie

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Beschreibung

Die berührende Geschichte eines Betroffenen: Jackson MacKenzie hat über seine Online-Plattform bereits Millionen von Menschen geholfen Eine einzigartige Anleitung, um nach toxischer Beziehung und Missbrauch wieder zu sich selbst zu finden Strategien, um toxische Handlungsmuster in Beziehungen mit Borderlinern, Narzissten und Soziopathen zu erkennen und zu beenden Praktische Instrumente der Heilung: Achtsamkeit, Eigenverantwortung, Akzeptanz und bedingungslose Liebe (finden)

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Jackson MacKenzie

Ganzich!

FINDEN SIE ZURÜCK ZU IHREM SELBSTNACH TRAUMA, TOXISCHER BEZIEHUNGund EMOTIONALEM MISSBRAUCH

Impressum

Jackson MacKenzie

Ganz ich!

Finden sie zurück zu Ihrem Selbst nach Trauma, toxischer Beziehung und emotionalem Missbrauch

1. deutsche Auflage 2021

ISBN 978-3-96257-213-6

© 2021 Narayana Verlag

Titel der Originalausgabe:

Whole Again

Healing Your Heart and Rediscovering Your True Self

After Toxic Relationships and Emotional Abuse

Copyright © 2019 by Jackson MacKenzie

Übersetzung aus dem Englischen: Anne-Katrin Grube

Coverdesign: Linet Huamán Velásquez

Herausgeber:

Narayana Verlag GmbH, Blumenplatz 2, D-79400 Kandern

Tel.: +49 7626 974 970-0

E-Mail: [email protected]

www.narayana-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Ohne schriftliche Genehmigung des Verlags darf kein Teil dieses Buches in irgendeiner Form – mechanisch, elektronisch, fotografisch – reproduziert, vervielfältigt, übersetzt oder gespeichert werden, mit Ausnahme kurzer Passagen für Buchbesprechungen.

Sofern eingetragene Warenzeichen, Handelsnamen und Gebrauchsnamen verwendet werden, gelten die entsprechenden Schutzbestimmungen (auch wenn diese nicht als solche gekennzeichnet sind).

Die Empfehlungen in diesem Buch wurden von Autor und Verlag nach bestem Wissen erarbeitet und überprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Weder der Autor noch der Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

Gewidmet meinemGroßvater und Onkel Win

Inhalt

Inhalt

Vorwort

Das Gefühl in meinem Herzen

Einleitung

TEIL 1

Instrumente

Tägliches Training

Achtsamkeit

Eigenverantwortung

Bedingungslose Liebe

TEIL 2

Identifikation des schützenden Selbst

Muster finden

Unser schützendes Selbst

Der Perfektionist

Der Überlebende einer Cluster-B-Beziehung

Der Ko-Abhängige

Der KPTBS-Betroffene

Der Vermeider

Der Borderliner

Varianten des schützenden Selbst

TEIL 3

Dekonstruktion des schützenden Selbst

Jenseits der Beklemmung

Von extern nach intern

Ressentiment

Bewusste Trigger

Angst: Sorge und Depression

Kernwunde

TEIL 4

Heilung der Kernwunde

Einfach darauf einlassen

Toxische Scham

Selbstzweifel

Selbstvergebung

Vergebung

Grenzen

Lebensveränderung

Wandel von einer dualen zu einer nicht-dualen Perspektive

Wiedererlangte Ganzheit

Nachwort

Dank

Index

Über den Autor

Vorwort

Großartig.

Jackson MacKenzie hat ein großartiges Buch voller Liebe, Unterstützung und Anmut geschrieben, das uns einen Weg aufweist, die Leere zu heilen, die jeden von uns heimsuchen kann.

Jackson veranschaulicht, dass es in der Natur des Menschen liegt, wenn aus der Asche von Verletzungen und Lebenswunden etwas emporsteigt, das als das schützende Selbst bezeichnet wird. Wir erschaffen diese harte Schale, um uns vor dem Gefühl von Leere zu „schützen“. Das düstere zweischneidige Schwert dieser äußeren Rüstung bedeutet, dass unsere Kernwunde im Zentrum unseres Seins intakt bleibt und nie angemessen Heilung erfährt. Wir sind sogar bemüht, deren Existenz zu ignorieren. Allen Anstrengungen zum Trotz wissen wir dennoch, dass diese Wunde existiert, denn sobald wir nicht länger vor ihr davonlaufen, nehmen wir das leise Flüstern wahr, mit dem sich die Wunde an uns wendet. Es kann Angst machen, plötzlich stillzustehen und sich auf Unbehagen, Ängste, Ressentiments, Beklemmung oder unbeständige Gefühle einzulassen.

Jackson fordert uns auf, der Wunde zuzuhören. Das erscheint kontraintuitiv, doch Jackson verweist darauf, dass wir aufhören müssen, dem Geflüster mit Mitleid zu begegnen, um uns endgültig von unseren Wunden zu befreien. Als Überlebende eines Traumas bin auch ich nicht daran interessiert, ebenjenes Gift in mir zu begraben, das die Macht hat, Aspekte meines Lebens zu stehlen. Wunden müssen vollständig geheilt sein, damit wir uns nicht ausschließlich dem Management unserer Symptome widmen.

In seinem ersten Buch Keine Macht den Psychopathen, einem Bestseller, konzentrierte sich Jackson auf die Opfer emotionalen Missbrauchs durch Narzissten, Soziopathen und Psychopathen. Selbst Überlebender eines schweren Missbrauchs erfuhr Jackson die Herausforderungen auf seiner Suche nach Heilung. Ganz ich! ist das Ergebnis Jacksons ganz persönlicher Reise. Ganz ich! birgt einen Schatz, denn sein Inhalt führt nicht nur Überlebende eines Missbrauchs auf den Weg der Heilung, sondern schlägt zudem neue Wege vor für all jene, die auf der Suche sind nach einem inspirierenden Ansatz in Bezug auf Traumaheilung, emotionale Zentrierung und Stresstoleranz; oder in Bezug auf die Möglichkeiten der Regulierung eines Höchstmaßes an Empathie für andere; oder in Bezug auf das Navigieren durch die Versuchungen, dem Leben mit all seinem Reichtum auszuweichen.

Jackson zufolge erfordert das Vordringen zur Kernwunde die Ansprache der fehlerhaften Mechanismen, die wir für die Messung unseres Wertes in der Welt errichtet haben. Während wir diesen Prozess durchlaufen, verlassen wir nicht die sichere Hülle der bedingungslosen Liebe, die wir uns selbst schenken. Die Leere, die entsteht, wenn wir unseren persönlichen Wert in falschen Bestrebungen suchen, kann die Seele zermürben. Wenn wir jedoch die tiefe Liebe, die wir mit einer besonderen Person in unserem Leben teilen möchten, stattdessen uns selbst schenken, verändert das unser Leben.

Das Wiedererlangen von Ganzheit befasst sich im Kern mit dem Prozess des Erwachens aus der Beklemmung, die oft unser Herz und unsere Psyche einhüllt. Jackson fordert uns alle auf, unsere Verteidigungsmechanismen abzulegen, die unsere Seele in diesem chronischen Zustand der Eintönigkeit gefangen halten. Wir erliegen der trügerischen Überzeugung, dass diese Eintönigkeit ein sicherer Ort ist, denn nach allem, was wir durchgemacht haben, erscheint der Anspruch zu hoch, uneingeschränkte Ganzheit wiederzuerlangen.

Jackson leitet uns einfühlsam weg von unserem Fokus auf die externe Welt, in der wir stets mehr Validierung herbeisehnen, hin zu einem Fokus auf unseren inneren Raum, in dem Frieden nicht von den Launen anderer abhängt. Dieser Frieden ist nachhaltig, wenn wir freundlich zu uns selbst sind und akzeptieren können, wer wir sind und, wichtiger noch, wie wir uns fühlen. Wir laufen nicht länger fort vor unseren Gefühlen, die sich in unterschiedlicher Form durch Vermeidung manifestieren können. Stattdessen nehmen wir unsere Gefühle frei von Schuld oder Scham liebevoll an.

Jackson verrät uns in seinem neuen Buch wohlwollend unzählige Weisheiten. Ganz ich! hat mir neue Erkenntnisse gebracht, von denen ich meine liebste Erkenntnis gerne zitiere: „Wenn wir unser eigenes inneres Licht wiederherstellen, brauchen wir nicht länger die Energie anderer, um uns lebendig zu fühlen.“ Wenn wir Jackson auf diesem zukunftweisenden Weg folgen, den er für uns beleuchtet, können wir uns wieder lebendig, vollkommen und wiederhergestellt fühlen.

Shannon Thomas, lizensierte klinische Sozialarbeiterin (LCSW) Autorin von Psychische Gewalt

Das Gefühl in meinem Herzen

In meinem letzten Buch Keine Macht den Psychopathen beschrieb ich am Ende ein „beklemmendes Gefühl in meinem Herzen“. Es war nicht unangenehm oder stechend, nur ein Empfinden permanenter Gefühllosigkeit und Enge. Es begann unmittelbar nach dem Ende meiner ersten Beziehung und ich spürte es fünf Jahre in Folge. Den ganzen Tag lang, jeden Tag, von dem Moment an, in dem ich aufwachte, bis zu dem Moment, in dem ich einschlief.

Weder Therapie noch Medikamente halfen dagegen. Ich ließ nichts unversucht: Gesprächstherapie, kognitive Verhaltenstherapie (KVT), Hypnose, gelenkte Augenbewegungen (EMDR), Antidepressiva, Benzodiazepine, Sport, Kardiologen, tiefe Atmung, Akupunktur, Schilddrüsentests, Endokrinologie, spezielle Ernährung, Vitamine, Kräuter, Gentests, Verzicht auf Kaffee und Alkohol. Ich versuchte, mir das Gefühl als einen kleinen Jungen vorzustellen und bat ihn, mich nicht so fest zu umarmen. Manchmal erlebte ich kurze Erregungsepisoden und es zeigten sich Funken der Hoffnung, aber nichts dauerte an.

Es nervte mich wirklich, dass ich das Gefühl nicht begreifen konnte. Meine erste Beziehung hatte ich längst hinter mir gelassen, wo also lag das Problem? Es gefiel mir gar nicht, dass meine erste romantische Liebesbeziehung einen bleibenden Schaden hinterlassen sollte. Deshalb strengte ich mich besonders an, unbeschädigt zu wirken. Ich bestand meine Hochschulkurse mit Bravour, fand einen guten Job, erstellte eine Website, gründete eine gemeinnützige Organisation und veröffentlichte mein erstes Buch.

Das Gefühl blieb.

Ich stürzte mich in meine Arbeit und die Website. Ich schrieb zwei weitere Bücher. Ich wachte jeden Morgen um sechs Uhr auf, um voller Energie und Enthusiasmus zu schreiben und mich der Welt zu beweisen. Ich nahm Verabredungen wahr und gab im Zuge dessen eine Auflistung meiner Erfolge als bescheidene Beschreibung meiner Person zum Besten. Wenn mir andere zu meinem Erfolg gratulierten, errötete ich und empfand ein Gefühl der Anerkennung. Auf diese Weise brachte ich eine Menge anderer Dinge zustande. Wie besessen überarbeitete ich monatelang die gesamte Website meiner Organisation und passte sie an die Bedürfnisse der Mitglieder und Angestellten an. Als die Änderungen freigeschaltet waren, erhielt ich von allen Seiten positive Rückmeldungen. Ich empfand dies als ein Zeichen der Anerkennung, doch die Freude hielt nicht lange an.

Das Gefühl blieb.

Ich verbrachte zunehmend mehr Zeit mit mir selbst und zog mich absichtlich in die Isolation zurück, um mich ganz meiner Fantasie hinzugeben. Während des Sommers verbrachte ich fast jeden Abend am Wasser, trank alleine meinen Wein, beobachtete den Sonnenuntergang und machte mir Gedanken über mein neues Buch. Ich stellte mir die Charaktere vor und plante Handlungsabläufe, woraus sich immer großartigere Fantasien entwickelten. Ich sah mich einen entscheidenden Kampf ausfechten zwischen bösen Menschen (Psychopathen) und guten Menschen (solche wie ich natürlich). Ich stellte mir vor, wie eines Tages ein perfekter Partner auftauchen würde, um mich zu retten und zu lieben.

Das Gefühl blieb.

Mach dir keine Sorgen, sagten die Leute, die Zeit heilt alle Wunden. Doch das passierte eindeutig nicht. Tatsächlich wurde es, gemessen an den Standards eines gesunden Menschen, sogar noch weitaus schlimmer. Aber ich bemerkte das nicht. Ich war zu beschäftigt damit zu beweisen, dass ich glücklich war. Mein Therapeut diagnostizierte eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sowie eine vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung (SUP), doch ich maß dem keine Bedeutung bei. Ich war völlig in Ordnung, bis auf dieses Gefühl in meinem Herzen. Ich hatte meine erste Beziehung bereits analysiert und alles begriffen. Das Problem lag außen, nicht innen.

Dann trat die Hypervigilanz in Erscheinung. Auf den Straßen nahm ich wahr, wenn Menschen zu dicht hinter mir liefen. Selbst wenn sie weit genug entfernt waren, blieb ich stehen und ging beiseite, damit sie an mir vorbeigehen konnten. Im Supermarkt hatte ich das Gefühl, die Welt stürzte auf mich ein. Warum musste jeder mit seinem blöden Einkaufswagen in meinem Weg stehen? Und erst die Polizeisirenen – mussten die so laut sein? Warum konnte sich nicht einfach jeder in Luft auflösen und mich meiner Fantasie überlassen?

Es folgten Ängste und Depressionen. Schlaflosigkeit riss mich früh am Morgen aus wiederholten Albträumen von einem maskierten Mann, der Jagd auf mich machte. Schon bald konnte ich nicht einmal mehr richtig atmen. Meine Fantasie wurde geflutet von meinen schlimmsten Ängsten, einem unnachgiebigen Trommelfeuer erschreckender Gedanken und Bilder.

Ich erinnere mich, wie ich in einem extrem depressiven Moment zu meiner Mom sagte: „Ich fühle mich nicht mehr wie ein Mensch.“ Sie gab mir ein Buch über Achtsamkeit von Tara Brach mit dem Titel Nach Hause kommen zu sich selbst. Schon früher hatte sie mir ähnliche Bücher empfohlen, doch ich wusste, dass Achtsamkeit und Meditation mir nicht helfen würden. Das war etwas für Menschen mit psychischen Problemen. Aber mein Problem war ein physisches Gefühl. Mit Achtsamkeit ließ sich sicher kaum ein physisches Problem lösen.

Mom hatte eine Seite markiert, also beschloss ich, nur diese eine Seite zu lesen. Und da stand es, schwarz auf weiß: Die Geschichte über eine Frau, die ein dauerhaft beklemmendes Gefühl in ihrem Herzen beschrieb. Nachdem ich unzählige ratlos blickende Ärzte und Therapeuten konsultiert hatte, die mutmaßliche Diagnosen stellten, beschrieb dieses Buch im Detail mein Gefühl. Ich verschlang das ganze Buch in nur wenigen Tagen und bestellte weitere Bücher zu demselben Thema.

Das war der Beginn einer jahrelangen, äußerst steinigen Reise. In den Büchern berichteten mehrere Menschen davon, dass Vergebung der Schlüssel zum Herzen sei, also beschloss ich, damit anzufangen. Ich befand mich in fieberhafter Aufregung – endlich eine neue Hoffnung, das Gefühl in meinem Herzen loszuwerden! Überschwänglich stellte ich alle meine Fehler fest und bedachte meinen Ex mit gutmütigen Eigenschaften, die es nicht wirklich gab. Ich versuchte, ihn in meinem Herzen aufzunehmen und war ziemlich enttäuscht, als mir das nicht gelang.

Mein Motto der Vergebung lautete: „Sieh nur, auch ich bin schlecht.“ Je mehr Energie ich in diese Art von Liebe und Vergebung steckte, desto stärker spürte ich, wie dieses furchtbare Gefühl mein Herz zerriss. Es war unsagbar schmerzhaft. Es weckte mich mitten in der Nacht auf – ein unbarmherziges Gefühl, das sagte: „Du bist schlecht. Du musst zugeben, dass du schlecht bist. Alles, was du tust, ist schlecht.“

Was um alles in der Welt geschah hier? Ich dachte, Vergebung bedeutete, mich von dem Gefühl in meinem Herzen zu befreien und nicht, es schlimmer zu machen. Ich nahm an, dieses furchteinflößende „du-bist-schlecht“-Empfinden sei die Wahrheit, weil es dermaßen stark war. Es überzeugte mich mit aller Macht, dass es die letzte Wahrheit sei und ich nur darauf hören müsse. Es überzeugte mich, dass alles andere mich nur zum Narren hielt. An dieser Stelle sehnte ich mich tatsächlich verzweifelt zurück nach dem altvertrauten beklemmenden Gefühl der Enge in meinem Herzen. Beklemmung war besser als das hier.

Doch es war zu spät. Das Gefühl geriet außer Kontrolle und zehrte an meinen Kräften. Ohne meinen Hass auf die Person, die mich verletzt hatte, zerbröckelten alle meine Grenzen. Selbstzweifel und Angst erfüllten mich. Ich hatte keine Ahnung, wer ich war. Ich wusste nur, dass ich im Unrecht und schlecht war und es zugeben musste. Ich fühlte mich unzulänglich, schämte mich und hatte Angst.

Der Körper ist auf Überleben programmiert.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich erkannte, dass es sich bei diesem furchtbaren, unerträglichen Empfinden des „schlechten Selbst“ nicht um meine Beklemmung handelte, die sich verschlimmerte. Es war eine alte emotionale Wunde, die sich selbst aus der Beklemmung befreite. Diese Empfindung war mir nicht neu. Ich kannte sie aus der Zeit vor fünf Jahren, unmittelbar nach dem Ende meiner Beziehung. Und je mehr Zeit ich mit dieser Empfindung verbrachte, desto besser verstand ich, wie sich die Beklemmung überhaupt erst entwickeln konnte. Dieses Gefühl verhielt sich völlig selbstzerstörerisch. Der Körper ist auf Überleben programmiert – und deshalb macht es Sinn, dass mein Körper dieses Gefühl ausschaltete, da ich keine emotionalen Instrumente besaß, es zu heilen.

Ich wollte nicht vor dem Gefühl davonlaufen oder vorgeben, es sei gut oder mich ablenken, also beschloss ich, mich damit auseinanderzusetzen. Das tat ich sechs Monate lang. Ich hörte auf zu schreiben, ließ meine Website ruhen und nahm keine neuen Projekte an. Stattdessen widmete ich jeden Morgen und jeden Abend der Meditation und Andacht. Meine Einstellung wechselte von „Wie werde ich dieses Gefühl los“ hin zu „Was ist dieses Gefühl?“

Anstatt das Gefühl in meinem Herzen zu hassen, ertappte ich mich dabei, die Hand auf mein Herz zu legen, wenn ich morgens zur Arbeit ging. Ich veränderte die Beziehung zu mir selbst, zu meinen Gefühlen und meinem Körper. Dieser nährende Prozess lehrte mich langsam wieder Zuwendung und Liebe. Vergebung war ein natürliches Nebenprodukt dieses Prozesses.

Heute gibt es in meinem Herzen ein neues Gefühl.

Wir alle sind es wert, geliebt zu werden und sind fähig zu lieben.

Es ist kein Gefühl der Empfindungslosigkeit oder Enge und es ist kein unerträglicher Schmerz. Es ist ein Strom leichter, prickelnder Energie, die sich wie ein Fluss durch meinen Körper windet und alles beruhigt. Meine alte Wahrheit des „schlechten Selbst“ wurde ersetzt durch eine neue Wahrheit: Wir alle sind es wert, geliebt zu werden und sind fähig zu lieben, auch wenn wir es noch nicht empfinden können. Meine innere Quelle der Freude und des Friedens ist wiederhergestellt und alle anderen seltsamen Persönlichkeitstransformationen sind zerronnen. Mein Sinn für Humor ist zurückgekehrt, das Essen schmeckt mir wieder, ich kann ungehindert weinen, ich lächle auf Bildern und bin gerne mit anderen zusammen. Ich versuche nicht, irgendein perfekter freundlicher Mensch zu sein, sondern bin einfach mein normales altes nerviges Selbst.

Ich kann förmlich spüren, wie mein Herz tanzt und mir zuruft: „Endlich haben wir zueinander gefunden. Danke, danke, danke, danke.“

Ich habe dieses Buch für jeden geschrieben, der sich mit Perfektionismus, Ko-Abhängigkeit, Beziehungsstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Trauma oder den Folgen von Missbrauch in einer Beziehung herumschlägt. In den vergangenen Jahren unterhielt ich mich in Wort und Ton per Video-Chat mit Menschen, die unter diesen Zuständen litten. Alle paar Monate nahm ich erneut Kontakt auf und stellte Fragen, um ihre Fortschritte zu verfolgen. Meine Gesprächspartner erlaubten mir, ihre Geschichten in diesem Buch zu erzählen (unter anderem Namen mit geänderten spezifischen Details zur Wahrung der Privatsphäre). Ich hoffe, mit den Erlebnissen dieser Personen Einblicke zu gewähren und Hoffnung zu bieten.

Ich weiß, wie schwer es ist, den bewährten Zyklus zu verlassen. Die Schuld liegt nicht bei uns, dennoch können nur wir selbst den unbequemen Weg gehen und eine Änderung herbeiführen. Es gibt einen Weg zurück zu uns selbst – zu der angestrebten Freiheit – und wir werden diesen Weg gemeinsam finden.

Einleitung

DER BRUCH

Die menschliche Ganzheit wird oft definiert als die Einheit von Körper, Geist und Seele. Durch emotionalen Missbrauch, Ablehnung und Trauma erleidet diese Einheit einen Bruch, denn eine falsche Schambotschaft verankert sich im Körper, die uns von dem Gefühl des bedingungslosen Geliebtwerdens trennt.

Das läuft folgendermaßen ab:

Schritt 1: Am Anfang stehen Freude und Ganzheit, wir können ungehindert Liebe schenken (und empfangen). Jeder wird mit dieser Fähigkeit geboren. Nur manche Menschen können sich erinnern, so etwas je empfunden zu haben, aber das ist völlig in Ordnung.

Schritt 2: Wir erfahren Verrat, Trauma, Verlassenwerden, Beurteilung oder Ablehnung durch eine nahestehende Vertrauensperson. Das führt zu erheblichem emotionalem Chaos und einem Kontrollverlust.

Schritt 3: Die externe Erfahrung in Schritt 2 führt zu dem Schluss eines inneren Schamgefühls. „Ich bin fehlerhaft und irgendwie selbst daran schuld, weil ich [unzulänglich, wertlos, verrückt usw.] bin.“ Dieser Glaube an die innere Fehlerhaftigkeit versperrt uns den Zugang zu unserem wahren Ich – der inneren Quelle des Lebens und der Freude, dem Gefühl des bedingungslosen Geliebtwerdens. Diese Trennung ist äußerst schmerzhaft. (Andere Bezeichnungen dafür sind: Kernwunde, Falscher Kern, Narzisstische Wunde, Toxische Scham.)

Schritt 4: Der Schmerz soll uns nicht verzehren, deshalb blendet der Körper ihn aus (im Herzen, Magen, Hals, Becken usw.). Dieses Empfinden kann sich als Leere, Langeweile, Beklemmung, Enge, dumpfer Schmerz o. ä. manifestieren.

Schritt 5: Ein schützendes Selbst übernimmt das Kommando, um den Schmerz zu entkräften und davon abzulenken. Es verfolgt in erster Linie den Zweck der Kontrolle und Vermeidung: Empfindungslosigkeit aufrechterhalten und das erneute Auftreten desselben Schmerzes vermeiden. Das schützende Selbst kann dem wahren Selbst keine Freude entlocken, deshalb verlässt es sich für sein eigenes Überleben stark auf externe Wertmaße. Es ist „wer wir sind“ – wie wir die Welt sehen, und sogar die Linse, durch die wir unseren Weg der Heilung betrachten. (Andere Bezeichnungen dafür sind: Falsches Selbst, Ego.)

Die Wurzel eines derartigen emotionalen Traumas und darauffolgenden Verhaltens liegt in der im Körper verborgenen Botschaft, die vom Bewusstsein betäubt ist und folglich unsere Fähigkeit der Annahme und Erfahrung aufrichtiger Liebe verhindert. Alle weiteren in diesem Buch beschriebenen Zustände (Neurose, Persönlichkeitstransformationen, Schwarz-Weiß-Denken, Stimmungsschwankungen, Ängste, Beziehungsprobleme, Depressionen) gehen auf diese Kernwunde zurück.

In meinen frühen Arbeiten konzentrierte ich mich vorwiegend auf das Verhalten und die Symptome bei Soziopathie und pathologischem Narzissmus, um den Opfern in toxischen Beziehungen zu helfen, den Missbrauch zu erkennen und sich davor zu schützen. Dadurch konnten die Menschen zwar die Ursachen ihres Leidens identifizieren, aber ihr Leiden längst nicht beenden.

Der Traumatisierte beklagt sonderbare Empfindungen des Körpers: Beklemmung, Enge, Leere, Nichts, Ausgehöhltheit. Da er diese Gefühle nicht beschreiben kann, unterzieht er sich einer Therapie und richtet seinen Fokus bevorzugt auf die nachfolgenden verhaltensorientierten und psychologischen Aspekte: Gefallsucht (People-Pleasing), Depression, Perfektionismus, Stimmungsschwankungen, Isolation, exzessives Tagträumen, Kontrollbedarf, Ärger und Wut (Ressentiment), Grübeln (Rumination), Fürsorge, Suchtmittelmissbrauch – die Liste ist unendlich und unterscheidet sich von Person zu Person.

Heilung bedeutet in diesem Zusammenhang eher Symptommanagement als Ursachenbehebung. Das ist vergleichbar mit dem abendlichen Aufstellen von Wassereimern, um durchsickerndes Regenwasser über Nacht aufzufangen, anstatt das Loch im Dach zu reparieren. Sobald ein Eimer voll ist, suchen wir wild aufgescheucht nach einem neuen Eimer, leeren den vollen aus und fühlen uns auf diese Weise von Tag zu Tag erschöpfter.

Das ist der Charakter eines Traumas. Wir sind so sehr mit dem Verwalten der Eimer beschäftigt, dass wir nie die Zeit finden, zu dem Loch im Dach aufzublicken.

Es ist keineswegs unsere Schuld. Früher oder später sperrt der Körper die Gefühle weg, weil sie in jenem Moment zu schmerzhaft und unerträglich sind. Unser wahres Selbst ist noch da, es wird lediglich von düsteren, frustrierenden Empfindungen wie „Beklemmung“ oder „Leere“ oder „Langeweile“ verhüllt. Das Arbeiten mit solchen Zuständen erscheint vielleicht unmöglich, aber dieses Buch zeigt, dass solche Empfindungen tatsächlich der Schlüssel zur Wiedererlangung der Ganzheit sind.

Ich veröffentlichte meine Schriften in verschiedenen Communitys mit einem Schwerpunkt auf Heilung nach Missbrauch, Ko-Abhängigkeiten, komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen (KPTBS) und sogar Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen (Borderline-Persönlichkeitsstörungen, narzisstische Persönlichkeitsstörungen, antisoziale Persönlichkeitsstörungen und histrionische Persönlichkeitsstörungen). Daraufhin meldeten sich Hunderte Personen, um ihre Lebensgeschichten und persönlichen Erfahrungen mit mir zu teilen. Trotz der individuellen Geschichten dämmerte mir allmählich, dass das Leiden unverkennbaren Mustern folgte. War es möglich, durch geteiltes Leid gemeinsam auch einen Weg in die Freiheit zu beschreiten?

Selbstverständlich unterscheidet sich der Weg des einen von dem Weg des anderen. Mein Weg kombinierte Achtsamkeit mit Therapie und Spiritualität. Ich lernte Achtsamkeit von Psychologen und Autoren wie Tara Brach. Außerdem erkundete ich das von internationalen Philosophen wie Stephen Wolinsky, PhD, und Leslie Temple-Thurston begründete Konzept der Kernverletzung.

Als ich von meinem Weg berichtete, stieß dieser bei fast allen, die sich an mich gewandt hatten, auf Resonanz – selbst bei Personen mit gänzlich anderen Leidensbildern. Auch meine Instrumente funktionierten breitflächig, daher beschloss ich, dieses Buch zu schreiben.

In Keine Macht den Psychopathen schrieb ich über mein Gefühl der „Trennung von meinem wahren Ich“. Damals hatte ich keine Ahnung, was es bedeutete oder wie ich die „Verbindung wiederherstellen“ konnte. Ich stand damit nicht alleine da. Am häufigsten höre ich von Traumapatienten den folgenden Satz: „Ich vermisse mein altes Selbst“ – jene Person, die fröhlich, liebevoll und unterhaltsam war.

Aber angenommen, das alte Selbst hat uns nicht wirklich verlassen. Angenommen, wir beherbergen in uns nur äußerst hartnäckige Botschaften, die uns daran hindern, das alte Selbst zu erleben.

Wenn wir hungrig sind, essen wir etwas. Wenn wir uns nicht in Form fühlen, gehen wir ins Fitnessstudio. Wenn wir müde sind, gehen wir schlafen. Doch wenn wir uns nicht liebenswert fühlen, analysieren wir uns aus irgendeinem Grund fast zu Tode, bis es uns einfach noch schlechter geht.

Die logischste Lösung wäre natürlich, uns selbst Liebe zu schenken. Aber angenommen, wir wissen nicht, wie wir das tun sollen. Angenommen, Trauma und Scham verwehren der Liebe den Zutritt zu unserem Inneren. Angenommen, unsere Gefühle wurden betäubt, um uns zu schützen. Angenommen, ein traumatisches Erlebnis hat der Bindung zu unserem wahren Selbst einen Bruch zugefügt.

Ohne den schmerzlindernden Trost und die Güte der Liebe werden wir unweigerlich immer wieder ins Straucheln geraten. Jeder erlebt die Welt auf seine Weise. Liebe ist an Bedingungen geknüpft und wartet darauf, dass andere ihre Karten zuerst offenlegen, bevor wir unsere zeigen. Wir glauben, wenn jemand uns uneingeschränkt liebt, sind wir endlich zufrieden (das gilt auch für jede unserer anderen externen Fixierungen). Doch selbst wenn wir bekommen, was wir wollen, genügt es nie. Liebe wird durch Aufmerksamkeit ersetzt, Verletzbarkeit durch Validierung und Zuneigung durch Billigung.

Wenn Liebe ungehindert aus dem Inneren herausströmt, wird unsere unendliche Quelle wiederhergestellt und alle anderen Verhaltensanomalien lösen sich auf. Das ist machbar, indem wir uns rückwärts durch die Schritte arbeiten, die ich zu Beginn der Einführung aufgelistet habe. Dieses Buch beherzigt diesen Ansatz. Vielleicht haben wir Angst, dass unser Leiden zu weit fortgeschritten oder der Bruch zu groß ist, um zu heilen, aber tatsächlich kann jeder Ganzheit wiedererlangen. Dieses Buch verlangt Mut und fordert Vertrauen in etwas, das noch nicht spürbar ist.

TEIL 1

Instrumente

Tägliches Training • Achtsamkeit • Eigenverantwortung • Bedingungslose Liebe

 

Tägliches Training

Diese Aufgabe lässt sich nicht schnell lösen. Wir müssen täglich kompromisslos daran arbeiten, selbst wenn wir den Eindruck haben, dass es zu nichts führt. Solche Wunden sind nicht geheilt, wenn wir eine verborgene Erinnerung wie einen „Aha“-Moment wiederaufleben lassen, der nur im Film funktioniert. Es geht nicht um das Kramen in Erinnerungen, sondern um das Empfinden von Gefühlen. Allerdings ruhen die wahren Gefühle bereits so lange, dass tatsächlich die Verschaltung des Gehirns verändert werden muss, um sie wahrzunehmen. Es ist nicht möglich, sich in Gefühle hineinzudenken oder hineinzuanalysieren. Eine Veränderung bewirken wir nur, wenn wir altbekannte Muster und Gewohnheiten ändern. Das geschieht nicht einfach über Nacht. Das Umschalten auf ein anderes Programm dauert Monate oder Jahre. Mit der Zeit wird aus diesem Training ein Automatismus, bis es unsere neue Standardeinstellung ist.

Stellen wir uns das Ganze wie das Erlernen einer neuen Sprache vor. Niemand dürfte in der Lage sein, eine Fremdsprache innerhalb eines Monats zu lernen. Ich kann es zumindest nicht. In der Schule hatte ich sechs Jahre lang Latein und kann mich höchstens an zwei Wörter erinnern.

Glücklicherweise belohnt uns unsere Erfahrung mit diesem Projekt weit mehr als Latein zu lernen. Allerdings nimmt dieser Prozess tatsächlich eine ganze Weile in Anspruch und setzt die Aktivierung von Teilen unseres Gehirns und Körpers voraus, die seit Langem (wenn überhaupt) nicht mehr benutzt werden. Das erfordert Geduld mit sich selbst. Schließlich erwartet auch niemand, dass wir bereits am ersten Unterrichtstag die Abschlussprüfung für das große Latinum bestehen. Ein schlechter Tag bedeutet nicht, dass wir hoffnungslose Versager sind – ebenso wenig wie die schlechteste Note in einem Test bedeutet, dass wir die Klasse nicht bestehen werden. Wenn wir auf unserem Weg versagen oder stolpern, könnten wir bei einem guten Lehrer auf dessen besondere Unterstützung zählen, um den Stoff besser zu verstehen. Doch in diesem Fall muss jeder selbst sein eigener guter Lehrer sein.

Für komplexe emotionale Probleme kann ich keine unmittelbare Lösung anbieten und ich rate zu Vorsicht vor jeder Person, die das von sich behauptet. Was ich hingegen anbieten kann, sind Instrumente, Perspektiven, Ressourcen und Übungen, mit deren Hilfe sich die alten Gewohnheiten der Psyche langsam verändern lassen. Wenn sich am Ende das Unbehagen im Körper offenbart und wir es erfolgreich freisetzen, können wir endlich Frieden finden.

Obwohl dieser Prozess lange dauert, kann ich eine Sache versprechen: Es gibt ein Licht am Ende des Tunnels. Das Ergebnis ist nicht einfach eine provisorische Ausweichmaßnahme für das Symptommanagement, sondern ein echtes Wohlgefühl in unserem Inneren (dem Kern). Mit diesem Buch verfolge ich die Kombination der klassischen Psychologie mit alternativen Konzepten: Kernverletzung, das schützende oder falsche Selbst, Liebe und Achtsamkeit. Trauma und Scham als komplexe emotionale Zustände funktionieren auf seltsame – und doch vorhersehbare – Weise. Mit ausreichend Training und Engagement können wir diese heiklen Abwehrmechanismen aufbrechen und zur Wurzel jener Zustände vordringen, die zuvor noch als „unheilbar“ oder „hoffnungslos“ galten.

Wer im Verlauf dieser Arbeit unerträgliche Gefühle, Trigger, Ängste oder Depressionen wahrnimmt, ist dringend angehalten, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wir erkunden hier unangenehme Empfindungen und Therapeuten können sich dabei als unschätzbare Quelle erweisen, die uns durch das Dunkel leitet.

Achtsamkeit

Zunächst müssen wir lernen, es uns mit dem Unbehagen behaglich zu machen.

Achtsamkeit bedeutet nicht, die Gedanken zu bereinigen, sondern einfach auf unvoreingenommene Weise wahrzunehmen, was geschieht. Am schwersten fällt es, das eigene Verhalten und eigene Gewohnheiten zu identifizieren, weil uns unser Verhalten so vertraut ist, dass es normal erscheint. Ein Perfektionist kann zum Beispiel feststellen: „Unglaublich! Ständig muss ich alles beurteilen und beherrschen. Was für ein Albtraum! Ich sollte wirklich damit aufhören und freundlicher sein.“ Dabei hat er noch nicht einmal bemerkt, wie grob er in diesem Szenario mit sich selbst umgeht. Stattdessen beurteilt er sich selbst für seine Gewohnheit der Beurteilung, was im Prinzip seinen eigenen Selbstwert verringert und seine Gewohnheit der Beurteilung weiter verstärkt.

Als weiteres Beispiel kann sich der Ko-Abhängige begeistert auf Vergebung stürzen, um sich dann letztlich über sich selbst zu ärgern, weil es ihm nicht möglich ist, der Person zu vergeben, die ihn wie Dreck behandelte. Anders gesagt: Er ist zwar bereit, anderen zu vergeben, kann aber nicht sich selbst für seine eigenen Gefühle vergeben.

Achtsamkeit macht uns unsere regulären Denkmuster bewusst, sodass wir erkennen können, wie wir denken. Es ist nicht das Ziel zu versuchen, unliebsame Gedanken oder Gefühle zu stoppen, sondern deren Existenz tatsächlich zuzulassen – ohne diese zu beurteilen, zu verändern oder zu vermeiden. Dadurch können wir ein freundschaftliches, ungewöhnliches Verhältnis zu den Dingen aufbauen, die in unserem Körper und Geist vor sich gehen, selbst zu jenen, die furchtbare Empfindungen auslösen.

Angstbasiertes Denken stellt uns vor die Herausforderung, dass unser Verstand in diesen extra-starren, analytischen Denkmodus umschaltet, der weitere solche Gedanken auslöst. Das ist vergleichbar mit einer Endlosschleife. Wir sagen zum Beispiel: „Schluss jetzt, ihr fiesen Gedanken“ und reagieren dann enttäuscht oder ängstlich, wenn diese Gedanken nicht verschwinden, wodurch letztlich weitere fiese Gedanken aufkommen.

Wenn wir – wie einem Freund – den seltsamen Gedanken sanftmütig, geduldig und gütig gegenübertreten, beginnen sich die Dinge zu entspannen. Auf diese Weise durchbrechen wir die Feedbackschleife. Und wenn wir obendrein nett zu uns selbst sind und eine Stimme zu uns sagt: „Das ist dumm, es ist geschwindelt, du machst das nur, um der eigentlichen Wahrheit, dass du schlecht bist, nicht ins Auge sehen zu müssen“, dann können wir auch diese Stimme zulassen. Je behaglicher wir uns mit dem Unbehagen fühlen, desto eher wird sich das Unbehagen uns gegenüber offenbaren.