Garbin - Anela Borcic - E-Book

Garbin E-Book

Anela Borčić

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Auf der Insel Vis, weit vor der Küste Kroatiens, herrscht noch ein uraltes Erbrecht. Stjepan und seine drei Brüder können ihr Elternhaus erst dann ihr eigen nennen, wenn sie eine Vielzahl von Verwandten ausbezahlen. Dazu müssten sie sich untereinander einigen. Stattdessen entbrennt zwischen ihnen ein erbitterter Streit. Vor allem Stjepan leidet unter der Situation und verrennt sich in dem Versuch, eine juristische Lösung herbeizuführen. Dabei sind es die unausgesprochenen Erlebnisse aus der Kindheit, die zwischen den Brüdern stehen. Die Schatten der Vergangenheit drohen die Familie in einen Strudel aus Depression, Gier und Gewalt zu stürzen. Da mischt sich ihr altes Kindermädchen Mandina ein. Sie kennt alle Familiengeheimnisse, die seit Langem zwischen den Brüdern gären.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 161

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anela Borcic

Garbin

Wind der blauen Schatten

 

Aus dem Kroatischen übertragen von Blanka Stipetic

   

Anela Borcic: Garbin – Wind der blauen Schatten

Titel der kroatischen Originalausgabe: Garbin – zao vjetar © V.B.Z., Zagreb 2009

Die Herausgabe dieses Werks wurde gefördert durch das Ministerium für Kultur der Republik Kroatien.

© Schruf & Stipetic GbR, Berlin 2015 www.schruf-stipetic.de

Zur Covergestaltung verwendetes Bild: © Natalia Borcic

ISBN: 978-3-944359-07-6

 

Vervielfältigung und gewerbliche Nutzung nur nach ausdrücklicher Genehmigung der Schruf und Stipetic GbR.

Inhalt

01 Garbin, Wind der blauen Schatten

02 Ich, der Älteste

03 Sommermenschen, Wintermenschen

04 Im trüben Familienaquarium

05 Stipan oder der Mann ohne Lachen

06 Wie man mit einem scharfen H das weiche und runde AUS teilt

07 Ortensa

08 Einführung in die Depression

09 Eine mit Unsinn infizierte Welt

10 Die Parallelwelt des Geruchs

11 Gefühlsblasen

12 Absprachen im Leerlauf

13 Auf den sanften Wogen des Nichtwissens

14 Die Wartenden

15 Die blaue Farbe der Angst

16 Und wenn doch?

17 Garbin, Wind der blauen Schatten II

18 Wenn das Blau über dir zusammenschlägt

19 Seeigel

20 Der Geschmack des Todes als Waschplatz

21 Ich will, ich bin, trotzdem

22 Wir sind die einzigen, die er hat

23 Alles bleibt ...

24 Das Wunder des Todes

25 Danke, von ganzem Herzen ...

01 Garbin, Wind der blauen Schatten

An diesem späten Winternachmittag tobte ein Unheil verkündender Wind, der Garbin. Seit dem frühen Morgen peitschte er das aufgewühlte Wasser mit voller Wucht in Richtung Land. Das Meer brandete tosend gegen die Riva, explodierte zu schäumender Gischt, zog sich zurück, ballte seine Kraft und rauschte tosend wieder heran. Ein immerwährender Rhythmus: Tosen, Prasseln, Schlürfen, Rauschen, und dann wieder – Tosen! Das Meer warf sich geschmeidig über die Kaimauer und ergoss sich über die Promenade, in schäumenden Wellen, die weiter und immer weiter rollten, bis sie keine Kraft mehr hatten und versickerten. Getragen von der Macht des Bösen streckte das Meer an diesem Abend seine salzigen Finger nach den bloßliegenden, von der Sonne gebleichten Wurzeln der zerrupften Palmen aus, um das bisschen Erde zwischen ihnen zu vergiften. Die Palmen, geschwächt durch die Parodontose eines harten Winters, neigten ihre zerzausten Kronen weit hinunter zu ihren weißen, wie Hanfseile ineinander verflochtenen Wurzeln. Von diesen Bögen schoss der Wind unermüdlich seine heulenden Böen ab, die mit den bedrohlichen Geräuschen des Meeres verschmolzen.

Wind und Meer ritten gemeinsam eine Attacke gegen das Land, vorwärts und immer weiter vorwärts. Sie zerrten mit Macht an dem schmalen Streifen festen Bodens gleich am Ufer, in dem sich die Häuser festkrallten wie Zähne in schwindendem Zahnfleisch. Sie schienen fast unwirklich in ihrer Reglosigkeit. Aber auch sie würden von der Dunkelheit abgenagt, vom Meer verdaut und vom Wind wieder ausgespuckt werden, eins nach dem anderen, herausgerissen aus der weißen Häusertraube, dieser mit Bitterkeit durchsetzten Festung, die in ihren Höhlen, hinter fest verschlossenen Fenstern, die Verwundbarkeit der Menschen verbarg. Und als die Dunkelheit immer mehr des zarten Lichts der Dämmerung verschlang, wandelte sich das Meer zum Monstrum.

Tosen, Prasseln, Schlürfen, Rauschen.

Tooosen. Prassseln. Schlüüürfen. Rauschschschen.

Tooosenprassselnschlüüürfenrauschschschen … ooo … sss … üüü … schschsch … ooo … sss …

Immer im Rhythmus, immer der Reihe nach, im Takt, den das Metronom des großen Chaos vorgibt. Immer heftiger und immer bedrohlicher.

Der Wind hatte den hungrigen, kalten Leib des Meeres nach außen gestülpt, nun kroch er aus Gräben und Schluchten unter Wasser und fraß am Ufer, wälzte Steine heran, hustete Sand und spuckte Kies an Land. Das Meer streckte sich weiter nach den Höfen und bis zu den vom Salz angefressenen Türschwellen der Hafenkneipen. Unterwegs griff es gierig nach allem, was es zu fassen bekam – Reusen, Holzbänke, Tische, Taue und Boote, die nicht weit genug an Land gezogen worden waren; alles zusammen brodelte schon bald als formlose Masse im Wasser. Schlimm erging es auch den Booten im Hafen, den Fensterläden an verlassenen Häusern, den Wetterhähnen über kalten Schornsteinen, den Seelen der Menschen, die nicht mehr an die Insel gewöhnt waren, die das schlechte Wetter überrascht hatte und die nun auf der Insel festsaßen.

Der eisige Wind warf Blumenkübel mit verkümmerten Pflanzenresten des vergangenen Sommers um und zerrte an der Wäsche, die noch an der Leine hing. Laken peitschten durch die Luft, rangen ihre weißen Finger wie fette Hähne in einem verzweifelten Überlebenskampf.

Tosen, Prasseln, Schlürfen, Rauschen.

Tooosen. Prassseln. Schlüüürfen. Rauschschschen.

Tooosenprassselnschlüüürfenrauschschschen … ooo … ssss … üüü … schschsch … ooo … sss …

Die Nacht brach an wie ein Kessel voll wirbelnden Pechs. Immer größere Wellen häuften am Ufer Kies an. Ihre schäumenden Kronen verschwammen im Dunklen und lösten sich schließlich in der Finsternis auf.

In der Dunkelheit erreichte der Südostwind Orkanstärke und das Meer eroberte das Festland, stieg gen Himmel, leckte an den hoch liegenden Fenstern der ersten Häuserzeile, an ihren Steinwänden, den Dachziegeln und an der undurchdringlichen Schwärze des Weltalls, das in dieser Nacht dort begann, wo die salzige Masse endlich ihren Schwung verlor und zurückfiel, in den aufgeweichten Inselgrund.

Die Nacht knipste das Auge aus, löschte den Blick, hielt den Atem an … Es pfiff und donnerte, dröhnte und zischte, prasselte und knallte im regelmäßigen Rhythmus des großen salzigen Herzens, durch das in dieser Nacht nur der Atem des Bösen strömte. Der böse Atem des großen Kehraus.

Es war eine jener Nächte, in der für alle auf der Insel die Linie zwischen Leben und Tod verschwamm; als würde das eine wie das andere von Minute zu Minute größer, um zu überwiegen und schließlich zu siegen. In der Hitze des Kampfes konnte man nicht erkennen, wer wohin gehörte, deshalb fühlten sich alle ebenbürtig.

Weder Schnecke noch Vogel noch Mensch konnte sich in dieser Nacht den Schlachtfeldern des Chaos entziehen, über die sich die Materie wälzte, entfesselt von der Kraft des Himmels und den Alben des Meeres. In dem Moment, als das Leben im Tod einen Ausweg erkannte und es tröstlicher schien unterzugehen als weiterzuleben, erfüllte die schwermütige Unruhe dieser grenzenlosen Möglichkeiten den Raum zwischen zwei Atemzügen, nährte sich von der Angst, und so pulsierten Leben und Tod unaufhörlich in unseren zugeschnürten Kehlen, und unsere gespitzten Ohren horchten auf die Wirbel über der Insel. Die Gedanken folgten der Kakophonie und füllten sich unweigerlich mit apokalyptischen Bildern.

Was, wenn der Garbin in dieser Nacht in schwindelerregender Tiefe, irgendwo auf dem Weg zum Erdmittelpunkt, den Felsensockel der Insel brechen ließ wie den Stängel einer Kapernblüte und uns alle in den Abgrund riss? Was, wenn das Meer uns überspülte, wir versanken, ertranken, oder wenn der Wind uns fortblies?

Was, wenn am nächsten Tag die Schlagzeilen verkünden würden: In der Nacht vom 18. auf den 19. Januar 2007 ist eine dalmatinische Insel verschwunden. Na und? Wen würde es kümmern? Vielleicht war auch Atlantis in einer solchen Nacht untergegangen.

Inmitten des Chaos spielten die Gedanken in den Inselköpfen verrückt. Sie verhedderten, verhaspelten und verdrehten sich, spannten sich und legten sich würgend um die bekümmerten Seelen, die versuchten, in diesem Chaos einen sicheren Anker zu finden.

In dieser Nacht zog ein bisher unbekannter dunkler Schatten über unseren Landstrich, halb Meer, halb Land, machte unsere Gesichter spitz und unsere Bäuche flau, denn der Garbin ließ der Insel nur noch das Tüpfelchen vom i, ein Pünktchen, einen Krümel, rund wie das Omega, vollkommen wie der Kreis in seinem einsamen Stolz.

Dieser kleine Fetzen Land musste in jener Nacht sühnen, und alles, was darauf lebte, bekam eine Ahnung von der zerbrechlichen Winzigkeit des Lebens im ständigen Strom der Veränderung. Ohne diese Demut gegenüber dem Leben bliebe die Insel nur das sterile, nichtssagende Tüpfelchen auf dem i, ein Nichts auf einem steilen Felsen inmitten eines Raums, so weit, wie das Auge und die Gedanken reichen. Lehnten wir uns jedoch demütig an diesen Felsen an, würden wir gemeinsam zu einer Möglichkeit. Zu einer Insel.

02 Ich, der Älteste

Ich, Stipan Tarbuskovic, der älteste von vier Brüdern, erreichte die Insel im Winter, als heftige Winde das Meer aufwühlten. Eine unglückselige Angelegenheit und eine noch größere Hoffnung hatten mich bei diesem schlechten Wetter hergetrieben. Der Zweck war mehr als gerechtfertigt – es ging um die Teilung des Familienerbes, die uns schon seit Jahren beschäftigte, ohne dass wir zu einer Einigung gelangt wären. Dieses Mal aber würde es anders sein, das fühlte ich. Schließlich hatte auch das Gericht uns mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass dies die letzte Aufforderung sei. Wir vier mussten uns also zusammensetzen und eine Lösung finden, sonst würde das Gericht uns zu gleichen Teilen an einer Erbengemeinschaft beteiligen, die seit Generationen immer größer wurde, während die Anteile am Erbe stetig in kleinere Teile zerfielen. Dieser bedenkliche, verhängnisvolle Zustand, in dem jeder nichts und alles besaß, musste um jeden Preis vermieden werden. Ich war bereit zum Kampf, voller Elan und mit hellwachem Verstand – das musste ich nutzen.

Schon während der Anreise trug mich meine Euphorie von guten zu noch besseren Ideen, wie die Teilung aussehen könnte. In Gedanken stöberte ich durch das Haus und das Anwesen, und als ich auf der Insel ankam, verlor ich keine Zeit, wartete nicht auf den nächsten Tag. Noch bevor ich meine Reisetasche geöffnet hatte, machte ich mich an die Arbeit. Ich stieß die Fensterläden auf, lüftete das Haus und ging dann geradewegs ins Katasteramt, wo ich mir wieder einmal die Grundbuchauszüge unserer Parzellen geben ließ. Vom Katasteramt ging ich direkt ins Grundbuchamt. Dann noch einmal ins Katasteramt. Wieder zum Grundbuchamt. Und zurück ins Katasteramt.

Die Zeit verging, und ohne dass ich es merkte, brach die nächste Woche an; tagelang lief ich hin und her, Katasteramt, Grundbuchamt, runter und wieder rauf, ohne dass sich die Lage auch nur einen Deut gebessert hätte. Meine anfängliche Energie, die mir diesmal unerschöpflich erschienen war, schmolz dahin wie Schnee in der Sonne. Kleinmut verdrängte meine Euphorie, die Klarheit meiner Gedanken trübte sich und ich verfiel in traurige Trägheit. Ich wurde immer deprimierter und der letzte Rest Optimismus verabschiedete sich auf Nimmerwiedersehen. Ich versank immer tiefer im Schlamm meiner Ohnmacht und Unfähigkeit, denn nahezu jeder Gang ins Grundbuchamt endete mit einer weiteren unlösbaren Komplikation. Diese Komplikationen machten mich schon seit Jahren krank vor Wut und Ohnmacht. Ihre Lösung hing vom guten Willen unserer Verwandten ab, die in dieser verworrenen Erbangelegenheit eigentlich unsere Partner hätten sein sollen, doch ihr guter Wille war so unbeständig wie der Wind. Der Papierberg zu Haus und Besitz wuchs so beharrlich wie meine Bedrücktheit und die Erkenntnis, dass ein Leben, mein Leben, für die Lösung dieses Problems nicht ausreichen würde. Schon seit Urzeiten wurde auf dieser Insel Besitz nur mit Handschlag vererbt, und in allen amtlichen Registern herrschte ein umfassendes und fürchterliches Chaos.

Meine Familie war keine Ausnahme. Nichts war in irgendwelchen Büchern geregelt worden, überall nur lose Enden, die Erben von Verstorbenen waren selbst verstorben oder nicht mehr aufzuspüren. Sie lebten über die ganze Welt verstreut, als hätte der Wind sie wie Pusteblumen verweht. Ich musste also die verbliebenen noch lebenden Verwandten finden, an allen möglichen und unmöglichen Orten. In der heiligen Mission, meine Interessen durchzusetzen, musste ich mich immer wieder aufs Neue vorstellen, geduldig erklären, wer ich und wer meine Familie war, um dann gemeinsam mit ihnen in der Vergangenheit den Ursprung unserer gemeinsamen Herkunft zu suchen, das verbindende Element, den durch Zeit und schlechte Pflege morsch gewordenen gemeinsamen Ast des Familienstammbaums, um den zweiten, dritten oder x-ten Grad des Verwandtschaftsverhältnisses zu bestimmen, von Menschen, die kaum noch ihre nächsten Verwandten auf der Insel kannten, geschweige denn irgendeine Sippschaft, die aus dem Nichts in ihr Leben schneite und Forderungen stellte und wie jede Sippschaft seit jeher einfach nur störte.

Ich musste ihnen lang und breit erklären, wie sie mir bei der Teilung helfen könnten und was alles zu tun sei, um diese heikle Aufgabe so schnell und schmerzlos wie möglich zu erledigen, und warum das gerade jetzt geschehen müsse. Ich musste mich für die Nachlässigkeit anderer entschuldigen, nicht selten die Nachlässigkeit unserer nächsten Angehörigen. Dann mussten wir gemeinsam über die Schlamperei kürzlich verstorbener Familienmitglieder schimpfen, deren Gesichter in der Erinnerung noch lebendig waren. Und schließlich, wenn sich das Gefühl einstellte, übertrieben und die Grenze zum Morbiden überschritten zu haben, galt es, alle im Eifer gesprochenen Worte zu relativieren und sie in den Himmel zu entlassen, so, wie Kinder mit Helium gefüllte Luftballons fliegen lassen, mit einer Entschuldigung, die so sinnlos und immergültig ist wie der Unsinn selbst. »Damals war es eben so.«

Und vieles andere musste ich noch tun. Ihnen zum hundertsten Mal jeden noch so kleinen Teilungsschritt erklären, den wir gemeinsam gehen mussten auf diesem ungewissen Weg, auf dem nur die Spuren derer zu sehen waren, die es vergeblich versucht hatten, die gestolpert waren und nun unter Höllenqualen auf Erden ächzten, die mit jedem zerstritten waren, wie auch wir. Und ich durfte das Wichtigste nicht vergessen. Ich musste die unzähligen Vorzüge einer erfolgreich vollzogenen Teilung in den leuchtendsten Farben schildern, ihnen erklären, dass all die Euros und Annehmlichkeiten dieser Welt vor ihnen lagen. Sie mussten nur tun, was ich von ihnen verlangte, dann konnten sie zugreifen. Familienzusammenhalt leuchtete ihnen am ehesten ein, wenn ich ihn in der Sprache beschrieb, die die menschliche Rasse letztlich doch am besten versteht: in der Sprache des Eigennutzes. Er war die beste Motivation und daher war es entscheidend, sie dahin zu bringen, dass die Argumente ihnen, aus allen Blickwinkeln betrachtet, einleuchteten, damit sie sich so schnell wie möglich bückten und ihr Geld und ihren Anteil an den Annehmlichkeiten der Teilung einstrichen. Danach konnten wir die Kommunikation dann wieder einstellen, wir mussten uns nicht einmal mehr auf der Straße grüßen. Nur noch ein Mal sollten sich zwei Familienzweige vereinen in der Wüste verwandtschaftlicher Beziehungen, in der rein gar nichts zu erwarten und gerade deshalb alles möglich war. Es gab auch Familien, die ihr Erbe ohne Streitereien und schnell aufgeteilt hatten, das kam vor, wenn auch selten. Die lebten dann wie alle Glückspilze dieser Welt völlig unauffällig, verbrachten ihre verbleibenden Tage ruhig und bescheiden, bemühten sich, den brüchigen Frieden zwischen Gut und Böse nicht aus Versehen durch eine kleine Unaufmerksamkeit zu stören und dadurch die günstige Konstellation zu verrücken, die für meine Familie noch nicht einmal in der Ferne zu erahnen war. Wir konnten vor lauter Erbdokumenten nicht einmal die Sterne sehen.

Die Welt der Tarbuskovics stand der Welt dieser Glückspilze diametral entgegen, denn alles, was wir dachten und fühlten, schien dem Bösen entsprungen zu sein, das sich in der vertikalen Achse unserer Familiengenerationen zusammenballte. Das Schlimmste war, dass alle Misserfolge absehbar waren. Auseinandersetzungen, besonders die juristischen, waren unumgänglich. Die Gerichte waren ein wesentlicher Bestandteil des Versuchs, unseren Grund und Boden von den Fesseln der Division zu befreien, deren mehrstellige Dividenden ich auswendig kannte, zusammen mit dem unausweichlichen Bruchstrich. Es galt, die Lebenden und die Toten zu verklagen – das war der einzig richtige Weg, und dann warten und immer weiter warten. Genauso schlimm war, dass man die Nerven behalten und ganz normal weiterleben musste, in einer Zeit, die nach Einreichung der Klagen zäher floss als je zuvor. Ich konnte das nicht. Viel später und viel zu spät hatten wir erkannt, dass wir gleich einen guten Anwalt hätten beauftragen sollen, der die ganzen verworrenen Spuren und Stränge vergangener Leben und Interessen viel besser hätte entwirren können als wir, und zwar mit günstigem Ausgang und in absehbarer Zeit, sodass wir alle noch lebendig genug wären, um mit unserem Erbteil tun und lassen zu können, was uns beliebte. Aber nein, ich war der Erste von uns Vieren, der meinte, alles allein zu können, und später, als alles verworren und verknotet war, konnte ich aus Stolz nicht mehr zurück.

Ähnlich dachten zwei meiner Brüder, während der vierte und jüngste von uns, der Bubi, immer seinen eigenen Kopf gehabt hatte, daher konnte ich sein Handeln und seine Ansichten nie verlässlich beurteilen und ich mochte ihn auch nicht. Auf jeden Fall hatten wir keine Ahnung, auf was wir uns da eingelassen hatten und wie lange es dauern würde.

03 Sommermenschen, Wintermenschen

Inzwischen quälte ich mich schon das siebte Jahr, und das Ziel schien weiter entfernt als am Anfang, denn mit der Zeit hatte meine schon seit der Kindheit labile Gesundheit stark gelitten. In der verflossenen Zeit hatte ich mir lediglich einen Überblick verschafft, über mir hatte sich das kosmische Chaos von Eigentums- und Besitzverhältnissen aufgetan und meine Wahrnehmung und Vorstellung von sturer Verbissenheit und durchtriebenem Eigennutz, zu dem meine Nächsten fähig waren, geschärft. Alles, selbst das Zusammensuchen von Dokumenten, erschien sinnlos, vergeblich und viel zu kompliziert. Anfangs hatte es mich noch mit Glück erfüllt, diese vermaledeiten Erbdokumente in einem kleinen Umschlag zu sammeln, dann in einem größeren und schließlich in dem größten, den ich finden konnte. Bald musste ich dafür einen ausrangierten Schuhkarton hernehmen und schließlich eine alte Reisetasche. Je größer das Behältnis wurde, desto ungesünder wurde, was mich innerlich umtrieb.

Meine Hoffnung sank umgekehrt proportional zum Anstieg meiner Trauer. Doch was hätte ich tun sollen? Ordentlich stapelte ich die Dokumente, sortierte sie, damit alles beisammen war und ich nicht suchen musste. Ich war besessen von der Angst, etwas Wichtiges könnte, Gott bewahre, verloren gehen, und so überprüfte und ordnete ich die Papiere immer wieder neu. Die absurdeste Erkenntnis dabei war, dass alle meine Brüder mit Sicherheit genauso viele Dokumente besaßen wie ich, um sich ihrerseits einen vollständigen Einblick in ihren Vorgang zu verschaffen. Sie hatten sich nicht einfach Kopien von meinen Dokumenten gemacht, weil ich der Älteste war, sondern waren auf dem gleichen Weg wie ich an sie gelangt – durch Anstehen in den gleichen Schlangen, Schreiben der gleichen Anträge, Betteleien um eine sofortige Ausstellung des Dokuments, vor allen anderen, denn unsere Angelegenheit sei dringend, unaufschiebbar … Und so zog sich das Ganze hin. Wir trugen schon seit Jahren die notwendigen Papiere zusammen – und doch fehlte immer etwas oder nicht alle hatten Zeit, wenn das Gericht uns einbestellte.

Inzwischen teilten wir das Haus vor allem mit Verstorbenen und Unbekannten. Genauer gesagt, unseren Teil des Hauses, der inzwischen ziemlich verfallen war. Von unserer Haushälfte besaßen wir Phantom-Zehntel, Zwölftel oder gar Zweiundsiebzigstel, bei idealer Aufteilung, jawohl! In einem der Grundbuchauszüge in meiner Tasche stand zum Beispiel, dass unser verstorbener Großvater, sage und schreibe, den zweiundsiebzigsten Teil von 630 Quadratmetern des Grundstücks besaß. Leider hatte unser Nachbar ungefragt auf einem großen Stück davon ein Haus gebaut, und nun sollten wir den Rest aufteilen, ohne dabei den Verstand zu verlieren. Doch wenn wir uns einmal geeinigt hätten, würden wir gegen den Nachbarn prozessieren; sollte er in der Zwischenzeit sterben, dann eben gegen seine Erben. Auf einen Prozess mehr oder weniger kam es schließlich nicht an.