Gay Movie Moments - Paul Senftenberg - E-Book

Gay Movie Moments E-Book

Senftenberg Paul

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Beschreibung

Ein einsamer Mann, der nach dem Unfall seines Partners beschließt, sich das Leben zu nehmen; zwei Cowboys, die einander ihre Liebe gestehen und sie doch geheim halten müssen; junge Männer, die ihre Gefühle füreinander im Tanz ausdrücken; coole Typen in Glitzerhöschen, die im christlichen Männerwohnheim Turnübungen vollführen und dabei eine Schwulenhymne singen … All diese Augenblicke haben eines gemeinsam: Sie sind besondere Gänsehautmomente in Filmen und Serien. Paul Senftenberg präsentiert die für ihn stärksten, schönsten, emotionalsten, aber auch tragischsten Momente aus über 80 filmischen Werken. In einer Sammlung von Essays greift er Klassiker wie Brokeback Mountain, Milk und A Single Man auf, scheut sich aber nicht, auch unbekanntere filmische Perlen vorzustellen. Durch einen persönlichen Zugang zeigt er neue Blickwinkel auf und erstellt verständliche Analysen, die zuweilen mit entlarvender Ironie versehen sind. Dabei verfasst er keine Best-of-Liste filmischer Werke, sondern vielmehr eine Hommage an die stärksten Gänsehautmomente des schwulen Films. Mit „Gay Movie Moments“ werden magische Momente der Filmgeschichte in den Köpfen der LeserInnen wieder lebendig.

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Senftenberg

Gay Movie Moments

Inhaltsverzeichnis

Gay Movie Moments

Gay Movie Moments

Impressum

Autorenvita

Gay Movie Moments

Eine Liebeserklärung

In the Closet

Die Dinge des Lebens

Die Ahnungslosen

Saturno Contro

Very very British

Another Country

Maurice

Der traurige Clown

Boulevard

Nur Momente des Glücks

Brokeback Mountain

Gay trotz Hay

Cocktail für eine Leiche

Swoon

Lügen und Wahrheit

Davids Geburtstag

Dem Himmel so fern

The History Boys

Man in the Mirror

J. Edgar

Liebe ohne Namen

Oscar Wilde

Der Schmerz und die Einsamkeit

Imaginary friend

Animals

Missbrauchtes Vertrauen

Capote

Macondo im Spiegel

Contracorriente

Zerbrechlichkeit und Stärke

The Crying Game

Söhne ohne Väter

Jet Boy

L.I.E. - Long Island Expressway

Ehrlichkeit

London Spy

Brennende Seelen

Milk

My Own Private Idaho

Mich wundert, dass ich so traurig bin

Mysterious Skin

Die Einsamkeit der Seele

A Single Man

Die Bedrohlichkeit des Begehrens

Der talentierte Mr. Ripley

Coming-out

Phantom Lady

Breakfast on Pluto

Wie sag ich’s bloß?

C.R.A.Z.Y.

Männer al dente

Nur eine Frage der Liebe

Sich freispielen

Das letzte Spiel

Out in the Dark

Stop pretending

Lilting

Tiefe Wasser

Unterwegs

Romeos

Stage Beauty

Die Fragmente des Lebens

Stadt Land Fluss

Liebesg’schichten und Heiratssachen

Verbotene Schritte

Beautiful Thing

Queer as Folk

Junge Liebe, alte Liebe

Brothers and Sisters

Sanfte Rebellen

Denn sie wissen nicht, was sie tun

Glee

Pas de Deux

Five Dances

Leave it on the Floor

Das Tabu im Tabu

From Beginning to End

Schwule Liebe im Thatcherland

The Fruit Machine

Mein wunderbarer Waschsalon

Sweet Bird of Youth

Get Real

Noordzee, Texas

Sommersturm

Ein Sommernachtstraum

Sommer wie Winter

Liebe in Sandalen

Spartacus

Spartacus (Serie)

Das Abtasten des Möglichen

Weekend

Stolz und Vorurteil

Pride

Ben Hur

Parada

Camp rules

Can´t Stop the Music

Liberace

The Producers

The Rocky Horror Pictures Show

Singen über die Liebe

Chanson der Liebe

Meeresfrüchte

Rent

Let’s talk about sex

De-Lovely - Die Cole Porter Story

Shortbus

Watercolors

Killer Queens

James Bond 007: Diamantenfieber

James Bond 007: Skyfall

Pocahontas

Die Dekonstruktion der Zeichen

Elephant

A cock in a frock

Priscilla - Königin der Wüste

Zeit zu leben, Zeit zu sterben

Ziel des Zählwerks

Alles über meine Mutter

Die Liebe zu den Zeiten der Seuche

Angels in America

Mein Bruder Leo

Philadelphia

Die Rache der enttäuschten Liebe

Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford

Sühnekuss

Furyo – Merry Christmas, Mr. Lawrence

Chronik eines angekündigten Todes

Gods and Monsters

Sturz in den Wahnsinn

Im Glaskäfig

Untot

In the Flesh

Tanz der Vampire

X-Men: Der letzte Widerstand

Der Filmerzähler

Der Kuss der Spinnenfrau

Moon River

La Mala Educación – Schlechte Erziehung

Nachtschattengewächse

Mandragora

Nie geboren

El Mar – Das Meer

Leben, um zu sterben

Die Zeit, die bleibt

No turning back

Register

Bildnachweis

Programm

Hände

Der Stammbaum

Paul Senftenberg

Gay Movie Moments

Schwule Gänsehautmomente in Film und Serien

1. Auflage

Paul Senftenberg, Gay Movie Moments

© 2017 HOMO Littera Romy Leyendecker e. U.,

Am Rinnergrund 14, 8101 Gratkorn,

www.HOMOLittera.com

Email: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages gestattet.

ISBN PDF: 978-3-903238-03-9

ISBN EPUB: 978-3-903238-04-6

ISBN PRC: 978-3-903238-05-3

ISBN Print: 978-3-903238-02-2

Vielen, vielen Dank an meine Lektorin. Die Beschäftigung mit einem Sachbuch voll wörtlicher Zitate, die es alle zu überprüfen galt, stellte für sie wohl eine besondere Herausforderung dar. Ohne ihre überaus gründliche und höchst professionelle Arbeit an meinem Manuskript hätte Gay Movie Moments wohl nicht das Licht der Buchwelt erleben können. Ich habe die Genauigkeit, mit der sie hinter die schöne Oberfläche meiner Texte zu schauen und dahinter Unachtsamkeiten und Fehler aufzuspüren vermochte, im ersten Moment oftmals verflucht – und bin im Nachhinein doch unendlich dankbar dafür!

Paul Senftenberg

Über den Autor

Paul Senftenberg ist ein niederösterreichischer Autor. In seinen Büchern beschäftigt er sich mit der Selbstfindung von schwulen Jugendlichen und Männern, die sich gefangen fühlen zwischen bürgerlichem Leben und ihren wahren Neigungen. Immer wieder spielen in den Geschichten auch Referenzen zu Filmen eine wichtige Rolle.

Veröffentlichungen bei HOMO Littera:

Der Stammbaum (Novelle, 2014)

Hände (Roman, 2015)

Informationen sowie Texte und Rezensionen zu weiteren Filmtiteln auf: www.paulsenftenberg.at

Film as dream, film as music. No art passes our conscience in the way film does, and goes directly to our feelings, deep down into the dark rooms of our souls.

Ingmar Bergmann

Gay Movie Moments

Eine Liebeserklärung

Es begann mit einem Kuss. Im Jahre 1927, an der Schwelle zum Zeitalter des Tonfilms, stehen in William A. Wellmans Wings die beiden Freunde Jack (Charles Rogers) und David (Richard Arlen) im Mittelpunkt bombastischen Weltkriegsgeschehens.

Der Titel ist Programm: Alles dreht sich ums Fliegen. Hinzu kommt die Freundschaft zwischen zwei feschen Piloten, die sich für Frauen nicht interessieren – ganz besonders, als Jack im Unwissen, dass sich sein Freund in einer deutschen Maschine soeben in Sicherheit zu bringen versucht, diese vom Himmel schießt. Die folgende herzzerreißende Szene des Abschiednehmens vermag auch nach fast neunzig Jahren zu rühren und wird in diversen Foren aufs Heftigste diskutiert. Als „Brokeback before Brokeback“ bezeichnen die einen den angeblich ersten homosexuellen Kuss der Filmgeschichte, wohingegen sich an anderer Stelle die Sichtweise vom „first same-sex kiss“ ohne dezidiert schwule Bedeutung durchgesetzt hat.

Jedenfalls ist es ein wahrer Gänsehautmoment des Kinos: Diese warmherzigen Blicke, die innigen Umarmungen, das Kraulen in den Haaren des anderen, der Schmerz in Jacks Augen, als ihm klar wird, dass es keinen Sinn mehr hat, einen Arzt herbeizurufen. Dann Davids Bitte: „Don’t go, Jack! Just stay here with me – for a little while.“ Die Zärtlichkeit, als Davids Hand über Jacks Wange streicht – und dann dieser Kuss. Beim genauen Betrachten ist es eher ein Kuss auf die Wange oder den Mundwinkel als direkt auf Davids Lippen. Entlarvend erscheinen mir jedoch die letzten Worte zwischen den beiden Männern: Nichts in der Welt würde ihm mehr bedeuten als ihre Freundschaft, versichert Jack dem Sterbenden in seinen Armen – und darauf die Antwort: „I knew it – all the time.“

Was genau wusste David? Geht es wirklich nur um Freundschaft oder nicht doch um viel mehr?

Eine Ansichtssache. In seinem Meisterwerk The Kid (1921), das auf bis zu diesem Zeitpunkt unerhörte Weise Komödie und Sozialdrama verknüpfte, küsst Charlie Chaplin in einer dramatischen Szene seinen Ziehsohn Jackie Coogan auf den Mund – in einer Heftigkeit, wie man es heute nicht mehr darstellen würde. Man muss versuchen, die Theatralik der Gesten und das Quäntchen mehr an gezeigten Emotionen im Schauspiel des Stummfilms mit den Augen von damals zu sehen. Ob der Kuss in Wings nun ein schwuler war, kurz bevor der Moralkodex des „Production Code“, in anderen Worten die Zensur, Derartiges für viele Jahrzehnte aus Hollywoodfilmen verbannte, oder doch „nur“ ein Kuss zwischen zwei Männern, wollen wir deshalb dahingestellt lassen. Zweifellos ist bei den beiden Beteiligten eine gehörige Portion Gefühl im Spiel.

„Das Leben eines Menschen ist ein einziger Versuch, über die Umwege der Kunst wieder die wenigen Minuten wach werden zu lassen, in denen sich sein Herz zum ersten Mal öffnete“, sagte Albert Camus einmal. In diesem Filmmoment für die Ewigkeit sind die Herzen der Beteiligten weit offen.

Auf die Spur solcher schwuler Augenblicke habe ich mich gemacht, und ich habe sie in den Filmen entdeckt, die in diesem Band versammelt sind. Wobei manche von ihnen streng genommen gar nicht unter die Bezeichnung des „queer cinema“ fallen – bei Disney und Bond kommt man wohl nicht gleich auf eine solche Einordnung. Es geht mir um einzelne Szenen und darin um schwule Charaktere. Die Gänsehautmomente überwältigen uns mit ihrer Kraft und Schönheit, ihrer Coolness oder Poesie, ihrer Tragik und Traurigkeit, dem Schrecken, der in ihnen wohnt, oder der Lebensfreude, die sie zu vermitteln wissen.

„Jedes Bild erzählt von einem emotional aufgeladenen Moment innerhalb eines narrativen Davor und Danach“, lautet eine Interpretation der von Hitchcock, David Lynch und Wim Wenders sowie den Gemälden von Edward Hopper inspirierten Fotografien von Formento & Formento. Solche magische Bilder stellen den Ausgangspunkt meiner Texte dar.

Als er einmal gefragt wurde, woher er denn seine Ideen habe, antwortete der große amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury: „I listen to the voices in my head, and write what they tell me.“ So lasse ich die Bilder auf der Leinwand auf mich wirken, und was damit in meinem Kopf und meinem Herzen passiert, schreibe ich auf. Die daraus entstandene Sammlung an Texten legt keinen Wert auf filmhistorische oder chronologische Vollständigkeit und möchte schon gar keine Best-of-Liste sein. Das Buch stellt auch keine wissenschaftliche Analyse in Bezug auf die akademische Debatte dar, ob ein Film nun wirklich zum queeren Kino zählt oder nicht und ob es als positiv oder negativ zu werten ist, dass schwule Filme in den letzten Jahren aus dem Untergrund getreten sind und im Mainstream angekommen zu sein scheinen. Hingegen sind meine Texte ein Nachdenken über Szenen, deren Intensität mich tief berührt hat. Diese Qualität ist das alleinige Kriterium meiner Auswahl, die ich in sechs Kapitel zu den vorherrschenden Themen des Genres gegliedert habe: vom schwulen Leben im Geheimen und der Einsamkeit, die damit verbunden ist, über die mitunter schwierigen Schritte zum Coming-out, die Liebe in verschiedenen Lebensaltern, diversen mit Homosexualität verbundenen Klischees und dem Stolz, schwul zu sein, bis hin zu Geschichten, die sich ums Sterben drehen.

In diesem Sinne würde ich mir wünschen, meine Interpretationen, diesen „Stream of Consciousness“, der von einzelnen Momenten ausgeht, als Hommage verstanden zu wissen, als – verwenden wir das große Wort – Liebeserklärung an schwule Filme, Szenen oder zuweilen auch an Darsteller und ihre Filmfiguren. Deshalb sind sie genauso subjektiv, wie die Liebe nun einmal ist.

Die Lampen im Saal gehen aus, der Projektor beginnt zu surren und schickt auf seinem Lichtstrahl diese ganz besonderen Bilder auf die Leinwand – magische schwule Filmmomente. Enjoy.

Paul Senftenberg, im Juli 2016 

IN THE CLOSET

Abb. 1

Die Dinge des Lebens

Die Ahnungslosen (2001)

Saturno Contro (2007)

Die Dinge des Lebens (1970), César und Rosalie (1972) und Eine einfache Geschichte (1978) – Filme, die den französischen Regisseur Claude Sautet einst zu einem der bedeutendsten Chronisten des gehobenen Mittelstands der Nachkriegszeit machten. Claude Chabrol war ihm in dieser Hinsicht ähnlich, doch wo dieser die Überhöhung im Mörderischen suchte, sezierten Sautets Geschichten die Alltäglichkeit des Lebens. Romy Schneider, Michel Piccoli und Yves Montand waren oftmals Teil seines Ensembles, das Geflecht der Beziehungen zwischen ihnen, die sozialen Konflikte und gegenseitigen Abhängigkeiten die Basis ihrer Interaktionen. Als Auslöser der Filmhandlung fungierten persönliche Krisen seiner Figuren, durch die er ihre Verletzlichkeit, ich möchte sogar sagen, ihre Menschlichkeit bloßlegte.

Der türkisch-italienische Regisseur sowie Drehbuchautor Ferzan Özpetek ist eine Art Nachfolger von Sautet. Für die Interpretation seiner Filme möchte ich aber noch die Geschichte vom Zappelphilipp hinzuziehen. Sie ist Teil des Struwwelpeter (1845) des Frankfurter Arztes Heinrich Hoffmann, einerseits ob seines Sprachwitzes heute noch ein höchst amüsant zu lesender Klassiker der Kinderliteratur, andererseits wegen seines autoritären Erziehungsstils oft kritisiert. Da gibt es Philipp, der am Tisch nicht still sitzen kann und ständig mit dem Stuhl schaukelt. Auf einmal kippt er nach hinten und reißt die Tischdecke und die gesamte Mahlzeit mit sich: „Und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum“. In neuerer Zeit wird die böse Mär zuweilen als Beschreibung eines Kindes mit Hyperaktivität empfunden, wir könnten Philipp aber auch als Bild für die Krise sehen, die über die Gesellschaft am Tisch hereinbricht. Womit wir bei Sautet und Özpetek und dem Zelebrieren des gemeinsamen Essens sind.

Es ist die Poesie in einem wunderbaren, stillen Alltagsmoment, wenn Lorenzo zu Beginn von Saturno Contro seinen Freundeskreis am Esstisch betrachtet. Man hat zusammen gekocht, nun werden die Schüssel mit der Pasta und die Weinflasche herumgereicht. Lorenzo steht ein Stück abseits, sein Lächeln zeigt inneren Frieden und fast greifbares Glück, wenn wir seine Gedanken über den Geliebten mitanhören: „Davide im Kreis unserer Freunde gibt mir Sicherheit. Ich weiß, was sie sagen, denken. Zwar immer dasselbe, aber das ist gut so. Ich will keine Überraschungen, Neuerungen. Ich will, dass alles so bleibt. Für immer.“ Mit dem Nachsatz, der für die kommende Handlung Schlimmes erahnen lässt: „Obwohl ich weiß, dass es das nicht gibt.“

Lorenzos Freundeskreis – das ist Özpeteks Neuerfindung der traditionellen italienischen Großfamilie unter veränderten Vorzeichen. Da gibt es zwei Heteropaare, Antonio und Angelica sowie Roberto und Neval, und ein schwules Paar, nämlich Lorenzo und Davide. Davide ist ein erfolgreicher Schriftsteller, auch sein Ex-Partner Sergio sitzt mit am Tisch, dazu kommen Paolo, ein vielversprechender junger Autor, und Lorenzos Freundin Roberta. Was Lorenzo in der Zufriedenheit ausblendet, die er bezüglich seines Lebens empfindet, sind die Heimlichkeiten, Betrügereien und Geheimnisse, die Eifersucht, die Ängste und die kleinen Streitigkeiten. So weiß etwa keiner der Freunde von Antonios Affäre mit einer ebenfalls verheirateten Frau Bescheid. Es gibt sogar Unsicherheiten zwischen Davide und Lorenzo. Das wird spürbar, wenn sie sich in einer späteren Szene über Paolos Manuskript unterhalten: „Wovon handelt es?“ – „Von Liebe. Dass man immer den falschen liebt.“ – „Aber es gibt Ausnahmen, oder?“ – „Bis zum Beweis des Gegenteils.“

Man kennt einander seit Ewigkeiten und kennt einander doch nicht wirklich. Als der Zappelphilipp stürzt, fallen unter den Freunden die Masken. Bei einem weiteren Abendessen bricht Lorenzo zusammen, er wird aus dem Koma nicht mehr erwachen. In dieser extremen Situation treten Spannungen hervor, die bislang verborgen waren, und drohen die Gruppe zu sprengen. Die Idylle, die Özpetek so wunderbar gezeichnet hat, zerbröckelt; die Freunde wechseln sich an Lorenzos Krankenbett ab, die Kamera bewegt sich durch die Stadt und das Leben, das weitergehen muss. Doch jetzt werden Dinge ausgesprochen, die früher ungesagt blieben. Antonio beichtet seiner Frau die Affäre und verlässt seine Familie, und selbst Lorenzos Eltern, die die Homosexualität ihres Sohnes nie akzeptiert haben, treten auf. „Ich will begreifen“, stellt sein Vater fest. „Es gibt nicht viel zu begreifen“, wird ihm erwidert. „Für mich schon.“ – „Reicht es nicht, dass er glücklich war?“

Doch wie in Sautets Filmen gibt es letztlich den Zusammenhalt zwischen den Freunden, ihre Akzeptanz der Eigenständigkeit der anderen, ihre Liebe. „Du ahnst nicht, wie es ist zu überleben“, hat Davide einmal gesagt. Nun fürchten sie, dass er sich etwas antun könnte. Sie folgen ihm zu seinem Landhaus am Meer. Wieder wird gekocht und gemeinsam gegessen, Gefühle werden ausgesprochen. Ganz früh am nächsten Morgen, als alle noch schlafen, verlässt Davide das Haus. Durch einen Pinienwald gelangt er zu Felsen steil über dem Meer, die traurige Ziehharmonikamusik spiegelt seine Stimmung. Davide steht auf der Klippe, bricht zusammen und kann zum ersten Mal um Lorenzo weinen.

Ein letzter Gänsehautmoment in diesem Film: Vor dem Haus gibt es einen Tischtennistisch. In der finalen Szene fordert Antonio Davide heraus. Dieser willigt zögernd ein, und bald spielen alle miteinander. Wieder sind sie rund um einen Tisch beisammen, ein berührendes Bild der Einheit, der Zusammengehörigkeit, der Freundschaft eben. Sogar Lorenzo befindet sich unter ihnen, seine Worte vom Beginn des Films sind nochmals zu hören, als er über die Sicherheit gesprochen hat, die ihm das Bild von Davide im Kreis der Freunde gibt. In all dem Schmerz, der wohl noch in ihren Herzen brennt, ist in diesem Moment auch so etwas wie Friede zu spüren.

Margherita Buy, die in Saturno Contro Angelica spielt, und Stefano Accorsi, der ihren Mann Antonio darstellt, verkörpern auch die Hauptrollen in Le fate ignoranti, wie der Originaltitel von Die Ahnungslosen lautet. Der Streifen handelt von einer Frau, Antonia, die nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes Massimo erfährt, dass dieser jahrelang ein schwules Doppelleben führte. Antonia entdeckt auf der Rückseite eines Gemäldes ihres Mannes eine persönliche handschriftliche Notiz, die den Gedanken an eine Affäre nahelegt. Sie vermutet eine Frau und möchte diese aufsuchen, trifft jedoch auf Michele, den Liebhaber ihres Mannes, und zudem auf eine Wohngemeinschaft mit schwulen und lesbischen Bewohnern. Bei einem Essen auf der Terrasse der Wohnung sind alle versammelt, hier fallen Sätze von Tragweite: „Menschen, die ich liebe, lüge ich fast immer an.“ Und: „Wenn du die Wahrheit sagst, dann lieben sie dich vielleicht nicht mehr. Die Wahrheit zu sagen, ist gefährlich.“ Antonia aber plädiert dagegen: „Wie kannst du einen Mann lieben, der dich immer belügt?“ Da spricht Michele aus, was alle außer Antonia wissen: Dass Massimo immer hier bei ihnen gewesen sei, wenn er zu Hause sagte, er würde zu einem Fußballspiel gehen. „Wo du gerade sitzt, ist sein Platz gewesen.“ Er schlägt vor, auf Massimo zu trinken: „Weil er einer von uns war.“

„Wenn du die Wahrheit sagst, dann lieben sie dich vielleicht nicht mehr. Die Wahrheit zu sagen, ist gefährlich.“

Die Ahnungslosen

Kein Wunder, dass Antonia aufspringt und davonläuft. Doch es ist fast wie bei einem Liebespaar, das mit behutsamen Schritten aufeinander zugeht und sich kennenlernt: Antonia und Michele verbringen immer mehr Zeit miteinander und beginnen, Massimo durch die Augen des jeweils anderen zu sehen. Auf ihrer Spurensuche nach dem wahren Ich des Ehemannes und Geliebten spenden sie einander Trost in ihrer Trauer. Bald erkennen sie, dass sie Ahnungslose waren. So erfährt Antonia etwa, dass ihr Mann kochen konnte und neue Rezepte erfand, Michele seinerseits, dass Nâzım Hikmet nicht Massimos Lieblingsdichter war, sondern Antonias, und dass das Buch, das Massimo bei ihrem ersten Zusammentreffen kaufen wollte, nicht für ihn selbst, sondern für seine Frau gedacht war. Ein einfühlsamer nächtlicher Dialog über den Dächern Roms ist das, getragen von genau der zarten, melancholischen Stimmung, die die Filme Özpeteks so auszeichnet.

Die Gemeinschaft trägt Antonia und Michele durch diese schwere Zeit, und sie sind Stütze und Hilfe für Freunde, die diese benötigen. Ein Mitbewohner leidet an AIDS, eine transsexuelle Freundin hat Angst vor der Konfrontation mit ihrer Familie. Schließlich erfährt Antonia, dass sie Massimos Kind in sich trägt. In der charmanten Tragikomödie Der schönste Tag in meinem Leben von Cristina Comencini versammelt die Matriarchin, gespielt von der großen Virna Lisi, zum Fest der Erstkommunion ihrer Enkelin die gesamte Familie in ihrem prachtvollen Haus. Das Mädchen filmt ihre Verwandten, die allesamt ihre Probleme mit Affären und Scheidung, der Einsamkeit eines Lebens als Witwe und versteckter Homosexualität haben. Sie mutmaßt: „Vielleicht sehe ich sie an diesem Tag zum letzten Mal zusammen.“ Und weiß dennoch: „Nichts wird uns trennen. So einfach ist das.“ Diesen tröstlichen Gedanken könnte man für die Filme Ferzan Özpeteks – und dazu zählt auch das an anderer Stelle besprochene Männer al dente (2010) – als Credo nehmen: Im Kaleidoskop des Lebens mag das Schicksal immer wieder aus dem Hinterhalt zuschlagen. Solange die Freunde, die auch Familie sein können, zusammenhalten, ist die Gegenwart zu ertragen und gibt es auch so etwas wie Zukunft.

Die Ahnungslosen (2001, Drama/Liebesfilm)

Regie: Ferzan Özpetek

Darsteller: Margherita Buy, Stefano Accorsi, Serra Yilmaz, Gabriel Garko, Andrea Renzi

Saturno Contro (2007, Drama/Liebesfilm)

Regie: Ferzan Özpetek

Darsteller: Pierfrancesco Favino, Stefano Accorsi, Margherita Buy, Serra Yilmaz, Ennio Fantastichini

Very very British

Another Country (1984)

Maurice (1987)

„Ich wäre ein berühmterer Autor geworden, hätte ich mehr geschrieben oder, besser gesagt, mehr veröffentlicht. Sexualität hat das Letztere verhindert.“ Der Tagebucheintrag des britischen Schriftstellers E. M. Forster vom 31. Dezember 1964 spricht den Grund offen an, weshalb er nach seinem Roman A Passage to India (1924) bis zu seinem Tod im Jahre 1970 nicht mehr publizierte. Forster galt allenthalben als Junggeselle; seine Beziehung mit einem verheirateten Polizisten namens Bob Buckingham war nur einem kleinen Kreis enger Freunde bekannt. Obwohl schon 1913/14 geschrieben, erschien sein Roman Maurice erst posthum. Darin geht es um schwule Identität und das damit verbundene Leben im Verborgenen sowie um die Frage, was als normal und abnormal gilt in einer Welt, in der moralischer Anspruch und gesellschaftliche Wirklichkeit weit auseinanderklaffen.

Um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der offenen Liebe zwischen Männern kreisen nicht nur die dramatischen Geschehnisse in Maurice, sondern auch die Kurzgeschichten, die unter dem Titel The Life to Come, ebenfalls erst nach Forsters Tode, erschienen. „To touch, to hold. To be touched. The yearning was so strong sometimes that it hurt“, schreibt der südafrikanische Autor Damon Galgut in seiner fiktiven Forster-Biografie Arctic Summer (2014) und fasst die Tragik eines Lebens im Verborgenen zusammen: „The more so because it could not be spoken.“

Schon in ihrer Forster-Adaption Zimmer mit Aussicht (1985) zeigen Regisseur James Ivory und sein Produzent Ismail Merchant, über Jahrzehnte Partner nicht nur in beruflicher, sondern auch persönlicher Hinsicht, eine Szene, die sehr unterschiedliche Lesarten zulässt. Wenn zwei Freunde und ein schelmischer Reverend (der offen schwule Simon Callow sowie Julian Sands und Rupert Graves, von denen wir damals wünschten, sie wären es) nackt, wie Gott sie schuf, in einem Waldteich herumtollen wie die jungen Hunde und gar nicht mehr aufhören wollen, sich gegenseitig nass zu spritzen und unterzutauchen, dann kann man dies – so die allgemeine Rezeption – als Ausbruch aus der Beengtheit und den Zwängen der Edwardischen Epoche Englands sehen – oder angesichts des schwulen Autors der Romanvorlage und der schwulen Filmemacher eben auch ganz anders.

Jedenfalls erwies sich der Film beim Publikum und den Kritikern als so erfolgreich, dass das Duo Merchant-Ivory in der Folge mit Maurice das wohl nicht nur finanzielle Wagnis auf sich nahm, das allseits beliebte Thema der Romanze in höheren Kreisen in Richtung offen schwul zu verschieben. Abermals entstand ein überaus geschmackvolles, doch nie geschmäcklerisches Sittengemälde im vorweggenommenen Laura Ashley-Dekor. Auf eine Reise machen sich viele von Forsters Protagonisten: Lucy Honeychurch in Zimmer mit Aussicht nach Italien, Adela Quested in Reise nach Indien in, wie uns der Titel bereits verrät, noch viel exotischere Gefilde. Dass sie auf ihrer Suche nach dem Aufregenden, dem Anderen, dem Neuen schlussendlich sich selbst finden werden, liegt in der Natur dieses literarischen Genres.

Ihre Zerrissenheit teilen auch die Charaktere in Maurice: Durch ihr ständiges Schwanken zwischen der Wahrheit ihrer Empfindungen, der Wahrung des Gesichts nach außen und der Feigheit, ihrem eigentlichen Ich ins Auge zu schauen, sind sie Fremdkörper inmitten der luxuriösen Gediegenheit des aristokratischen Lebens im viktorianischen England. „Think how easy life is for people who don’t have to go through all this”, wird einmal direkt ausgesprochen, was den schwulen Männern schier das Herz zerreißt. „This secrecy. Never being able to talk about the person whom you’re in love with to anybody.” Und daraus die schlimme Folgerung: „We must change.”

Die Männer, die diese Seelenqualen durchleiden müssen, sind Maurice (James Wilby) und sein Freund Clive (Hugh Grant). Es ist der aristokratische Clive, der während ihres Studiums in Cambridge den ersten Schritt macht. Von seinen Gefühlen übermannt, nähert er sich Maurice, es kommt zu einer Umarmung, die dieser aber brüsk von sich weist. „I love you.“ – „Don’t talk rubbish.” Obwohl sich Maurice alsbald von einer ganz anderen Seite zeigt, bleibt die Beziehung fast ausschließlich platonisch. Enge Umarmungen, eine Art von Sich-Festhalten am anderen, nur hin und wieder ein gestohlener Kuss, stattdessen Liebesschwüre, die die Einzigartigkeit einer so innigen Freundschaft zwischen Männern betonen. „I would have gone through life half awake if you’d had the decency to leave me alone”, sagt Clive einmal. Darauf Maurices Frage: „Why me?” Und Clives Antwort: „Perhaps we woke up each other.”

Doch Clives Angst, zu sich selbst zu stehen, ist zu groß. Ein anderer homosexueller Kommilitone wird zu einem halben Jahr Zuchthaus verurteilt, und in den Köpfen der Männer spuken immer noch die Bilder von einem viel spektakuläreren Prozess und dessen schlimme Folgen herum. „I’m an unspeakable of the Oscar Wilde sort“, bezeichnet er sich einem Arzt seines Vertrauens (Denholm Elliott) gegenüber. „I want to be cured.“ Der Arzt hat für Dinge wie diese kein Verständnis und bezeichnet sie als Narretei, und auch der Hypnotiseur (Ben Kingsley), den Maurice daraufhin konsultiert, kann seine sogenannte Abnormalität nicht heilen.

Clive versucht, die Situation auf seine Weise zu bereinigen. „We’ve got to change, you and I“, stellt er fest. „Can the leopard change his spots?”, pariert Maurice. Dass sie alles riskieren würden, die Karriere, die Familie, ihre Namen, meint Clive: „You and I are outlaws.“ Maurice bleibt verzweifelt und ohne Halt zurück: „The only thing I dread is losing you.” Als Clive aus dem Zimmer geflüchtet ist, folgen Tränen und das schwarze Loch: „What an ending. What’s going to happen to me? I’m done for.“

Doch Forster hat für seinen Helden Besseres im Sinn: den jungen Wildhüter Alec Scudder (Rupert Graves). In der Literatur dieser Zeit waren Wildhüter hoch im Kurs, was das Aufbrechen der lähmenden Konventionen betrifft – man denke nur an D. H. Lawrences Lady Chatterley (1928). Der Roman gilt als eines der ersten seriösen Werke, in denen Sexualität offen und aufrichtig jenseits von verschämtem Erröten dargestellt wird. Es ist geradezu ein Befreiungsakt, wenn die titelgebende Aristokratin der Enge ihrer Ehe mit dem impotenten Lord mit heftigster Unterstützung des genannten Wildhüters entflieht. Ähnlich ergeht es Maurice, der eines Nachts nicht schlafen kann und sich aus dem Fenster in den heftigen Regen beugt. Er wird dabei von besagtem Alec beobachtet, einem hübschen Lockenkopf, der flugs durchs Fenster steigt, ihn küsst und gleich darauf wieder verschwindet. Maurices Verwirrtheit ist grenzenlos, was zu dieser schönen Szene führt: das Erwachen eines Menschen aus einem Schlaf, der sein ganzes bisheriges Leben angedauert hat. Als Maurice in einer weiteren Nacht das Fenster öffnet, um Luft zu schnappen, fasst Alec dies als Zeichen der Einladung auf. Abermals kommt er ins Zimmer und zu ihm ins Bett. Dass alles in Ordnung sei, meint Alec und zieht Maurice die Jacke vom Körper: „Lie down.“ Da, endlich, darf die Maske fallen. Heiße Umarmungen, wilde Küsse, schließlich ein befreites Lächeln, denn es ist geschehen, wovon Maurice immer schon geträumt hat. Er will Alec gar nicht mehr gehen lassen, und Liebesbezeugungen gehen schnell über die Lippen. Ob es dies gebe: „Someone to last your whole life?“

Alan Hollinghurst, einer der bekanntesten heutigen Autoren schwuler Romane, bewegt sich in The Stranger’s Child (2011) in ähnlichen Kreisen und erzählt von der kurzen Liebe zwischen zwei jungen Männern, George und Cecil, und deren Ende im Ersten Weltkrieg. Georges Mutter durchstöbert das Zimmer ihres Sohnes und stößt dabei auf Cecils Briefe. Diese sind recht eindeutigen Inhalts. Als George von der Front heimkehrt (Cecil ist in der Zwischenzeit gefallen), konfrontiert sie ihn damit und provoziert eine Reaktion, die sein gesamtes weiteres Leben beeinflussen soll. „… Er war wütend auf sie, wie nie zuvor, es seien private Briefe, sie habe kein Recht; gleichzeitig war er verstört vor Scham und Schreck, dass seine Mutter wusste, was vorgefallen war. ,Es war alles vorbei‘, sagte er – offensichtlich, denn Cecil war tot – ,es war längst alles vorbei.‘ Und ehe der Krieg aus war, hatte er diesem langweiligen Blaustrumpf einen Antrag gemacht, sodass sie in ihren heimlichsten und traurigsten Momenten das Gefühl beschlich, als habe sie ihren Sohn zu einem Leben in selbstlosem Elend verurteilt [...]“

Diese Flucht vor dem, womit man einfach nicht klarkommt, in die Ehe mit einer Frau, wählt auch Clive. Dass es sich dabei um einen Weg ins Unglück handelt, deutet Ivory am Ende seines Films an. Dadurch treibt er eine Spitze in die sonst so wunderbar romantisch happyendende Handlung, die noch lange im Zuschauer nachhallt.

Unsicherheit, wie es mit ihnen nun weitergehen könnte, und Eifersucht drohen das Glück von Maurice und Alec zu zerstören. Die Klassenunterschiede, die in der englischen Gesellschaft immer eine besondere Rolle gespielt haben, tun das ihrige. Der Wildhüter wartet umsonst im Bootshaus auf den Geliebten und fühlt sich vom feinen Gentleman herabgesetzt, dieser fürchtet eine Erpressung durch einen Mann aus dem Volk – und doch können sie nicht voneinander lassen und schlafen in einem Hotelzimmer erneut miteinander. Alec spricht davon, nach Argentinien auszuwandern. „It’s a chance in a thousand we met“, erkennt Maurice und drängt ihn: „Why don’t you stay?” Der Traum von einem Ort, an dem sie zusammen leben könnten und sich nicht um Geld oder die Meinung der anderen kümmern müssten: „Wouldn’t work“, holt Alec sie wieder auf den Boden der Realität zurück. „Be the ruin of … us both. Can’t you see?“

Über die für ihn absolut unmögliche Variante eines unglücklichen Endes von Maurice schrieb Forster: „A happy ending was imperative … Happiness is its keynote – which by the way … has made the book more difficult to publish.“ Er stellt sich dezidiert gegen das zynische Klischee der gleichgeschlechtlichen Liebe mit einem tragischen Ausgang, der mitunter wie eine Art Strafe für die schwulen Protagonisten erscheinen mag: „If it ended unhappily, with a lad dangling from a noose or with a suicide pact, all would be well … but the lovers get away unpunished and consequently recommend crime.“

Also kein gemeinsamer Selbstmord. Am Tag seiner geplanten Abfahrt nach Südamerika taucht Alec am Pier nicht auf. Maurice findet ihn im Bootshaus von Clives Anwesen. Sie fallen einander in die Arme und verzehren sich mit Blicken, und dann wird der erlösende Satz ausgesprochen: „Now we shan’t never be parted.“

Zuvor jedoch trifft Maurice noch auf Clive. Voll neuer innerer Stärke erzählt er ihm von seiner Liebe zu Alec, was Clive als groteske Vorstellung abtut.

„All his longings came out as a kind of disdain for what he longed for”, schreibt Alan Hollinghurst in seinem Roman The Line of Beauty, für den er 2004 den Booker Prize erhielt, über jemanden, der vorgibt abzulehnen und zu verachten, wonach er sich eigentlich sehnt. Clive ist ihm ein Bruder im Geiste. Während Maurice nach ihrem Gespräch zum Bootshaus eilt und seine Erfüllung in Alecs Armen findet, betritt Clive sein Schlafzimmer. Er umarmt seine Frau von hinten, wir sehen ihre Gesichter im Spiegel. Clives Lächeln gefriert zu einem Ausdruck, der uns als unecht erscheint. Er beginnt, die Läden zu schließen, und blickt dabei noch einmal nach draußen. Er sieht den jungen Maurice vor sich, wie er ihm in Cambridge zugewunken hat. Diesem Ruf ist er nicht gefolgt, muss Clive erkennen. Nun muss er mit der Verleugnung seiner wahren Gefühle leben, hinter der Fassade der Normalität im Gefängnis seiner Ehe.

Ein weiterer Gedanke aus The Line of Beauty führt uns zu einem artverwandten Film. „The pursuit of love seemed to need the cultivation of indifference”, heißt es da. Und weiter: „The deep connection between them was so secret that at times it was hard to believe it existed.” Das Vorschützen von Desinteresse und Gleichgültigkeit als Überlebenstaktik auf einer englischen Eliteschule in den 1930er-Jahren und die fatalen Konsequenzen, wenn man ablehnt, sich auf dieses Spiel einzulassen, hat Marek Kanievskas Another Country zum Thema. Das Setting könnte Pate für jenes von Maurice gewesen sein. Rupert Everett, Colin Firth und Cary Elwes spielen die tragenden Rollen, die Handlung basiert frei auf dem Leben von Guy Burgess und dessen Wandlung vom Internatsschüler zum Spion der Sowjets.

Ein harsches System von Hierarchie und Unterdrückung beherrscht die Regeln in Eton, wo die Elite des Landes herangezogen werden soll. Vordergründig geht es um Tradition, Sportgeist und gute Manieren, dahinter jedoch gedeiht ein System aus Intrigen, Opportunismus und rigider körperlicher Disziplinierung. Eine erste Bruchlinie wird sichtbar, als sich ein Schüler, der von einem Lehrer beim gemeinsamen Masturbieren mit einem Freund erwischt wird, in der Kapelle erhängt. Jeder weiß, was zwischen den Jungen abläuft, doch keiner darf darüber reden. „Thou shalt not lie with mankind, as with womankind“, beten die Schüler, und die Frage, ob es denn die Eltern akzeptieren würden, wenn sie wüssten, was in der Schule ablaufe, findet eine klare Antwort: „They do know. The fathers at least.“

In dieser Welt der Blendung und Verblendung erledigen die jüngeren Schüler für die älteren alle Arten von Arbeit. Ganz oben stehen die „Lords“, im Original sogar „Gods“ genannt. Einer der Anwärter für diese geachtete Position ist Guy Bennett, denn die Aufnahme in diesen elitären Zirkel kann der erste Schritt zur großen Karriere bedeuten. Seine eigentliche Verachtung dieses Schulsystems eint ihn mit Tommy Judd, einem Außenseiter, der sich offen zum Kommunismus bekennt. Inmitten dieses Umfelds erblüht die Liebe. Wenn sich die Wege zwischen Guy und einem Mitschüler namens James oder auch nur ihre Blicke kreuzen, beginnen die Herzen zu rasen. Mit großer Behutsamkeit, ja, Vorsicht, tasten sie sich aneinander heran: der Lunch in einem Hotel, das Nennen der Vornamen, das Reden über die eigenen Ängste und Sehnsüchte, ein geheimes Treffen im nächtlichen Park. Die Szene, in der die beiden Jungen in ein Boot steigen und es das höchste der Gefühle ist, den Kopf in den Arm des anderen zu legen, ist von entzückender Unschuld. „Everyone cheats here the whole time“, meint Guy einmal desillusioniert. Darauf James: „I don’t.” Und dann, als Spiegelung des berühmten Nachtigall/Lerche-Dialogs aus Shakespeares Romeo und Julia (1597): „It’s getting light soon. I must be going.“

„In spite of your talk of fraternity and equality, you still believe some people are better than others because of the way they make love.”

Guy in: Another Country

Guy, der sich oftmals nicht an die schulischen Regeln hält, ist bislang einer Züchtigung nur durch Erpressung entgangen. Seine Drohung: Sollte er geschlagen werden, würde er die Namen all jener Jungen nennen, mit denen er Sex hatte: „beginning at the top.“ Dann jedoch fängt einer der Lords einen Liebesbrief von Guy an James ab. Um James zu schützen, lässt Guy die Bestrafung diesmal über sich ergehen. Später beklagt Guy die Moralvorstellungen seiner Zeit Tommy gegenüber: eine Glanzleistung Rupert Everetts, der zwischen Wut und Zorn, großer Enttäuschung sowie totaler Verzweiflung schwankt. Dass er James aus Liebe nicht kompromittieren wollte, erklärt er Tommy. „I’ m not going to pretend any more. I’m sick of pretending.“ Er stellt klar: „I’m never going to love women.“ Obwohl Tommy eigentlich sein Freund ist, kann er nicht glauben, was er da hört: „Don’t be ridiculous.” Worauf ihm Guy die Seele bloßlegt: „It doesn’t come as any great revelation. It’s more like admitting to yourself something you’ve always known. It’s a great relief in some ways.” Und schluchzend: „In spite of your talk of fraternity and equality, you still believe some people are better than others because of the way they make love.”

Mit seiner ersehnten Karriere als Botschafter, das hat Guy ganz klar erkannt, ist es dahin: Man würde immer über ihn reden, selbst wenn er seine wahre Natur zeit seines Lebens zu verbergen versuchte.

Gegen Ende des Films wird von einem anderen Land gesungen: „Her ways are ways of gentleness and all her paths are peace.“ Gemeint ist die Sowjetunion, zu der Guy sich später gewandt haben wird. Gemeint sein könnte aber auch ein ganz anderes Land, eines, in dem keiner der Einwohner mehr gezwungen sein müsste, sich selbst zu verleugnen – ein Ort, der für schwule Männer wie Maurice und Guy vielleicht den Frieden bringen könnte.

Another Country (1984, Drama/Liebesfilm)

Regie: Marek Kanievska

Darsteller: Rupert Everett, Colin Firth, Michael Jenn, Robert Addie, Cary Elwes

Maurice (1987, Drama/Independent-Film)

Regie: James Ivory

Darsteller: James Wilby, Hugh Grant, Rupert Graves, Denholm Elliott, Simon Callow, Ben Kingsley

Der traurige Clown

Boulevard (2014)

Da wir uns in diesem Buch über dezidiert schwule Filmszenen unterhalten, sei mir zur Abwechslung einmal eine Referenz zu einem Musical erlaubt. Das Klischee, in dem wohl auch ein Körnchen Wahrheit liegt, glaubt ja zu wissen, dass Schwule sich ganz besonders für diese Gattung des Musiktheaters zu begeistern wissen. „Send in the clowns“ ist die Ballade betitelt, die die Hauptfigur Desiree in Stephen Sondheims Show A Little Night’s Music (1973) singt. Der Stoff gilt als musikalische Version von Ingmar Bergmanns Das Lächeln einer Sommernacht (1955), ist jedoch, trotz des Regisseurs, kein seelenschweres Drama, sondern eine Komödie. Also herbei mit den Clowns – doch Sondheim bezieht sich dabei, wie er in Interviews betonte, nicht auf die Spaßmacher im Zirkus, sondern auf die Narren, die Dummköpfe, die wir Menschen nun einmal alle seien. „O! I am Fortune’s fool”, ist Romeos Erkenntnis nach seinem unglückseligen Kampf mit Tybalt. So hart trifft es Desiree freilich nicht. Hingegen reflektiert sie in „Send in the clowns“ über ihre Sehnsüchte und Enttäuschungen, natürlich geht es dabei in erster Linie um ganz große Gefühle: Gerade als sie nach einem Leben voller Höhen und Tiefen ihre wahre Liebe gefunden zu haben glaubt, gerade als sie die metaphorische Tür zu eben diesem Mann öffnet, „with my usual flair“, folgt die bittere Erkenntnis: „… no one is there.“ Schwule Ikonen wie Barbra Streisand, Shirley Bassey und Cher haben das Lied mit wahrlich hingebungsvoller Inbrunst interpretiert, in der Filmadaption von Harold Prince aus 1977, die in Wien und der Wachau gedreht wurde, verkörperte Liz Taylor diese Rolle.

Die Narren des Lebens also, die Spaßmacher mit den Tränen der Wehmut in den Augen – einer von ihnen war Robin Williams in nicht wenigen seiner Rollen.

Williams, der Komiker der einsamen, tragischen, todtraurigen, der zutiefst verletzten Charakterstudien. Das Drama der Melancholie, die Seelen frisst: Er war John Irvings Garp und wie er die Welt sah (1982) in George Roy Hills Verfilmung, dem seine Familie das Wichtigste ist und der sie dennoch fast zerstört; er war der unkonventionell-empathische Lehrer in Peter Weirs Der Club der toten Dichter (1989) und das Moderatorenschandmaul Adrian Cronauer in Barry Levinsons Good Morning, Vietnam (1987); er träumte als Arzt im Kampf gegen die Schlafkrankheit in Penny Marshalls Zeit des Erwachens (1990) einen wahrlich unmöglichen Traum und hatte als erwachsener Peter Pan in Spielbergs Märchenfilm Hook (1991) das Fliegen verlernt; in Terry Gilliams König der Fischer (1991) suchte er nach dem Heiligen Gral und in Mark Romaneks Psychostudie One Hour Photo nach einer Ersatzfamilie.

In Dito Montiels Boulevard hat er nun seinen letzten Auftritt: Nolan Mack, ein sechzigjähriger Bankangestellter, der sich nach jahrzehntelanger Ehe endlich seine Homosexualität eingesteht. Wenn er auf dem Weg vom Pflegeheim, in dem er seinen nach einem Schlaganfall bettlägerigen Vater regelmäßig besucht, nach Hause zu seiner Frau fährt, ist von einem Lächeln in seinem Gesicht bestenfalls ein Anflug geblieben.

In dem Neo-Noir-Thriller Drive (2011) beobachtet der dänische Regisseur Nicholas Winding Refn Ryan Gosling als wortkargen Einzelgänger auf seinem ruhigen, fast entrückten Cruisen durch das nächtliche Los Angeles: die personifizierte Coolness. Robin Williams’ Nolan hat mit ihm nur die nächtlichen Autofahrten gemein. Er fährt langsam und vorsichtig, stets mit Bedacht, die Regeln des Verkehrs ebenso einhaltend wie jene, die den Ablauf seines Lebens bestimmen. Die alltäglichen Verrichtungen, die fünfundzwanzig Jahre an seinem Schreibtisch in der Bank, der Blick im Spiegel in die leeren Augen. „Are you happy?“ fragt ihn sein Vorgesetzter und erhält dafür nur eine Verlegenheitsantwort.

Boulevard entwickelt das Narrativ der Entgleisung dieses langweilig-organisierten Lebens wie in Zeitlupe. Bei seinen Fahrten hält Nolan manchmal an einer roten Ampel und beobachtet Prostituierte auf der anderen Straßenseite, einmal wendet er und fährt um ein Haar den jungen Stricher Leo (Roberto Aguire) nieder. Dass er niemandem etwas zuleide tun wolle, entschuldigt er sich und scheint im ersten Moment gar nicht zu verstehen, was der Bursche damit meint, als er ihn fragt, ob er ihn mitnehmen könne. Später, im Motelzimmer, die rührende Hilflosigkeit beim Kaffeemachen, nur um die Peinlichkeit zu überbrücken. Ob er ihn blasen wolle, fragt ihn Leo, der nicht so recht weiß, was sein Kunde denn nun wirklich im Sinn hat. „I’d rather look at you“, wehrt Nolan ab. „You’re nice to look at.“

Die Vernarrtheit eines alternden Mannes in die Jugend, in der er nicht zuletzt sein eigenes jüngeres Ich erkennt, und das Hadern angesichts der ungenutzten Möglichkeiten seines Lebens: ein Motiv, das sich durch die Literaturgeschichte zieht. „Am Narrenseile geleitet von der Passion“ wird schon Aschenbach in seiner Liebe zu der in seinen Augen geradezu unwirklichen Schönheit des Jünglings Tadzio in Thomas Manns Jahrhundertnovelle Der Tod in Venedig (1911). Fast zwei Jahrzehnte später verfällt in Josef von Sternbergs Heinrich-Mann-Bearbeitung Der blaue Engel (1930) Emil Jannings als Gymnasiallehrer Immanuel Rath, von seinen Schülern Professor Unrat genannt, mit Haut und Haar der von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellten Marlene Dietrich – eine „Amour fou“ ist das, die in einer Zwangsjacke und schließlich im Tode endet. Solcher Drastik verschließt sich Boulevard. Regisseur Montiel setzt auf die subtilen Zwischentöne seiner stillen Geschichte, die er sanft, zart, zärtlich und so unaufdringlich erzählt, wie seine Charaktere nun einmal sind: verletzliche Menschen in zerbrechlichen Beziehungen, die nichts so sehr vermeiden wollen, als einander zu verletzen, und die an diesem unmöglichen Ansinnen letztendlich doch scheitern.

Die lange Zeit uneingestandener Sehnsucht nach der Nähe zu einem anderen Mann, gleichzeitig die Angst, die Dämme, die über Jahrzehnte gehalten haben, könnten brechen: Die Begegnung mit Leo hat in Nolan Gefühle aufgewühlt, die er eigentlich verdrängt und begraben wähnte. Das Geschenk einer VHS-Kassette, die Erzählung über seine Mutter, das Angebot, kein Geld nehmen zu wollen – Gesten von Leos scheuer Dankbarkeit, als Nolan ihn gegen seinen gewalttätigen Zuhälter verteidigt und ihm eine Stelle als Kellner vermittelt. Nolan jedoch missinterpretiert sie als Zeichen echter Zuneigung und kann mit dem Aufwallen von Gefühlen in seinem Herzen nicht umgehen.

Am Bett seines teilnahmslosen Vaters setzt er zu einer Erzählung an, zu seiner Lebensbeichte. Der Sommer 1965, die Familie im Urlaub in einem Motel am Meer und ein Strand, an dem dem damals zwölfjährigen Nolan etwas bewusst wird: „I knew that all the wishing and praying in the world couldn’t change the fact that I was gay.“ Und die schmerzhafte Erkenntnis: „I didn’t do anything about it.“

Während Nolan spricht, kommt die Kamera ganz langsam auf ihn zu, bis zuletzt nur noch sein Gesicht im Bild ist – seine Augen, in denen sich all die Trauer über ein vergeudetes Leben spiegelt. „And suddenly I’m 60 years old. It’s like I’m still there, like nothing happened. Like I’m still waiting for something I felt was promised to me that day, something that never came.“ Der bittere Nachsatz, diese Einsicht, die ohne die Bekanntschaft mit Leo wohl nicht denkbar wäre: „And I’m angry about it.“

Nolan führt den Trinkhalm zum Mund des Vaters, der ihm die ganze Zeit mit starrer Miene zugehört hat. Dieser wendet den Kopf von ihm ab – ein Motiv, das kurz darauf in der Begegnung mit Leo eine Spiegelung erfahren soll. Nolans Frau Joy (Kathy Baker, stark in ihrer berührenden Zurückhaltung) ist übers Wochenende verreist, Leo ist bei Nolan zu Hause. Nolan macht für ihn Brote, sie schauen einen Western – als wäre eine solche Art von Alltag zwischen ihnen überhaupt möglich. Dann stehen sie einander gegenüber, und Nolan berührt Leo zum ersten Mal. Er umarmt ihn, er schließt dabei die Augen. Sein Gesicht, die ganze Haltung seines Körpers entspannt sich, da tritt Leo von ihm zurück und öffnet die Schnalle seines Gürtels. Dass er das nicht wolle, meint Nolan, ihm genüge die Nähe zu ihm. Doch Leo ist nur zum bezahlten Sex bereit, die Umarmung lehnt er ab.

„It can’t be nothing, Leo“, begehrt Nolan auf: Dass sie sich getroffen hätten, all das, was sich zwischen ihnen entwickelt hätte: „We’re here for a reason.“ Doch Leos Worte stoßen ihn zurück: „It means nothing.“