Gazelle und Schakal - Bianca M. Riescher - E-Book

Gazelle und Schakal E-Book

Bianca M. Riescher

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Beschreibung

Neugierig auf ein romantisches Sword & Sorcery Abenteuer? Dann folge einer jungen Nomadin, die sich in der Wüste von Dschanor gegen Dämonen, Wüstenräuber und Sklavenjäger behaupten muss. Das Leben ist wunderbar, denkt die 17-jährige Thiyya. Heiraten und die Herrin im eigenen Zelt werden sind verlockende Aussichten für die Zukunft, vor allem als der junge, elegante Amenai um ihre Hand anhält. Doch kurz nach seiner Ankunft überfallen die berüchtigten Schakale der Wüste das Lager ihrer Familie. Unversehens finden sich Thiyya und Amenai auf einer gefahrvollen Reise durch die Wüste von Dschanor wieder, die sie auf die Spur des magischen Smaragds der Kriegsgöttin führt. Wird es ihnen gemeinsam gelingen, allen Gefahren der Wüste zu trotzen und mit Hilfe des Smaragds das Rätsel um Amenais verschwundene Eltern zu lösen?

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Inhalt

1 Am Brunnenvon ShamʼSa

2 Im Zeltlagerder Isaan

3 Im Labyrinthvon IlʼIzu

4 Die Dünen von Jigidor

5 In der Oase von Meddur

6 Aufbruch nach Timdschad

7 Das Wadi Timdschad

8 Der verfallene Tempel

9 Ankunft in KʼMar

10 Im Hafen von KʼMar

11 Der Bewässerungstunnel

12 In ShaʼNar

13 Die Große Barriere

14 Die Eishöhle

15 Zum Heiligen Berg von SaïfaʼHar

Epilog

Glossar

Am Brunnen von ShamʼSa

Wind fegte über die Wüste und wirbelte feinen Staub auf, der sich am Horizont mit dem Blau des Himmels vermischte. Die Große Ebene von Dschanor verschwamm in konturlosem Flimmern, durch das ein verschleierter Reiter auf einem hochbeinigen Dromedar ritt.

Amenai hielt sein Mehari an, beschattete die Augen und suchte den Horizont ab, bis er fand, was er suchte. Sein Blick blieb an einer winzigen Störung in der Gleichförmigkeit der Ebene hängen. Wie die Gipfel einer bergigen Insel reckten sich die Felsen von ShamʼSa aus der wabernden Hitze.

Er stieß ein zufriedenes Brummen aus, kniff die Augen zusammen und zog den Gesichtsschleier, der nachlässig heruntergerutscht war, über Mund und Nase, um sich vor dem staubbeladenen Wind zu schützen. Mit einem aufmunternden Zungenschnalzen trieb er sein Reittier wieder an. Nicht mehr lange und er hatte die Zelte der Isaan erreicht, die am Brunnen von ShamʼSa lagerten.

Die gleißende Mittagsglut verwischte die Umrisse der Felsen, denen er sich näherte. So kurz vor seinem Ziel verzichtete er auf eine Rast, obwohl er jetzt, während der heißesten Tageszeit, durch jede zusätzliche Bewegung zu viel kostbares Wasser verbrauchte.

Die Mittagshitze, in der selbst die wilden Gazellen ruhten, war kaum vorüber, als er zu dem schmalen Zugang gelangte, der zum Brunnen von ShamʼSa führte. Wohltuender Schatten empfing ihn in der Schlucht zwischen den hoch aufragenden Felstürmen. Amenai sog die kühle Luft in seine Lunge und genoss es, der Hitze und dem Staub der Ebene für kurze Zeit entkommen zu sein. Selbst sein Mehari schritt nun schneller aus.

Der Weg führte ihn allmählich immer höher und bald müsste er das Plateau erreicht haben.

Amenai stutzte. Dort, hinter der nächsten Biegung, hörte er ein Knirschen. Von einem Tier oder einem Menschen? Das kaum wahrnehmbare Geräusch erinnerte ihn an das Zermalmen eines Steins unter einer Ledersohle.

Jetzt noch einmal. Nein, kein Tier. Diesmal meinte er, das Klacken aneinanderstoßender Kiesel gehört zu haben. Das musste der Wächter gewesen sein, der den Weg zum Brunnen bewachte und sich gerade zurückzog, um das Erscheinen eines Besuchers anzukündigen.

Ohne sein Dromedar niederknien zu lassen, sprang Amenai aus dem Sattel. Rasch legte er den Schwertgurt ab und zog sein verstaubtes Übergewand und den Takesht aus. Aus einer Satteltasche kramte er frische Kleidung. Nachdem er in angemessen sauberes Dunkelblau gekleidet war, suchte er nach der handtellergroßen, polierten Bronzescheibe, um den Sitz des neuen, noch strahlend weißen Gesichtsschleiers zu kontrollieren. Nervös zupfte Amenai den Takesht zurecht. Ein lose herabhängendes Ende steckte er unter einer Stofffalte fest und betrachtete sich noch einmal gründlich im Spiegel. Perfekt. Von seinem Gesicht waren nur noch die Augen zu sehen. Sein Äußeres würde der strengen Überprüfung, die ihn unweigerlich im Zeltlager erwartete, standhalten.

Er stopfte die Bronzeplatte, den alten Gesichtsschleier und sein abgelegtes Gewand zurück in die Satteltasche, tätschelte seinem Dromedar den langen Hals und rückte die Muschel des Brautwerbers, die am Halfter befestigt war, nach vorn, damit sie sofort erkannt werden konnte.

Sorgfältig legte er den Schwertgurt wieder um. Ein rascher Griff an das Heft des Schwertes beruhigte ihn. Es muss gelingen. Alles hing davon ab, ob er den Clan der Isaan trotz seiner Jugend überzeugen konnte, ein angemessener Heiratskandidat zu sein.

Zum Glück sah niemand sein angespanntes Grinsen, das der Gesichtsschleier verbarg.

Was hat Udad gesagt? Sei einfach du selbst. Der hat leicht reden; Udad muss ja auch keine traditionsverkrusteten Isaan überzeugen.

Das Bellen eines Schakals – oder vielmehr das, wofür es ein unerwarteter Besucher halten sollte – warf ein mehrstimmiges Echo durch die Schlucht.

»Ah, meine Begrüßung«, murmelte er. »Dann los.« Er schnalzte mit der Zunge und zog sein Mehari am Führstrick den gewundenen Pfad entlang hinter sich her, bis das Felslabyrinth Amenai aus dem tröstlichen Halbdunkel, hinaus unter die gnadenlose Sonne der Großen Ebene, entließ. Das Plateau mit dem Brunnen von ShamʼSa lag vor ihm. Er zählte ein halbes Dutzend Zelte, vor denen sich bereits sechs misstrauische Männer versammelt hatten, um den fremden Besucher zu empfangen.

In der gebotenen Entfernung von zwanzig Doppelschritten vor dem ersten Zelt hielt Amenai an, ließ sein Dromedar niederknien und wartete.

Thiyya schob den Stoff, der den Zugang zu dem Zelt ihrer Mutter verschloss, ein wenig zur Seite und blickte hinaus.

Hinter ihr drängelten ihre Schwester Maryama und ihre Cousine Hadda, um auch einen Blick auf den Reiter zu werfen, der vor dem Lager wartete.

»Lass mich auch sehen, Thiyya.« Maryama knuffte den Ellbogen in Thiyyas Rücken. »Wie sieht er aus?« Geschickt schlängelte sich ihre Schwester vorbei und streckte die vorwitzige Nase aus dem Zelt.

»Sei nicht so neugierig«, schimpfte Hadda.

Der Tadel klang nicht sehr überzeugend. Wie auch? Thiyya kam ja ebenfalls fast um vor Neugierde auf den Besucher, was sie Hadda und Maryama gegenüber aber niemals zugegeben hätte. Vor allem, wenn es sich um einen Wüstenkrieger handelte, der dem Anschein nach jung und kräftig war und die Muschel eines Brautwerbers am Halfter seines Meharis befestigt hatte.

»Ob der wegen mir gekommen ist? «Hadda gluckste und drückte jetzt auch noch gegen Thiyyas Rücken. »Was macht er? Lassen ihn die Männer ins Lager? Jetzt sag schon: Wie sieht er aus?«

»Macht, dass ihr da wegkommt!«

Erschrocken fuhr Thiyya herum. Ihre Mutter Jimani stand mit in den Hüften gestemmten Händen hinter ihnen. »Ihr dummen Ziegen werdet es noch früh genug erfahren, um wessen Gunst er wirbt.« Ihre Armreifen klimperten anklagend als sie beide Hände resigniert zum Himmel hob. »IkashʼKasan steh mir bei. Drei heiratswütige Mädchen, die es nicht erwarten können, dem erstbesten Kamelreiter hinterherzulaufen.« Kopfschüttelnd scheuchte sie die Mädchen zur Kochstelle im Frauenbereich des Zeltes. »Maryama, du putzt das Gemüse! Thiyya, du bereitest den Tee! Hadda! Steh nicht so faul herum und schüttel die Sitzkissen auf.«

Maryama streckte Thiyya die Zunge heraus. »Bestimmt will er mich heiraten. Ich sehe viel besser aus als du.«

Gerade noch hinderte Thiyya sich selbst daran, ihrer kleinen Schwester ebenfalls die Zunge zu zeigen. »Dumme Zippe. Wegen dir kommt er bestimmt nicht. Du bist viel zu jung. Ich bin immerhin drei Sommer älter als du.« Würdevoll, wie sie meinte, straffte Thiyya ihre Schultern und schritt mit hoch erhobenem Kopf hinter ihrer Mutter her, um zu beweisen, dass sie viel vernünftiger und verantwortungsbewusster als Maryama war.

»Bis jetzt sind sie aber alle wegen dir gekommen, Thiyya. Nur weil du älter bist als ich. Aber ich bin auch schon alt genug, um zu heiraten. Immerhin schon vierzehn Sommer. Mutter war auch nicht viel älter, als sie geheiratet hat«, sagte Maryama und verzog ihren hübschen Mund zu einem Schmollen.

Mit einem schrillen Lachen warf Hadda ihren Kopf zurück. »Bestimmt ist er alt und hässlich. Dann gönne ich ihn euch gerne.«

Aber Thiyya glaubte nicht, dass er alt war, denn er bewegte sich kraftvoll und geschmeidig. Er musste einfach genauso jung und hübsch sein wie sein schlankes Dromedar. Etwas anderes wollte sie sie sich erst gar nicht vorstellen. Wenn die Brautgabe so wertvoll war wie sein weißes Reittier, dann würde er sicherlich Vaters Forderungen für eine seiner Töchter erfüllen können.

Sie setzte sich neben ihre Mutter und schürte das Feuer. Die Flammen loderten auf und sie träumte davon, endlich Herrin in einem eigenen Zelt zu sein, die vielleicht sogar über kreedanische Sklaven gebot; umworben von einem jungen, mutigen Krieger, der ihre Schönheit in Liedern besang. Sie meinte, schon den schweren Silberschmuck einer verheirateten, freien Tarqit um ihren Hals zu spüren.

Das ungeduldige Fingerschnipsen ihrer Mutter riss Thiyya aus ihrem Tagtraum. Hastig setzte sie die Kanne mit Wasser auf das Feuer und nahm eine reichliche Handvoll Pfefferminzblätter aus dem Vorratssack.

Keinen Augenblick zu früh, denn ihr Vater schlug den Stoff am Zelteingang zurück und führte den fremden Besucher in das Zelt, gefolgt von sämtlichen erwachsenen Männern des Lagers.

Thiyya starrte unverhohlen den Besucher an. Der fremde Wüstenkrieger war schlank und mindestens sechs Fuß und eine Handbreit hoch, so groß wie ihr Vater. An seinem dunkelblauen, weiten Gewand konnte sie weder Staub noch Schmutz entdecken. Der weiße Takesht verbarg sein Gesicht bis auf die wundervollen Augen, die in dem hellen honigbraun einer reifen Königsdattel leuchteten. Und er schien wirklich jung zu sein, denn seine fließenden Bewegungen ließen auf Kraft und Ausdauer schließen. Sie hoffte es zumindest.

»Sei willkommen als Gast in diesem Zelt, Amenai.« Irat, ihr Vater, deutete auf eines der Kissen, die in einem Kreis in der Mitte des Zeltes angeordnet waren. Der Besucher setzte sich, genau dem Frauenbereich gegenüber, sodass Thiyya ihn trotz der fünf Doppelschritte, die er entfernt saß, immer noch direkt ansehen konnte.

Thiyya schnappte nach Luft. Hat er mir zugezwinkert?

»Thiyya!«

Auf den Ruf ihrer Mutter hin senkte sie ihren Blick, wie es sich für ein pflichtbewusstes Mädchen geziemte, und stellte die Tonbecher für den Pfefferminztee auf einem Tablett bereit. Doch ihre gesamte Aufmerksamkeit galt dem Gespräch der Männer.

»Was führt dich zu uns?«, fragte ihr Vater.

Thiyya verdrehte die Augen. Sind der weiße Takesht und die Muschel nicht eindeutig genug? Sie balancierte das Tablett mit dem Tee zwischen die Männer und verteilte die Becher.

»Die Poeten besingen die Schönheit deiner Tochter Thiyya.«

Ja, seine Stimme klingt jung und angenehm. Bescheiden senkte Thiyya den Kopf, bemerkte aber aus dem Augenwinkel, dass die Honigaugen des Fremden sie schon wieder direkt ansahen. Er ist tatsächlich meinetwegen gekommen. Thiyyas Herz hüpfte vor Begeisterung.

Mit einem vorsichtigen Lächeln reichte sie ihm den heißen Tee, den er mit einem Nicken annahm und dabei den Becher unnötigerweise am unteren Rand umfasste, um wie unbeabsichtigt ihre Finger zu streifen. Thiyya unterdrückte ihr überraschtes Keuchen und flüchtete in den Frauenbereich des Zeltes.

Was hat er gewagt? Sie betrachtete ihre Hand, über die ein Widerhall seiner zarten Berührung kribbelte.

Ein Knuff in ihre Seite ließ sie hochschrecken. »Was ist, Thiyya?«

Sie sah ihre Schwester an. »Er hat mich angesehen und sogar berührt, Maryama.« Stolz streckte sie ihre Hand aus. »Dort.«

»Schade, und ich dachte, es käme endlich einer wegen mir. Aber hör doch, sie sprechen gerade über dich.«

Ihr Vater nickte dem Gast zu. »Wer bist du? Wo steht dein Zelt? Zu welchem Clan gehört deine Mutter? Was bietest du für meine Tochter?«

Die rituellen Fragen ihres Vaters an den Brautwerber ließen Thiyya aufhorchen.

»Mein Zelt steht in der Ebene von Ajjedig. Meine Mutter ist tot, aber mein Großvater gehörte zum Clan der Iʼmosh, der das heilige Schwert IkashʼKasans hütet.«

Wohlwollendes Raunen der anwesenden Krieger erklang.

»Ich kannte einen Krieger namens Tekat vom Clan der Iʼmosh.«

»Er war mein Großvater«, antwortete der Besucher auf die nicht ausgesprochene Frage, die in der Bemerkung mitschwang.

Thiyya hielt den Atem an. Er gehörte dem angesehensten Clan der Großen Ebene an. Sie konnte es kaum glauben. Ein stolzer Reiter und kühner Krieger warb um sie.

Ihr Vater schien zufrieden, denn er nickte kurz. »Nun, wie lautet dein Gebot, Enkel von Tekat? «

Sie knetete ihre Hände und hoffte, die Brautgabe stellte ihren Vater zufrieden.

»Ich biete: drei Qadima des reinen Salzes von Tanut, zwei weiße Reitkamele und einen kreedanischen Sklaven.«

Oh, bitte Vater, sag ja.

Es schien ihr das Herz zu zerreißen, viel zu lange wartete ihr Vater mit seiner Antwort. Sie fröstelte, denn bisher hatten nur alte Männer um sie geworben. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass sich ein Brautbewerber aus dem Clan der Iʼmosh für sie interessieren könnte, was bestimmt die Entscheidung ihres Vaters beeinflussen würde, wenn er beim Fest zu Ehren des Kriegsgottes ihren Bräutigam auswählte.

Ihr Blick schweifte zu dem Besucher. Sie wusste, dass ein Sohn Tekats einmal der Hüter des Heiligen Schwertes gewesen war. Tareq! Genau. Der Name des Hüters war Tareq.

Sie erinnerte sich an die spannenden Lieder, die sie von einem fahrenden Sänger über diesen berühmten DschaʼSaïf gehört hatte. Wenn Tekat sein Großvater war, dann musste er also ein Neffe von Tareq sein.

Ob auch er ein auserwählter Krieger von IkashʼKasan ist? Thiyya schüttelte den Kopf. Dazu schien er viel zu jung. Und sie erinnerte sich, dass die Kämpfer des Kriegsgottes einen roten Takesht trugen, selbst dann, wenn sie um eine Braut warben. Trotzdem konnte sie ihr Glück kaum fassen. Ein Mann aus einer ruhmreichen Familie wollte sie heiraten, wo sie selbst doch nur einem unbedeutenden Clan angehörte.

Er zwinkerte ihr zu und sie meinte, bis unter die Haarspitzen zu erröten.

Wie hat Vater ihn genannt? Amenai? Was für ein herrlicher Name!

Schnell wandte sie den Kopf ab und fing den Blick ihres Vaters auf. Seine Augen blinzelten ihr zu, als frage er sie tatsächlich nach ihrer Meinung. Sie lächelte bescheiden und senkte wie zustimmend den Kopf.

Irat brummte etwas Unverständliches, nickte und schien einen Entschluss gefasst zu haben. »Du bist noch jung und die Wahl des Bräutigams meiner ältesten Tochter muss wohl überlegt sein.« Er machte eine Pause. »Nein. Ein einfacher Sklave ist nicht ausreichend. Ich verlange eine junge, blonde, kreedanische Aleschu.«

Thiyya stockte der Atem und sie schloss die Augen. Wie konnte ihr Vater noch mehr fordern? Der Fremde bot doch schon mehr als alle anderen vor ihm.

»Mach die Augen auf, Thiyya.« Ihre Schwester rüttelte an ihrem Arm. »Er hat zugestimmt. Sieh doch.«

Tatsächlich. Der Brautwerber berührte Irats Handfläche. »Beim Fest des ersten Wintermondes werde ich mit dem vereinbarten Preis wiederkommen und mich deiner Entscheidung unterwerfen, Irat.«

Der Krieger brachte ihrem Vater mit den rituellen Worten den erwarteten Respekt entgegen. Sie atmete erleichtert aus. Thiyya wusste, wie wichtig ihrem Vater Traditionen und Rituale waren, und dieser Bewerber hatte alle tadellos befolgt.

Maryama klatschte leise in die Hände »Ach, wenn er doch nur meinetwegen gekommen wäre. Er sieht einfach fantastisch aus. Aber ich überlasse ihn dir gerne.«

Hadda umarmte Thiyya, doch so, wie sie ihre Cousine einschätzte, war sie nicht ganz so gönnerhaft wie ihre Schwester, versuchte den Neid aber zumindest zu verstecken.

Irat winkte seiner Tochter. »Komm her.«

Gehorsam trat sie näher.

»Sieh her. Dieser tapfere Kämpfer vom Clan der Iʼmosh hat Gefallen an dir gefunden. Sag mir jetzt, Tochter, ob du ihm gestattest, zu den Bewerbern um deine Gunst zu gehören.«

Noch mehr förmliche Traditionen und rituelle Worte, aber das war ihr egal. Endlich warb ein Krieger um sie, der auch ihr gefiel. Thiyya sah zu ihrer Mutter, die stumm nickte und ihr sogar ein Lächeln schenkte. Maryama und Hadda kicherten und stießen sich gegenseitig die Ellbogen in die Rippen.

Mit einem tiefen Atemzug drehte sie sich um und sah den Brautwerber an. In seinen Augen stand ein Lächeln.

Ob er mir jemals sein Gesicht zeigen wird? Sie hatte von vornehmen Tarqit gehört, bei denen der Mann selbst vor der eigenen Frau den Takesht trug. Unwillkürlich musste sie grinsen. Ich werde ihn schon dazu bringen, sich mir zu zeigen. Vielleicht sogar noch vor dem Winterfest.

»Ja, Vater. «Demütig senkte sie den Kopf. »Ich willige ein.«

»Gibt es einen anderen Gott außer Lorqat, dem Schützen? Nein. Niemand ist wie mein Gott. Wo immer Lorqat ist, dahin werde ich ihm folgen.« Der alte Mann kniete vor dem Altar in seiner Hütte und hob beschwörend seine Hände zu der kaum eine Elle hohen, grob geschnitzten Figur eines Bogenschützen, die vor ihm stand. »Dein demütiger Diener erbittet eine Gunst.« Er warf eine Handvoll Kräuter in die Flammen. Sie schimmerten blau und Qualm kräuselte sich zur Decke, breitete sich in der kargen Hütte aus, um schließlich auch den Mann zu umhüllen.

»Lorqat, der du aus der Vereinigung von Yenaya und IkashʼKasan entstanden bist und als der Schütze Rache in die Herzen der Menschen schickst, sende deinem ergebenem Diener den allsehenden Falken.«

Kleine Blitze zuckten aus dem blauen Dunst und leckten über den mageren Körper des Mannes. Tasteten gierig über die Haut, sogen den Schweiß auf, der auf dem kahlen Schädel des Mannes glänzte, und schienen dem Alten mit jedem Zucken ein wenig seiner Lebenskraft zu rauben.

Der Alte zitterte, streckte aber weiterhin seine Arme beschwörend der Götterfigur entgegen und ertrug die hungrigen Blitze. Trotz der Anstrengung grunzte er zufrieden, schloss die Augen und atmete die aromatischen Dämpfe des Traumkrautes ein, um sich auf die Reise zu begeben.

Unter den verschneiten Wipfeln von schwarzen Tannen breiteten sich durchscheinende Schattenschwingen aus, schlugen in gleichmäßigem Takt und trugen den Schemen über die Gipfel der Berge. Unter ihm glitten Wälder und Hügel vorbei, bis er die Ebene erreichte. Im hellen Schein der Wüstensonne verwandelte sich der Schatten in einen Wüstenfalken, der über die Dünen und Sandflächen schwebte. Als die Sonne im Zenit stand, erreichte der Vogel einen Brunnen. Aufmerksam kreiste er über den Zelten, beobachtete, suchte und fand unter all den winzigen Menschen den einen, nachdem er gesucht hatte.

Thiyya lag wach auf ihrem Lager, wälzte sich auf die Seite und starrte in die Dunkelheit. Wie es wohl ist, verheiratet zu sein? In der Schwärze des Zeltes hörte sie das entfernte Schnarchen ihres Vaters und unverständliches Murmeln von Maryama, die neben ihr schlief. Wovon ihre kleine Schwester wohl träumte? Bestimmt von dem eleganten Kamelreiter auf seinem weißen Dromedar. Maryama und Hadda konnten es ja auch kaum abwarten, endlich zu heiraten.

Thiyya strampelte die Schlafdecke herunter, rollte auf den Rücken und schloss die Augen. Aber er ist wegen mir gekommen. Wegen mir. Nicht wegen Maryama. Sie grinste und genoss das herrliche Gefühl begehrt zu werden. Er will mich. Eine Gänsehaut kribbelte über ihre nackten Beine und sie deckte sich wieder zu. Einen jungen, tapferen Krieger wie Amenai wollte sie gern in ihrem Zelt begrüßen. Und für Vater gibt es keinen Grund, einen Brautwerber aus einer angesehenen Familie zurückzuweisen. Thiyya seufzte und drehte sich auf die andere Seite. Vater muss ihn einfach für mich auswählen.

Sie vergrub ihr Gesicht in einer Falte der Decke. Wie lange war es eigentlich her, dass ihr Vater beschlossen hatte, sie solle heiraten? Ihr kam es wie eine Ewigkeit vor. Und jetzt? Das Fest der Wintermonde rückte näher, und sie bekam bald schon ihr eigenes Zelt. Sie horchte in ihr Herz, das viel zu laut schlug und immer noch den Schlaf vertrieb.

Thiyya war sich sicher, dass Amenai genau der Richtige war, den sie in ihr Zelt einladen wollte. Die Zeichen standen gut, denn nach dem Essen hatte ihr Vater ihm die Erlaubnis gegeben, mit ihr zu sprechen. Sie schloss die Hand um das Amulett, das er ihr geschenkt hatte. Von der kleinen, aus blauem Stein geschnittenen Gazelle schien Wärme auszugehen, wie von den Worten, die er an sie gerichtet hatte. Sie habe die sanften Augen einer Gazelle, hatte er gesagt. Bedeutet das, er findet mich schön?

Und sie erinnerte sich an seinen Geruch nach Pfefferminztee und Zimt, so nah war er ihr gekommen, als er das lederne Band mit dem Anhänger um ihren Hals legte.

Das Gastmahl war nicht von langer Dauer gewesen, denn ihr Brautwerber wollte gleich im Morgengrauen aufbrechen.

Bald erscheint der erste Wintermond und Vater wird ihn auswählen, beruhigte sie sich selbst. Denn etwas anderes wollte sie sich gar nicht vorstellen.

Allmählich glitt Thiyya in einen leichten Schlaf, in dem sie wusste, dass sie von dem jungen Krieger träumte: Seine hellbraunen Augen begleiteten sie bis zum Heiligen Berg von SaïfaʼHar. Hand in Hand standen sie vor dem Obersten Priester. Thiyya hörte die rituellen Gesänge und spürte die alles verzehrende Glut des Kriegsgottes. Die Musik und die Hitze schwollen an, schlugen über ihr zusammen und mündeten in einem misstönenden Kreischen. Kalter Schweiß bedeckte ihren Körper und ließ sie frösteln. Eine warme Hand legte sich auf ihre Wange und Thiyya meinte, dass sie Amenai gehörte.

»Wach auf! Thiyya! Wach auf!« Maryama kniete im Schein eines kleinen Öllichts an ihrem Lager und rüttelten an ihrer Schulter.

Thiyya blinzelte. »Was ist denn?«, murmelte sie enttäuscht, so unsanft aus ihrem Traum herausgerissen zu werden.

Maryama schrie sie an. »Räuber! Dummkopf. Jetzt steh endlich auf.«

Räuber? Sie schreckte hoch und sah in die angstgeweiteten Augen ihrer Schwester, die immer noch an ihrer Schulter zerrte. Vor dem Zelt erklangen Schreie und Flüche.

Die Schakale der Wüste. Der harte Klang der Schwerter, die aufeinandertrafen, bestätigten Maryamas Worte. Das Lager wurde angegriffen. Der Kampflärm schmerzte in Thiyyas Ohren, die sie sich am liebsten zugehalten hätte.

Jimani schob die Abtrennung zum Schlafbereich der Mädchen zur Seite. »Maryama, ist Thiyya endlich wach? Kommt! Wir müssen uns verstecken.« Sie winkte mit der Hand, dass ihre Töchter mit ihr kommen sollten. »Schnell!«

Benommen ließ sich Thiyya von Maryama an der Hand aus dem Zelt ziehen. Sie stolperte, fing sich wieder und prallte vor dem Chaos, das sie draußen empfing, zurück.

Dort kämpften ihre Onkel Seite an Seite mit Haddas Bruder gegen zwei Wüstenräuber.

Wo ist Vater?

Thiyya stolperte an weiteren Kämpfern vorbei. Die Männer wehrten sich halb nackt gegen die tiefschwarz vermummte Gestalten. Der Name des Kriegsgottes ertönte mit jedem Schwerthieb und begleitete das Kreischen der Klingen. Die Krieger warfen den menschlichen Schakalen ihre Flüche entgegen, die doch nichts nutzten. Wie sollte auch ihr kleines halbes Dutzend kampferprobter Männer gegen fast doppelt so viele Räuber bestehen können?

Thiyya sah einen riesenhaften Mann gelassen an den Kämpfenden vorbeischlendern, als sei er schon der Sieger des Überfalls. Er betrat das Zelt ihrer Tante, während ein Teil der Angreifer bereits ihre Beute zu den Dromedaren schleppte.

Furcht krampfte ihren Magen zusammen, als sie daran dachte, was geschehen mochte, wenn die Wüstenräuber siegten. Thiyya blieb kaum genügend Zeit, den Kampfplatz eingehender zu beobachten, denn ihre Schwester zog sie weiter. Doch Thiyya suchte ihn, ihren tapferen Kamelreiter.

Wo ist Amenai? Sie musste es wissen. Ihm durfte nichts geschehen. Thiyya blieb stehen und schüttelte Maryamas Hand ab. Sie konnte ihn nirgendwo entdecken. Er darf nicht tot sein.

Maryama und ihre Mutter rannten weiter und kümmerten sich nicht darum oder bemerkten es nicht, wie Thiyya in die andere Richtung lief, in einem Kreis um das Durcheinander der kämpfenden Männer herum, und nach dem tapferen Krieger aus ihrem Traum suchte. Sie duckte sich, als ein Schakal mit Beuteln beladen aus dem Zelt ihrer Mutter herauskam. Sie kauerte sich an die Zeltwand und hoffte, dass der Räuber sie nicht bemerkte. Er drehte sich kurz um und sie meinte, ihr Herz bliebe stehen, als er genau in ihre Richtung sah. Obwohl der Räuber sie nicht beachtete, schnürte die Angst ihre Kehle zu.

Sie zwang sich zu einigen tiefen Atemzügen und versuchte, das wilde Schlagen ihres Herzens zu beruhigen. Sie richtete sich auf und lief wieder los. Wo war Amenai? Das Chaos der kämpfenden Männer wogte bis in die Nähe des Brunnens. Dort. Sein weißer Takesht. Das war Amenai. Jetzt hielt er das Schwert hoch erhoben zum nächsten Schlag, der … sie weigerte sich, es zu glauben. Sie schloss die Augen, zählte bis drei und sah noch einmal genauer hin. Sie hatte sich nicht getäuscht.

Er kämpft gegen Vater? Die Erkenntnis traf sie wie ein Schwerthieb. Er ist ein Schakal der Wüste? Ein Ausgestoßener! Sie würgte den aufsteigenden Ekel hinunter. Und er hat mich berührt.

Mit dem nächsten Schlag flog Irats Schwert zur Seite.

»Nein!« Thiyya rannte los, sah noch, wie ihr Vater zurückwich und stürzte. Seine Hand tastete nach dem verlorenen Schwert, aber es lag weit außerhalb seiner Reichweite.

Der Mistkerl stand drohend vor ihrem Vater, das Schwert zum letzten Schlag erhoben.

Er wird ihn töten.

Nur ein Schritt trennte sie noch von den beiden Männern. Ohne einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden, hob sie das fallengelassene Schwert auf und sprang mit einem lauten Schrei schützend vor ihren Vater. Unbeholfen fuchtelte sie mit der Klinge herum, versuchte den Bastard auf Abstand zu halten. Wenn sie es nur schaffen würde, ihren Vater zu retten.

Amenai schmunzelte. Bei Yenaya, ich kann doch kein kleines Mädchen aufspießen.

»Dummes Ding. Geh zur Seite, sonst tust du dir noch weh.«

Das Mädchen schwang das Schwert direkt vor seiner Nase, und wenn er nicht reagierte, würde sie ihm vielleicht sogar ein oder zwei Narben verpassen. Oder auch nicht. Denn ihre zarten Hände, die das Heft umschlossen, zitterten. Lange konnte sie mit dem schweren Schwert nicht mehr herumfuchteln. Vorsichtig, um sie nicht versehentlich zu verletzen, parierte er ihre zaghaften Stiche in seine Richtung. »Lass den Unsinn, Kleine.«

»Thiyya, nein.« Der besiegte Irat stemmte sich auf die Ellbogen hoch. »Wage es nicht, meiner Tochter auch nur ein Haar zu krümmen, Verräter!«

Vater würde mir die Ohren abschneiden, wenn ich das täte. Amenai grinste. Aber das weiß Irat ja nicht. Und eine kleine Drohung kann ja nicht schaden.

Er trieb das Mädchen mit ein paar harmlosen Schwerthieben zurück. »Bleib liegen, alter Mann. Ich töte sie – oder dich – nur, wenn du mich dazu zwingst.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, trat er rasch auf Irat zu und hielt ihm die Klinge an die Kehle. »Glaube nicht, dass ich nicht zwei Gegner zugleich besiegen könnte.« Er lachte. »Vor allem, wenn einer davon nur ein kleines Mädchen ist. Und der andere ein alter Mann.«

Irat wich vor der Schwertspitze an seinem Hals zurück und ließ sich in den Sand zurückfallen.

»Eine kluge Entscheidung, alter Mann.« Amenai senkte gerade seine Waffe, als ein wütendes Schnauben seine Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen lenkte.

Sie konnte das viel zu große Schwert kaum noch halten, deutete mit der zitternden Spitze auf seine Brust. »Du warst der Kundschafter, oder? Alles was du gesagt hast, war gelogen.« Thiyyas Stimme überschlug sich.

Er zuckte mit den Achseln. »Nicht alles.« Ich finde dich wirklich ganz hübsch.

Von der anderen Seite des Brunnens erklang ein Pfiff. Das Zeichen zum Rückzug. Aus dem Augenwinkel sah er, wie seine Waffenbrüder die Beute auf die Dromedare luden. Die ersten brachen bereits auf, hinaus in den Schutz der Wüste.

Kella kam auf ihn zu und winkte. »Komm schon, Amenai. Wir sind hier fertig.«

»Sofort. Ich muss erst noch den letzten grimmigen Kämpfer besiegen. Du siehst doch, dass sie mit mir kämpfen will.«

»Lass den Unsinn. Udad wartet nicht.« Kella zupfte mahnend an seinem Ärmel und verschwand dann auch in der Dunkelheit.

Amenai nickte, steckte das Schwert in die Scheide und trat einen Schritt zurück. »Schade, aber wir müssen unseren kleinen Kampf wohl ausfallen lassen.« Er senkte den Kopf und sprach zu sich selbst. »Wirklich schade.« Ich hätte dich bestimmt gern näher kennengelernt.

Das Mädchen stieß einen erleichterten Seufzer aus und ließ die schwere Klinge in den Sand sinken.

»Tut mir leid, Kleine.« Er drehte sich um und ging zielstrebig auf sein Mehari zu.

»Warte!«

Überrascht von dem scharfen Ton in ihrer Stimme, blieb er stehen und wandte sich um.

Thiyya streifte das Lederband, an dem sein Amulett hing, über ihren Kopf und warf es ihm vor die Füße. »Du hast das hier vergessen.«

»Du kannst es behalten, kleine Gazelle.« Amenai ließ sie stehen. Er musste sich beeilen, bevor die Krieger des Zeltlagers bemerkten, dass er zurückgeblieben war.

Kella hat recht. Udad wartet nicht. Ihm ist es egal, wenn sie mich wie einen räudigen Hund erschlagen.

Er durchschnitt die Fußfesseln seines Reittiers. Ein Knirschen hinter seinem Rücken ließ ihn herumfahren.

Amenais rechte Schläfe pochte unerträglich und das Blut rauschte in seinen Ohren. Aber neben den stechenden und hämmernden Schmerzen, die in seinem Kopf um Aufmerksamkeit wetteiferten, hörte er noch etwas anderes. In das wummernde Pulsieren mischten sich Stimmen. Jemand sprach. Mit ihm? Er konzentrierte sich.

Eine Stimmen löste sich aus dem Rauschen. »Das müssen Udads Schakale gewesen sein. Ja. Sie kommen in der Nacht, schalten die Wächter aus, rauben und verschwinden wieder in der Wüste.«

»Und nur Udad wäre so verwegen, ein Lager am Brunnen von ShamʼSa zu überfallen.«

Der nächste Sprecher klang ebenso gedämpft in Amenais Ohren, als stecke sein Kopf unter einer Decke. Wenigstens milderten sich die Schmerzen und er erinnerte sich langsam daran, was geschehen war.

Wo …? Ich muss ohnmächtig gewesen sein. Ich wollte gerade mein Mehari besteigen, bevor …? Am Brunnen von ShamʼSa … da war ein Knirschen und dann … Amenai wollte seine Hand heben, um zu fühlen, ob der Schlag, den er abbekommen haben musste, so schlimm war, wie er sich anfühlte. Es ging nicht.

»Wir sollten den Göttern danken, dass niemand bei dem Überfall getötet wurde.«

Über Amenai wurde das Gespräch weitergeführt, aber das interessierte ihn nicht sonderlich. Er atmete tief ein und konzentrierte sich auf seine Hände, die er versuchsweise bewegte. Es ging gerade so weit, um zu spüren, dass sie hinter seinem Rücken gefesselt waren.

»Irat! Der Dreckskerl ist aufgewacht.«

»Nehmt ihm den Takesht ab.«

Auf diesen Befehl hin rissen grobe Hände an seinem Gesichtsschleier. Die Ohrfeige traf ihn unerwartet. Amenais Wange brannte und er öffnete die Augen, um zu sehen, wer ihn gerade geschlagen hatte. Noch sah er verschwommen, doch schienen mehrere Krieger über ihm zu stehen. Er erkannte drei dunkle Schatten, die sich direkt vor dem blauen Himmel abzeichneten. Als er den Kopf wenden wollte, schnürte es ihm die Kehle zusammen. Verdammt. Jetzt bemerkte er etwas Hartes, an dem er mit dem Rücken lehnte. Ein Pfahl?

Ein Tritt traf seinen Oberschenkel. Der Schmerz krampfte seine Muskeln zusammen, brannte bis in den Fuß hinunter, machte Amenai aber bewusst, dass er wohl auf dem Boden saß. Das Pochen hinter seiner Schläfe ließ etwas nach und auch seine Sehkraft kehrte allmählich zurück. Langsam formte sich ein Bild der Lage in seinem Kopf. Und Amenai war sich jetzt sicher, dass sie ihn mit nach hinten gebogenen Armen und einer Schlinge um seinen Hals, die sich zuzog, sobald er sich bewegte, an einen Pfahl gebunden hatten.

»Du gehörst zu Udads Schakalen?« Die Frage wurde von einem Schlag in sein Gesicht begleitet.

Amenai kniff die Augen zusammen und erkannte Irat, der sich zu ihm herunterbeugte und zu noch einer Ohrfeige ausholte.

»Du bist sein Kundschafter?«

Der Hieb fiel heftiger aus als der vorherige; seine Lippe platzte auf. Amenai tastete mit der Zunge nach der Wunde, aus der das Blut über sein Kinn tropfte. »Ja«, nuschelte er. Was sollte er leugnen, da seine Tat offen im gleißenden Licht des Tages lag.

»Gut, ich sehe, du kannst nicht nur lügen, sondern auch die Wahrheit sagen. Dann verrate mir auch, ob du wirklich der Enkel von Tekat bist, aus dem Clan der Iʼmosh.«

»Ja. Ich bin sein Enkel.«

»Dann sei verflucht.« Er spuckte Amenai ins Gesicht. »Wie kann ein Tarqit die Ehre seiner Familie mit so viel Falschheit beschmutzen?«

»Es war die beste Möglichkeit den Brunnen von ShamʼSa auszukundschaften und den Wächter auszuschalten.«

»Gut. Dann weiß ich, was ich zu tun habe. Ich werde dich gegen die Beute austauschen. Udad wird uns selbst gestohlene Staubkörner zurückbringen müssen. Oder du stirbst.«

»Wie willst du Udad dazu bringen? Er wird deinen Boten auslachen.« Amenai spuckte Blut aus und verzog seinen Mund zu einem schiefen Lächeln. »Also kannst du dir die Mühe sparen und mich gleich töten. Udad lässt sich nicht erpressen, soviel sind ihm seine Krieger nicht wert. Soviel bin ich ihm nicht wert.«

»Krieger? Ihr seid keine Krieger, sondern Raubtiere, Abschaum und Aasgeier, die niemand freiwillig berühren möchte. –Kümmert euch darum, dass er nicht fliehen kann. Er bleibt so lange an den Pfahl gebunden, bis entweder unser Eigentum eintrifft oder die Sonne ihn ausgetrocknet hat. Beides soll mir recht sein.«

Im Zeltlager der Isaan

Nach den Ereignissen der Nacht hatte ihr Vater Thiyya wortlos zurück ins Zelt geschickt. Er hieß sie in der Mitte des Zeltes niederknien und warten. Thiyya wusste, was auf sie zukam. Die Männer des Lagers würden in der Ratsversammlung über sie richten, sobald sie die Verluste, die sie bei dem Überfall erlitten hatten, überschauen konnten.

Mit gebeugtem Rücken sank Thiyya in sich zusammen. Die aufregende Furcht, die sie während des Überfalls überflutet hatte, wich nebelhafter Sorge, die beängstigender wirkte als der verräterische Brautwerber mit seinem Schwert.

Der Vormittag war schon weit fortgeschritten, als endlich nach und nach die Männer in das Zelt ihres Vaters kamen, um sich zu beraten. Thiyya wagte es nicht, sich zu bewegen. Stumm rannen Tränen über ihre Wangen, sammelten sich am Kinn und tropften herab. Nichts konnte sie jetzt retten, denn jedermann hatte ihr Vergehen gesehen. Eine Frau mit einem Schwert in der Hand war nicht zu entschuldigen. Thiyya schluchzte laut. Sie wusste, was es bedeutete: Die Ältesten würden sie fortschicken, dann wäre sie ebenso ausgestoßen und verachtet wie die Schakale der Wüste. Mit gesenktem Haupt barg Thiyya ihr nasses Gesicht in den Händen. Ihr Körper zitterte vom Weinen und von der Furcht vor ihrer Strafe.

»Was hast du dir dabei gedacht, Tochter?«

Sie schüttelte nur den Kopf, unfähig ihm in die Augen zu sehen. Auf diese Frage wusste sie keine Antwort. Nichts hatte sie gedacht, nur gefühlt. Scham, von einem Schakal verraten worden zu sein, Angst um ihren Vater. Und Ekel. Vor Amenai und jetzt auch vor sich selbst.

»Du weißt doch, weshalb es Frauen verboten ist, ein Schwert zu berühren. Sie schenken Leben und dürfen niemals so tief sinken, es zu nehmen. Sieh mich an.«

Thiyya wagte es nicht, ihm nicht zu gehorchen.

»Mir bleibt keine andere Wahl, als dich zu bestrafen.« Mit einem Seufzen senkte er die erhobene Hand und nickte einem der Ältesten zu. »Vielleicht sollten wir Haydar, den Obersten Priester, um Rat bitten. Vielleicht weiß er noch eine andere Lösung.«

»Das Vergehen ist eindeutig.« Der Alte schüttelte den Kopf. »Und unsere Traditionen kennen für dieses Vergehen nur eine Strafe. Sie muss uns verlassen. Haydar wird dir nichts anderes sagen.«

Die Männer nickten und flüsterten miteinander. Haddas Vater beugte sich vor und sprach: »Wir können keine Ausnahmen zulassen.«

Irat blickte hinter sich zu den Frauen, die dort saßen und der Ratsversammlung zuhörten. Thiyya sah die verheulten Augen ihrer Mutter, die ineinander geschlungenen Hände ihrer Schwester. O ihr Götter steht mir bei. Ich wollte doch nur meinem Vater helfen.

»Meine Tochter hat Mut bewiesen. Sie wird ihre Strafe mit ebenso viel Mut annehmen.« Irat sog scharf die Luft ein. »Hört meinen Entschluss: Ich schicke meine Tochter in die rote Wüste von Tʼsim.«

Aus dem Frauenbereich erklang ein gedämpfter Aufschrei.

Irat hob beide Hände. »In der roten Wüste legen sie keinen Wert auf unsere Traditionen.« Er machte eine Pause. »Ich weiß, dass Yuba, der Clanführer der Tʼsim eine Zweitfrau sucht. Wenn er dich noch will, kann er dich haben.«

Thiyya hob den Kopf. Eine Zweitfrau? Sie schluckte die Tränen hinunter. Ich soll eine Zweitfrau werden?

Angestrengt suchte sie in ihrem Gedächtnis nach Yuba. Das verschwommene Bild eines alten Mannes, der vor zwei Sommern einmal Gast in Irats Zelt gewesen war, tauchte aus ihrer Erinnerung auf. Aber er war kein Tarqit, sondern ein Tʼsim. Das sind Barbaren. Das kann Vater nicht ernst meinen. »Vater, i–«

»Kein Wort. Ich bin mehr als gnädig. Oder willst du, dass ich dich als Aleschu an den erstbesten Händler verkaufe? Du weißt, ich kann keiner Frau erlauben, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Selbst wenn sie meine eigene Tochter ist, die einen Räuber angreifen wollte. Du musst uns verlassen.«

»Ja, Vater.« Sie senkte den Kopf und weinte verzweifelte Tränen.

»Gleich morgen werde ich einen Boten zu ihm schicken. Bis wir Antwort aus der Roten Wüste erhalten, darf meine Tochter im Lager bleiben.«

Wie betäubt folgte Thiyya ihrer Mutter, die sie an der Hand hielt und in den Frauenbereich führte.

»Meine arme Kleine.« Jimani schluchzte. »Es wird schon nicht so schlimm.« Aber ihr Gesichtsausdruck sprach andere Worte.

Es würde schlimm werden. Die rote Wüste von Tʼsim. Thiyya konnte an nichts anderes denken. Sie bemerkte kaum die tröstenden Worte vom Maryama und Hadda, die wirkungslos an ihr abprallten. Sie saß nur da und schwieg und versuchte mit versteinertem Gesicht kein Gefühl an die Oberfläche ihres Bewusstseins gelangen zu lassen.

»Geh! Du brauchst uns nicht beim Kochen zu helfen.« Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Heute bist du niemandem eine gute Hilfe.«

Dankbar, dass Jimani sie endlich wegschickte, erwachte Thiyya aus ihrer dumpfen Gefühllosigkeit, ging in den Schlafbereich, warf sich auf ihr Lager und weinte hemmungslos.

Eine Zweitfrau.

Der Mann, den sie heiraten musste, war mindestens fünfzig Sommer alt und hatte schon Söhne, die in ihrem Alter waren.

Ohne nachzudenken hatte sie dieses verfluchte Schwert in die Hand genommen.

Dieser Mistkerl. Wie konnte er mich nur so betrügen? Sie drückte ihr Gesicht in das Kissen und dämpfte den aufsteigenden Schrei. Sein perfektes Auftreten, alles nur eine Vorstellung. Am liebsten hätte sie ihm das Schwert in sein verlogenes Herz gerammt. Sie erstickte einen weiteren Schrei. Wie konnte ich nur so dumm sein? Und jetzt werde ich auch noch für seinen Betrug bestraft.

»Ich wollte, ich wäre tot.«

Eine Hand streichelte über ihren Rücken. Thiyya hob den Kopf und sah Maryama, die sich zu ihr aufs Bett gesetzt hatte.

Mit einem Schluchzen vergrub Thiyya wieder ihren Kopf im Kissen und schniefte. »Warum hat er mich nicht erschlagen?« Ein erneuter Weinkrampf schüttelte ihren Körper, als sie daran dachte, ihre Familie verlassen zu müssen.

»Wer? Vater?«

Sie raffte das Kissen an ihre Brust und setzte sich auf. »Nein. Er.«

Maryama nickte, aber Thiyya wusste nicht, ob sie wirklich verstanden hatte.

Verfluchter Schakal! Nur wegen dir werde ich in die Rote Wüste geschickt.

»Der Räuber, den Vater gefangen hat? Der dörrt gerade wie eine Dattel in der Sonne.«

Thiyya hob den Kopf und sah ihre Schwester fragend an.

»Die Krieger haben ihn an einen Pfahl gebunden. Er soll so lange dortbleiben, bis wir unsere Sachen wiederhaben oder er verdurstet.«

»Er soll verdursten?« Sie fuhr mit dem Unterarm über ihre Augen, um die Tränen fortzuwischen.

Maryama grinste. »Sie haben ihm sogar den Takesht abgenommen. Ich habe ihn mir genau angesehen. Noch sieht er ganz gut aus. Aber sein gutes Aussehen wird ihm nicht mehr lange nützen.«

Mit beiden Händen wischte Thiyya ihr Gesicht trocken, glättete ihr Haar und streifte sich das Kopftuch über. Sie fasste Maryama am Handgelenk und schüttelte es. »Wo ist er?«

»Draußen vor dem Brunnen. Damit jeder ihn sehen kann.« Ihre Schwester wand sich unter Thiyyas Griff. »Jetzt lass mich. Du tust mir weh.«

»Ich muss ihn sehen.« Sie ließ ihre Schwester los und stand auf.

Maryama erwischte einen Zipfel von Thiyyas Gewand und hielt sie fest. »Nein, bleib hier. Vater wird dich bestrafen, wenn du mit einem Ausgestoßenen sprichst.«

Heftig drehte Thiyya sich um und befreite sich mit einem Ruck von Maryama. »Das ist mir egal.«

»Wenn dir Vaters Bestrafungen egal sind… Dann tu doch, was du willst.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ja. Genau das werde ich tun.« Dieser miese Verräter soll mich kennenlernen!

Thiyya verließ das Zelt und zögerte. In der flimmernden Nachmittagshitze schien ihr aufwallender Zorn zu verdunsten.

Vielleicht hat Maryama doch recht und ich sollte mich einfach nicht um ihn kümmern.

Sie beschattete ihre Augen und sah zum Brunnen, der fünfzig Doppelschritte außerhalb des Lagers lag. In kurzer Entfernung vor der gemauerten Kameltränke steckte ein Pfahl im Boden, an dem der Fremde lehnte.

Jetzt ist es so oder so zu spät. Nichts, was geschehen ist, kann rückgängig gemacht werden.

Unschlüssig schlenderte sie zwischen den Zelten entlang in Richtung des Brunnens. Auf halbem Weg blieb Thiyya stehen. Nein, er geht mich nichts an und ist es nicht wert, dass ich mir noch mehr Ärger einhandle. Entschlossen wirbelte sie herum und trat auf etwas Hartes.

Unwillkürlich bückte sie sich und hob den Gegenstand auf. Das Amulett. Die blaue Gazelle, die er ihr geschenkt hatte. Sie schloss ihre Faust um den kleinen Anhänger und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Warum hast du mir das angetan?

Blindlings lief sie weiter, bis sie das Lager verlassen hatte. Sie setzte sich in den Schatten eines Kameldornbaumes und betrachtete das Zeltlager. Hoch über dem Brunnen zog ein Wüstenfalke auf der Jagd seine Kreise. Ihre halbwüchsigen Cousins hüteten in einiger Entfernung die Ziegen und vertrieben sich trotz des nächtlichen Überfalls schon wieder unbekümmert die Zeit mit dem Fangen von Sandfischen. Ihr fröhliches Grölen, wenn sie einen erwischt hatten, erklang bis zu ihr. Die Ziegen beachteten die lärmenden Kinder nicht und lagen wiederkäuend im Schatten. Zum Glück hatten die Räuber nur Silber gestohlen und sich nicht mit den lebensnotwendigen Ziegen und Dromedaren belastet.

Etwas abseits lag auch das weiße Mehari des Fremden. Wie war nochmal sein Name? Amenai. Als habe er sich unbemerkt in ihren Kopf geschlichen, verspürte sie den Drang zu ihm hinüberzusehen. Warum hast du mir das angetan?

Sie schluchzte und öffnete ihre Hand. Die Gazelle leuchtete unter der strahlenden Sonne und erinnerte Thiyya an seinen Geruch, seine stolze Haltung und das fröhliche Lächeln seiner eindrucksvollen Augen. Fast meinte sie, dass seine Augen nicht gelogen hatten, aber sie brauchte Gewissheit.

Kurz entschlossen streifte sie die Schnur mit dem Anhänger über ihren Kopf, stand auf und ging zielstrebig zum Brunnen.

»He, Schakal.«

Amenai sah auf. Die Sonne brannte auf sein ungeschütztes Gesicht und er überlegte, wie lange sie ihn schon briet. Vielleicht etwas über einen halben Sonnenlauf oder sogar schon zwei? Nein, das konnte nicht sein, denn sonst würde er bestimmt nicht mehr leben, auch wenn es sich schon wie eine ganze Ewigkeit anfühlte.

»Mistkerl. Ich rede mit dir.«

Er blinzelte. Vor ihm stand das Mädchen mit den Gazellenaugen. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und starrte ihn an.

»Bist du wirklich aus dem Clan der Iʼmosh? Oder ist dein Vater ein räudiger Hund. Ist Verrat das Einzige, was du von ihm gelernt hast?«

»Mein …« Amenai hustete. »Vater…war … kein… Hund.« Jedes Wort schmerzte in seiner ausgetrockneten Kehle.

»Du ekelst mich an, Schakal. Wie konntest du es wagen, mich zu berühren.«

Amenai schloss die Augen. Die Verachtung des Mädchens brannte so heiß wie die Sonne. Aber es stimmte. Er war ein Nichts. Nur der Zuträger für eine Rotte ehrloser Hunde.

»Keine … Wahl.« Die Worte kratzten in seinem Hals und die Schande schwelte ein Loch in seine Brust.

Warum versuche ich noch, mich zu rechtfertigen? Gibt es nicht immer eine Wahl?

»Du hast gesagt, nicht alles war gelogen. Ich will die Wahrheit wissen.«

»Keine…Bedeutung…begleiche…Schuld«, flüsterte er mühsam.

»Ich muss es aber wissen.« Sie trat ihm mit dem Fuß in den Oberschenkel. »Bevor wir dich gegen unsere Sachen tauschen und du wieder frei bist, möchte ich wissen, was du mir nicht vorgelogen hast.« Sie hob die geballten Fäuste. »Das bist du mir schuldig. Wegen dir habe ich das Schwert in die Hand genommen. Wegen deines Betrugs werde ich bestraft und muss die Zweitfrau eines alten Mannes werden.«

Das Mädchen wird bestraft? Amenai versuchte, hinter den Sinn ihrer Worte zu kommen, aber in seinem schmerzenden Kopf wirbelten ihre Worte durcheinander und verschwammen. Wegen des Schwertes? Deshalb will sie wissen, ob ich gelogen habe?

Er gab auf, sich weiter den Kopf zu zerbrechen, denn es war sowieso zu spät. Zu spät, seinen Verrat zu bedauern. Zu spät, um dem Mädchen zu sagen, wie mutig er sie fand. »Udad …« Sein kratziges Lachen ging in ein gequältes Husten über. »Wird nicht kommen.« Seine Stimme war so rau, dass er selbst kaum seine eigenen Worte verstand. »Werde sterben.«

Amenai hörte den Sand leise knirschen. Er öffnete die Lider einen kleinen Spalt.

Das Mädchen entfernte sich. Ja. Geh, kleine Gazelle. Deine hübschen Augen sollen nicht sehen, wie ich hier elendig verrecke.

Aber vielleicht sollte er die Hoffnung doch nicht ganz aufgeben. Kella war doch immer für ihn da und hatte es schon öfters geschafft, Udad umzustimmen. Bitte, Kella.

Amenais Haut spannte sich über den Wangenknochen und selbst durch seine geschlossenen Augenlider sah er den gleißenden Schein der Sonne. Zäh kroch das Blut durch seinen Körper und er merkte, wie die Kraft aus ihm verdunstete. Längst fühlte er keinen Unterschied mehr, ob der Strick um seinen Hals oder der Wassermangel seine Kehle zuschnürte. Jegliches Gefühl war aus Armen und Beinen gewichen, um sofort mit zehnfachem Schmerz zu erwachen, wenn er eines seiner Glieder zu bewegen versuchte.

Eine Berührung sandte tausend Stiche durch seinen rechten Arm. Mit letzter Willenskraft öffnete er seine Augen. Thiyya kauerte vor ihm und legte ihre Finger an seine Lippen. Herrlich kühles Nass benetzte die aufgesprungene Haut. Er hörte sich selbst stöhnen, als sie ihre Hand zurückzog. »Wasser.«

Noch mehr Feuchtigkeit. Er öffnete den Mund und seine angeschwollene Zunge schmeckte die Tropfen, die das Mädchen ihm einflößte. Verzweifelt streckte er ihr seinen Kopf entgegen, ignorierte, dass er sich nur noch mehr selbst würgte. Trank. Hustete. Flehte lautlos, als sie ihm den nächsten Schluck verweigerte.

»Du darfst nicht zu viel auf einmal trinken.«

Seine Lippen formten stumm nur ein Wort: Wassser.

Das Mädchen setzte erneut den Trinkschlauch an seine Lippen und er konnte dem angebotenen Wasser nicht widerstehen, auch wenn er wusste, dass er so sein Sterben nur hinauszögerte. Gierig sog er die Flüssigkeit in seinen ausgetrockneten Körper.

»Vielleicht kommen deine Freunde doch noch, um dich zu retten.«

Die Hitze auf seinem verbrannten Gesicht ließ nach, als schiebe sich eine Wolke vor die Sonne. Amenai sah eine dunkle Gestalt hinter Thiyya stehen.

»Was soll das?«, grollte der dunkle Schatten.

Ist das ihr Vater? Amenai konzentrierte sich. Er erkannte den hochgewachsenen Mann. Irat packte seine Tochter am Oberarm, zog sie auf die Füße und riss ihr den Wasserschlauch aus den Händen. »Halte dich von dem Abschaum fern.«