Gebrauchsanweisung für das Baltikum - Sabine Herre - E-Book

Gebrauchsanweisung für das Baltikum E-Book

Sabine Herre

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Beschreibung

Was ist das Baltikum? Eine Frage, die nicht leicht zu beantworten ist und der Sabine Herre auf den Grund geht. Dabei öffnet sie uns die Augen für das weitläufige Litauen, wo die meisten Störche leben, das lebhafte Lettland, welches als die »östlichste« der baltischen Nationen gilt, und das stolze Estland, das sich mit den Finnen die Melodie der Nationalhymne teilt. Und sie durchstreift genussvoll ihre Hauptstädte: die Barockmetropole Vilnius, die das geografische Zentrum Europas markiert, die Jugendstilhochburg Riga, in der Szenebars in verfallenen Altbauten locken, und das mittelalterliche Tallinn, das zugleich ein Hotspot modernster Technik ist. Am Ende versteht man, warum kulturell so einzigartige Länder nur gemeinsam ihre Unabhängigkeit erlangen konnten.

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www.piper.de

ISBN 978-3-492-96628-3

April 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2014

Coverkonzept: Büro Hamburg

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling

Covermotiv: Frau beim Kartoffelschälen an der Memel, Litauen (LOOK-foto/Thomas Stankiewicz)

Karte: cartomedia, Karlsruhe

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

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Ankunft Freitag Nachmittag in Vilnius

Was Straßencafés über die Lage des Baltikums in Europa aussagen

Bevor das Flugzeug auf dem Vilniaus oro uostas, dem Flughafen von Vilnius, landet, fliegt es in einem weiten Bogen über die Stadt. Die Maschine ist dabei schon ziemlich niedrig, und so sind die Kirchtürme der Hauptstadt zum Greifen nahe. Wie lange Finger, die immer schlanker werden, scheinen sie an den Wolken zu kratzen. Ein Bild, das der litauische Maler Ludomir Sleńdziński in seinem »Oratorium« festgehalten hat. Auf ihm bilden graue Wolkenmassen die Fortsetzung der weißen und rosafarbenen Kirchen – ein barocker Himmel über barocken Türmen. Wenn Sie jedoch genau hinsehen, dann zeigt sich auf diesem wohl bedeutendstem Gemälde von Vilnius noch etwas anderes, Überraschendes: Von den Spitzen der Kirchen wachsen helle Strahlen in den Himmel. Strahlen, die zu Kreuzen werden oder zu Sonnen. Ganz hinten, über Sankt Katharina, der Lieblingskirche so vieler Hauptstädter, bringen sie den grauen Himmel zum Leuchten.

Das Kreuz mit dem Strahlenkranz der Sonne, es wird Ihnen auf dieser Reise ins Baltikum immer wieder begegnen. Fast ist es so etwas wie die kulturgeschichtliche Einführung in die Seele der Balten. In die heidnische Seele der Balten. Besonders die Litauer, aber auch Esten und Letten verehrten Bäume, Schlangen, Steine. Und das auch dann noch, als der Rest Europas schon lange christianisiert war. Eine besondere Position in ihrem hundertköpfigen Olymp nahmen die Götter ein, die für das Wetter verantwortlich waren: der Donnergott Perkūnas oder eben Saule, die wärmende Sonne. Bis heute werden Mädchen in Litauen auf diesen Namen getauft. Zwar gilt das Land seit dem 15. Jahrhundert als christianisiert. Doch als nach der Wende Algirdas Brazauskas 1993 in sein Amt als litauischer Staatspräsident eingeführt wurde, da fand die Inauguration nicht nur in der Kathedrale von Vilnius statt, sondern mit einem heidnischen Ritual auch auf dem Hügel, auf dem die Stadt zu heidnischen Zeiten gegründet worden war. Dies stieß im Rest Europas verständlicherweise auf Befremden – und wurde nicht wiederholt. Die Bedeutung jedoch, die die Sonne bis heute für alle Balten hat, die können Sie live miterleben: im Juni bei der Sommersonnenwende. Ein größeres Fest gibt es nicht. Und auch keines, das zugleich so fröhlich und so melancholisch ist.

Wer zum ersten Mal ins Baltikum reist und diese Reise in Vilnius beginnt, fühlt sich noch nicht ganz in der Fremde. Vor allem den Süddeutschen, den Katholiken, den Liebhabern des Barock ist hier vieles vertraut. Nicht umsonst wird Vilnius auch Baby Prague oder Little Rome genannt. Wissenschaftler haben ausgerechnet im Jahr des Mauerfalls festgestellt, dass der geografische Mittelpunkt Europas nicht etwa in Deutschland, sondern genau hier, 25 Kilometer nördlich von Vilnius, liegt. Bestätigt fühlen konnten sich so all jene mitteleuropäischen Schriftsteller und Philosophen, die wie der Tscheche Milan Kundera das Zentrum Europas schon lange vor der Wende »in dem Raum zwischen Russland und Deutschland« verortet hatten. Kundera lobte in seinem Essay »Die Tragödie Mitteleuropas« die um ihre Identität kämpfenden »kleinen« Nationen, allerdings meinte er damit allein Tschechen, Slowaken, Ungarn und Polen. Indem er die baltischen Staaten vergaß, machte er den gleichen Fehler, den er dem »Westen« vorwarf. Er schlug sie einer »östlichen Zivilisation« zu, die geprägt sei von Orthodoxie und Despotismus.

Dabei muss man gar nicht zu so großen Begriffen greifen. Dass es einen Unterschied zwischen westlicher und östlicher Zivilisation gibt, das erfuhr ich bei meiner ersten Reise in die Region bereits in den kleinen Dingen des Alltags. Auf der Hauptstraße von Sankt Petersburg, dem berühmten Newskiprospekt, war es Mitte der Achtzigerjahre unmöglich, auch nur ein einziges Kaffeehaus zu finden. Wer etwas trinken wollte, musste sich mit warmer Milch an einem Stehtisch in einem Schnellrestaurant begnügen. In Vilnius, Riga und Tallinn dagegen saßen Einheimische und Touristen bei einem Cappuccino in einem der vielen Straßencafés in der Sonne. Hier hätten auch Sie sich (fast) wie zu Hause gefühlt.

1200 Kilometer nach Ihrem Abflug aus Deutschland sind Sie nun also in der Mitte Europas angekommen. 600 Kilometer weiter nördlich jedoch wird Sie vieles an Hamburg oder Bremen erinnern. Oder an Skandinavien. In Tallinn, jahrhundertelang wichtiger Hafen der deutschen Hanse, sind Helsinki und die finnische Küste nur noch 80 Kilometer entfernt. Schon zu Sowjetzeiten haben die Esten die Fernseh- und Radioprogramme ihres nördlichen Nachbarn empfangen. Was ganz unterschiedliche Konsequenzen hatte. Einerseits lieferten die westlichen Werbespots die Vorlage für die Schnittmuster, nach denen die Hauptstädterinnen ihre Kleider und Jeans nähten. Zum anderen aber hörten die Esten zu Sendeschluss im finnischen Rundfunk ihre von den Kommunisten verbotene Nationalhymne. Eigentlich war es natürlich die finnische Hymne, doch deren Melodie ist mit der estnischen identisch. Dass die Esten sie nie vergessen haben, ist auch Radio Helsinki zu verdanken.

Wenn Ihre Reise in Vilnius beginnt und in Tallinn endet, dann werden Sie etwa zur Halbzeit Riga erreichen. Und hier in der Hauptstadt Lettlands könnten Sie zum ersten Mal das Gefühl haben, im Osten Europas, in der »östlichen Form« der europäischen Zivilisation, angekommen zu sein. Zumindest haben Teilnehmer meiner Reisegruppen mir das immer wieder gesagt. Jenseits des neuen Hauptbahnhofs, in einem Viertel, das seit der Zarenzeit »Moskauer Vorstadt« heißt, scheint in der Tat eine andere Welt zu beginnen. Eine ländliche Welt mit heruntergekommenen Holzhäusern in verwilderten Gärten. Eine ärmere Welt, wo Rentnerinnen in Straßenunterführungen gebrauchte Kleider verkaufen und aus altersschwachen Kassettenrekordern russische Schlager tönen. In der Mitte aber erhebt sich unübersehbar das Gebäude der Akademie der Wissenschaften in stalinistischem Zuckerbäckerstil. Tatsächlich ist es Moskau gelungen, während der sowjetischen Herrschaft in der lettischen Hauptstadt so viele Russen anzusiedeln, dass sie dort heute 40 Prozent der Bevölkerung stellen. 2009 wurde sogar ein Russe zum Bürgermeister von Riga gewählt, auch wenn er natürlich fließend Lettisch spricht. Doch zur östlichen Zivilisation später mehr.

Welch Veränderung. Noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts waren es die Deutschen, die in Riga die Hälfte der Bevölkerung ausmachten. In der Richard Wagner Hitlers Lieblingsoper »Rienzi« schrieb und Heinz Erhardt als Sohn eines deutsch-baltischen Kapellmeisters geboren wurde. Heute jedoch scheint das Baltikum für viele Deutsche weiter entfernt zu sein als Ägypten oder die Kanarischen Inseln. »Brauchen Sie für eine Reise nach Vilnius kein Visum?«, wurde ich am Abfertigungsschalter der Lufthansa am Flughafen Berlin-Tegel gefragt. Das war nicht etwa in den Achtzigerjahren, sondern 2010, sechs Jahre nachdem Litauen ebenso wie Estland und Lettland in die Europäische Union aufgenommen worden war. Drei Jahre nach ihrem Beitritt zum Schengener Abkommen. Für die Einreise ins Baltikum ist daher heute nicht einmal mehr ein Personalausweis nötig. Den braucht man nur bei der Abfertigung der Lufthansa.

Doch nicht nur die Angestellte in Tegel, auch Freunde kommen ins Grübeln. Kaum hat man ihnen zehn Minuten lang von der bevorstehenden Reise erzählt, da trauen sie sich schließlich, schüchtern zu fragen: »Das Baltikum, wo liegt das eigentlich? Hat das irgendetwas mit Balkan zu tun?«

Welch Überraschung, dass zumindest der Taxifahrer, der mich zum Flughafen brachte, wusste, wohin die Reise ging. Doch dieser war, wie sich schnell herausstellte, aus Polen. Und die Polen betrachten Vilnius, Wilno, wie sie es nennen, ja noch immer als polnische Stadt.

Tatsächlich gibt es fast keine direkten Flüge von der deutschen in die litauische Hauptstadt. Wenn Sie dorthin wollen, müssen Sie einen Stopp in Warschau, Riga oder gar Helsinki einlegen. Meist fliegt man jedoch über Frankfurt, wo sich zweimal am Tag Litauenreisende aus ganz Europa am Abfertigungsschalter treffen. Nicht nur die Deutschen, sondern auch Franzosen haben das Baltikum als neues Reiseziel entdeckt. Nach dem Beitritt zur EU stiegen die Besucherzahlen fast jedes Jahr um mehr als zehn Prozent. Nach Estland reisen jedes Jahr etwa so viele Touristen, wie das Land Einwohner hat, gut eine Million. Was sich jedoch weniger in den Weiten des Landes, sondern vielmehr in der Hauptstadt Tallinn bemerkbar macht. Da der Tourismus sich auf die wenigen Sommermonate Juni bis August konzentriert, müssen Sie aufpassen, Ihren Guide hier nicht zu verlieren und sich plötzlich zwischen Japanern oder Russen wiederzufinden. Letztere machen rund 40 Prozent der ausländischen Gäste im Baltikum aus, die Deutschen liegen bei knapp 25 Prozent. Abwechselnd haben die Sowjets und die Deutschen im letzten Jahrhundert die baltischen Staaten mit ihren Armeen erobert und besetzt. Nun kommen sie als Besucher wieder.

Allerdings gibt es selbst unter denjenigen, die sich für einen Urlaub im Baltikum entschieden haben, einige Unsicherheit, wohin sie da eigentlich reisen. Wer sind die Balten, und woher kommt der Name Baltikum – Fragen, die gar nicht so einfach zu beantworten sind. Und durchaus vertreten auch viele Balten – oder besser viele Litauer, Letten und Esten – die Ansicht, dass die Bezeichnung ihren Nationen und deren unterschiedlicher Kultur nicht unbedingt gerecht wird.

Die Unterschiede werden auch Ihnen auffallen. In Tallinn wird ständig irgendwo gesungen, in Riga dagegen spielen Mädchen an jeder Straßenecke Geige. In Vilnius sind die Frauen – glaubt man den Französinnen – am besten gekleidet, was die »Pariserinnen des Ostens«, die Lettinnen, natürlich gar nicht gern hören. In Litauen gibt es die besten Kuchen, sagen die Österreicher, und die müssen es ja wissen. Mit über 11000 Paaren hat das Land außerdem die meisten Störche weltweit. Das sagt die Statistik. Die Menschen in Lettland gelten als laut und fröhlich. Die Esten dagegen als stolz und schüchtern – weil sie die kleinste der drei Nationen sind. Das sagen zumindest die größeren Nationen, die doppelt (Lettland: 2 Millionen) oder dreimal so viele Menschen (Litauen: knapp 3 Millionen) zählen.

Die Litauer glauben katholisch, Esten und Letten dagegen protestantisch. Sofern sie keine Atheisten sind und überhaupt nichts mehr glauben – was vor allem auf das Internetland Estland zutrifft. Vielleicht hängt beides ja miteinander zusammen.

Litauisch und Lettisch sind uralte baltische Sprachen, die wie Deutsch oder Russisch zur indogermanischen Sprachfamilie gehören. Das Estnische ist dagegen eine finnougrische Sprache, auch deshalb können die Esten so gut das finnische Fernsehprogramm verstehen. Das Ungarische ist dagegen schon etwas weiter entfernt. Die unterschiedlichen Sprachen sind im Übrigen der Grund, warum die drei Nationen sich nicht verstehen. Sprachlich gesehen. Um sich zu verständigen, benutzte man früher Russisch, heute immer öfter Englisch. Was auch Ihnen hilft, die Balten zu verstehen.

Neben den Unterschieden gibt es natürlich auch Gemeinsamkeiten. Die wichtigste: Gemeinsam erkämpften Letten, Esten und Litauer ihre Unabhängigkeit von Moskau. Am 23. August 1989, dem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, bildeten zwei Millionen Balten eine Menschenkette von Vilnius über Riga nach Tallinn. Gute 600 Kilometer war sie lang und führte oft durch menschenleere Gegenden. Jeder vierte Einwohner war damals auf der Straße und sang »Das Baltikum erwacht«. Eine größere Menschenkette hat es auf der ganzen Welt nie gegeben. Und vielleicht auch keine wichtigere.

Zum ersten Mal erwähnt wurde der Name Baltia von dem römischen Geschichtsschreiber Plinius zu Beginn unserer Zeitrechnung. Doch bezeichnete er damit wohl eine große Insel mit reichem Bernsteinvorkommen. Ganz so genau weiß man das nicht. Ebenso wenig endgültig geklärt ist, woher das Wort balt etymologisch stammt. Manche leiten es von dem dänischen Begriff für Meerenge, bælt ab. In den baltischen Sprachen, im Litauischen und Lettischen, bedeutet der Wortstamm balt dagegen »weiß«. Weiß ist ja auch die Ostsee, wenn der Sturm über sie peitscht – weshalb sie in vielen Sprachen »Baltisches Meer« heißt.

Im Flugzeug von Frankfurt nach Vilnius ertönen die Ansagen der Stewardessen nicht nur in Deutsch und Englisch, sondern auch auf Litauisch. Dabei ist das eigentlich überflüssig, denn Sie werden selten einen Einheimischen treffen, der nicht zumindest eine europäische Sprache beherrscht. Meist sind es sogar mehrere. So wie bei jener jungen Frau, die aus Brüssel kam und sich mit den Passagieren, die neben, vor und hinter ihr saßen, auf Deutsch, Französisch und Englisch unterhielt und dabei noch an einem sonnengelben Schal strickte. Die Litauerin hatte wegen eines gut bezahlten Jobs in den Neunzigerjahren ihre Heimat verlassen. Nun hieß ihr Ziel Kurische Nehrung, auf der sie mit ihren Eltern wie jedes Jahr eine Woche Urlaub verbringen wollte.

Die Kurische Nehrung ist eine von hohen Sanddünen geprägte schmale Landzunge an der Ostsee zwischen Königsberg und Memel. In Reiseführern wird sie gern als Sehnsuchtslandschaft der Deutschen beschrieben. Als magisches Bild eines Deutschen Reiches, eines Ostpreußen, das es nicht mehr gibt. Thomas Mann hatte hier ein Sommerhaus gebaut, deutsche Expressionisten wie Lovis Corinth oder Karl Schmidt-Rottluff haben sich von den Farben der über dem Haff untergehenden Sonne beeinflussen lassen.

1944 flohen die Deutschen, und nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete die Sowjetführung an der Memelmündung gewaltige fischverarbeitende Betriebe. In der völlig zerstörten Stadt Memel aber, die auf Litauisch Klaipeda heißt, ließ sie Menschen aus vielen anderen Teilen ihres Reiches ansiedeln. Doch schon vor dem Zerfall der Sowjetunion erinnerten sich die neuen Bewohner Klaipedas an die alten deutschen Traditionen ihrer Heimatstadt. Das im Krieg verschwundene Denkmal für den Dichter Simon Dach und sein »Ännchen von Tharau« wurde neu errichtet.

Dies war ein ziemlich großes Zeichen einer kleinen Nation gegenüber einem jahrhundertelang übermächtigen Nachbarn. Es ist nicht ganz einfach zu erklären, aber irgendetwas rührte mich, als ich von den Urlaubsplänen der jungen Litauerin aus Brüssel hörte. Das alte Ostpreußen war so zu einem Teil des neuen Europa geworden. Und – Sie werden es bei Ihrem Besuch auf der Kurischen Nehrung erleben – es ist ein ziemlich schöner Teil.

Wie klein diese Nation, wie klein dieses Land mit seinen gut drei Millionen Einwohnern ist, können Sie zum ersten Mal bei der Landung in Vilnius auf dem oro uostas erfahren. Die Ankunftshalle des Flughafens würde in den Stuttgarter Hauptbahnhof – in den alten, nicht den imaginären neuen – wohl zweimal hineinpassen. Ganze 30 Flieger starten hier am Tag, doch es gibt immerhin eine Direktverbindung ins ägyptische Scharm el-Scheich, wo auch die Litauer gern Urlaub machen. Vom Flugplatz bis ins Stadtzentrum werden Sie mit dem Bus gerade einmal 15 Minuten brauchen, und dabei haben Sie dann schon eine Stadtbesichtigung hinter sich. Erster Eindruck: Die Menschen müssen arm sein, schaut man sich die heruntergekommenen Häuser an. Zweiter Eindruck: Die Menschen müssen reich sein, so groß, neu und teuer sind die Autos, die vor diesen Häusern stehen. Auch in Deutschland dürfte ein leitender Angestellter dafür einen halben Jahreslohn auf den Tisch legen. Hier jedoch beträgt das monatliche Durchschnittseinkommen gerade einmal 750 Euro. Mutmaßungen über die Mafia kommen auf. Oder sind die Autos auf Pump gekauft? Tatsächlich ist auch dies eine Frage, die nicht leicht zu beantworten ist. Denn natürlich gibt es auch hier jene »Oligarchen«, die wie in Russland die staatseigenen Industriebetriebe zum Spottpreis erwarben und so die Grundlage für ihren immer weiter wachsenden Reichtum schufen. Doch so viele Oligarchen wie Porsche Cayenne kann es gar nicht geben. Also doch auf Pump? Ja, sicher, doch das ist ja auch bei uns kaum anders. Und außerdem: Ein Durchschnittseinkommen ist eben nur ein Durchschnittseinkommen. Oft hat ein Litauer ebenso wie ein Este oder Lette zwei Jobs, seine Frau verdient mit, und Obst und Gemüse kommen aus dem Garten des Wochenendhauses. Nur auf diese Weise kann man erklären, wie die Balten es schaffen, für Autos und Kleidung, aber immer öfter auch für Lebensmittel Preise zu zahlen, die nur noch wenig unter dem deutschen Niveau liegen.

Natürlich gibt es auch Litauer, die das nicht können. Es sind in erster Linie Rentner, und das, obwohl auch viele von ihnen arbeiten. Doch alte Menschen sieht man kaum. Das ist der dritte Eindruck: In Vilnius scheinen nur junge Leute zu leben. Junge Frauen und junge Männer, die an diesem Freitagnachmittag in den Straßencafés sitzen und von jungen Frauen und jungen Männern bedient werden. Nur am Morgen des nächsten Tages, da werden Sie in den Straßen von Vilnius weder alten noch jungen Menschen begegnen. Menschenleer wird die Stadt am Samstagmorgen sein.

Denn am Wochenende, da wird im Baltikum gefeiert. Zumal im Sommer, wenn es eigentlich nie richtig dunkel wird, der Tag bis spät in die Nacht oder besser bis zum frühen Morgen dauert. Das Wochenende beginnt am Freitagnachmittag, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, an dem Sie sich fragen werden, warum so viele der blonden, schlanken Frauen plötzlich bunte Abendkleider tragen. Dann, wenn Sie immer mehr dieser acht, neun, zehn Meter langen amerikanischen Stretchlimousinen sehen. Denn am Wochenende, da wird in Litauen geheiratet, und zwar mit allem Pomp, den die neue Zeit hergibt. Manche Beobachter sind sogar der Ansicht, die Scheidungsquote sei deshalb so hoch, damit die jungen Frauen und Männer ein zweites Mal heiraten können. Und so stehen ab Freitagmittag die Hochzeiter vor den Kirchen von Vilnius Schlange. Kirchen, deren barocke Türme Sie schon von oben kennen. Jung, reich, fröhlich – ist das Vilnius, Litauen, das Baltikum? Wir werden sehen. Ab und zu, wenn die Sonne zwischen den Wolken hervorkommt, beginnen die Turmkreuze inmitten der heidnischen Sonnensymbole zu leuchten.

Ankunft im Baltikum. Die Reise kann beginnen.

Pilze sammeln, Beeren pflücken und ein Sommerhaus am Waldsee

Esten, Litauer und Letten lieben die Natur, oder?

Bevor Ihr Flugzeug auf dem oro uostas in Vilnius landet, bevor die barocken Türme der litauischen Hauptstadt für Sekunden zum Greifen nahe sind, werden Sie lange, sehr lange etwas ganz anderes sehen. Zunächst schimmert es nur graugrün durch die Wolken, doch dann wird es schnell immer deutlicher: Wälder, so weit Ihre Augen reichen, Wälder in einem Grün, das manchmal fast schwarz wirkt und dann wieder hellgrün, oder besser birkengrün. Zwischen all dem Grün aber leuchten tiefblaue Seen, und an den Rändern der Seen – manchmal, aber nicht immer – sieht es so aus, als wäre der Boden feucht, als wären dort große Pfützen, ja Tümpel. Und je näher Sie der Erde kommen, umso sicherer werden Sie. Zwischen den Wäldern und Seen liegen Moore. Viele Moore. »Von hier«, so sagte jene litauische Flugzeugnachbarin, die auf die Kurische Nehrung wollte und an dem gelben Schal strickte, »von hier«, und damit holte sie mich auf den Boden der Realität zurück, »kommt der Torf für Ihre Blumentopfpflanzen in Deutschland.«

Landen Sie dagegen in Tallinn oder Riga, bietet sich Ihnen ein anderes Bild. Sie fliegen entlang an kilometerlangen weißen Sandstränden. Und hinter diesen Sandstränden steht dunkel der Wald. Sie fliegen über Dutzende, nein, Hunderte von Inseln und über Flüsse, von denen der mächtigste, die Daugava in Riga, mehr als einen halben Kilometer breit ist. Sieht so das Baltikum aus? Wälder und Wasser in den unterschiedlichsten Formen und Farben? Ein Baltikum, für das die Reisebroschüren die schönsten Adjektive finden: unberührt, unendlich, ursprünglich. Ist das »die Natur, die die Balten alle so sehr lieben«? Wie unisono nicht nur die ausländischen, sondern oft auch die einheimischen Reiseführer schreiben? In diesem Kapitel will ich versuchen zu erklären, warum es mit dieser Naturliebe nicht ganz so einfach ist. Warum es zur Beziehung zwischen Mensch und Natur im Baltikum einige Fragen gibt. Und nebenbei sollen Sie natürlich auch noch viel über die Schönheiten von Wald, Wasser und Mooren erfahren.

Zunächst aber zu einer Meinungsumfrage aus Lettland, die mit ihren Ergebnissen zur Naturliebe der Letten voll im Trend liegt. Ja, die Ergebnisse scheinen alles zu bestätigen, was man schon immer über den normalen Letten dachte. Es ist noch nicht lange her, es war wohl 2010, da wollte die Internetplattform lettland.blogspot.com von ihren Nutzern gerne wissen: »Was ist typisch lettisch?« Die Antwort fiel eindeutig aus: 60 Prozent der Teilnehmer nannten das »Feiern des Ligofestes« – also des Mittsommernachtsfestes – an erster Stelle. Aber auch die anderen Antworten waren kaum weniger typisch: Pilze sammeln. Lieder mit lettischen Texten mögen. Selbst beim Sängerfest singen. Beeren suchen und schließlich »Gemüse im eigenen Garten« haben. Ein kleines Landhaus haben. All dies landete auf den ersten zehn Plätzen.

Neben dieser Begeisterung für alles, was mit dem Leben in der Natur zu tun hat, wurde die Umfrage jedoch noch von einem zweiten Thema bestimmt. Hier ging es um das Zusammenleben mit der russischen Minderheit in Lettland. Oder besser: das Nichtzusammenleben. Denn bereits auf Platz zwei der lettischen Best-of-Liste stand »Russisch verstehen, aber es nicht reden wollen«. Und auf Platz vier – gleich hinter »Pilze sammeln« – folgte »Lieber Englisch als Russisch reden«. Ein Leben in der Natur, aber am besten ohne jeden russischen Nachbarn, sehen so die Wünsche der Letten aus?

Nun haben Umfragen im Internet natürlich stets eine begrenzte Aussagekraft, denn sie sind ganz einfach nicht repräsentativ. Zudem würde bei ähnlichen Befragungen in Estland oder Litauen das Mittsommernachtsfest oder das Sammeln von Pilzen ebenfalls ganz weit oben stehen, genauso wie übrigens auch in Schweden oder Finnland. (Irgendetwas muss drin sein in diesen Pilzen, sonst würde das Sammeln nicht so süchtig machen. Dabei sagt man bei uns doch immer, die Pilze aus dem Baltikum seien verstrahlt.)

Doch zurück zur blogspot-Umfrage. Ich meine, dass es ziemlich viel über Lettland aussagt, wenn Naturliebe und Russophobie sich so eindeutig auf den ersten zehn Plätzen wiederfinden. Schließlich ist Lettland der Staat, in dem Moskau mehr als in den beiden anderen Ländern des Baltikums Russen ansiedelte. Und zwar vor allem in den Städten. Es folgt jetzt eine ziemlich gewagte These, aber könnte der hohe Anteil der Russen in den Städten nicht etwas mit der Naturliebe der Letten zu tun haben? Ist es etwa eine Flucht vor den Russen in die Natur?

Vielleicht liege ich damit ja gar nicht so falsch. In einem Artikel, den die damals am Boston College arbeitende Lettin Valda Melngaile 1971 für die Zeitschrift »Lituanus« schrieb, macht sie zu diesem Thema eine ziemlich interessante Feststellung. Junge lettische Dichter, die ihr Land wegen der sowjetischen Besatzung verlassen haben, würden die verlorene Heimat immer mit der Natur verbinden. Die Stadt werde dagegen zum Symbol des Exils – und damit zu einem Symbol für etwas Negatives.

Etwas ganz Ähnliches zeigt sich auch in einem jüngeren Buch, das 2008 in Estland erschienen ist und den estnisch-englischen Titel »Meie Inimesed/Our People – Estonian Stories« trägt. 40 Autoren, nicht nur Esten und Estinnen, sondern auch Ausländer, die in Estland heimisch geworden sind, beschreiben darin ihre Liebe zu Land und Leuten. In ihren Texten wird ganz Erstaunliches deutlich. Etwas, was weit über das »Pilze sammeln« hinausgeht. Während in fast keinem Artikel das estnische Wort für Natur, loodus, fehlt, wird die Stadt, und hier vor allem die Hauptstadt Tallinn, als Gegenstück zu dieser Natur beschrieben. Natur macht demnach frei, die Stadt engt ein. Erstaunlich ist dies vor allem deshalb, weil über die Hälfte der Einwohner Estlands in Städten und eben nicht auf dem Land wohnt. Die Natur Estlands, das Leben auf dem Land, wird so zum Ort der Sehnsucht, an dem man nur am Wochenende oder im Urlaub leben kann. (Wenn man inzwischen nicht doch lieber nach Mallorca oder in die Türkei fliegt.) In den »Estonian Stories« steht jedoch nicht nur Stadt gegen Land, sondern auch das Leben in Zeiten der Globalisierung gegen das Gute, Althergebrachte, Traditionelle. Was natürlich ebenso überrascht, gilt Estland doch als das »E-Land schlechthin«, als Eldorado für alles, was mit Internet und modernen Kommunikationsformen zu tun hat. Hin- und hergerissen zwischen Volkslied und Facebook – bestimmt dieser Konflikt das Leben der jungen Esten und vielleicht auch der jungen Letten und Litauer?

In einem Gedicht des 1971 in Riga geborenen Māris Salējs heißt es: »Meine Politik ist, keine Zeitung zu lesen und in den Himmel zu schauen, mit solchem Interesse, dass das Herz übergeht.«

Eine »entschiedene Ablehnung der gesellschaftlichen Wirklichkeit« nannte dies die lettische Kommunikationswissenschaftlerin Ilva Skulte. Und sie stellte fest: »Wie ein Magnet zieht das romantische Ideal des Hauses auf dem Land mit dem ihm eigenen zyklischen, von Naturabläufen und dem Wechsel der Jahreszeiten geprägten Lebensrhythmus, seinem Nebeneinander von Werden und Vergehen, den über Jahrzehnte und Jahrhunderte gepflegten Bräuchen, Werten und Regeln auch die zeitgenössische lettische Literatur an.«

Das romantische Ideal des Hauses auf dem Land. Vielleicht ist seine Bedeutung auch deshalb so groß, weil es bereits zu Sowjetzeiten die Möglichkeit des Rückzugs, der Flucht bot. Hier traf man die Freunde, die man in den Städten nicht zu treffen wagte, hier redete man über das, was in den Städten, wo jeder mithören konnte, tabu war. Und man verbrachte hier die langen Sommermonate, wenn die Kinder Schulferien hatten und die Urlaubsreise ins Ausland einmal mehr von den Behörden nicht gestattet worden war. Und außerdem: Wo sollte man sonst das Ligofest feiern. Oder Pilze sammeln. Und so werden Sie bei Ihrem Anflug auf Vilnius, Tallinn oder Riga schließlich noch etwas feststellen: Mitten in den Wäldern und an den Ufern der Seen stehen bunte, kleine Häuser aus Holz. Vielleicht fühlen Sie sich an die Häuschen in unseren Schrebergärten erinnert. Aber ihre Bedeutung ist viel größer.

In Lettland leben über 60 Prozent der Bevölkerung in Mietwohnungen, und ebenfalls um die 60 Prozent dieser Wohnungen gelten als »überbelegt«. Dies stellte zumindest das Statistische Amt der Europäischen Union fest. Höhere Werte gibt es in keinem anderen EU-Land. Wenn jedoch jeder der zwei Millionen Einwohner Lettlands seinen Wunsch nach einem Landhaus wahr machen würde, dann würde es rund um die Waldseen und an der Ostseeküste bald eng werden. Denn genau dies sind die beliebtesten Wochenendziele. Welche Folgen ausgelebte Immobilienträume haben können, zeigt sich derzeit an den Rändern der Städte in allen drei baltischen Staaten. Einfamilienhäuser, Villen, Reihenhäuser in allen Größen und Formen, manchmal fertiggestellt, oft aber auch wegen der Finanzkrise unvollendet, bestimmen das Bild. Der Este Toomas Annus hat mit diesem Bauboom ein Vermögen von geschätzten 134 Millionen Euro gemacht. Heute ist er einer der reichsten Männer des Baltikums.

Was durch die Zersiedlung der Landschaft so mehr und mehr verschwindet, ist das, was nicht nur jahrhundertelang, sondern über Jahrtausende diese Landschaft prägte: der Wald. Tatsächlich können Sie bei Ihrer Reise durch die drei Staaten ohne allzu große Anstrengung zu einem wahren Waldexperten werden. Falls Sie bei der Fahrt auf den kerzengeraden Straßen, die durch den Wald führen, nicht einschlafen. Rechts Kiefern und Fichten, links Kiefern und Fichten, und ab und zu eine Birke, ab und zu eine Espe. Und ab und zu auch mal ein Mensch. Denn Menschen gibt es wenige, am wenigsten in Estland, das etwa so groß ist wie die Niederlande, aber nicht 16 Millionen, sondern nur 1,3 Millionen Menschen zählt. 30 Einwohner sind das auf einem Quadratkilometer.

Etwa die Hälfte Estlands ist bewaldet, in Lettland sind es gut 40 Prozent, in Litauen ein Drittel. Es gibt Urwälder mit Baumriesen, aber auch Wälder, in denen die Stämme so dünn sind, dass man sich fragt, wie Ikea hiermit Geschäfte machen kann. Tatsächlich hat die schwedische Möbelhauskette das Baltikum schon vor langer Zeit für sich entdeckt. Über 1,5 von 4,4 Millionen Hektar Wald sind laut Zeitungsangaben in ausländischer Hand. Der Wald ist hier bis zu zehnmal billiger als in Skandinavien. »Aktienkurse fallen und steigen, aber der Wert des Waldes steigt von Jahr zu Jahr. Deshalb kaufe ich Wald und keine Aktien«, wird ein schwedischer Geschäftsmann von einer lettischen Zeitung zitiert. Doch das Baltikum ist nicht nur ein bedeutender Holzlieferant, sondern auch die verlängerte Werkbank des Westens. Möbel und Papier, das waren schon zur Zarenzeit die wichtigsten Wirtschaftszweige der Ostseeprovinzen. Nachdem vor allem litauische und lettische Firmen lange nur für Ikea und den Export produzierten, eröffneten die Schweden im August 2013 nun ihr erstes Möbelhaus im Baltikum. In Vilnius standen die Käufer, wie kaum anders zu erwarten, Schlange, und Staatspräsidentin Dalia Grybauskaitė selbst gab den symbolischen Startschuss, indem sie einen Holzblock zersägte. Die örtliche Presse hielt minutiös fest, dass die beliebte Politikerin eine Decke, eine Buchstütze, Senf und Knäckebrot kaufte. Kritischere Stimmen meinten, dass die Litauer sich verhielten, als hätte es bisher keine Möbel in ihrem Land gegeben. Nach der Wende habe man für Westwurst angestanden, nun für Buchstützen aus dem Westen. Die auch noch im eigenen Land hergestellt würden.

Ikea trägt dazu bei, dass die baltischen Wälder lichter und eintöniger werden. Auch wenn das schwedische Unternehmen dies natürlich ebenso bestreitet wie die örtliche Forstwirtschaft. Doch Fichten wachsen eben schneller als Laubbäume, und für den Rückgang der traditionellen Birken macht man, wie für so vieles, Moskau verantwortlich. Die Kommunisten seien der Ansicht gewesen, dass es »in Zukunft keinen Bedarf an Laubbaumholz mehr geben wird«. Sicher jedoch ist, dass in Lettland allein 2009 der Export von Holz um 50 Prozent gestiegen ist und dass die Möbelindustrie zu den am schnellsten wachsenden Wirtschaftssektoren in Litauen zählt. In den 1980er-Jahren wurden hier jährlich drei Millionen Meter Holz geschlagen, 20 Jahre später waren es fünf Millionen, 2020 sollen es über sechs Millionen Meter sein. Kommen Sie ins Baltikum, solange es den Wald noch gibt.

»Wilna, die Stadt die thront inmitten von mächtigen Wäldern, gleich wie ein Wolf inmitten von Wisenten, Keilern und Bären«, schrieb Adam Mickiewicz in seinem »Pan Tadeusz«. Der polnische Nationalschriftsteller hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts an der Universität von Vilnius studiert, und die tiefen Wälder Litauens haben ihn nicht nur zutiefst beeindruckt, sondern auch zu seinem vielleicht wichtigsten Werk inspiriert. Viele Litauer können bis heute ganze Passagen aus »Pan Tadeusz« zitieren. Allerdings zeigten sich zu dieser Zeit die Wälder des Landes schon lange nicht mehr so tief und unzugänglich wie bei der Gründung der Hauptstadt. Bereits im 16. Jahrhundert war mit ihrer Abholzung begonnen worden, und welche Folgen eine solche Holzgewinnung für ökonomische Zwecke haben kann, können Sie am eindrucksvollsten auf der Kurischen Nehrung erfahren.

Versetzen Sie sich in die Zeit der »Großen Drei«, in die Zeit, als Zarin Katharina die Große von Russland, Kaiserin Maria Theresia von Österreich und Preußens König Friedrich II. um die Herrschaft in Europa kämpften. Und für ihre Kriege Schiffe brauchten. Schiffe, die Friedrich der Große in Memel bauen ließ – und das Holz dafür kam von der Kurischen Nehrung. Am Ende dieser Kriege, die im Übrigen keiner der drei wirklich für sich entscheiden konnte, war die Nehrung praktisch abgeholzt. Und so begann, wie ein örtlicher Reiseführer festhält, das Drama aus Sand und Wind: »Wie Pompeji unter der Asche wurden Dörfer, Wälder und Straßen der Nehrung unter Sandmassen begraben.« Etwas weniger prosaisch könnte man natürlich auch sagen, es kam zu einer ersten, frühen Umweltkatastrophe. Ohne die Wälder hatten die Dörfer der Nehrung ihren natürlichen Schutz verloren. Heftige Stürme türmten Dünen auf, die immer weiter auf die Dörfer zu wanderten – und sie schließlich unter sich verschwinden ließen. Insgesamt 14 Dörfer liegen unter 30 bis 40 Meter hohen Sandbergen verschüttet. Auch die Einwohner von Nidden, dem heutigen Nida, mussten mehrere Male vor den Wanderdünen fliehen und ihr Dorf neu aufbauen.

Die Wanderung der Dünen ist Thema des bekanntesten Gedichts über die Kurische Nehrung: »Die Frauen von Nidden« von Agnes Miegel. Die in Königsberg geborene Miegel ist sicher eine der umstrittensten Persönlichkeiten der deutschen Literatur, denn sie schrieb nicht nur Gedichte über Ostpreußen, sondern auch Hymen auf Adolf Hitler. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dennoch mehrere Schulen und Straßen nach der »Mutter Ostpreußens« benannt. Erst als die Deutschen begannen, sich intensiver mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, wollten sie dies wieder rückgängig machen. Was in einigen Fällen auch geschah. Bis heute tobt im Internet eine rechthaberische Debatte über Agnes Miegel. Es war jedoch ausgerechnet der polnisch-jüdisch-deutsche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der 2005 drei ihrer Werke in seine Anthologie »Der Kanon« aufnahm. Darunter auch die Ballade »Die Frauen von Nidden«:

Die Frauen von Nidden standen am Strand,

Über spähenden Augen die braune Hand,

Und die Boote nahten in wilder Hast,

Schwarze Wimpel flogen zügelnd am Mast.

In elf Strophen beschreibt Agnes Miegel, wie die Pest des Jahres 1709 vom Memeldelta auf die Kurische Nehrung kam, wie sie »mit den Elchen über das Haff schwamm« und wie für sieben Frauen von Nidden die Wanderdünen vom Fluch zum Segen wurden. Und so schließt das Gedicht mit den Worten:

»[...]Schlage uns still ins Leichentuch,

Du unser Segen, – einst unser Fluch.

Sieh, wir liegen und warten ganz mit Ruh’« –

Und die Düne kam und deckte sie zu.

Inzwischen sind die Wanderdünen zum Stillstand gekommen. Zumindest weitgehend. Ende des 18. Jahrhunderts begannen Wissenschaftler mit der Wiederaufforstung der Kurischen Nehrung, und heute ist wieder ein Großteil vor allem von Kiefern bewachsen. Hellen, lichten Kiefern, die schon Thomas Mann mit den Pinien südlicher Länder verglich. So dicht stehen die Bäume, dass es einigen schon wieder zu viele sind. Im Jahr 2000 wurde die Nehrung in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen, und seitdem stoßen die Interessen von Naturschutz und Tourismus aufeinander. Viele meinen, dass die Besucher vor lauter Bäumen zwar den Wald, nicht aber die Ostsee oder das Haff sehen könnten. Eine Umweltschützerin forderte sogar, die Zahl der Bäume zu reduzieren, damit der Blick auf die Dünen wieder frei werde. Tatsächlich werden Sie bei Ihrer Fahrt mit Auto, Bus und Fahrrad auf der alten Haupt- und Poststraße der Nehrung weder Strand noch Ostsee sehen. Dazu müssen Sie schon eine kleine Wanderung machen.

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