Geburtstagskind - Anders Roslund - E-Book
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Anders Roslund

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Beschreibung

»Das perfekte Scandi Noir!« The Times Fünf rote Kerzen auf einem Geburtstagskuchen. Zanas Vorfreude ist groß. Doch dieser Tag verändert alles für ihre Familie. Dabei wollte sie nur mit allen "Happy Birthday!" singen. Als Kommissar Ewert Grens das Stockholmer Apartment betritt, nehmen ihm der Geruch schlecht gewordenen Essens und der Geruch nach Verwesung den Atem. Was er dann erblickt, wird er nie wieder vergessen. Fast zwanzig Jahre später steht er wieder in demselben Apartment. Jemand ist zurückgekehrt und sucht nun nach Zana. Grens weiß, die Zeit ist knapp, er muss Zana vor ihren Verfolgern finden. »Scandi-Noir-Fans kommen voll auf ihre Kosten. Geburtstagskind ist eine düstere Lektüre – nichts für zartbesaitete Leser*innen.« The Herald Anders Roslund erzählt von Verrat und Rache, seine Ermittler Grens und Hoffman gehen drei Tage lang durch die Hölle. *** »Was für ein Pageturner! Clever, nachdenklich und unglaublich gut erzählt. All das zu einem Soundtrack, von dem wir nicht genug bekommen können.« Svenska Dagbladet »Unmöglich, dieses Buch beiseitezulegen. Wie gelingt es Anders Roslund nur, Tage, Stunden und Sekunden so ineinanderfließen zu lassen?« Expressen *** Für alle, die nicht genug von atemraubender Unterhaltung bekommen:  Der neue Thriller von Anders Roslund: »Schlaft, Kinder, schlaft« erscheint am 28.07.2022 bei Ullstein.

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Geburtstagskind

Der Autor

Anders Roslund, geboren 1961 in Jönköping, hat als eine Hälfte der erfolgreichen Autorenteams Roslund & Hellström und Roslund & Thunberg zehn Bücher veröffentlicht. Diese wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und brachten ihm international viele Auszeichnungen ein. Geburtstagskind ist der erste Kriminalroman, den er unter seinem eigenen Namen veröffentlicht.

Das Buch

»Was für ein Pageturner, clever, nachdenklich und unglaublich gut erzählt. All das zu einem Soundtrack, von dem wir nicht genug bekommen können.« Svenska Dagbladet

»Unmöglich, dieses Buch beiseite zu legen. Wie gelingt es Anders Roslund nur, Tage, Stunden und Sekunden so ineinanderfließen zu lassen?« Expressen

Anders Roslund

Geburtstagskind

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von UIla Ackermann

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

ISBN 978-3-8437-2347-3Ungekürzte Ausgabe bei Ullstein eBooksAugust 2020© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbHPublished by agreement with Salomonsson AgencyUmschlaggestaltung: bürosüd GmbH, MünchenTitelabbildung: GettyImages / Dave Huntington / EyeEm E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

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Inhalt

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Ich bin fünf Jahre alt.

Fast genau.

Ich weiß das. Fünf Jahre und ein paar Tage und ein paar Nächte.

Es ist, als hätte ich eben erst am Küchentisch gesessen – mit Mama auf der einen Seite, Papa auf der anderen und Eliot und Julia gegenüber – und fünf Kerzen auf einmal ausgepustet, sie standen mitten auf der Torte und waren rot und auch ein kleines bisschen blau, aber nur ganz unten, wenn man ganz genau hinguckte.

Ein paar Tage und ein paar Nächte.

Ich räuspere mich und lache, wie immer, wenn ich singe. Ich mag dieses Lied furchtbar gern. Hochsollsieleben. Und wenn ich ganz laut singe, prallt meine Stimme an der Decke und an den Wänden ab und kommt in meine Arme zurück, ich kann sie auffangen, sie festhalten.

Hochsollsieleben. Hochsollsieleben.

Wenn ich singe, höre ich den Fernseher nicht. Kinderfernsehen. Ich habe fast den ganzen Tag ferngesehen. Genau wie gestern. Und gesterngestern. Das durfte ich früher nie. Jetzt darf ich es.

Ich stehe auf, es ist schwierig, auf dem Boden sitzen zu bleiben, wenn meine Beine hüpfen wollen, und das wollen sie oft. Ich hüpfe aus dem Wohnzimmer, das groß ist und in dem ich vorsichtig sein muss, wegen dem Sofa, das fast neu ist, und dem Tisch, der aus Glas ist und den ich nicht anfassen darf, weil er dann Flecken bekommt, die aussehen wie meine Finger.

Ich hüpfe den ganzen Weg bis in Eliots Zimmer, er sitzt mit angeknipster Lampe auf seinem Schreibtischstuhl und tut so, als würde er lesen, aber das Buch liegt nur aufgeschlagen vor ihm. Er kann lesen, das weiß ich, er geht schon in die zweite Klasse. Eliot ist in den letzten Tagen netter geworden. Wahrscheinlich, weil ich Geburtstag hatte. Ich bin nicht mehr vier, ich bin jetzt groß. Er schubst mich nicht mal mehr von seiner Rennbahn weg, die er immer ganz oben auf den Schrank stellt, nur damit ich nicht drankomme. Und er hat mich gewinnen lassen, zwei Mal, mit dem blauen Auto mit dem gelben Streifen auf dem Dach, das hat er früher nie gemacht.

Ich darf immer nur auf einem Bein hüpfen. Abwechselnd. Wenn ich mit beiden Beinen gleichzeitig hüpfe, muss ich zurück und noch mal von vorne anfangen. Das habe ich mir selbst ausgedacht.

In Julias Zimmer steht ein Puppenhaus. Es ist sehr alt. Und ich darf es nicht anfassen. Wenn ich es doch tue, rennt Julia sofort in mein Zimmer, greift sich mein Puppenhaus und schüttelt es ganz doll. Aber meine große Schwester schläft. Auf dem Bauch und mit zur Seite gedrehtem Gesicht. Sie sieht nicht, dass ich die winzigen Puppenmöbel, die im obersten Stock stehen sollen, nach unten stelle.

Jetzt darf ich nicht hüpfen. Dann würde sie mich bemerken. Ich muss mich rausschleichen. Wenn Julia aufwacht und mich am Puppenhaus entdeckt, fängt sie an zu schreien und boxt mir vielleicht gegen den Arm.

Mama sitzt auf einem Stuhl in der Küche. Sie lacht. Nicht so, dass man es hört, aber ihr Mund ist fröhlich, als sie auf meine hopsenden fünfjährigen Füße blickt. Sie ist schon lange fröhlich, das ist schön. Wenn Mama lacht, macht es nichts, wenn man gelben Orangensaft direkt aus der großen Tüte trinkt und ein bisschen Saft am Kinn runterläuft und auf den Boden tropft, oder wenn beim Backen Zucker und Mehl auf dem Küchentisch landen. Ich ziehe mich an der Tischkante hoch und setze mich auf Mamas Schoß. Auf Mamas Schoß ist es immer leicht, mit ihr zu reden, dann kann ich mein Ohr an ihren Bauch und ihre Brust legen und ihre Stimme hören, die schon tief in ihr klingt, bevor sie rauskommt.

Nachdem ich bei Mama gesessen habe, hopse ich immer abwechselnd auf einem Bein in den Flur zu dem knarrenden Korbstuhl in der Ecke, zu Papa. Da sitzt er gerne und liest seine Zeitungen, weil es bei den Schuhen und den Jacken und der großen Vase mit den Regenschirmen wohl leiser ist. Ich lausche. Ja, es stimmt, es ist leiser. Und der Stuhl ist groß, fast wie ein Sessel. Ich habe genug Platz neben ihm, und ich glaube, es gefällt ihm, wenn ich so sitze, dann kann er seine Arme bewegen und seine Zeitungen umblättern, die rascheln und groß sind.

Eliot und Julia und Mama und Papa. Ich glaube, ich mag sie jetzt noch lieber als vorher. Ich darf so viel reden, wie ich will. Und sie hören zu.

Es ist schön, fünf zu werden.

Auch ein paar Tage später noch.

Ich fange wieder an zu singen. Hochsollsieleben. Hochsollsieleben. Ich singe laut, superlaut, so muss ich nicht hören, wie es an der Tür klingelt. Und noch mal klingelt. Aber irgendwann höre ich auf zu singen und höre es doch, ein bisschen. Ich springe von Papas Stuhl und renne, so schnell ich kann, und wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle und hochspringe, komme ich gerade so an den länglichen Knauf, den man drehen muss, wenn man die Tür aufmachen will.

Das hat Mama mir beigebracht. Dass man hinter sich abschließen muss. Dass der glänzende Knauf immer wie ein Strichmund aussehen muss und nicht wie eine Nase.

Diesen Knauf versuche ich jetzt zu drehen.

Eine schöne Tür.

Dunkles, massives Holz, frühes zwanzigstes Jahrhundert. Sie passt gut zu dem dumpfen Geläut, das zaghaft den runden Treppenaufgang füllt, von den ein wenig ausgetretenen Stufen widerhallt, der hohen weißen Stuckdecke und der geblümten Tapete, die von Stock zu Stock immer echter zu blühen scheint. Ewert Grens steht im dritten Stock in einem Haus in der Stockholmer Innenstadt vor einer Wohnungstür und drückt ein drittes Mal auf die Klingel.

»Es ist jemand da. Ich höre es den ganzen Tag. Durch den Wohnzimmerfußboden, im Flur, sogar im Badezimmer. Haben Sie eine Ahnung, wie dünn die Decken in diesem Gebäude sind?«

Eine Stimme in seinem Rücken, irritierend und fistelig. Grens dreht sich nicht um, antwortet nicht und klingelt stattdessen ein viertes Mal an der Tür.

»Irgendjemand singt – wahrscheinlich eins der Kinder, da bin ich mir ziemlich sicher, sie haben drei. Und der Fernseher läuft ununterbrochen, jedenfalls klingt es so, seit Tagen. Nicht nur tagsüber – auch nachts. Ich habe Sie angerufen, ich wohne in der Wohnung obendrüber.«

Jetzt sieht der Kriminalkommissar den Menschen hinter ihm an. Ein Mann um die vierzig, die Arme vor der Brust verschränkt, einer dieser Menschen, die er nicht mag, ohne zu wissen, warum, einfach so aus dem Bauch heraus. Einer, der sein Ohr an Türen legt, um zu lauschen.

»Hoch soll sie leben.«

»Wie bitte?«

»Das singt das Kind. Hoch soll sie leben. Immer wieder.«

Ein Nachbar, der ein merkwürdiges Geräusch gemeldet hat.

Und erneut anrief, als aus dem merkwürdigen Geräusch ein merkwürdiger Geruch geworden war.

»Ich muss Sie jetzt bitten, in Ihre Wohnung zurückzugehen.«

»Aber ich habe Sie …«

»Ja – und das haben Sie richtig gemacht. Aber jetzt möchte ich, dass Sie in Ihre Wohnung zurückgehen. Ich kümmere mich darum.«

Grens wartet, bis er allein im Treppenhaus steht, dann drückt er ein letztes Mal auf die Klingel, länger diesmal. Als niemand öffnet, bückt er sich, um die Briefklappe in der Tür anzuheben, doch er kommt nicht dazu. Auf der anderen Seite der Tür versucht jemand, den Knauf umzudrehen. Jemand, dem es nicht gelingt, der es wieder probiert. Er hört, wie jemand auf dem Fußboden landet.

»Polizei.«

Hops, hops, als würde jemand springen.

»Polizei. Machen Sie die Tür auf.«

Ein Schloss, das mühsam geöffnet wird. Eine Klinke, die sich bewegt.

Ewert Grens trägt nicht gerne Waffen. Jetzt aber zieht er seine Pistole aus dem Schulterholster und tritt einen halben Schritt zurück.

Ihre Haare sind ziemlich lang. Hell. Er kennt sich mit Kindern nicht aus, aber er schätzt sie auf vier, höchstens fünf Jahre.

»Hallo.«

Sie trägt ein rotes Kleid. Mit großen Flecken auf Brust und Bauch. Sie lächelt, ein Gesicht mit noch mehr Flecken, vermutlich Essensreste.

»Hallo. Sind deine Mama oder dein Papa zu Hause?«

Sie nickt.

»Gut. Kannst du sie holen?«

»Nein.«

»Nein?«

»Sie können nicht laufen.«

Eigenartig. Wie dieser Geruch – dieser aufdringliche, stechende Geruch, den er so gut kennt, der ihm schon in dem eleganten Treppenhaus schwach in die Nase gestiegen ist und ihm mit unverminderter Intensität entgegenschlug, als das Kind mit dem fleckigen Kleid die Tür öffnete –, wie dieser Geruch erst Teil seines Bewusstseins wird, nachdem er ein paar Schritte in den Flur hinein gemacht hat und vor einem Mann steht, der zusammengesackt auf einem Stuhl zwischen Hutablage und Schuhregal sitzt.

»Das ist mein Papa.«

Das größere Loch ist das rechts in der Stirn. Die Kugel ist frontal eingetreten, aus geringer Distanz, vermutlich ein Revolver und ein Teilmantelgeschoss, die eine Hälfte Blei, die andere Titan.

»Ich hab’s ja gesagt.«

Das zweite Einschussloch ist etwas kleiner, der Treffer ist in schrägem Winkel unterhalb der linken Schläfe erfolgt.

»Sie können nicht laufen.«

Ewert Grens ist zu gelähmt, um zu verhindern, dass das Mädchen auf den Schoß ihres Vaters klettert und seine steifen und widerwilligen Hände so arrangiert, dass sie nicht im Weg sind, und sich dicht neben ihn setzt, in die Ritze zwischen seinem rechten Oberschenkel und einer Armlehne des Stuhls.

»Komm.«

»Ich will mit meinem Papa reden.«

»Komm her zu mir.«

Grens hat noch nie ein Kind in der Größe gehalten, sie ist schwerer, als er gedacht hat. Vorsichtig greift er unter ihre Achseln, hebt sie hoch.

»Sind noch andere hier?«

»Andere?«

»Außer dir und deinem Papa?«

»Alle sind hier.«

Die Mutter sitzt auf einem Stuhl in der Küche. Sie scheint die Augen geschlossen zu haben und zu lächeln, das Gesicht starr, die Lippen eingefroren. Zwei Einschusslöcher, wie beim Vater – Stirn und Schläfe. Zucker und Mehl auf dem Küchentisch, auf ihrer Kleidung und auf dem Fußboden, einem Fußboden, der klebt und seine Schuhsohlen festhalten will, als er darübergeht. Am längsten bleibt Grens’ Blick an der Torte hängen. Sie steht auf dem großen Küchentisch, fünf erloschene Kerzen, grünes Marzipan, noch nicht angeschnitten.

»Das ist meine. Die Torte.«

»Die sieht lecker aus.«

»Ich habe die Kerzen ganz allein ausgepustet.«

Die beiden Geschwister sind genau da, wo sie, wie das Mädchen sagt, schon lange sind. In ihren Zimmern. Die Schwester liegt auf dem Bett, der Bruder sitzt auf dem Schreibtischstuhl, beide mit Einschusslöchern in Stirn und Schläfe, wie bei ihren Eltern.

Dieser verfluchte Lärm. Ein Fernseher, ohrenbetäubend laut, Kinderprogramm. Ewert Grens schaltet ihn aus.

Das stille Wohnzimmer wirkt leerer.

Eröffnet den Raum für einen Geruch, der der schlimmste ist, den er kennt.

Er lässt sich auf dem schwarzen Ledersofa nieder, glänzend und breit, und setzt das Mädchen in einem der Sessel ab. Er betrachtet sie, sie scheint keine Angst zu haben, summt leise vor sich hin.

»Du singst schön.«

»Hochsollsieleben.«

»Sehr schön. Du hattest Geburtstag?«

»Ja.«

»Bist du fünf Jahre alt geworden? So wie die Kerzen auf der Torte?«

»Und ein paar Tage.«

»Ein paar Tage?«

»Und ein paar Nächte.«

Ewert Grens blickt sich um, gibt sich Mühe, langsam zu atmen, gleichmäßig.

Ein paar Tage und ein paar Nächte.

So lange lebt das kleine Mädchen schon mit diesem Geruch.

HEUTE

ERSTER TEIL

Er hatte den Sommer noch nie gemocht.

Der Sommer war etwas, das auf seiner Haut scheuerte, gegen das er jahrelang angekämpft hatte, bis er irgendwann aufgab. So war es eben. Die Hitze. Die träge Stadt. Menschen, die in kurzen Hosen herumliefen und zu laut lachten.

Kriminalkommissar Ewert Grens lag auf einem braunen Cordsofa, dessen Stoff keine Längsrippen mehr hatte, den Kopf auf der etwas zu hohen Armlehne, der Rücken in den Kissen versinkend, die schon seit Langem zu weich waren. Die sanfte Musik, Siw Malmkvist und die Sechzigerjahreschlager, die sie nur für ihn sang, strömte aus dem betagten Lautsprecher, den er ins Bücherregal zwischen übervolle Aktenordner und dicke Ermittlungsmappen gezwängt hatte. Die zwei Fenster des Raums standen sperrangelweit offen, kaum Vormittag, aber schon siebenundzwanzig Grad draußen, siebenundzwanzig Grad innen. Er hatte aufgehört zu kämpfen, als ihm klar geworden war, dass er nicht allein damit war. Es gab viele Menschen, die die Sommermonate hassten. Die aber nicht gegen Jahreszeiten kämpften – sondern gegen Menschen. Die verfluchte Hitze kroch in sie hinein, jagte sie, ließ ihre Hemmschwellen fallen, und nicht nur in den Gefängniskorridoren stieg die Zahl der Aufruhre, wenn das Eingesperrtsein einen erstickte. Auch außerhalb dieser Mauern schrumpfte die Wirklichkeit, wenn das, was von oben kam, erdrückte und zusammenpresste. Und wenn das Herz härter arbeitete, kam die Gewalt, die Menschen verletzten einander mehr, töteten. Er hatte sein Leben lang Morde aufgeklärt, und die meisten davon in Nächten, in denen es nie ganz dunkel geworden war. Es war lange her, dass er Urlaub genommen hatte, wenn kein Schnee auf dem Asphalt lag.

Eine Hand klopfte hartnäckig an die Tür seines Büros.

Das konnte sie gerne weiter tun.

Sein Nacken war steif und verspannt, sein Bein schmerzte wie üblich. Auf dem staubigen Flur der Mordkommission war er der Älteste, innerhalb der gesamten Belegschaft der Polizeibehörde der Zweitälteste. Noch ein halbes Jahr bis zu dem großen schwarzen Loch, das ihm mehr Angst einjagte als sein Bett zu Hause. Ein bodenloses Loch, in das man haltlos stürzte. Das Einzige, woran er nicht denken durfte, und das Einzige, woran er permanent dachte.

Dieses verfluchte Klopfen. Es hörte nicht auf.

Über vierzig Jahre. Ein halbes Leben. Als er dieses Gebäude zum ersten Mal betreten hatte, war er so viel jünger gewesen und trotzdem schon fest überzeugt, hierher zu gehören. So jung, dass er nicht begriffen hatte, dass es eines Tages zu Ende sein würde. Nicht weil man es selbst beschloss, sondern weil die Gesellschaft, von der man nie hatte Teil sein wollen, es für einen entschied.

»Ewert?«

Klopfen allein reichte nicht mehr. Jetzt wurde durch das Schlüsselloch gerufen.

»Ich weiß, dass du da bist, Ewert. Ich komme rein. Egal, was du davon hältst.«

Er lag unverändert auf dem verschlissenen Cordsofa, als die Tür geöffnet wurde. Sie musterte ihn kurz, dann schloss sie die Tür, ging zielstrebig zum Kassettenrekorder und betätigte die Stopptaste. Siw verstummte. Lieder einer Zeit, in der alles so viel einfacher gewesen war.

Vor ihm stand Mariana Hermansson.

Vielleicht die einzige Person im Polizeipräsidium, die sich nie seinem Willen beugte, die ihm die Stirn bieten durfte und die keine Ahnung hatte, dass ihr Chef jedes Mal, wenn sie es tat, insgeheim voller Stolz lächelte.

»Ein Einbruch, Ewert.«

Ihr Büro lag am Ende des Flurs. Sie war als Sommervertretung zur Kriminalpolizei gekommen, und er hatte sie für eine Festanstellung durch die Bürokratie geschleust, vorbei an einer langen Reihe qualifizierterer Bewerber. Sie war ihm ans Herz gewachsen, die Tochter, die er nie bekommen hatte und die ihm manchmal entschlossen die Hand auf den Arm legte, wenn sie mit ihm sprach, die Antworten auf Fragen forderte, die er nicht hören wollte, die ihn ansah, über ihn lachte, ihn verunsicherte, am einzigen Ort, an dem er sich sicher fühlte.

»Und ich möchte, dass du dir das ansiehst. Jetzt.«

Er setzte sich aufrecht auf die äußerste Polsterkante, streckte sich, gähnte und deutete auf die Papierstapel auf seinem Schreibtisch.

»Einbrüche sind nicht meine Baustelle. Weil in dieser Stadt viel zu viele Menschen sterben. Und diese Menschen nehmen – wie du weißt – meine ganze Zeit in Anspruch.«

Sie ließ nicht locker, er hatte es nicht anders erwartet.

»Dalagatan 74.«

»Ja?«

»Dritter Stock.«

»Und?«

»Wohnungsnummer 1301.«

Sie hielt einen Umschlag in der Hand, den sie ihm jetzt auffordernd entgegenstreckte. Er sah ihn an, ohne danach zu greifen.

»Ist es in deinem Büro auch so warm, Hermansson? Ich glaube, die Klimaanlage funktioniert nicht.«

Sie setzte sich auf das Cordsofa, neben ihn, es war so durchgelegen, dass sie beide auf den Boden sackten.

»Ein Einbruch, Ewert, bei dem nichts gestohlen wurde. Deshalb hatte ich die Anzeige zunächst zur Seite gelegt. Weil ich auch keine Zeit habe.«

Sie deutete mit dem Kopf auf seine Papierstapel. Er wusste, wie ihr eigener Schreibtisch aussah. Noch mehr Stapel. Und noch mal so viele auf dem Fußboden.

»Dann habe ich gemacht, was ich immer mache. Habe mir die Anzeige angesehen, sie ganz oben auf den Stapel gelegt und in der RMR nach Anzeigen aus den letzten Jahren in der näheren Umgebung der Adresse gesucht.«

Ewert Grens streckte sich zum zweiten Mal, diesmal ohne zu gähnen. Er war sich dessen nicht bewusst, aber seit sie ungebeten hereingeplatzt war und die Musik ausgeschaltet hatte, seit ihre Stimme seine Aufmerksamkeit forderte, lächelte er.

RMR. Rationale Melderoutine. Das hatte er ihr beigebracht.

»Und?«

»Das Übliche. Einige Diebstähle. Mehr häusliche Gewalt, als die teuren Fassaden vermuten lassen. Etliche Gramm Drogen. Und ein paar Fälle von fahrlässiger Tötung.«

Sie beugte sich vor, drückte den Umschlag gegen seine Brust, bis er danach griff.

»Aber keine Anzeige, die ich mit dem Einbruch in Verbindung bringen konnte. Nichts, das erklärt, warum jemand mitten am Tag in eine Stadtwohnung einbricht, unbehelligt darin umherläuft – und wieder verschwindet, ohne etwas mitzunehmen.«

»Was hältst du davon, wenn wir die Bürotür aufmachen, Hermansson? Wenn noch jemand seine Tür und seine Fenster geöffnet hat, entsteht Durchzug, frische Luft. Es sind schon siebenundzwanzig Grad. Und es sollen noch fünf mehr werden!«

»Ich wollte mich gerade aus dem System ausloggen, die Anzeige wieder zur Seite legen, den Fall zu einem der sechsundfünfzigtausend offenen Vorgänge des Bezirks Stockholm runterpriorisieren und Wilson in ein paar Monaten empfehlen, die Sache ad acta zu legen.«

Hermansson riss Ewert Grens den Umschlag, mit dem er sich inzwischen mit geschlossenen Augen Luft zufächelte, aus der Hand, zog ein Dokument heraus, legte es auf den wackeligen Couchtisch und zeigte mit ungeduldigen Fingern auf die drei obersten Zeilen.

»Dann habe ich das hier gesehen. Eine Anmerkung ganz unten im Registerauszug. Ein rotes Fähnchen, das auf einen älteren Fall verweist, der nur in Papierform existiert und im Sicherheitsarchiv im Keller aufbewahrt wird. Eine siebzehn Jahre alte Ermittlung an derselben Adresse, im selben Stock, laut Wohnungsnummer sogar in derselben Wohnung. Eine Ermittlung zu einem Vorfall, der deine Baustelle ist – über die Menschen, die in dieser Stadt sterben.«

Er hörte jetzt zu, verstand aber noch immer nicht, wovon sie sprach.

»Die Anmerkung. Das rote Fähnchen.«

Anzeigen bezüglich der Adresse Dalagatan 74 erfordern unabhängig vom Straftatbestand sofortige Kontaktaufnahme mit Kriminalinspektor Ewert Grens.

»Dieser Eintrag stammt von dir, Ewert. Du hast ihn unterschrieben.«

Das Dokument lag auf dem Couchtisch, und ihre Finger deuteten weiter auf die Zeilen, die er sich ansehen sollte. Schließlich tat er es – er sah hin.

»Vor siebzehn Jahren?«

»Ja.«

»Und ein Mord?«

»Ja. Oder … vier Morde. Vater, Mutter, Tochter, Sohn.«

Eigenartig.

Wie die Erinnerung funktioniert. Wie das, was gerade noch vergessen war, mit unerhörter Kraft zurückkehrt, alles andere zur Seite drängt und Platz fordert.

Den ganzen Platz.

Denn er erinnerte sich.

Ewert Grens lehnte sich aus dem weit geöffneten Fenster. Unter ihm lag der Innenhof des Polizeipräsidiums Krono­berg, wo seine Kollegen in der Hitze auf Bänken saßen und sich von der Sonne Nasen und Wangen färben ließen oder im Schatten der Bäume Kaffee aus braunen Plastikbechern tranken.

Diese verfluchte Unruhe.

Vielleicht war es die Hitze, die in seinen Körper drang und ihn rastlos machte. Vielleicht waren es die Schweißtropfen, die kitzelnd seinen müden Rücken hinunterliefen.

Vielleicht war es auch ein kleines Mädchen, das mit Essensresten im Gesicht durch eine Wohnung hüpfte, kleine Füße, die den fürchterlichsten Geruch aufwirbelten, an dem fürchterlichsten Tatort, den er je betreten hatte – die Zimmer, die ihre tote Familie umgaben.

Ewert Grens ging gern in Stockholm spazieren, das hatte er schon immer gerne getan, schon damals, mit Anni an seiner Seite, die seine Hand ganz fest gehalten hatte. Der launische morgendliche Berufsverkehr lärmte und tobte, während er seine Schritte den steilen Abhang im Kronobergs­park hinunter beschleunigte, sich im Wasser unter der Sankt Eriksbron spiegelte und das Gemurmel des Odenplan gegen die Stille der Dalagatan tauschte.

Vierundsechzigeinhalb. Sechs Monate noch, bis jemand anderes sein Dienstzimmer auf dem Flur der Mordkommission übernehmen, sich dort einleben, seine Tür öffnen würde, wenn es klopfte. Genau wie er selbst einmal das Dienstzimmer von jemand anderem übernommen hatte, an den weder er noch seine Kollegen sich erinnerten. Eine Weile ist man da. Dann nicht mehr. Die Rentenbedingungen der schwedischen Polizei waren die besten, hieß es, und er hatte Kollegen, die schon mit einundsechzig der sperrigen Eisentür des Polizeipräsidiums den Rücken kehren und nie wieder einen Blick zurückwerfen wollten.

Alles hinter sich lassen.

Ein Niemand werden.

Obwohl er eines Tages beschlossen hatte, dass die Angst, die ihn plagte, hässlich und sinnlos war und ihn nicht mehr lenken durfte und dass er genug Lebenszeit damit verbracht hatte, sich vor dem zu fürchten, was bereits passiert war, hatte er in der letzten Zeit nicht einmal mehr auf dem ausgedienten Cordsofa gut geschlafen, das ihn bisher stets aufgenommen, ihn immer zur Ruhe hatte kommen lassen.

Denn sie war zurück. Die Angst. Weil das hier das Einzige war, was er hatte. Er wollte nichts anderes, konnte nichts anderes, kannte niemanden außerhalb des Polizeipräsidiums – hatte nie Lust dazu verspürt, sich niemals nach etwas anderem gesehnt.

Ein paar Minuten ging es noch die Bürgersteige der Vasa­stan hinunter, an den strengen, imposanten Fassaden entlang, die ihn mit ihren großen Fenstern beobachteten. Bis er vor der Eingangstür mit der Nummer 74 stehen blieb, die er vor so vielen Jahren verlassen hatte, die ihm aber dennoch vertraut war.

Der runde Treppenaufgang mit den leicht ausgetretenen Stufen, die hohe Stuckdecke, die geblümte Tapete, die wirklich zu blühen schien.

Und im dritten Stock wartete dieselbe massive Wohnungstür. Jedoch mit frischen Aufbruchspuren am Schloss, Holzsplitter, die lose herabhingen und noch nicht nachgedunkelt waren.

Er verharrte einen Moment, schloss die Augen, machte vorsichtige Atemzüge – versuchte, die kleinen Stöße in seiner Brust einzufangen, diese Stöße dicht am Herzen, den ungleichmäßigen, unbehaglichen Rhythmus, der an das Tapsen fünfjähriger Füße erinnerte.

»Ja?«

Eine Frau, blond, fast ebenso groß wie er, irgendwo zwischen vierzig und fünfzig.

»Ewert Grens. Kriminalkommissar bei der Polizei Stockholm. Es geht um den Einbruch in Ihre Wohnung.«

Ihr Blick ließ seinen nicht los – er war wachsam, fast feindselig.

»Ihr habt deswegen schon mit mir gesprochen.«

»Das ist richtig. Aber ich …«

»Eine Kollegin von Ihnen, ein bisschen jünger, jedenfalls klang sie jünger, hat Fragen gestellt, die ich beantwortet habe. Ich verstehe das nicht – ich habe schon einmal einen Einbruch gemeldet, nicht hier, in meinem Sommerhaus, und da habe ich nichts gehört, obwohl das ganze Haus ausgeräumt wurde und ich wiederholt bei der Polizei angerufen habe. Und jetzt … wo nichts gestohlen wurde, wollt ihr zweimal mit mir sprechen?«

»Kriminalinspektorin Mariana Hermansson hat mit Ihnen telefoniert, aber ich würde mir Ihre Wohnung gerne ansehen.«

Wachsame Augen.

»Wenn das so ist, würde ich gerne Ihren Ausweis sehen.«

Die Innentasche seines Jacketts, schwarzes Lederetui. Dienstausweis, Polizeimarke. Und sicherheitshalber überreichte er auch eine Visitenkarte mit seinem Titel, seiner Telefonnummer und seiner E-Mail-Adresse, die er selbst nicht auswendig kannte.

»Sie sind Kriminalkommissar?«

»Ja.«

»Dann verstehe ich noch weniger. Ein Kriminalkommissar? Wegen eines Einbruchs, der …«

Sie zuckte mit den Schultern, trat ein paar Schritte zurück, wies mit einem braun gebrannten Arm in die Wohnung.

»… kein Einbruch war, sondern eher Sachbeschädigung? Meine Sachen lagen zwar überall in der Wohnung verstreut, waren aber alle noch da.«

Wieder diese Erinnerung.

Die Platz beanspruchte, sich in den Vordergrund drängte.

Die antike Kommode und der große goldgerahmte Spiegel im Flur wurden durch einen Stuhl ersetzt, auf dem ein Mann mit einer Zeitung auf dem Schoß und zwei Einschusslöchern im Kopf saß. Der Kiefernholzesstisch im Wohnzimmer verwandelte sich in einen verwaisten Fernseher, in dem ein Zeichentrickfilm lief, und die leere, makellos saubere Küche war plötzlich klebrig und beherbergte ein kleines Mädchen, das auf den Schoß seiner toten Mutter kletterte.

Ewert Grens sah die Frau an, die ihn zögernd hereingelassen hatte, versuchte, sich auf ihren Mund zu konzentrieren, während sie seine Fragen beantwortete – Lippen, die sich in rote Kerzen auf einer Torte verwandelten, die unangeschnitten auf einem Küchentisch stand. Sie gab Antworten, die er bereits kannte, die Hermansson notiert und ihm berichtet hatte. Ein Einbruch an einem Wochentag, vormittags zwischen 8:30 und 11:00 Uhr. Die Wohnungstür hatte deutliche Spuren eines harten Metallgegenstandes aufgewiesen, und in den Zimmern war der Inhalt aus Schränken und Schubladen herausgerissen worden. Doch das Kästchen mit teurem Schmuck, das Portemonnaie mit einer nicht geringen Summe Bargeld, die neuen Computer und Bilder namhafter Künstler, die an sämtlichen Wänden der Wohnung hingen, waren nicht angerührt worden – in der dünnen Staubschicht auf den Rahmen waren nicht einmal Fingerabdrücke gewesen.

Der Einbrecher hatte alles unversehrt gelassen.

Bis auf ein kleines Stück Fußboden.

Die Frau zeigte mit ihrem braun gebrannten Arm in eins der Kinderzimmer. Ein Zimmer, das vor vielen Jahren ein Kinderzimmer gewesen war.

»Wir benutzen es als Gästezimmer. Bei unserem Einzug war deutlich zu sehen, dass dort ein junger Mensch gewohnt hatte. Wir sind vor sechzehneinhalb Jahren hergezogen, um … Wir hatten gedacht, dass es ein Kinderzimmer werden würde. Aber … ja.«

Grens suchte den Blick der Frau, die um ein Kind trauerte, das nie geboren worden war. Er wusste, wie sich das anfühlte, und es kam vor, dass auch er trauerte. Manchmal lief es im Leben nicht so, wie man es sich ausgemalt hatte.

»Hier in dem Raum ist es, Herr Kommissar. Die einzige Stelle, die … Hinter dem Stuhl, sehen Sie? Dort wurde der Fußboden aufgebrochen.«

Er erinnerte sich an ein Bett, das damals genau da gestanden hatte, an der Wand mit dem Fenster, an das ältere Mädchen, das mit abgewandtem Kopf darauf gelegen hatte. Jetzt stand dort ein Schlafsofa, blau-weiß gestreift, und am liebsten hätte er sich daraufgelegt und die Ruhepause fortgesetzt, die er vorhin auf seinem eigenen Sofa abgebrochen hatte.

»Ja – sehen Sie selbst.«

Die Frau rückte das Schlafsofa und den kleinen Beistelltisch zur Seite und klappte eine Ecke des Flickenteppichs um.

Grens’ Bein schmerzte, als er sich auf die abgeschliffenen Holzdielen kniete. Der Schmerz wurde noch stärker, als er sich der Länge nach hinlegte und seinen schweren Körper über den Boden schob, um näher zu kommen.

Eine herausgebrochene Holzdiele, an drei Stellen geteilt, scharfe Splitter.

Darunter ein viereckiges Loch, fast quadratisch, und in den Beton eines Fußbodens gefräst, der die Zimmerdecke von jemand anderem war.

Er maß es mit den Fingern aus, tippte auf vier mal vier Zentimeter.

Ein Hohlraum ohne Inhalt.

Irgendetwas hatte dort gelegen. Siebzehn Jahre lang. Irgendetwas, das jetzt weg war.

Diese verfluchte Hitze.

Ewert Grens verließ das schöne Treppenhaus durch die schöne Eingangstür und versuchte, in der dicht zusammengepressten Luft und einer Hitze, die auf der Haut scheuerte, Platz für seinen massigen Körper zu schaffen. Siebenundzwanzig Grad waren auf achtundzwanzig gestiegen und visierten neunundzwanzig an. Er zog sein Jackett aus, knöpfte das Hemd auf und achtete darauf, nur kurze Schritte die Dalagatan hinunter zu machen.

Damals war er denselben Weg gegangen, hatte ein Kind auf dem Arm getragen.

Grens erinnerte sich. Er schluckte. Er hatte das Gefühl, als fülle ein quadratisches Loch seinen trockenen Rachen und seine Kehle aus, vier mal vier Zentimeter, die weder ihm noch den Kriminaltechnikern, die den Tatort damals untersucht hatten, aufgefallen waren und die jetzt nach unten in seinen Magen drängten, ein Hohlraum, eine leere Schachtel, ein Karton, dem das fehlte, was er so lange verborgen hatte.

Es war damals kälter gewesen. Spätherbst. Er hatte ein anderes graues Jackett getragen, und sie hatte nach wenigen Schritten ihren Kopf an seine Schulter gelehnt, die Augen zugemacht und war nach tage- und nächtelangem Warten auf Antworten von Menschen, die diese für immer schuldig bleiben würden, in einen tiefen Schlaf geglitten. Einer der jungen Polizeiassistenten, die zum Tatort gerufen worden waren, war dem leicht hinkenden Mann, der ein kleines Mädchen auf dem Arm trug, mit einem Streifenwagen gefolgt, hatte auf Höhe des Vasaparks das Seitenfenster heruntergekurbelt und ihn aufgefordert, stehen zu bleiben, die hintere Wagentür zu öffnen und sich auf die Rückbank zu setzen. Ohne sich umzusehen, hatte Grens irgendetwas gemurmelt und war weitergegangen. Der fünfjährige Kopf hatte noch schwerer auf seiner Schulter geruht, die Augen geschlossen, voller Vertrauen, hatte er gedacht – und dass ein solches Vertrauen, das er selbst niemals empfunden hatte, sich womöglich genau so anfühlte.

Wie damals lenkte er seine Schritte jetzt zum Eingang des Polizeipräsidiums Kronoberg auf der Kungsholmsgatan, und die Rezeptionistin in dem Glaskäfig nickte dem Kriminalkommissar zu, der stets noch im Büro blieb, wenn die Nacht den Abend abgelöst hatte und die meisten Schreibtischlampen und Computerbildschirme erloschen waren. Der auf einem braunen Cordsofa unter einer dünnen Decke in seinem Dienstzimmer schlief, damit er nicht nach Hause gehen musste, in eine Wohnung im Sveavägen, in der die Einsamkeit hauste. Ein schwarzer Kaffee aus dem Automaten auf halber Höhe des Flurs, eingeklemmt zwischen dem neuen Kopierer und dem altmodischen Faxgerät. Dann sieben Schritte bis in sein Büro. Wie immer legte er eine Kassette ein, eines seiner eigenhändig zusammengestellten Mixtapes, und wie immer sang Siw Malmkvist für ihn, Tunna Skivor, 1960, Original Everybody’s Somebody’s Fool. Er setzte sich auf den Schreibtischstuhl, drehte und wendete Beine und Oberkörper, ohne eine bequeme Sitzhaltung zu finden, legte sich aufs Sofa und wälzte sich auch dort hin und her.

Vielleicht war es die Hitze, die wieder scheuerte.

Vielleicht lag er auf der leeren Schachtel, vier Zentimeter breit, vier Zentimeter lang.

Hastig stand er auf, verließ das Zimmer.

Auf dem Gang war der Staub spürbarer denn je, er holte sich noch einen schwarzen Automatenkaffee, ging in Richtung Fahrstuhl und kam an ihrem Büro vorbei, dem Büro der Frau, die Antworten verlangte und ihn auf den ersten Blick durchschaute.

»Ewert?«

Er blieb nicht stehen. »Ich habe keine Zeit.«

Mariana war auf den Flur geeilt und rief ihm nach, als er auf den roten Knopf drückte.

»Ich auch nicht.« Sie kam näher. »Aber ich will es wissen.«

»Du wirst es erfahren. Später. Sven und du.«

»Ein Einbruch? Bei dem nichts gestohlen wurde? Und trotzdem sehe ich dir an, wie …«

»Mariana Hermansson?«

»Ja?«

»Später.«

Er drehte sich wieder um, zum Fahrstuhl, der gekommen war.

»Vier Morde, Ewert?«

Sie ließ nicht locker. Er öffnete die Türen, betrat den Fahrstuhl.

»Und wieder dieselbe Wohnung? Derselbe Ermittler? Der nach seinem Besuch dort spürbar … ja, ich kann es nicht anders ausdrücken – aufgewühlt ist?«

Sie sahen sich an.

»Ewert? Sprich mit mir.«

Er im Fahrstuhl, sie davor.

»Ich dachte, ich hätte damals nur einen Fehler gemacht. Offenbar waren es zwei.«

»Fehler?«

»Ich habe den Mörder laufen lassen – davon bin ich immer überzeugt gewesen. Aber wie sich herausgestellt hat, habe ich auch ein Loch im Fußboden übersehen.«

»Ich verstehe kein Wort.«

»Ich mag keine losen Fäden, Hermansson.«

»Was willst du damit sagen?«

»Dass diese Sache vorerst nur mich betrifft.«

Drei Stockwerke tiefer. Kühler. Dunkler. Aber genauso staubig. Grens verließ den Fahrstuhl und ging zu der grauen Tür, die ein wenig breiter war als die anderen. Das Archiv mit seinen Regalen, Kartons und Mappen. Und irgendwo dazwischen seine Zeit in diesem Haus, vier Jahrzehnte des kriminellen Stockholm. Ermittlungen über Täter und Opfer, deren Leben sich aufgrund eines Aufeinandertreffens für immer verändert hatten. Einen einzigen Gang des Archivs, ein einziges Regal hatte er immer gemieden – hatte den Kopf abgewandt, wenn er daran vorbeigekommen war, seinen Blick auf irgendeinen x-beliebigen Punkt geheftet, was auch immer, nur nicht dorthin. Die Ermittlung über eine Frau, die seine ganze Welt gewesen war und die in eine eigene Welt verschwand, als der Einsatzbus, an dessen Steuer er gesessen hatte, über ihren Kopf gefahren war. Mittlerweile wagte er hinzusehen, sogar stehen zu bleiben. Genau wie er mittlerweile wagte, sie auf dem Nordfriedhof zu besuchen, das weiße Kreuz mit ihrem Namen. Er holte sogar die Metallkanne, die an einem rostigen Wasserhahn in der Nähe hing, und goss eine hohe Pflanze mit kleinen Blüten, die er auf ihr Grab gepflanzt hatte, weil ihm der Name gefiel – Vergissmeinnicht. In dem Grab lag sie, genau wie hier in dem braunen Archivkarton mit der Aufschrift Anni Grens. Er fuhr mit den Fingerspitzen zärtlich über die Tinte, schrieb ihren Namen in die Luft. Dann ging er weiter, tiefer ins Archiv hinein, vorbei an Regalen mit anderen Annis, bis ans hintere Ende des Raums, zu der Glaswand.

Dort wartete er vor der Luke, die ein, zwei Zentimeter von einem Mann im gleichen Alter wie er selbst hochgeschoben wurde, der ihn von der anderen Seite der Scheibe durch kleine runde Brillengläser musterte.

»Ich brauche eine Akte des Zeugenschutzprogramms.«

Eine Akte, zu deren Einsicht nur wenige befugt waren, für die er einen Antrag stellen und deren Erhalt er quittieren musste. Eine Akte, die in einem separaten Archiv für besonders sensible Dokumente aufbewahrt wurde, verwahrt im Auftrag der schwedischen Sicherheitspolizei, Interpols und des Zeugenschutzprogramms.

»Ewert Grens? Lange nicht gesehen.«

Der Archivar wirkte nicht besonders erfreut. Sie mochten sich nicht. Hatten sie noch nie.

»Zeugenschutzprogramm, wie gesagt. Eine alte Ermittlung, die nie abgeschlossen wurde. Die möchte ich haben.«

Grens fischte aus einem Papierkorb einen aufgeschlitzten Briefumschlag, griff nach dem Kugelschreiber, der an einer Schnur vor der Luke hing, kritzelte die Archivnummer auf die Rückseite des Umschlags und schob ihn unter der Luke hindurch.

»Hmm.«

»Irgendein Problem?«

»Deine Schrift. Nicht gerade leicht zu lesen.«

»Da steht …«

»Ich sehe, was da steht, Grens.«

Der Archivar tippte auf seiner Tastatur und starrte auf den Bildschirm.

»Ja«, noch ein paar Tastenanschläge, »die scheint hier zu sein.«

»Gut. Dann …«

»Aber nur, wenn du dich ausweist. Die Vorschriften, du weißt.«

Grens wusste es. Jedes Mal dasselbe.

Normalerweise würde er jetzt die Stimme erheben, und eine flammende Röte würde seinen Hals und seine Wangen emporkriechen, und an seiner linken Schläfe würde eine Ader pulsieren. Aber nicht heute. Stattdessen holte er ruhig Luft und legte seine Polizeimarke und seinen Dienstausweis in die Glasschale vor einen Archivar, der ihn seit fünfunddreißig Jahren vom Sehen und dem Namen nach kannte. Und der Mann hinter der Glasscheibe schien einen Moment zu lange zu zögern – enttäuscht über eine gebrochene Routine und einen ausgebliebenen Konflikt –, ehe er seine runde Brille zurechtrückte, mit einem elektronischen Piepen die Sicherheitstür öffnete, in einem fensterlosen Raum verschwand und kurz darauf mit einer blauen und einer grünen Mappe zurückkehrte, die er unter der Luke hindurchschob.

»Du kennst die Vorschriften, Grens.«

»Ich kenne die Vorschriften.«

»Dann weißt du …«

»Ich weiß, dass ich – genau wie beim letzten Mal, als ich den Empfang vertraulicher Dokumente bei dir quittiert habe – nur Einsicht nehmen darf, wenn ich vorher verspreche, den ganzen Aktensatz zu kopieren und die Kopien in den Redaktionen von Aftonbladet und Expressen zu verteilen.«

Er wandte sich zum Gehen.

»Und natürlich verspreche ich, das diesmal wieder zu tun.«

Flur, Fahrstuhl, Flur.

Und mit jedem Schritt, den er sich weiter von einem geschlossenen Archivraum entfernte, wurden eine blaue und eine grüne Mappe in seinen Händen schwerer, so schwer wie ein kleiner Kopf, der an seiner Anzugschulter lehnte.

Der Kaffeeautomat. Ein dritter Becher. Dann sein Dienstzimmer, ein Siw-Malmkvist-Lied und die Mappen auf dem Schreibtisch.

Er betrachtete sie lange aus der Distanz, vom geöffneten Fenster, vom Schrank, vom Cordsofa und schließlich, an den Türrahmen gelehnt, von der anderen Seite der Türschwelle.

Sie blieben liegen.

Sie lagen da und starrten zurück.

Er ging näher.

Eine Hand auf die obere Mappe, eine Hand, die leicht zitterte, was sie nicht besonders oft tat. Er hatte gehofft, niemals zu den kleinen hüpfenden Füßen und dem Geruch, dem nichts auf der Welt glich, zurückkehren zu müssen.

Er schlug die Mappe auf, begegnete der ersten Seite.

Eine blaue Mappe. Ziemlich dick. Die Aktennummer handschriftlich mit Bleistift vermerkt. In der rechten oberen Ecke ein verblasster Stempel, der einmal tiefschwarz gewesen war.

ZEUGENSCHUTZPROGRAMM

Ewert Grens lehnte sich an den verschlissenen Cordstoff, trank einen Schluck Kaffee und nahm vier zusammengeheftete Papierstapel heraus.

ANZEIGE:

Sieben Seiten vom Stockholmer Polizeibezirk.

TATORTBEFUNDBERICHT:

Vier Seiten von der Kriminaltechnik.

OBDUKTIONSBERICHT:

Achtundzwanzig Seiten von der Rechtsmedizin in Solna.

VORUNTERSUCHUNG:

Vierundfünfzig Seiten über die Ermittlung, die er geleitet hatte und die gescheitert war.

Er blickte sich im Büro um. Hier hatte sie gelegen. Genau hier, wo er jetzt saß. Der Cordstoff war damals in einem deutlich besseren Zustand gewesen, die Längsrippen fast intakt, und das kleine Mädchen hatte geschlafen, mit seinem zusammengerollten Jackett als provisorischem Kopfkissen. Tief und fest geschlafen. Geschnarcht. Ihr erster Schlaf vermutlich seit Tagen.

Am Montag, den 23. Oktober, um 16:51 Uhr begibt sich Kriminalinspektor Ewert Grens zur Adresse Dalagatan 74.

Er hatte dicht bei ihr gesessen, versucht zu verstehen, was sie hin und wieder im Schlaf murmelte, war einige Male kurz davor gewesen, ihre Wange zu streicheln, hatte sich jedoch zurückgehalten und stattdessen den Mantel zurechtgerückt, mit dem sie zugedeckt gewesen war. Er hatte beschlossen, es diesmal richtig zu machen. Das zu tun, was er im FLETC – der amerikanischen Militärbasis in Süd-Georgia – gelernt hatte. Er hatte dort auf Einladung der US-Polizei zusammen mit Erik Wilson eine Fortbildung absolviert, bei der sie alles gelernt hatten, was es über Zeugenschutz zu wissen gab. Im Prinzip das genaue Gegenteil vom Modus Operandi der schwedischen Polizei – dilettantischen Bemühungen, ausgestiegene Gangmitglieder aus den Stockholmer Betonvororten in rot angestrichenen Jugendherbergen in den Fichtenwäldern zwischen Bollnäs und Ljusdal zu verstecken. Oder bedrohte Kronzeugen, die in Polizeiverhören endlich den Mut aufgebracht hatten, die teuflische Spirale aus Erpressung und Gewalt zu durchbrechen, in Erwartung des bevorstehenden Gerichtsprozesses in anderen Jugendherbergen in anderen Fichtenwäldern unterzubringen. Zwei Tage. So lange funktionierte das in der Regel. Bevor das Gangmitglied in Panik zum Asphalt und zu dem vertrauten kriminellen Milieu zurückfloh. Bevor der bedrohte Kronzeuge zusammenbrach, wenn Stille und Dunkelheit auf Todesangst trafen.

Dem Schild auf der Wohnungstür zufolge wohnt dort eine Familie Lilaj. Die Wohnung, fünf Zimmer plus Küche, wird durchsucht. In allen Räumen brennt Licht.

Das amerikanische Zeugenschutzmodell. Grens hatte es kopiert und das Mädchen noch vor Abschluss der Tatortuntersuchung aus seinem Dienstzimmer in ein Safehouse gebracht, das diese Bezeichnung verdiente.

Der Mann sitzt zwischen Hutablage und Schuhregal auf einem Stuhl im Wohnungsflur. Die Frau sitzt auf einem Stuhl in der Küche am Tisch. Die ältere Schwester liegt in Seitenlage auf einem Bett in Schlafzimmer A. Der ältere Bruder sitzt auf einem Schreibtischstuhl in Schlafzimmer B.

Ein Mädchen, das noch nicht verstanden hatte, dass es ihre Familie nicht mehr gab, nie mehr geben würde, hatte keinen einzigen persönlichen Gegenstand aus ihrem bisherigen Leben mitnehmen dürfen, dem Leben, das ihr ganzes Universum gewesen war. Nichts. Weil er beschlossen hatte, dass sie weiterleben sollte.

Überleben.

Deshalb hatte ihre Vergangenheit kein Teil ihrer Zukunft werden dürfen.

Mirza Lilaj, Diellza Lilaj, Eliot Lilaj und Julia Lilaj wurden in die Rechtsmedizin überführt.

Er hatte sich mit der Fünfjährigen auf dem Arm in ein Viertel begeben, das er, obwohl er schon so lange in dieser Stadt lebte, nicht kannte. Kindermodegeschäfte. Spielzeuggeschäfte. Die Finanzabteilung des Dezernats für Gewaltverbrechen hatte innerhalb weniger Stunden Ausgaben bewilligt, die nicht im Etat vorgesehen waren und keine formale Kostenstelle besaßen. Neue Kleidung. Neue Schuhe. Ein neues Haarband. Sie hatte sich so gefreut. Vor allem über zwei Puppen und einen roten Stoffpuppenwagen. Als wären es Geschenke gewesen.

Alle vier wurden um 18:23 Uhr für tot erklärt.

Nichts sollte sich zurückverfolgen lassen.

Das Letzte, was er aus der Tasche nahm, die der junge Polizeiassistent für das Mädchen gepackt hatte, war ein Foto gewesen, eine Studioaufnahme.

Hellblauer Hintergrund.

Ein Vater, eine Mutter und ihre drei Kinder, die in die Kamera lächelten.

Mirza Lilaj, Diellza Lilaj, Eliot Lilaj und Julia Lilaj wurden unter den Reservekennnummern 2003-369380, 2003-369381, 2003-369382, 2003-369383 registriert. Diese Nummern sind zur Identifizierung vorhanden.

Ein Bunker. Das war die treffendste Beschreibung der Souterrainwohnung in dem Haus auf Östermalm gewesen. Im Laufe der Jahre hatte er als Verantwortlicher für das nicht vorhandene Zeugenschutzprogramm der schwedischen Polizei ein erstes Safehouse nach amerikanischem Standard bauen lassen, das jedoch das einzige geblieben war, nachdem bereits bewilligte Gelder eingefroren worden und in andere Projekte geflossen waren. Ein Bunker, eingerichtet wie ein kleines Hotelapartment, mit Küchenzeile, Betten, Fernseher und bestückten Bücherregalen. Er hatte nur nie damit gerechnet, dass der erste Bewohner ein Kind sein würde, das noch nicht Fahrradfahren gelernt und keine Familie mehr hatte.

Anhand der Untersuchungsergebnisse ergehen folgende Befunde:

Die Leichname von Mirza Lilaj, Diellza Lilaj, Eliot Lilaj und Julia Lilaj weisen kurz vor dem Tod entstandene Schussverletzungen am Kopf auf, gemäß Protokoll Eintritt 1, Eintritt 2, Eintritt 3, Eintritt 4, Eintritt 5, Eintritt 6, Eintritt 7, Eintritt 8.

Das war der Grund, warum das sorgfältig konzipierte Zeugenschutzprogramm anfangs nicht wie geplant funktionierte. Er hatte einen Platz für erwachsene Zeugen eingerichtet, die bis zur Gerichtsverhandlung versteckt und geschützt werden sollten, um anschließend an einem neuen Ort irgendwo in Schweden ein neues Leben zu beginnen, mit einem neuen Namen, einer neuen Personenkennziffer und einer neuen Vita.

Die Schusskanäle sind ungefähr achtundvierzig Stunden vor dem Zeitpunkt der Obduktion entstanden.

Er hatte Abläufe entwickelt, um in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden neue Schulzeugnisse und neue Arbeitszeugnisse auszustellen, alle vierzehn Tage Unterhalt in bar auszuzahlen – nie Spuren zu hinterlassen, denn alle Transaktionen waren sichtbar und Informationen jederzeit und überall käuflich. Diese Abläufe mussten in kürzester Zeit so angepasst werden, dass Geburtsurkunden geändert, Schwimmabzeichen ausgefertigt und ein Vorschulbesuch nachgewiesen werden konnten.

Das Gesamtbild der Schussverletzungen spricht zweifelsfrei für Fremdeinwirkung.

Ewert Grens schlug die blaue Mappe zu und schob sie zur Seite. Informationen, die zu einem Mädchen gehörten, das als Einzige überlebt hatte. Er griff nach der zweiten Mappe, der grünen, die Informationen darüber enthielt, was danach geschehen war. Jenseits vom Tatort. Jenseits von Schusskanälen und Kühlräumen.

Jenseits vom Tod.

Er stand auf, die Mappe fest im Griff, während er rastlos in seinem Büro auf und ab lief.

Eine Fünfjährige, die lebte. Die überlebt hatte. Weil jemand sie ließ? Oder weil jemand sie versteckt hatte? Hatte sie sich womöglich selbst versteckt? Hatte sie irgendwo gekauert und gehört, wie die einzigen Menschen, denen sie vertraute, einer nach dem anderen hingerichtet wurden, während sie selbst die Luft anhielt, weil sie, ohne zu begreifen, dennoch verstand, dass sie nicht entdeckt werden durfte?

Er hatte Antworten gesucht, sie aber nicht bekommen, weil sie nicht fähig gewesen war, sie zu formulieren.

Und jetzt wusste er noch weniger.

Wie so oft blickte Grens auf den Innenhof des Präsidiums von Kronoberg hinunter. Die Sonne war weitergewandert, der Gehweg und die Bänke lagen teilweise im Schatten, doch die Hitze war unverändert. Er streckte den Kopf aus dem weit geöffneten Fenster, lehnte sich vor, die Ellenbogen auf die Fensterbank gestützt. Dreißig Grad. Ohne Klimaanlage. Er freute sich nicht auf den Abend und den Schlaf bei Tiefstwerten um zweiundzwanzig Grad, die das Schwedische Meteorologische und Hydrologische Institut angekündigt hatte, eine tropische Nacht.

Die grüne Mappe enthielt ihr weiteres Leben, was danach geschah.

Er hielt die Mappe fest, sie war nicht besonders umfangreich, sollte es nicht sein.

Registerauszüge mit ihrem neuen Namen. Ihrer neuen Personenkennziffer. Ihrer neuen Vita. Eine Fotodokumentation ihres veränderten Aussehens. Ihr neuer Wohnort, Adresse, Kontaktperson, Erziehungsberechtigter. Ihr neues Leben.

Ewert Grens rückte vom Fenster ab, von der Abkühlung, die es nicht gab, und kehrte zum Cordsofa zurück. Auf der Vorderseite der grünen Mappe mit dem rechteckigen schwarzen Rahmen in der Mitte, den dünnen Linien drum herum stand:

Zeugenschutzprogramm.

Er schlug sie auf. Und erstarrte.

Eine leere weiße Seite im DIN-A4-Format.

Und, als er weiterblätterte, noch eine.

Und noch eine.

Der gesamte Inhalt der Mappe bestand aus leeren weißen Blättern.

Eine Mappe aus dem Sicherheitsarchiv der Polizei, genauso dick, wie sie sein sollte – die genauso dick aussehen sollte, wenn sein Blick darauf fiel, sich genauso dick anfühlen sollte, wenn er sie in die Hand nahm.

Aber das, was einmal darin gelegen hatte, war weg. Ausgetauscht. Gegen nichts.

Ihr neues Leben.

Jemand hatte es genommen.

Leere Seiten.

Genauso leer wie Teile seiner Erinnerung.

Ewert Grens erinnerte sich an den furchtbaren Geruch und an das Gewicht ihres Körpers, aber nicht an ihren Namen. Nur daran, wie sie ausgesehen hatte, wenn er auf ihrer Bettkante saß und über sie wachte, während sie in der sicheren Wohnung in einem neu gekauften Bett lag und schlief – wie eine kleine, schöne Blume mit zerzausten Haaren.

Seine Erinnerung war heute genauso leer wie ihre damals.

»Wer ist noch gekommen?«

»Wie gekommen?«

»Zu deinem Geburtstag.«

Er hatte sie behutsam verhört. Sich ihrem Inneren jeden Tag ein kleines bisschen mehr genähert. Sie hatte keine Erinnerungen an den Überfall, die Schüsse, die Morde. Sie hatte nicht einmal verstanden, dass ihre Familie nicht mehr da war. Sie hatte alles verdrängt. Ein Kind, das ein extremes Trauma bearbeitete, indem es weiterspielte.

»Du hattest doch Geburtstag. Bist fünf geworden. Und hast eine schöne Torte bekommen. Wer hat dir alles gratuliert?«

»Mama. Papa. Julia. Und Eliot.«

»Und wer noch?«

»Keiner.«

»Ich glaube, dass noch jemand gekommen ist.«

»Nein.«

»Noch jemand oder zwei, drei Personen mehr, die vielleicht nicht eingeladen waren?«

»Nein.«

»Aber wenn du …«

»Die Puppe. Die mit der roten Glitzerjacke und den weißen Schuhen. Ewert, gib sie mir. Du kannst die andere nehmen, die mit den blauen Stiefeln. Und dann setzen wir uns vor das Puppenhaus. Du darfst diesmal im oberen Stock spielen, ich spiele unten.«

Sie hatte abgeblockt. Abgeschlossen. Ihre Zeitrechnung hatte neu begonnen. Als sie einen Monat später aus seiner Welt verschwand, hatte sie ihn umarmt und ihm zugeflüstert, dass sie jetzt zweiunddreißig Tage und fünf Jahre alt war. Als wären die fünf Jahre davor etwas völlig anderes gewesen.

Grens erinnerte sich auch noch an seine Wut.

Er war gezwungen worden, einen Fall aufzugeben, bei dem er überzeugt gewesen war, den Mörder gefasst zu haben.

Ein Drecksack, den er festgenommen und für zweiundsiebzig Stunden in eine Untersuchungshaftzelle in Kronoberg gesteckt hatte. So lange, wie er einen Verdächtigen ohne wesentliche Erhärtung des Haftgrunds in Gewahrsam nehmen durfte. Ein schuldiger Drecksack, der während der Verhöre abwechselnd höhnisch gelacht, gelogen, auf den Boden der Zelle gestarrt oder Kein Kommentar gezischt hatte, während Grens und seine Kollegen jeden Ermittlungsstein einzeln umgedreht und schließlich den Wettlauf gegen die Zeit verloren hatten. Ein schuldiges Dreckschwein, vor dem sich alle fürchteten, das sich King Zoltan nannte und das – als die drei Tage um waren – noch höhnischer über den Mangel an Zeugen und technischen Beweisen gelacht hatte. Sie hatten ihn laufen lassen müssen, und er war als freier Mann vom Polizeipräsidium geradewegs zum Flughafen Arlanda gefahren und hatte sich in die nächstbeste Maschine ins Ausland gesetzt, um niemals wieder zurückzukommen.

Das kleine Mädchen, das keinen Namen hatte, hatte den Mörder gesehen. Davon war Grens überzeugt. Eine Zeugin unter Schock, die sich eines Tages womöglich erinnern würde. Die Kriminaltechniker hatten in einem der Schränke der Wohnung Haare und Urin gesichert – die mit ihrer DNA übereinstimmten. Dort hatte sie gekauert. Sich in die Hose gemacht. Aus dem Winkel, die Schranktür einen winzigen Spalt geöffnet, hatte sie mindestens zwei der Morde im Blick gehabt.

Ewert Grens trat wieder an das weit geöffnete Fenster.

Er lehnte sich hinaus.

Und brüllte, rasend vor Wut.

Er begriff, was das bedeutete.

Irgendjemand hatte die Unterlagen aus dem Sicherheitsarchiv gestohlen, die erste Mappe mit der Voruntersuchung gelesen, erfahren, dass es eine Zeugin gab, dann die zweite Mappe gelesen und erfahren, wie es mit dem Mädchen nach der Zeit mit Grens in der sicheren Wohnung weitergegangen war. Irgendjemand wusste, wie sie aussah, welche neue Identität sie bekommen hatte, in welcher neuen Stadt sie lebte, in welcher neuen Familie. Jemand hatte die Unterlagen mitgenommen und durch leere Seiten ersetzt, damit es niemand bemerkte. Und dieser Jemand war in der Lage, den Mord an einer ganzen Familie zu vollenden und sämtliche Spuren zu beseitigen.

Grens brüllte wieder, in den warmen Innenhof des Polizeipräsidiums hinaus.

Das kleine Mädchen, das inzwischen groß war, befand sich in unmittelbarer Lebensgefahr.

Wenn sie überhaupt noch lebte.

ZWEITER TEIL

Es war der perfekte Ort im Süden von Stockholm. Eine Sackgasse, gesäumt von verschlafenen dreistöckigen Vierzigerjahrehäusern. Bewohner mit schwedischem Durchschnittseinkommen, Durchschnittslebenserwartung, Durchschnittsbildung und eine ausgewogene Mischung aus Jung und Alt, in Schweden Geborenen und später Zugewanderten. An diesem Nachmittag beschloss Piet Hoffmann, gegen den Uhrzeigersinn durch die Siedlung zu laufen, als er den Zweihundertmeterradius abschritt, der den peripheren Schutzbereich bildete. Er kontrollierte achtzehn Überwachungskameras im Umkreis, in Treppenaufgängen, in Garagen, an Laternenpfählen, auf Hausdächern. Er ließ Autokennzeichen, die er noch nie in der Gegend gesehen hatte, durch die Datenbanken der Kfz-Zulassungsstelle und des Einwohnermeldeamtes laufen, und in besonderen Fällen auch durch das Fahndungsregister der Polizei, zu dem er sich nach wie vor Zugang erkaufte. Er verglich seine mentale Karte vom Vortag – auf die nur er zugreifen konnte und auf der er offizielle Wege und inoffizielle Fluchtwege memorierte und wer wohin ging – mit dem heutigen Straßenbild. Nichts schien verdächtig oder warnte vor drohender Gefahr. Bevor er das einzige Hochhaus der Siedlung betrat, blieb er bei der Kamera mit der Nummer 14 stehen und drehte sie ein wenig nach links, um einen toten Winkel zum Leben zu erwecken.

Die Basiswohnung lag im achten Stock, ein Einzimmerapartment mit Kochnische, das genügte.

»Ich mach Schluss für heute. Alles in Ordnung?«

Er stand in dem winzigen Flur und betrachtete den Wachmann, der in dem einzigen Raum der Wohnung saß, von einem Meer aus Monitoren umgeben, und abwechselnd auf die Livebilder der Überwachungskameras und auf die Aufnahmen der vergangenen Nacht blickte, um sich zu vergewissern, dass nichts von der Normalität abwich.

»Alles in Ordnung, Boss.«

Piet Hoffmann streckte sich zum Fenster, das auf die Sackgasse hinausging, und bog die Lamellen der Jalousie für einen letzten Überblick auseinander. Zuerst überprüfte er die Wohnung im zweiten Stock, helle Gardinen und eine sperrige Tischlampe zwischen zwei Topfpflanzen auf der Fensterbank. Das vorübergehende Zuhause einer etwa vierzigjährigen Frau, der eine sichere Wohnung der Klasse zwei bewilligt worden war und die als einzige Referenz eine Reservepersonenkennziffer erhalten hatte. Er schob die Lamellen ein bisschen weiter auseinander und richtete seinen Blick auf den nächsten Treppenaufgang, in das Fenster im dritten Stock, von einer roten Gardine und blinkenden Lichterketten eingerahmt. Eine sichere Wohnung der Klasse drei. Zuflucht eines ungefähr fünfunddreißigjährigen Mannes, einmal angeschossen und von den eigenen Brüdern mit dem Tod bedroht. Und zwei Eingänge weiter – jetzt öffnete er die Lamellen der Jalousie komplett – versteckte sich hinter hellen, bauschigen Tüllgardinen seit einigen Monaten ein älteres Ehepaar, das vor Gericht gegen eine lose zusammengewürfelte, aber massiv gewalttätige Jugendgang aus einem westlichen Stockholmer Vorort ausgesagt hatte. Während diese Menschen auf neue Identitäten und einen dauerhaften Wohnsitz warteten, bekam er sechzehntausend Kronen für jeden Tag, an dem jeder einzelne dieser Menschen professionellen Schutz erhielt. Qualifiziertes Wachpersonal, Hightechausrüstung und adäquate Bewaffnung kosteten natürlich Geld, aber das Konzept, sichere Wohnungen zu vermieten, die alle am selben Ort lagen und von nur einem Angestellten überwacht werden konnten, hatte sich für die Sicherheitsfirma Hoffmann Security AB als glänzendes Geschäftsmodell erwiesen.

»Hey, meine geliebte Frau.«

Von diesem Gebäude in einem von Bagarmossens älteren Vierteln hatte er es nicht weit bis nach Hause, aber schon als er aus dem Fahrstuhl gestiegen und zu seinem Auto gegangen war, hatte er fast unbewusst sein Telefon aus der Tasche gezogen und sie angerufen.

»Hey, mein geliebter Mann.«

Es lief gut zwischen ihnen. Vielleicht besser als je zuvor.

Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, es so intensiv gespürt zu haben, als sie frisch verliebt gewesen waren.

Sie waren zurück in Schweden, in ungefähr dem gleichen Leben, das sie vor der Flucht geführt hatten. Mit einem großen Unterschied – er log Zofia nicht mehr an, infiltrierte nicht mehr im Auftrag der schwedischen Polizei das organisierte Verbrechen, setzte nicht mehr jeden Tag, jede Stunde sein Leben und das Leben seiner Familie für andere aufs Spiel. Er arbeitete sogar in seiner alten Sicherheitsfirma – doch anders als damals diente sie nicht mehr als Fassade, die seine wahre Profession verbarg. Jetzt war sie ein richtiges Unternehmen. Und er nutzte die Kenntnisse und Fertigkeiten, die er sich in seinem alten Leben angeeignet hatte, um auf ehrliche Weise Geld zu verdienen.

»Zofia?«

»Ja?«

»Ich mache mir … ein bisschen Sorgen.«

»Das musst du nicht.«

»Ich weiß – aber ich kann nichts dagegen tun. Es bohrt und bohrt. Was ist, wenn sie …«

»Piet? Hör mir zu. Sie. Ist. Völlig. Gesund.«

Er hatte vor langer Zeit beschlossen, dass Unruhe sinnlos war, kontraproduktiv. Er hatte überlebt, indem er besser geplant hatte, besser informiert, besser vorbereitet gewesen war als die, die er durchleuchten, die er jagen, gegen die er kämpfen sollte. Und dann – ein routinemäßiger Sechs-Monats-Check beim Kinderarzt. Mehr brauchte es nicht, damit die verfluchte Unruhe, die irrational war und keinen Platz in seinem Leben haben sollte, komplett von ihm Besitz ergriff.

»Sie soll sich vom Rücken auf den Bauch drehen können und vom Bauch auf den Rücken. Sich in Sitzposition hochziehen, wenn man sie an zwei Fingern festhält. Sie soll lallen, ein verlorenes Spielzeug finden und einen Gegenstand von einer Hand in die andere wechseln können. Und Piet – sie kann das.«

Eine kleine Schwester. Er konnte jederzeit in Gedanken an das Krankenhausbett zurückkehren und Zofias Hand halten, während die Wehen ihren Körper durchzucken.

Alltag, Piet. Du hast versprochen, nie wieder Kriminelle zu infiltrieren, nie wieder Tod, Chaos, Flucht.

Er wusste noch genau, wie sie ihn angesehen und es so schön beschrieben hatte.

Das war der Moment, in dem mein Körper sich entschieden hat. Noch ein Kind. Wir hatten es so lange versucht, aber es ging irgendwie nicht, ich konnte nicht wieder schwanger werden. Das Alter, ich wusste ja … aber damit hatte es gar nichts zu tun. Entspannung. Nie wieder so leben zu müssen. Die Anspannung ist von mir abgefallen, Piet. Ein Kind, ich weiß nicht, das zu sagen kommt mir fast ein bisschen aufgesetzt vor, aber es fühlt sich an, als wäre ein Kind eine Art unabsichtliches Symbol für all das. Für dein Versprechen. Für unser neues Leben.

»Bei Hugo und Rasmus hast du dir nie Sorgen gemacht.«

»Ich weiß, Zofia.«

»Und sie ist viel zielstrebiger, viel robuster, als ihre Brüder waren und sind.«

»Auch das weiß ich.«

Doch es blieb die bohrende Unruhe, dass der Kinderarzt etwas anderes entdecken könnte. Was sie nicht gesehen hatten. Es lag nicht daran, dass sie ein Mädchen war oder das jüngste Kind. Es lag an ihm. An der Einsicht, dass nichts selbstverständlich, dass alles endlich war. Es war so viel einfacher gewesen, in einer Zeit zu leben, in der er so lange gelogen hatte, bis er vergessen hatte, wie Wahrheit aussah und sich anfühlte. Als er geglaubt hatte, die Grenze zwischen Lüge und Wahrheit für immer verschoben zu haben, und nicht sicher gewesen war, ob er jemals verstehen würde, wo die Lüge aufhörte und die Wahrheit begann. Wer er eigentlich war.

»Piet – wir sehen uns heute Abend.«

»Gib ihr einen Kuss von mir.«

»Sie küsst dich zurück.«

Zehn Minuten im Auto. Länger brauchte er nicht. Dann war er in Enskede, in der Wohnsiedlung mit den Häusern mit Garten und zwei Autos in der Einfahrt. Ihrem Zuhause. Hierher waren sie während Zofias erster Schwangerschaft gezogen.

Trotz heruntergelassener Seitenfenster umschwirrte ihn weiter die ungebetene Hitze. So ungewöhnlich in diesem Land. Dreißig Grad und hohe Luftfeuchtigkeit in der ersten Juniwoche. Sich mit dem Hemdsärmel über das schweißnasse Gesicht zu fahren machte kaum Sinn, er war genauso feucht. Piet Hoffmann parkte vor dem rostigen Gartentor und blieb noch einen Augenblick im Wagen sitzen. Dies war der schönste Moment des Tages.

Wenn er den Hals streckte, konnte er Hugo auf der anderen Seite der ausladenden Hecke sehen, wie er Fußball mit den beiden Nachbarskindern spielte, grasgrüne Knie und hochrote Wangen. Und im Küchenfenster erahnte er einen Lockenschopf, Rasmus, der wie so oft am Küchentisch saß und mit seinen Plastikfiguren spielte.

Piet Hoffmann atmete die warme, feuchte Luft ein.

Natürlich kamen ihm hin und wieder Zweifel.

Er hatte die Tür zu einem anderen Leben fest geschlossen.

Manchmal wollte er sie wieder sperrangelweit öffnen.

Spüren, was er damals gespürt hatte. Adrenalin, das rauschte und rauschte und sich nicht abstellen ließ, ein Herz, das vor Aggression pochte.

Es kam vor, dass die Vergangenheit ihn aufsuchte und ihm ihre Angebote unterbreitete. Dass er abends, wenn die Jungs schliefen, mit Zofia auf dem Sofa saß und ihr erklärte, wie sehr er sich nach einem einzigen weiteren Mal sehnte. Nicht des Geldes wegen. Wegen des Adrenalins, wegen des Kicks. Um mehr zu spüren, ein bisschen mehr zu leben. Ein Mittelsmann, das war häufig alles, was sie suchten, wenn seine Vergangenheit an die Tür klopfte. Einen Garanten für zwei Parteien. Zuletzt ging es um einen Deal zwischen einem Amphetaminproduzenten in Südslowenien und einem der größten kriminellen Netzwerke in Mittelschweden. Seine einzige Aufgabe wäre gewesen, für beide Seiten zu bürgen, bei den Vertragsverhandlungen anwesend zu sein und während der Jungfernfahrt als Bodyguard zu fungieren. Zofia verstand nicht, wie frustrierend es war, dabei zuzusehen, wie beschissene Kleinkriminelle die Jobs erledigten, die er ausgeschlagen hatte, wie die, die erst als Zweites gefragt wurden, weil sie nicht annähernd so gut waren wie er, schnelles Geld verdienten.

Aber jedes Mal wenn er wie jetzt nach Hause kam, wenn er gleich in Hugos und Rasmus’ Augen sehen würde, wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Und in Luizas Augen, deren Blick ebenso intensiv wie fest war. Die ihm zeigen würde, dass sie lallen und ein Spielzeug halten konnte.

Er wusste, dass ein einziger weiterer Gesetzesverstoß, eine einzige weitere Verurteilung, ihn für sehr lange Zeit hinter Gitter bringen würde. Dass er nicht mehr wie jetzt dasitzen und seine Söhne betrachten könnte, sondern sie erst wiedersehen würde, wenn sie volljährig wären und seine neugeborene Tochter bereits zur Schule gehen würde.

Keine Aufträge, keine Waffen, kein Tod.

Nur dies.

Ein Haus, ein Zuhause, eine Familie.

Das war jetzt sein Leben.

»Hallo?«

Piet Hoffmann öffnete die Haustür, und noch vor wenigen Jahren wäre Rasmus mit offenen Armen auf ihn zugestürmt. Doch jetzt war sein jüngster Sohn so in sein Spiel vertieft, dass er nicht einmal antwortete.

»Rasmus, Kumpel? Hallo? Ich bin zu Hause.«

»In der Küche, Papa.«

Der Flurspiegel schien ihn anzusehen. Er drehte sich um. Und dort steckte er. Zwischen Rahmen und Spiegelglas. Der Zettel, auf dem keine Worte standen, nur ein großes rotes Herz. Ihm wurde innerlich ganz warm, noch immer, nach all den Jahren. Zofia versteckte diese Zettel überall im Haus, manchmal lagen sie auf seinem Kopfkissen, wenn er die Tagesdecke wegzog, oder in seiner Reisetasche, wenn er sie in einem sterilen Hotelzimmer auspackte, oder im Kühlschrank, wenn er die Butter herausnahm. In einer anderen Zeit hatte er diese simplen Liebesbotschaften als Forderung empfunden und war geflohen. Doch jetzt sehnte er sie herbei, war enttäuscht, wenn er sie nicht fand.

Er liebte das so sehr. Er liebte sie so sehr.