Schlaft, Kinder, schlaft - Anders Roslund - E-Book
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Schlaft, Kinder, schlaft E-Book

Anders Roslund

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Beschreibung

Zwei verschwundene Mädchen und ein Kommissar, der alles daran setzt, sie zurückzubringen – nach Hause oder in ihr leeres Grab Sie waren beide vier Jahre alt, als sie am selben Tag verschwanden. Jetzt werden sie von ihren Familien zu Grabe getragen.  Doch beide Särge sind leer, die Körper der Mädchen wurden nie gefunden. Kriminalkommissar Ewert Grens macht sich auf die Suche nach den verschwundenen Kindern und muss dafür mit Undercoveragent Piet Hoffmann in die dunkelsten Seiten des Darknets vordringen. Sie merken bald, dass es ihre bisher schmutzigste und schwierigste Mission werden wird ... Ein Text, der unter die Haut geht. Der Autor über sein Buch: »Es geht um ein Verbrechen, das völlig unbegreiflich ist. Es ist viel schrecklicher, als ich es mir je hätte vorstellen können.« Anders Roslund *** AUCH von Anders Roslund: Geburtstagskind (Ewert Grens ermittelt)

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Schlaft, Kinder, schlaft

Der Autor

Anders Roslund (Jahrgang 1961) hat als eine Hälfte der erfolgreichen Autorenteams Roslund & Hellström und Roslund & Thunberg zehn Bücher veröffentlicht. Diese wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und brachten ihm international viele Auszeichnungen ein. Geburtstagskind ist der erste Roman, den er unter seinem eigenen Namen veröffentlicht.

Das Buch

Sie waren beide vier Jahre alt, als sie am selben Tag verschwanden. Jetzt werden sie von ihren Familien zu Grabe getragen. Doch beide Särge sind leer, die Körper der Mädchen wurden nie gefunden. Kriminalkommissar Ewert Grens macht sich auf die Suche nach den verschwundenen Kindern und muss dafür mit Undercoveragent Piet Hoffmann in die dunkelsten Seiten des Darknets vordringen. Bald stellen sie fest: Die Realität ist manchmal schwärzer als jeder Albtraum …»Roslund kennt nur zwei Arten des Erzählens – düster und abgrundtief düster.«The New York Times

Anders Roslund

Schlaft, Kinder, schlaft

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von UIla Ackermann

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022© Anders Roslund 2020Published by agreement with Salomonsson AgencyDie schwedische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Sovsågott bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm.Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Vorlage von Penguin Random House UKUmschlagabbildung: Vanessa Skotnitsky/ ArcangelAutorenfoto: Emil Eiman-RoslundE-Book-Konvertierung powered by pepyrus

ISBN 978-3-8437-2838-6

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Titelei

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Teil 1

Auf Friedhöfen ist es immer kalt.

 SCHWINDEL.

EINE HAND.

EWERT GRENS FROR.

ICH MÖCHTE DAS NICHT.

ALS ANNI VERUNGLÜCKTE

DAS AUTO IST SUPERSCHÖN.

EWERT GRENS WAR …

MAMA UND PAPA

SIE BLICKTEN IHN UNVERWANDT AN.

DAS AUTO HÄLT.

EWERT GRENS BEGANN

EIN PASS

GRENS ZOG DEN USB-Stick

DER ALLERERSTE MENSCH

DER LAUE AUGUSTABEND

ICH MUSS EINGESCHLAFEN SEIN

EIN LEERER SARG.

WIR SIND FAST DA

ER HATTE VERSUCHT

WIR HÜPFEN AUF

DER MANN VOR

WIR STEHEN IN

Teil 2

Sie würden gleich bei der finstersten Finsternis anklopfen.

SEIN BÜRO REICHTE NICHT AUS

ER HATTE SEINE

SAMSTAGMORGEN. HALB SECHS

.

ALS EWERT GRENS

lÆRDAL WAR NICHT

DIE TÜR BLIEB

ALS EWERT GRENS

IHNEN BLIEB SEHR

ALS BIRTE GRENS

SPÄTER NACHMITTAG IN

EWERT GRENS MACHTE

Teil 3

Falsches Lachen ist nie ein gutes Lachen.

KURZ NACH MITTERNACHT.

DAS WAR DER

EWERT GRENS STRECKTE

NACHT, WIEDER.

Teil 4

Sich nicht vor jemandem zu verstecken, sondern sich in jemandem zu verbergen.

ALS EWERT GRENS

BEVOR PIET HOFFMANN

Teil 5

Hierher reichten nur die ausgedehnten Blicke des Meeres.

IM INNERN DES

ER RISS DAS LENKRAD HERUM

PRESKIER PARK WAR

EIN SEHR SCHÖNES

ZUM ABSCHLUSS TRINKEN

»SKAOL?«

GEFANGENER

KURZE, KURZE MOMENTE

SEIN LETZTER RUF

DAS KLEINE MÄDCHEN

Teil 6

Als schaute er mit einem Spiegel in einen anderen Spiegel.

DICKE TROPFEN LIEFEN

PIET HOFFMANN WARF

»RONJ. TRAVIS.«

DER GERUCH VON

PIET HOFFMANN KONNTE

DER ANFÜHRER DES

PIET HOFFMANN KNIPSTE

ALS ER SCHOSS

GEWALT, DROHUNG, TODESANGST

EIN DUNKLES HAUS

ALS DER SCHUSS

PIET HOFFMANN HIELT

»GRENS?«

DAS GESICHT DES

GRENS UND BIRTE

PIET HOFFMANN HATTE

ER BLIEB IM

EIN ANGENEHMER WIND

Drei Stunden später.

DAS MÄDCHEN MIT

Sieben Stunden später.

EINE UHR, DIE

GELBE ABSPERRBÄNDERFLATTERTEN

IN DER FALLE

ER ZÄHLT SEKUNDEN

DER AMERIKANISCHE POLIZIST

Vier Tage später.

AUSGESTRECKT AUF DER

Neun Tage später.

DAS ANKUNFTSTERMINAL VERSTRÖMTE

Vierzehn Tage später.

EIN ALLERLETZTES MAL

Einen Monat später.

IN DEN ERSTEN

Fünf Monate später.

FLUGZEUGLANDUNGEN HATTEN IHM

Anhang

Vom Autor

Social Media

Cover

Titelseite

Inhalt

Teil 1

Teil 1

Auf Friedhöfen ist es immer kalt.

   

   

SCHWINDEL.

Unerträglicher Schwindel.

Er versuchte, still dazusitzen. Wie jedes Mal.

Atmete tief ein.

Schloss die Augen, wartete.

Bis der Schwindel verging. Bis die Welt sich nicht mehr drehte und er die Hand nach der Blume ausstrecken konnte, die er so mochte. Vergissmeinnicht. So hieß sie. Eine hohe Pflanze, die jeden Sommer schön und stolz zurückkehrte und ihn anlächelte. Für eine Weile vergaß Ewert Grens seine schmerzende Hüfte, zupfte einige trockene Blätter aus, griff nach der Gießkanne und benetzte die Knospen, die sich zu zarten Blüten öffnen würden. Liebevoll strich er mit der Hand über das weiße Holzkreuz – so nah konnte er ihr sein. Er zeichnete mit den Fingerspitzen die gravierten Buchstaben nach, die auf dem schlichten Messingschild ihren Namen formten. Der einzige Mensch, den er ganz fest gehalten hatte und der ihn ganz fest gehalten hatte.

Ich vermisse dich.

Er war lange nicht fähig gewesen, hierherzukommen, an das Grab auf der Ostseite des Stockholmer Nordfriedhofs. Er hatte sein Auto vor dem Friedhofstor geparkt und war die verschlungenen Kieswege entlanggewandert. Dabei hatten seine Schritte die akkuraten Linien verwischt, die die Harke des Friedhofsgärtners auf ihnen hinterlassen hatte. Umgeben von Erinnerungshainen und hohen Grabsteinen, die aus der Erde ragten und ihn anstarrten, hatte er kurz vor dem Ziel jedes Mal dem Druck auf seiner Brust nachgegeben, hatte sich von seinen Beinen leiten lassen und war zum Auto zurückgekehrt, zur Stadt, zum Polizeipräsidium – zum Cordsofa in seinem Büro, dessen verschlissene Polster Geborgenheit versprachen. Doch eines Morgens hatte er es plötzlich begriffen. Dass seine schlimmste Befürchtung bereits eingetreten war. Und dass man – sobald man das erkannte – weitergehen musste, damit einen die Angst nicht einholen und erneut zu Fall bringen konnte.

Ich vermisse dich, aber jeden Tag ein bisschen weniger.

Ewert Grens hängte die Gießkanne an ihren Haken in der Geräteecke und wollte auch die Harke an ihren Platz zurückstellen, als der Schwindel zurückkehrte. Eine heftige Woge, die durch seinen Körper flutete – eine unkontrollierte Kraft, die immer öfter und mit zunehmender Wucht zuschlug –, und er konnte einen Sturz gerade noch verhindern, indem er sich mit beiden Händen an den Holzzaun klammerte. Wäre Anni noch bei ihm gewesen, hätte sie ihn auf der Stelle ins Krankenhaus gefahren. Er für seinen Teil ging Weißkitteln jedoch möglichst aus dem Weg.

Ewert Grens tat das Gleiche wie vor einigen Minuten. Er blieb reglos stehen und wartete, dass die Woge, ungestüm und wild, abebbte. Als sie es nicht tat, setzte er sich auf die Bank, die in den vergangenen Jahren zu seiner Bank geworden war, betrachtete das Grab, dem irgendein Verwaltungsbeamter die Bezeichnung Abteilung 19B, Grabstätte 603 gegeben hatte. Er hatte Jahre gebraucht, um die zwei Kilometer zwischen seiner Wohnung am belebten und stark befahrenen Sveavägen und den gepflegten weiten Grünflächen entlang des Solna kyrkväg zurückzulegen und die Tatsache zu akzeptieren, dass sie hier lag, wie so viele andere, in einem von dreißigtausend Gräbern – alle ein Stück voneinander entfernt, um sich nicht zu stören, aber nah genug, um nie allein zu sein.

Ewert Grens ließ den Augustwind über die Wangen streichen, die seitdem zerfurchter geworden waren, und das Haar zerzausen, das bei jedem Besuch schütterer wurde. Und er spürte sie. Die Ruhe. Äußerlich wie innerlich. Genug, um den Schwindel für einen Augenblick zu vertreiben.

Genau da, in diesem Moment, begann der Boden unter ihm zu schwanken.

Die ganze Welt bebte.

Hastig blickte Grens sich um. Es war nicht die Welt. Es war die Bank. In all den Jahren hatte er sie nie mit jemandem geteilt. Doch jetzt saß eine Frau auf ihr, nur einen halben Meter von ihm entfernt.

Auf seiner Bank.

Direkt neben ihm, ohne ein Wort zu sagen, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Er musterte sie. Sie war ungefähr in seinem Alter, hatte kurze dunkle Haare und Augen, die den Blick nie abwandten, egal ob ein Wildfremder in Gefahr oder die eigene Scham betroffen war. Ein wenig erinnerte sie ihn an Mariana Hermansson. Einer der wenigen Menschen, denen er vertraute und für deren Anstellung er persönlich gesorgt hatte, obwohl es damals eine Reihe qualifizierterer Bewerber gegeben hatte. Mariana hatte viele Jahre zu seinen engsten Kollegen und damit auch zu seinen engsten Freunden gehört.

Doch eines Tages, nach Abschluss eines gemeinsamen Falls, hatte sie verkündet, dass sie ihre Versetzung beantragt hatte, weil sie es nicht mehr mit ihm aushielt. Er machte ihr keinen Vorwurf, er hielt es oft selbst nicht mit sich aus. Seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehen, und vielleicht glaubte er deshalb ab und zu, etwas von ihr in anderen Menschen wiederzuerkennen.

Es dauerte einige Minuten. Dann sprach die fremde Frau.

»Um wen trauern Sie?«

Den Blick unverändert geradeaus gerichtet.

»Denn das ist es doch, was wir tun – trauern?«

Er antwortete nicht.

»Verzeihung, möchten Sie ungestört sein? Es ist nur, ich habe bisher immer allein auf meiner Bank gesessen.«

Jetzt antwortete er.

»Auf Ihrer Bank?«

Sie lächelte.

»Es ist natürlich nicht meine Bank. Nicht wirklich. Ich bin sonst nur … ja, allein. In diesen Teil des Friedhofs kommen nicht viele Leute.«

Sie blieben sitzen, schweigend.

Sie blickte geradeaus, er blickte geradeaus.

Während alles still blieb.

»Meine Frau.«

Grens deutete mit dem Kopf auf das ein paar Meter entfernte weiße Kreuz.

»Ihr Name war Anni. Und wenn ich es recht bedenke …«

»Ja?«

»Sie ähneln ihr ein wenig.«

»Wie bitte?«

»Ich meine nur … Sie ist der Grund, warum ich hier sitze. Der Mensch, um den ich trauere.«

Die Frau neben ihm nickte. Aber es war kein Nicken, das Beileid bekundete, das war an einem Ort, an dem jeder beim Tod zu Gast war, überflüssig, es war eher ein Nicken, das bestätigte, zustimmte.

»Wie lange ist es her? Ich meine, wann ist Ihre Frau gestorben?«

»Das hängt davon ab.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie … Ein Unfall am Arbeitsplatz. Vor fünfunddreißig Jahren. Ein Auto ist über ihren Kopf gefahren. Ich bin gefahren. Es war meine Schuld. Danach konnte sie nicht mehr kommunizieren, war nicht mehr richtig da. Aber für mich war sie da. Viele waren der Meinung, dass sie schon damals gestorben ist. Aber aus medizinischer Sicht ist sie vor ziemlich genau zehn Jahren gestorben.«

»Und aus Ihrer?«

»Ein paar Jahre später. Ich weiß, dass sie tot ist. Dass sie nicht mehr lebt. Für andere. Aber für mich lebt sie – auf unsere Art.«

Die vielen Morgen und Nachmittage und Abende, hier, bei Anni. Und kein einziges Mal hatte ihn jemand angesprochen. Vermutlich sah man ihm an, dass er sich nicht unterhalten wollte. Noch nie war jemand auf den Gedanken gekommen, ihn zu stören, während er auf der Bank saß.

Aber es fühlte sich nicht schlecht oder falsch an.

Nur ungewohnt.

»Und … Sie?«

»Entschuldigung?«

»Um wen trauern Sie? Wen besuchen Sie hier?«

Small Talk war noch nie Grens’ Stärke gewesen. Und auf dem Friedhof fühlte sich sein Versuch noch unbeholfener an. Aber die Frau schien es nicht zu kümmern. Vielleicht fiel es ihr nicht einmal auf.

»Das Grab liegt … dort drüben. Neben der hohen Birke. Sehen Sie? Das Grab mit dem schlichten weißen Holzkreuz. Wie auf dem Grab Ihrer Frau.«

Sie deutete vage irgendwohin.

»Vielleicht sehen Sie es von hier aus nicht. Es liegt einige Reihen weiter hinten. Aber hier ist der beste Sitzplatz. Ich gehe immer zuerst zum Grab und setze mich anschließend auf diese Bank – hier kann ich es noch fühlen.«

Ewert Grens schwieg, spürte, dass die Frau weiterreden wollte.

»Aber das ist keine Antwort auf Ihre Frage. Sie wollten wissen, wen ich besuche …«

»Ja. Aber Sie müssen nicht …«

»Die Antwort ist, dass ich es nicht genau weiß.«

»Wie bitte?«

»Es wurde niemand beerdigt.«

Sie sah ihn an.

»Der Sarg ist leer.«

   

EINE HAND.

Weich und gleichzeitig fest.

Und die, die mich festhalten, sagen, dass ich nicht muss. Wenn ich nicht will, wenn ich lieber ganz allein hierbleiben will, dann muss ich nicht.

Mitkommen.

   

EWERT GRENS FROR.

Eine heftige Windböe, die durch seinen Körper fuhr und sich irgendwo im Zwerchfell einnistete.

»Wie …«

Aber das hatte er gelernt – Auf Friedhöfen ist es immer kalt.

»… meinen Sie das?«

»So, wie ich es sage. Der Sarg ist leer. Wahrscheinlich komme ich darum so oft her.«

Zum ersten Mal schaute die Frau auf der Bank Grens direkt an. Er wartete, dass sie weitersprach, und begegnete diesen Augen, die nie auswichen. Sie hatte tatsächlich einen solchen Blick: jemand, der nicht um Entschuldigung bat, aber doch empathisch blieb.

»Weil niemand darin liegt.«

Er kannte die Frau nicht, war ihr nie zuvor begegnet. Trotzdem glaubte er ihr. Sie nahm ihn nicht auf den Arm, sie war nicht verrückt, hatte keine Hintergedanken. Sie sagte einfach nur, wie es war.

»Kommen Sie mit.«

Die Welt bebte erneut, als sie aufstand und die schwankende Bank wieder zur Ruhe zu kommen versuchte. Sie lief den geharkten Kiesweg entlang und blieb fünf Reihen weiter vor einem Grab stehen, auf dem das gleiche weiße Holzkreuz stand wie auf Annis Grab. Er kam so oft her – warum war es ihm noch nie aufgefallen? Die fremde Frau blieb vor dem Grab stehen, wartete, bis er zu ihr aufschloss und sie ihm eine Geschichte erzählen konnte, die nie hätte erzählt werden dürfen, weil sie sich nie hätte ereignen dürfen.

»Ich habe sie verloren.«

Und jetzt sah er es. In der Mitte des Holzkreuzes.

Das Metallschild, auf dem nur drei Wörter standen.

MEIN KLEINES MÄDCHEN

»Sie war vier Jahre alt. Fast auf den Tag genau.«

Der Kriminalkommissar trat näher an das Kreuz, als wollte er prüfen, ob die Inschrift nicht doch anders lautete.

Nein.

Die Wörter schienen zwei Vor- und einen Nachnamen zu bilden. Mein Kleines Mädchen. Acht Buchstaben mehr als im Namen Ewert Grens.

»In einem schäbigen Parkhaus auf Södermalm. Da ist sie verschwunden. Sie trug ein neues Kleid, und ihre langen Haare waren zu einem hübschen Zopf geflochten.«

Auf dem Grab blühten mehr Blumen als auf Annis. Andere Sorten, bunter. Ein schöner weicher Blütenteppich. Blau und rot und gelb. Grens erkannte Elfenspiegel, Bornholmmargeriten und Petunien. Er war zwar kein leidenschaftlicher Botaniker, aber im Lauf der Jahre hatte er gelernt, dass diese Blumen viel Wasser benötigten, und sich für pflegeleichtere Friedhofsblumen entschieden.

Die Frau kam zweifellos oft her.

»Natürlich hat die Polizei ermittelt. In den ersten Wochen haben sie intensiv nach ihr gesucht, ich wurde mehrmals vernommen. Aber aus Wochen wurden Monate, und die Suche wurde immer sporadischer. Nach einem Jahr war die Polizei kein bisschen schlauer als am ersten Tag. Keiner sprach mehr von ihr, keiner fragte mehr nach ihr. Es war, als hätte sie nie existiert, als wäre sie ein Niemand. Darum steht auch kein Name auf dem Kreuz. Ich bin die Einzige, die sie vermisst. Ihr Name gehört nur mir. Mein kleines Mädchen. Das muss genügen.«

»Sie sagten … in einem Parkhaus?«

»Ja?«

»Meine Frau, sie war schwanger, als … Es war auch in einem …«

Sie fiel ihm ins Wort.

»Ich hatte die Tür offen gelassen, bin nur die paar Meter zum Parkscheinautomaten gegangen.«

Die Frau starrte auf das Kreuz, gefangen in ihrem Albtraum.

»Ich habe den Wagen erst gesehen, als es zu spät war.«

Grens wartete, während sie Kraft sammelte.

»Laut Überwachungskamera hat es genau sieben Sekunden gedauert, die Wirklichkeit für immer zu verändern. Meine Tochter saß vorne in einem Kindersitz. Der Fahrer des anderen Wagens hielt neben unserem Auto an, stieg aus, hob sie aus dem Kindersitz, stieg mit ihr auf dem Arm wieder in seinen Wagen und fuhr davon.«

Die fremde Frau, bei der reden und zuhören so leichtfiel, tat das, was er an Annis Grab immer tat, sie ging in die Hocke, entfernte welkes Laub, zupfte Unkraut aus. Und vielleicht tat sie es aus demselben Grund wie er – nicht, damit das Grab gepflegt wirkte, sondern um das Gefühl zu haben, etwas zu tun, obwohl es zu spät war.

»Die Beerdigung war sehr sonderbar.«

Ihre Hände durchsuchten den Blütenteppich, der sie von einem Menschen trennte, um den sie trauerte.

»Ich war da. Ein Polizist, ein Seelsorger und ein Pfarrer – Menschen, denen sie nie begegnet ist, die im Leben keine Bedeutung für sie hatten und es auch im Tod nicht haben werden. Dieses winzige Loch im Boden, das ein Friedhofsmitarbeiter ausgehoben hatte! Dieser winzige weiße Sarg mit einer roten Rose auf dem Deckel, in dem niemand lag und der federleicht war! Die Kirchenglocken läuteten für sie, und der Kantor, der schon häufiger Kinderbestattungen ausgerichtet hatte, spielte Sandmanns Wiegenlied. Das Wetter war schön, die Sonne schien, und die Orgelmusik machte es noch absurder, dabei zuzusehen, wie dieser winzige Sarg, gemacht für einen Menschen, der sein Leben kaum begonnen hatte, in die Erde hinabgelassen wurde, um niemals wieder ans Tageslicht zu kommen.«

Die Frau verstummte.

Dann begann sie, das Gesicht zum Blütenteppich gewandt, zu singen.

»Nun schnell ins Bett und schlaft recht schön, dann will auch ich zur Ruhe gehen.«

»Verzeihung?«

»Das haben wir gesungen. Die letzte Strophe des Wiegenlieds. Ich habe es meiner Tochter immer zu Hause vorgesungen. Aber da fühlte es sich ganz anders an …«

Sie drehte sich zu ihm um.

»Vielleicht weil ihr Schlaf zu Hause in ihrem Bett endlich war, ein Aufwachen hatte. Nicht wie hier – die ewige Ruhe.«

Sie sah ihn an, deutete nach unten.

»Ihr Sarg ist direkt unter unseren Füßen. Ist das nicht ein seltsamer Gedanke?«

Ja. Es war ein seltsamer Gedanke. Der Grens selbst oft gekommen war. Dass seine geliebte Anni dort unten lag, ohne ihn sehen oder hören zu können. Er wünschte, er könnte die Tage, als die Trauer alles zerstört hatte, noch einmal durchleben – und sich am offenen Grab von ihr verabschieden.

»Jetzt, wo ich ihren Namen ausgelöscht habe, denke ich an sie als Alva. Alva klingt schön, ein bisschen wie eine Elfe, und Elfen existieren auch nur, wenn man an sie glaubt.«

Sie gab ihm die Hand, feingliedrig, geradezu mager, aber der Druck war erstaunlich kräftig. Grens hatte das Gefühl, als halte sie ihn fest, als zöge sie ihn in sich hinein.

»Fast drei Jahre sind seit ihrem Verschwinden vergangen, und vor sechs Monaten, fast auf den Tag genau, wurde sie amtlich für tot erklärt. Ich komme einmal in der Woche her, damit sie nicht allein ist. Denn ich glaube, dass sie sich einsam fühlt, obwohl sie von so vielen anderen umgeben ist. Meistens donnerstags, da kann ich mir leichter ein paar Stunden freinehmen. Aber jetzt muss ich los – vielleicht treffen wir uns mal wieder. Falls nicht, würde ich mich freuen, wenn Sie Alva für ein paar Minuten besuchen könnten, wenn Sie sowieso hier sind. Nicht lange, fühlen Sie sich nicht verpflichtet, aber es wäre schön, wenn sie spürt, dass jemand bei ihr ist.«

Grens blickte der Frau nach, als sie hinter ein paar gepflegten Büschen und hohen Grabsteinen aus einer anderen Zeit verschwand – und ihm fiel auf, dass er nicht einmal ihren Namen kannte. Namenlos, wie ihre Tochter.

Er sollte auch gehen, auf seinem Schreibtisch in der Stockholmer Mordkommission warteten mindestens ein Dutzend laufender Ermittlungen auf ihn, aber er war noch nicht so weit. Also kehrte er zur Bank vor Annis Grab zurück, wieder allein und ohne Beben.

Es kam vor, dass er hier saß und über Kinder nachdachte. Daran, dass Anni es vermutlich nicht gewusst hatte. Anni hatte eine Tochter erwartet – wie sie es sich gewünscht hatten. Mit Herz und Lunge und Augen, die sie öffnen und schließen konnte. Und deren Leben erlosch, als Annis Leben erloschen war. Hatte er nicht mit ihr darüber sprechen wollen? Doch. Er hatte es versucht. Es ihr zu sagen. Vor allem in der ersten Zeit im Pflegeheim, als er sie nicht fest genug hatte halten können, aber er bezweifelte, dass es zu ihr durchgedrungen war.

Mein Kleines Mädchen.

So verflucht ungerecht.

Hin und wieder, wenn seine Arbeit um Kriminelle kreiste, die durch die Gegend liefen und sich gegenseitig ins Jenseits beförderten, spürte er, dass ihm dieser Menschenschlag scheißegal war. Natürlich machte er seinen Job, ermittelte, so gut er konnte, weil das seine Art war. In Ewert Grens’ Welt geschah niemals etwas halbherzig, dort musste jeder Stein doppelt und dreifach umgedreht werden, denn das war der einzige Weg, damit er sich selbst ertrug – aber sein Mitleid mit den Kriminellen hielt sich in Grenzen. Sie hatten sich aus freien Stücken für dieses Leben entschieden. Ein Kind hingegen, das verletzt wurde oder starb, hatte keine Wahl getroffen. Es war seiner Zukunft beraubt worden. Und berührte daher umso mehr.

Er vergaß die Zeit.

Blieb in der Sonne sitzen, die an jedem anderen Ort Wärme spendete, nur nicht hier, ließ sich auf dem weitläufigen Friedhof vom kalten Wind umwehen.

Als er aufstand und ein paar Zweige von Annis Grab pflückte, war fast eine Stunde vergangen. Er wollte die Zweige mitnehmen, sie auf ein anderes Grab mit weißem Holzkreuz legen, während er einem kleinen Mädchen, das nicht dort lag, Fragen stellte.

Wer bist du?

Warum bist du verschwunden?

Und wo bist du jetzt?

   

ICH MÖCHTE DAS NICHT. Ganz allein hierbleiben. Ohne Mama und Papa.

Es ist ein schönes Gefühl, diese Hand zu halten, die weich und gleichzeitig fest ist.

Die Hand, die weiß, wohin wir gehen. Wohin Mama und Papa gegangen sind.

Wo sie auf mich warten.

   

ALS ANNI VERUNGLÜCKTE, als das kleine Mädchen, das in ihr heranwuchs, starb und Anni in einem Pflegeheim in ihrer inneren Welt verschwand, wurde ihr Mann zu einem Polizeipsychologen geschickt. Um zu verstehen, dass er seine Frau überfahren hatte. Dass ihr gemeinsamer Lebensweg nicht mehr existierte. Dass seine schlimmste Befürchtung eingetreten war. Fünfunddreißig Jahre später erinnerte er sich noch immer an die Sitzung mit dem Therapeuten, der versuchte, sich einem Menschen zu nähern, der alles verloren hatte. Wie der junge Polizist Ewert Grens an seiner ersten Aufgabe als Patient desaströs scheiterte – einen sicheren Ort zu finden, an den er sich in Gedanken zurückziehen konnte, wenn die Therapie zu fordernd wurde und die Gefühle zu schwer. Schon damals lag offen zutage, dass seine Existenz vernichtet war. Er konnte keinen sicheren Ort finden. Nicht einmal in Gedanken! Nicht zu Hause, wo sein Bett zu einem schwarzen Loch geworden war, in das er hinabstürzte, nicht bei Freunden oder Kollegen, nicht in dem großen Polizeipräsidium, in dem er sich so wohlfühlte. Nirgends fand er Ruhe. Bis er eines Tages das braune Cordsofa kaufte, auf dem er jetzt in seinem Büro lag. Kein hochwertiges Modell, es hatte nicht viel gekostet, aber es war bequem und lang genug, damit er sich darauf ausstrecken konnte. Inzwischen waren die Polster viel zu weich und die Längsrippen im Cord verschwunden. Verschlissen durch drei Jahrzehnte Liegen, hin und wieder während der Arbeitszeit und ziemlich häufig nachts, um nicht nach Hause gehen und in seinem Bett schlafen zu müssen.

Doch an diesem Nachmittag wollte sich die Ruhe nicht einstellen, egal wie lange Grens auf dem Sofa lag und der Musik lauschte, die aus dem betagten Kassettenrekorder strömte und den Raum mit den Stimmen und Refrains der Sechzigerjahre füllte, die er immer wieder hörte und die ihm so vertraut waren. Arme, Beine, sein ganzer Körper wand sich in Schwindel und Rastlosigkeit, während er in kurze, verworrene Träume driftete und wieder hochschreckte.

Er setzte sich auf die Sofakante.

Legte sich wieder hin.

Streckte einen Arm aus, griff nach dem Becher mit schwarzem Kaffee und trank ihn aus.

Starrte an die Decke und folgte den Verästelungen der Risse im Putz, die ihn für gewöhnlich beruhigten.

Er hatte in den Ermittlungsakten geblättert, die sich auf seinem Schreibtisch türmten, sich mit Menschen befasst, die der Gewalt anderer zum Opfer gefallen waren. Aber es hatte nicht geholfen. Die Tatortbeschreibungen blieben verschwommen, ganz gleich, wie dicht er sich darüber beugte.

Und er wusste, warum.

Die Ähnlichkeiten.

Er war noch immer bei einem fremden Mädchen, das – genau wie Annis und sein Mädchen – in einem schäbigen Parkhaus verschwunden und zu einer Erinnerung auf einem trostlosen Friedhof geworden war. Und das er versprochen hatte zu besuchen, damit es sich ein bisschen weniger einsam fühlte. Obwohl er keine Ahnung hatte, wie das Mädchen aussah, wie ihre Stimme klang oder ob ihre Augen die Menschen, denen sie begegnete, anlächelten.

Es gab nur eine Art, wie er sie kennenlernen konnte.

Das Polizeiarchiv.

Dort, in einem braunen Asservatenkarton, existierten die einzigen Spuren, die bestätigten, dass es sie tatsächlich gegeben hatte.

Er ging auf den Flur hinaus, vorbei an den Büros seiner Kollegen, die – wie er selbst es tun sollte – an laufenden Ermittlungen arbeiteten, und fuhr mit dem Fahrstuhl in den Keller des Polizeipräsidiums hinunter. Im Archiv gab es weder Fenster noch eine Belüftung, die diese Bezeichnung verdiente, aber er fühlte sich dort jedes Mal wohl, sobald er den Zugangscode eingetippt und die massive Stahltür aufgedrückt hatte. Hier unten existierte eine eigene Welt mit anderen Maßstäben, manchmal sogar mit einer Form von Gerechtigkeit, wenn ein Ermittlungsverfahren mit einer Anklage und einem Urteilsspruch endete.

Grens lief die Regalgänge entlang, immer tiefer unter das Polizeipräsidium, bis zum Archivcomputer der Stockholmer Mordkommission in der hintersten Ecke, loggte sich ein und begann zu suchen. Das namenlose Mädchen war hier irgendwo, zwischen Tausenden und Abertausenden Lebenden und Toten.

Er erinnerte sich an den Blick der fremden Frau, als sie nebeneinander vor dem Grab ihrer Tochter gestanden und sie geflüstert hatte: »Das war eine sonderbare Beerdigung.« Grens tippte »VERMISST« und »MÄDCHEN« in die Suchmaske, drückte auf Enter und wartete.

Neunhundertsieben Treffer.

Er kramte in seinem Gedächtnis, was die Frau noch gesagt hatte, und fügte »SÖDERMALM« hinzu.

Noch einhundertzweiundfünfzig Treffer.

Er erinnerte sich an die Trauer und die Wut der Frau, als sie von dem schäbigen Parkhaus erzählte.

»PARKHAUS«.

Noch zweiundzwanzig Treffer.

Wie hatte sie ihre Tochter beschrieben? Genau. Das Mädchen hatte ein Kleid getragen und die Haare zu einem hübschen Zopf geflochten.

»KLEID«.

Noch fünf Treffer.

»ZOPF«.

Nur noch ein Treffer.

Grens stand mit einem Ruck auf und schritt die Archivgänge entlang. Regale mit sieben Etagen – identische Reihen vergilbter brauner Pappkartons, hohe Mappenberge, gestapelt nach einer Farbsystematik, die er nie begriffen hatte, mit Schnüren gebündelte Aktenstöße, breite Ordnerrücken, prall gefüllte Klarsichthüllen und dazwischen Asservate, die zu sperrig waren, um sie in Kartons zu verstauen. Ein Ermittlungsverfahren nach dem anderen, und da, auf einem Platz, der das Herz des Archivs sein könnte, stand er. In Gang 17, Abteilung F, Regalbrett 6. Grens stieg auf einen Hocker und bekam den Karton gerade so zu fassen. Er war nicht schwer. Trotz eines steifen linken Beins und eines Gleichgewichtssinns, um den es nicht mehr zum Besten bestellt war, konnte er den Karton mühelos herunterheben. Grens setzte sich an einen der Lesetische und klappte die Seitenlaschen wie zwei Pappflügel auf. Der Inhalt war überschaubar. Eine Vermisstenanzeige, die den Hergang des Verschwindens schilderte. Ein Bericht der Kriminaltechnik, die weder DNA noch Faserspuren des Täters hatte sicherstellen können. Ergebnislose Befragungen von Personen, die sich aus verschiedenen Gründen zum fraglichen Zeitpunkt im Parkhaus aufgehalten hatten.

Die Frau hatte recht gehabt.

Trotz solider Ermittlungsarbeit: keine einzige Antwort, nicht eine einzige Spur.

Ein kleines Mädchen war entführt worden, ohne dass jemand etwas gesehen oder gehört hatte.

   

DAS AUTO IST SUPERSCHÖN. Und superlang. Und superneu. Ich habe die Rückbank ganz für mich allein. Das habe ich sonst nie. Sonst nehmen Jacob, Mathilda und William mir immer den Platz weg. Ich kann mich sogar der Länge nach hinlegen und meine Beine so weit strecken, ohne an die Tür zu stoßen. Als ich mich hinknie und aus dem Rückfenster schaue, wird das große Kaufhaus immer kleiner und kleiner, bis es nicht mehr zu sehen ist. Ich frage, warum Mama und Papa nicht dageblieben sind, warum sie weggegangen sind, warum sie mir nichts davon gesagt haben, und die Leute, die das superschöne Auto fahren, sagen, dass sie wissen, wo ich wohne, dass sie den Weg kennen und mich dorthin bringen.

Ich sehne mich danach.

Dorthin zu kommen.

Zu Mama und Papa.

   

EWERT GRENS WAR mit dem Fahrstuhl zurück in die Mordkommission gefahren und auf dem Weg in sein Büro am Ende des Flurs, als er es sich anders überlegte und abrupt stehen blieb. Allerdings nicht, wie es seiner Gewohnheit entsprach, am Kaffeeautomaten, sondern vor dem Büro einer Kollegin, mit der er selten ein Wort wechselte, die er kaum kannte, obwohl sie denselben Alltag teilten – aber das kam vor, wenn verschiedene Ermittler an verschiedenen Fällen arbeiteten, deren Verlauf in verschiedene Richtungen führte.

»Hast du eine Minute?«

Elisa Cuesta. So hieß sie, die Kriminalinspektorin in den Vierzigern, die jetzt von ihrem Schreibtisch aufblickte, um den herum sich Umzugskartons stapelten. Ein Büro mit kahlen Wänden, ohne einen einzigen persönlichen Gegenstand – ein Mensch, der nicht wagte, in einen Raum einzuziehen, und der sich deshalb immer wie ein provisorisches Hotelzimmer anfühlen würde.

So weit von einem durchgelegenen Cordsofa entfernt wie möglich.

»Darf ich reinkommen?«

»Natürlich … Aber du musst nicht, Grens. Ich war diejenige, die …«

»Was muss ich nicht?«

»Ich meine, du und ich … Wir sprechen sonst nie miteinander, und einen Monat danach – das ist zu spät. Ich habe damals wohl ein bisschen übereilt gehandelt.«

»Einen Monat danach? Übereilt? Ich verstehe nicht, wovon du redest.«

Sie sah ihn an. Hob beide Hände. Abwehrend.

»Sorry, ich dachte, du wärst wegen etwas … anderem hier. Wir fangen noch mal von vorne an, Grens. Setz dich auf den Karton da, der ist stabil. Das ist mein Besucherstuhl. Was kann ich für dich tun?«

Ewert Grens bahnte sich einen Weg durch die Umzugskartons, ließ sich auf dem ihm zugewiesenen nieder, streckte sein steifes Bein so gut es ging aus, um nicht das Gefühl zu haben, auf einer Schaukel zu sitzen, und blickte seine Kollegin an.

»Ich habe ein paar Fragen zu einem alten Vermisstenfall, den du vermutlich vor ein paar Jahren zu den Akten gelegt hast.«

Elisa Cuestas äußere Erscheinung war genauso neutral wie ihr Büro. Sie sah jeden Tag gleich aus. Sie hatte ein Gesicht, an das man sich nicht erinnerte. Wenn sie sich eine Stunde später in der Stadt begegnen würden, würde Grens sie nicht erkennen. Doch jetzt verlieh die Wut ihrem Gesicht Persönlichkeit. Die Wut darüber, in ihrer Kompetenz angezweifelt zu werden.

»Ach ja?«

»Das sollte keine Kritik sein.«

»Wir beide wechseln nie ein Wort miteinander, Grens. Wir sind einander herzlich egal, und das ist völlig in Ordnung so. Ich vermisse deine Gesellschaft nicht – aber wenn du zum ersten Mal in mein Büro kommst und das Gespräch mit mir suchst, pickst du dir einen Fall heraus, den ich nicht gelöst habe? Wenn du nicht hier bist, um mir irgendwelche Fehler vorzuwerfen – was zum Teufel willst du dann?«

Grens änderte seine Sitzhaltung, wodurch der halb volle Umzugskarton bedenklich ins Schwanken geriet.

Er stand auf, das erschien ihm sicherer.

»Ich möchte ein kleines Mädchen finden, dessen leerer Sarg unter einem weißen Holzkreuz beigesetzt wurde.«

»Und?«

»Und ich will alles wissen. Jede einzelne Aufnahme von jeder relevanten Überwachungskamera vom Morgen des 23. August 2016 sehen. Mir einen Überblick verschaffen, welche Nachforschungen damals angestellt wurden, in Krankenhäusern, bei Jugendämtern, in Vorschulen. Mit welchen Zeugen ihr gesprochen habt, bis ihr die Suche nach dem Mädchen aus Mangel an Ergebnissen erst runtergeschraubt und dann ganz eingestellt habt.«

»Ich habe keine Ahnung, von wem du redest.«

»Von dem kleinen Mädchen, das aus einem Auto entführt wurde.«

»Tut mir leid, da klingelt nichts.«

»Das vierjährige Mädchen, das auf dem Beifahrersitz saß, als …«

»Grens, sieh dich um. Siehst du die Kartons? In jedem davon liegen ungelöste noch laufende Fälle. Meine eigenen und die von Kollegen. Weil ich es genauso sehr hasse wie du. Aber bei diesem zu den Akten gelegten Fall musst du dich an jemand anderen wenden – ich kann mich weder daran erinnern, noch brauche ich eine weitere Baustelle.«

Ewert Grens drehte sich um.

»Tausend Dank für deine Hilfe.«

Und wandte sich zum Gehen.

»Warum, Grens?«

»Warum was?«

»Warum dieser Fall? Und warum jetzt? Wie kommst du darauf? Warum willst du einen abgeschlossenen Fall neu aufrollen, obwohl wir in laufenden Ermittlungen ertrinken?«

Ewert Grens zuckte die Achseln. Er hätte von einer Frau erzählen können, deren Grab er jahrelang nicht besucht hatte. Von einem Kind, das in ihr herangewachsen war und das sie verloren hatten und das in einem anonymen Erinnerungshain lag, den er nicht aufsuchte. Von einer fremden Frau, die das genaue Gegenteil tat – die ein kleines Mädchen regelmäßig besuchte, damit es sich nicht einsam fühlte.

Aber er tat es nicht.

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Was soll das heißen?«

»Ich bin heute auf dem Friedhof jemandem begegnet, und … also … jemandem, der …«

»Grens?«

»Ja?«

»Was ist los?«

»Wieso … warum fragst du?«

»Du bist blass. Wirkst gehetzt, verwirrt. Um nicht zu sagen desorientiert. Den Eindruck hatte ich schon, als du reingekommen bist. Geht es dir gut? Du siehst nicht aus, als würde es dir gut gehen.«

Elisa Cuesta beugte sich vor, erwartete eine Antwort.

»Ich … mir war nur ein bisschen schwindelig. Vorhin auf dem Friedhof.«

»Schwindelig?«

Ewert Grens setzte sich in Bewegung, vollführte einen Hürdenlauf durch einen mit Umzugskartons vollgestellten Raum, dessen Bewohnerin genauso viel Angst vor dem Ankommen hatte wie er vor dem Loslassen.

»Ich hatte ein … unangenehmes Erlebnis, das mit einem anderen unangenehmen Erlebnis zusammenhängt. Nichts weiter.«

Er näherte sich der Tür. Elisa Cuesta sah ihm nach und strengte sich an, seine Worte, die zu einem undeutlichen Murmeln wurden, zu verstehen.

»Das Mädchen auf dem Friedhof hat mich tiefer erschüttert, als ich … kleine Kinder, vor allem kleine Mädchen, sind immer … Ich weiß nicht, warum und …«

Der Kriminalkommissar schwankte beinahe auf den Flur hinaus, und sie hörte ihn nicht mehr. Elisa Cuesta stand auf, folgte ihm. Er hatte es bis zum Kaffeeautomaten geschafft, diesmal würde er stehen bleiben und zwei Becher ziehen, als ihre Stimme ihn erreichte.

»Grens – den anderen Fall hast du dir nicht angesehen, oder?«

Sie stand im Türrahmen ihres Büros.

»Den anderen Fall?«

»Den anderen Vermisstenfall. Das Mädchen war auch vier Jahre alt. Und ihr Verschwinden war genauso mysteriös.«

Die Kollegin, die kein Gesicht hatte, an das man sich erinnerte, wirkte aus der Distanz noch diffuser.

»Das Mädchen ist am selben Tag verschwunden – und wurde auch nie gefunden. Weder tot noch lebendig.«

   

MAMA UND PAPAhaben gesagt, dass ich nicht mit fremden Leuten mitgehen darf – aber das ist gar nicht gefährlich. Nicht, wenn sie meinen Namen kennen.

Und gleich sind wir da.

Außerdem darf ich meine Jacke anbehalten.

Die, die wie ein Zebra gestreift ist und die ich nie ausziehen will, nicht mal im Haus, obwohl Mama und Papa sagen, dass ich das muss. Das ist meine Lieblingsjacke. Und meine Schmetterlingshaarspange mag ich auch. Der Schmetterling ist blau, und wenn niemand hinguckt, kann er fliegen. Die Leute, die das schöne Auto fahren und die wissen, wo ich wohne, schimpfen nicht, dass ich meine Jacke ausziehen soll, nicht wie Mama, sie verstehen mich.

Wir sind bestimmt gleich da.

Zu Hause.

   

SIE BLICKTEN IHN UNVERWANDT AN.

Blinzelten nicht einmal.

Starrten und starrten.

Das Mädchen, dessen Foto zu seiner Linken auf dem Schreibtisch lag, war in einem Parkhaus wie vom Erdboden verschwunden und trug auf dem Abzug aus der archivierten Ermittlungsmappe dasselbe Kleid wie am Tag ihres Verschwindens. Als diese Aufnahme gemacht worden war, war sie vier Jahre alt gewesen, einen Meter und acht Zentimeter groß und hatte neunzehn Kilo gewogen, und ihre Haare waren zu einem hübschen Zopf geflochten.

Das Mädchen auf dem Foto zu seiner Rechten saß in einem knallroten Kindersessel vor einer unbehaglich steifen Hintergrundkulisse, wie Studiofotografen sie manchmal verwenden und die der Welt einen künstlichen Anstrich verleiht. Ihre Haare waren kürzer und heller, sie war in etwa genauso groß, aber ein paar Kilo schwerer, ihr Alter: vier Jahre und sieben Monate.

Die beiden Mädchen waren am selben Tag zu den Hauptpersonen zweier separater Vermisstenfälle geworden.

Das Mädchen vom Friedhof war nicht mehr ganz allein.

Ewert Grens schob die beiden Fotos näher zueinander in die Schreibtischmitte. Sie gehörten zusammen. Er wusste nicht wie, das wussten sie vielleicht selbst nicht, aber er glaubte nicht an Zufälle, hatte es nie getan.

Jedes Jahr wurden in Schweden mehr als siebentausend Menschen vermisst gemeldet.

Die meisten tauchten nach ein paar Tagen wieder auf.

Aber circa dreißig kehrten nie wieder zurück – weder tot noch lebendig – sie blieben Rätsel, spurlos verschwunden.

Das Mädchen zu seiner Linken, das Alva genannt wurde, und das Mädchen zu seiner Rechten, das Linnea hieß, waren zwei dieser spurlos Verschwundenen.

Grens stand auf, wanderte rastlos auf und ab. Zwischen Regal und Cordsofa. Zwischen dem Fenster zum Innenhof des Polizeipräsidiums und seiner geschlossenen Bürotür. Bis er mit sich selbst zusammenstieß und zu den zwei Mädchen auf seinem Schreibtisch zurückkehrte, die ihn weiter anstarrten.

Vielleicht fragten sie sich, wer er war.

Warum er da saß und das Recht zu haben glaubte, sie umherschieben zu dürfen.

Die Mappe des vor einigen Jahren archivierten Vermisstenfalls Linnea Disa Scott hatte er im Lauf des Nachmittags in einem zum Bersten gefüllten Aktenschrank in einem staubigen Raum im Polizeirevier Skärholmen aufgestöbert – und ihr Inhalt glich dem Inhalt des Asservatenkartons, den er nur ein paar Stunden zuvor von einem Archivregal der Stockholmer Mordkommission heruntergehoben hatte. Genauso solide Nachforschungen, genauso ergebnislos. Aber während Alva nur von ihrer Mutter vermisst wurde, besaß Linnea eine große Familie, die die Ermittlungen verzweifelt unterstützt hatte. Ihre Angehörigen hatten versucht, jede neue Frage zu beantworten, bei jeder neuen Spur behilflich zu sein. Grens überblätterte die Vermisstenanzeige, den Beschluss zur Einleitung einer Öffentlichkeitsfahndung, die Kopien von Linneas Personenbeschreibung, die an alle Streifenwagen und Busfahrer verteilt worden war, die Vernehmungsprotokolle, die Zeugenaussagen, die Berichte der Spurensicherung. Darauf würde er zurückkommen, später. Gerade interessierten ihn nur zwei Teile des Ermittlungspuzzles um das Mädchen, das Linnea hieß: der Film der Kaufhauskamera, die den Moment ihres Verschwindens aufgezeichnet hatte, und ein von ihren Eltern unterschriebenes Dokument, das alles verändern könnte.

   

DAS AUTO HÄLT.

Ich setze mich hin, obwohl es gemütlich war, ganz allein auf der Rückbank zu liegen.

Wir sind da.

Ich rücke meine gestreifte Zebrajacke und meine blaue Schmetterlingshaarspange zurecht, ich will hübsch aussehen, wenn ich nach Hause komme. Die Leute mit den weichen und festen Händen, die das schöne Auto fahren, entriegeln die Kindersicherung, halten mir die Tür auf, und ich kann aussteigen.

Das ist nicht unser Haus.

Das ist nicht Zuhause.

Das ist ein Flughafen. Das weiß ich. An Weihnachten haben wir Oma und Opa hier abgeholt, weiter hinten, am Eingang, bei den großen Glastüren. Ich kann hören, wie die Flugzeuge landen und starten.

Ich blicke mich um. Aber ich sehe niemanden, den ich kenne.

Also frage ich die Leute, die meinen Namen kennen.

»Wo sind Mama und Papa?«

   

EWERT GRENS BEGANN mit den Aufzeichnungen der Kaufhauskamera.

Er steckte den USB-Stick in seinen Computer und öffnete die Datei.

Das erste Mädchen, Alva, war frühmorgens in einem fast menschenleeren Parkhaus aus einem Auto entführt worden. Doch das Verschwinden des anderen Mädchens, das er jetzt betrachtete, hatte nichts mit der Stille in einem düsteren Parkhaus gemein. Die mitlaufende Uhr am unteren Bildrand zeigte elf Stunden später, früher Abend, und die Kamera saß an der Decke eines lauten, belebten Kaufhauses. Kunden wimmelten kreuz und quer durcheinander. Randvoll gefüllte Einkaufswagen, aufeinandergetürmte Fernseher, meterhohe Pyramiden aus Chipstüten und plärrende Lautsprecherdurchsagen zu den Schnäppchen der Woche.

Grens wartete.

Nach einer Weile beugte er sich näher an den Bildschirm.

Und sah sie zum ersten Mal.

Ein kleines Mädchen, das an Supermarktregalen entlang arglos ins Bild schlendert. Linnea. Grens war sicher, obwohl er sie nur von einer anonymen Studiofotografie kannte. Sie trägt eine Jacke mit Zebramuster, und in ihrem Pony steckt eine große blaue Schmetterlingshaarspange. Hin und wieder bleibt sie stehen – spiegelt sich in einem glänzenden Toaster, nimmt eine Kerzenschachtel in die Hand, schüttelt sie, drückt mit dem Daumen auf eine Packung Servietten. Sie wirkt fröhlich. Einkaufen mit Mama und Papa ist ein Abenteuer. Eine Minute und zwölf Sekunden später hat sie den Kameraradius fast verlassen, als sich ihr eine Hand entgegenstreckt. Die Hand einer erwachsenen Person, die außerhalb des Bildrands steht. Als wüsste die Person genau, wo der Aufzeichnungswinkel der Kamera endet. Sie scheinen miteinander zu reden, Linnea und die unsichtbare Person. Bis Linnea ihre Hand in die erwachsene Hand legt und davongeht.

Ewert Grens durchfuhr ein Schauer. Wieder so eine heftige Böe wie auf dem Friedhof. Er durchlebte die letzten Augenblicke im Leben eines Menschen.

Zumindest die letzten Augenblicke, die Linneas Familie bekannt waren.

Er ließ die Aufzeichnung weiterlaufen, und plötzlich stürzten ein Mann und eine Frau mittleren Alters ins Bild, verließen es, kamen zurück, verließen es, kamen zurück.

Beunruhigt.

Wütend, aufgebracht.

Voller Panik, verrückt vor Angst.

In dem Moment hielt Grens das Video an. Ein Mann und eine Frau – vermutlich Linneas Eltern –, die sich verzweifelt umarmten, während die Kaufhauskunden um sie herum weiter Waren in ihre vollen Einkaufswagen packten.

Grens fragte sich, ob ihnen in diesem Moment schon bewusst gewesen war, dass sie ihre Tochter nie wiedersehen würden.

   

EIN PASS. So heißt das kleine Büchlein. Und er ist wirklich ganz echt.

Mit einem Foto von mir. Ich kenne kein Kind, das mit vier Jahren schon einen eigenen Pass hat. Jacob hat keinen. Und Mathilda und William sind sowieso zu klein. Aber ich bin es nicht.

Auf dem Foto sehe ich aus, als wäre ich sechs. Wir tun so, als ob ich das bin. Ich versuche zu raten, was für ein Spiel das ist. Nein, ich komme nicht drauf. Aber es ist lustig, jemand anders zu sein. Darum habe ich auch einen anderen Namen.

Ich kann noch nicht lesen, aber die Leute, die meinen Namen kennen, meinen richtigen Namen, sagen, dass in meinem Pass Lynn steht und dass ich im Sommer Geburtstag habe, nicht wie eigentlich im Winter. Und dass wir das Spiel weiterspielen, bis wir Mama und Papa treffen, die sich das Spiel ausgedacht haben und woanders auf uns warten, obwohl sie hier hätten sein sollen.

   

GRENS ZOG DEN USB-Stick aus dem Computer, die Bilder einer Familie, die es nicht mehr gab, und wandte sich einem Dokument aus der umfangreichen Ermittlungsmappe zu. Einem Dokument, das alles verändern könnte.

Formular SKV 7695.

Antrag auf Todeserklärung – verschollene Person

Kleine, viereckige Kästchen. Personalien der verschollenen Person. Personalien des Antragstellers, Verwandtschafts- oder sonstiges Verhältnis des Antragstellers der verschollenen Person. Ein tristes graues Blatt, das aussah wie jedes x-beliebige Antragsformular und nach Behörde und Bürokratie roch.

Mit dem Unterschied, dass es Leben beendete.

Die Eltern aus dem Überwachungsvideo, die sich verzweifelt umarmt und gehofft hatten, ihre Tochter bald wiederzusehen, hofften jetzt, drei Jahre später, auf ihren Tod. Weil der Tod besser als nichts ist. So hatten sie ihren Antrag auf der Rückseite des Formulars begründet. Dieses Kästchen bot ein bisschen mehr Platz als die übrigen, und die Eltern hatten es, die Sätze dicht aneinandergedrängt, mit einem blauen Kugelschreiber handschriftlich ausgefüllt.

Eine flehentliche Bitte.

An die Mitglieder des Sonderausschusses zur Todeserklärung vermisster Personen.

Sie baten – genau wie im Fall des kleinen Mädchens, das schon in einem leeren Sarg beigesetzt worden war und von seiner Mutter Alva genannt wurde –, die Fünf-Jahres-Frist auszusetzen und Linnea Disa Scott offiziell für tot zu erklären.

Ewert Grens dachte oft, dass einem Kriminalkommissar eine der denkbar schwierigsten Aufgaben zufiel – den Tod eines geliebten Menschen zu überbringen. Er hatte an unzählige Türen geklopft und Angehörigen mitgeteilt, dass ein Sohn, eine Tochter, ein Ehemann, eine Ehefrau nicht mehr da war. Er nahm ihnen das Leben – denn bis zu dem Moment, an dem er vor ihren Familien stand und es aussprach, waren ihre Liebsten, die Menschen, die für sie alles bedeuteten, noch lebendig gewesen. Aber den Ausschussmitgliedern oblag eine noch schwierigere Aufgabe. Sie mussten den Tod und den Zeitpunkt des Todes feststellen. Und – in diesem Fall – hatten sie es getan.

Aufgrund a) der Umstände der Verschollenheit b) der ergebnislosen Suche und c) der verstrichenen Zeit sieht der Ausschuss die Vermutung begründet, dass die Person mit allergrößter Wahrscheinlichkeit verstorben ist.