Krieg und Frieden - Gekürzt - Leo N. Tolstoi - E-Book

Krieg und Frieden - Gekürzt E-Book

Leo N. Tolstoi

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Beschreibung

Dieses Buch präsentiert den Klassiker der Weltliteratur in sorgfältig gekürzter Form. Der Text wurde in modernes Deutsch übertragen, wobei Stil, Ton und Ausdruck des Originals weitgehend beibehalten wurden. Für alle, die einen raschen Zugang zu diesem umfangreichen Klassiker erhalten möchten. „Krieg und Frieden“ von Leo N. Tolstoi ist ein großer Roman über das Leben in Russland zur Zeit der napoleonischen Kriege. Die Geschichte spielt zwischen 1805 und 1812 und zeigt, wie der Krieg das Leben vieler Menschen verändert. Im Mittelpunkt stehen vier Adelsfamilien, besonders die Familien Bolkonski, Rostow und Besuchow. Während der französischen Invasion unter Napoleon geraten viele Figuren in Lebensgefahr. Es gibt große Schlachten, vor allem bei Austerlitz und Borodino. Gleichzeitig zeigt der Roman das friedliche Leben auf dem Land, die Sorgen der einfachen Menschen und den Wandel der russischen Gesellschaft. Tolstoi beschreibt genau, wie sich Krieg und Frieden auf das Denken und Fühlen der Menschen auswirken. Der Roman ist nicht nur eine Liebes- und Familiengeschichte, sondern auch eine politische und philosophische Betrachtung. Tolstoi fragt: Was ist Macht? Was ist der Sinn des Lebens? „Krieg und Frieden“ ist ein Werk über Mut, Verlust, Liebe – und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Leo N. Tolstoi

Krieg und Frieden - Gekürzt

Gekürzte Ausgabe

Dieses Buch präsentiert den Klassiker der Weltliteratur in sorgfältig gekürzter Form. Der Text wurde in modernes Deutsch übertragen, wobei Stil, Ton und Ausdruck des Originals weitgehend beibehalten wurden. Für alle, die einen raschen Zugang zu diesem umfangreichen Klassiker erhalten möchten.

1

»Nun, Fürst, hat die Familie Bonaparte auch Genua in Besitz genommen? Ich sage Ihnen, wenn Sie noch die Notwendigkeit des Krieges leugnen und die Gräuel verteidigen wollen, welche dieser Antichrist begeht, dann sind Sie nicht mehr mein Freund. Setzen Sie sich und erzählen Sie.«

Es war im Juni 1805, als Anna Pawlowna Scherer diese Worte sprach. Sie war Hofdame der Kaiserin und zählte zum vertrauten Kreis. Sie sprach mit Fürst Wassil.

»O Himmel, welch heftiger Überfall!« erwiderte der Fürst ruhig. Er trug eine goldgestickte Uniform und sprach Französisch in herablassendem Ton. Er küsste ihre Hand und setzte sich.

»Vor allem, beruhigen Sie mich über Ihre Gesundheit«, sagte er spöttisch.

»Wie könnte ich mich wohl fühlen bei solchen Aufregungen? Sie bleiben den ganzen Abend, hoffe ich?«

»Nein, heute nicht. Der englische Gesandte gibt ein Fest, ich muss erscheinen; meine Tochter holt mich ab.«

»Ich glaubte, das Fest sei verschoben worden. Alle diese Festlichkeiten langweilen mich.«

»Hätte man Ihren Wunsch geahnt, hätte man sie gewiss verlegt«, sagte er mechanisch.

»Spotten Sie nicht. Sagen Sie mir, was ist beschlossen worden über die Depesche von Nowosilzow?«

»Man hat entschieden, dass Bonaparte seine Schiffe verbrannt hat und wir scheinen dasselbe zu tun.«

Das Gespräch über Politik erregte Anna Pawlowna. »Ach, sprechen Sie mir nicht von Österreich! Es will keinen Krieg, es verrät uns. Russland muss Europa befreien. Unser Herr erfüllt seine Mission und wird die Hydra der Revolution zerschmettern. England hat zu viel Krämergeist, Preußen ist falsch. Aber ich glaube an Gott und an unseren Kaiser.«

»Wie schade, dass Sie nicht an Winzingerodes Stelle stehen«, scherzte der Fürst.

»Sogleich bringe ich Tee«, erwiderte sie, dann fügte sie hinzu: »Ich erwarte heute zwei interessante Herren. Und wissen Sie, dass alle von Ihrer Tochter entzückt sind?«

Der Fürst verbeugte sich.

»Nur Anatol liebe ich nicht«, sagte sie bestimmt. »Sie wissen Ihr Glück nicht zu schätzen.«

Sie lächelte enthusiastisch.

»Was wollen Sie?« erwiderte der Fürst. »Lavater hätte wohl entdeckt, dass auf meinem Schädel der Höcker fehlt, der die Liebe zu Kindern anzeigt.«

»Hören Sie auf zu scherzen. Ich bin sehr unzufrieden mit Ihrem Jüngsten! Man hat bei Seiner Majestät über ihn gesprochen und bedauert Sie!«

»Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll«, sagte der Fürst entmutigt. »Ich habe alles getan, was ich konnte und doch ist aus beiden nichts geworden. Hippolyt ist ein friedlicher Dummkopf, Anatol ein Tollkopf.« Er lächelte unangenehm.

»Leute wie Sie sollten gar keine Kinder haben!« bemerkte Anna Pawlowna.

»Ich bin Ihr treuer Sklave. Meine Kinder sind für mich eine Last, aber was ist zu machen?« Er zuckte ergeben die Schultern.

»Haben Sie nie daran gedacht, Anatol zu verheiraten? Ich habe ein junges Mädchen für ihn, die Fürstin Bolkonska. Sie ist bei ihrem Vater unglücklich.«

Der Fürst neigte leicht den Kopf. »Wissen Sie, Anatol kostet mich jährlich 40‘000 Rubel! Was soll das in fünf Jahren werden? Ist sie reich?«

»Sehr reich. Ihr Vater, Fürst Bolkonsky, ist geizig und lebt auf dem Lande. Ein eigenwilliger Mann, schwer auszukommen. Die Arme ist unglücklich. Sie hat nur einen Bruder, Adjutant bei Kutusow. Sie sehen ihn heute.«

»Bringen Sie mir die Sache zustande«, rief der Fürst und ergriff ihre Hand. »Sie ist von guter Familie und reich, das genügt.«

»Gut«, erwiderte Anna Pawlowna. »Ich werde noch heute mit Lisa Bolkonska sprechen.«

2

Der Salon füllte sich. Die Blüte der Petersburger Gesellschaft war versammelt. Die Tochter des Fürsten Wassil, die schöne Helene, kam um ihren Vater abzuholen. Auch die junge Fürstin Bolkonska erschien. Sie war verheiratet und in Umständen, durfte aber an kleinen Zirkeln teilnehmen.

»Haben Sie meine Tante gesehen?« fragte Anna Pawlowna jeden und führte ihn zu einer alten Dame mit auffallender Frisur. Alle vollzogen dieselbe Zeremonie, mieden sie aber später. Die Tante sprach von ihrer Gesundheit und der der Kaiserin, »welche Gott sei Dank sich gebessert« habe.

Die kleine Fürstin brachte ihre Arbeit in einer Handtasche mit. Ihre halbgeöffnete Lippe gab ihr einen besonderen Reiz. Sie setzte sich graziös beim Samowar. »Ich habe meine Arbeit mitgebracht«, sagte sie. »Nehmen Sie sich in Acht, Anna! Sie haben mir eine kleine Gesellschaft versprochen und nun sehen Sie meinen Aufzug!« Sie zeigte ihr elegantes graues Kleid.

»Seien Sie unbesorgt, Lisa, Sie werden die Hübscheste sein.«

»Wissen Sie, dass mein Mann mich verlässt? Er wird sich den Tod holen. Wozu dieser Krieg?« sagte sie zum Fürsten, plauderte dann mit Helene.

Da trat ein großer junger Mann ein: Peter, der Sohn des reichen Grafen Besuchow, der dem Tod nahe war. Er war erst aus dem Ausland zurück, ohne Laufbahn und erschien zum ersten Mal in der vornehmen Welt.

»Höchst liebenswürdig, Monsieur Pierre, dass Sie kommen«, sagte Anna Pawlowna. Peter stotterte, lächelte plötzlich und grüßte die kleine Fürstin herzlich. Dann verbeugte er sich vor der Tante, verließ sie aber mitten im Gespräch.

»Kennen Sie den Abbé Morio?« fragte Anna Pawlowna. »Ein sehr interessanter Mann!«

»Ja, ich habe von seinem Projekt des ewigen Friedens gehört. Sehr geistreich, aber unausführbar.«

»Glauben Sie?« fragte Anna Pawlowna, nur um etwas zu sagen.

Peter machte sich einer neuen Unhöflichkeit schuldig. Er begann zu erklären, warum das Projekt des Abbé Morio ein Hirngespinst sei.

»Wir werden später darüber sprechen«, entgegnete Anna Pawlowna und entfernte sich, um ihre Pflichten als Gastgeberin zu erfüllen. Geschickt brachte sie stockende Gespräche wieder in Gang, indem sie Gruppen mischte oder ein Wort einwarf.

Peter war zum ersten Mal in einer russischen Gesellschaft. Er wusste, dass alles versammelt war, was Petersburg an Intelligenz bot und suchte unruhig nach einer Gelegenheit, seine Meinung zu äußern – wie alle jungen Leute.

3

Die Unterhaltung war in vollem Gang. Drei Gruppen hatten sich gebildet: um den Abbé, um Helene und um Anna Pawlowna mit dem Grafen Mortemart. Der Graf, mit sanftem Gesicht und feinen Manieren, spielte die Rolle einer Berühmtheit. Anna Pawlowna pries ihn bei allen Gästen und setzte ihn wie ein kostbares Gericht ein. Man sprach von der Hinrichtung des Herzogs von Enghien.

»Ja, erzählen Sie!« rief sie. Der Graf verbeugte sich.

»Wie schön sie ist!« rief man, als Helene, strahlend hinzutrat.

»Ich bin eingeschüchtert«, sagte der Graf.

»Warten Sie!« rief die kleine Fürstin, »ich muss meine Arbeit holen. Bringen Sie mir meine Handtasche!« sagte sie zu Hippolyt.

Der Graf begann seine Anekdote: Der Herzog sei heimlich nach Paris gereist, um Mademoiselle George zu sehen, dort Napoleon begegnet, der vor Eifersucht ohnmächtig geworden sei. Der Herzog habe den Vorteil nicht genutzt, Bonaparte aber habe sich gerächt und ihn erschießen lassen.

»Reizend!« flüsterten die Damen und die kleine Fürstin legte die Arbeit nieder.

Inzwischen diskutierte Peter mit dem Abbé über das politische Gleichgewicht. Beide sprachen laut, was Anna Pawlowna missfiel.

»Wie soll man dieses Gleichgewicht herstellen?« rief Peter, als sie ihm einen strengen Blick zuwarf.

Da trat Fürst Bolkonsky ein, der Gemahl der kleinen Fürstin, ein hübscher Mann mit müdem Blick. Er grüßte kalt, wandte sich verdrießlich von seiner Frau ab und küsste Anna Pawlowna die Hand.

»Sie bereiten sich auf den Krieg vor, Fürst?« fragte Anna Pawlowna.

»Kutusow hat mich zum Adjutanten erwählt«, erwiderte Bolkonsky.

»Und Ihre Frau?«

»Sie geht aufs Land.«

»Schämen Sie sich nicht, uns Ihrer entzückenden Frau zu berauben?«

»Andree!« rief die kleine Fürstin kokett. »Wenn du die hübsche Geschichte wüsstest, die der Graf erzählt hat.«

Der Fürst machte ein verdrießliches Gesicht und ging. Peter folgte ihm, ergriff seine Hand. Andrees Miene hellte sich. »Ach, bist du auch in der großen Welt?« rief er.

»Ich werde bald bei dir speisen, darf ich?«

»Nein«, lachte Andree und drückte seine Hand.

Da verabschiedeten sich Fürst Wassil und Helene.

»Sie ist sehr schön!« sagte Andree.

»Ja, sehr«, erwiderte Peter.

»Vollenden Sie die Erziehung dieses Bären«, flüsterte Wassil Anna Pawlowna im Vorübergehen zu.

4

Anna Pawlowna versprach, sich mit Peter zu beschäftigen. Da trat eine alte Dame, die Fürstin Drubezkoi, zu Fürst Wassil. »Was haben Sie mir zu sagen, Fürst, wegen meines Boris? Ich kann nicht länger in Petersburg bleiben. Sagen Sie mir, was ich meinem armen Sohn sagen kann. Es kostet Sie nur ein Wort beim Kaiser, damit er in die Garde eintritt.«

»Seien Sie überzeugt, dass ich alles tun werde, was ich kann, aber es ist schwierig. Wenden Sie sich an Rumjanzow.«

»Hören Sie, Fürst, ich habe Sie nie um etwas gebeten. Tun Sie das für meinen Sohn und Sie werden unser Wohltäter sein«, sagte sie hastig und drückte seinen Arm. »Nein, Sie müssen mir das versprechen. Ich war schon bei Galizin, aber er hat mich abgewiesen.«

»Papa, wir werden zu spät kommen«, rief Helene von der Tür.

Der Fürst wusste, dass Bitten gefährlich waren, aber er fühlte sich verpflichtet.

»Teuerste Anna Michailowna«, sagte er, »ich werde es versuchen, aus Achtung für Ihren Vater. Ihr Sohn kommt in die Garde, mein Wort darauf.«

»Teurer Fürst, Sie sind mein Wohltäter! Noch ein Wort: Sie stehen gut mit Kutusow, Sie werden Boris empfehlen, damit er Adjutant wird?«

»Das kann ich nicht versprechen. Seit Kutusow Obergeneral ist, wird er mit Bittschriften überschüttet.«

»Nein, versprechen Sie mir das!«

»Papa«, wiederholte Helene, »wir kommen zu spät.«

»Auf Wiedersehen! Ich kann nicht länger. Morgen spreche ich mit dem Kaiser, aber was Kutusow betrifft, kann ich nichts versprechen.«

»Mein Wassil«, lächelte Anna Michailowna kokett. Doch kaum war er fort, nahm ihr Gesicht wieder den alten, kalten Ausdruck an.

»Wie finden Sie diese neue Komödie?« fragte Anna Pawlowna. »Bonaparte sitzt auf einem Thron und hört die Wünsche der Nation an. Die Welt ist verrückt!«

»Die Regenten können ihn nicht länger dulden«, rief sie.

»Die Regenten?« entgegnete der Emigrant traurig. »Was taten sie für Ludwig XVI.? Nichts! Wenn Napoleon noch ein Jahr bleibt, ist die gute Gesellschaft vernichtet.«

Peter wollte sprechen, doch die Hofdame kam ihm zuvor: »Der Kaiser Alexander überlässt den Franzosen ihre Regierungsform. Sie werden sich ihrem König zuwenden, sobald der Usurpator fällt.«

»Das ist wenig wahrscheinlich«, bemerkte Andree.

»Der größte Teil des Adels ist schon für Napoleon«, warf Peter ein.

»Das behaupten die Bonapartisten!« rief der Graf.

»Die Hinrichtung des Herzogs von Enghien war eine Notwendigkeit«, sagte Peter, »und Napoleon hat Seelengröße gezeigt.«

»Oh! Oh!« rief man.

»Napoleon allein hat die Revolution besiegt und ihre guten Errungenschaften bewahrt. Deshalb ist er groß.«

»Groß? Weil er mordet?« entgegnete der Graf.

»Die Nation gab ihm die Macht, um die Bourbonen zu stürzen. Die Revolution war ein großes Werk.«

»Wollen Sie nicht an den anderen Tisch?« wiederholte Anna Pawlowna entsetzt.

»Ist das die Tat eines großen Mannes, einen Herzog ohne Urteil zu erschießen?« fragte sie.

»Er ist eben ein Bürgerlicher«, spottete Hippolyt.

Peter verstummte. Da sagte Andree: »Man muss unterscheiden zwischen einem Privatmann und einem Staatsmann.«

»Gewiss!« rief Peter erfreut. Andree fuhr fort: »Napoleon ist groß auf der Brücke von Areole, aber anderes ist schwer zu entschuldigen.« Dann erhob er sich und gab seiner Frau das Zeichen zum Aufbruch.

5

Die Gäste verabschiedeten sich. Peter, groß und linkisch, wusste nicht, wie er den Salon verlassen sollte. Zerstreut hatte er den Hut eines Generals ergriffen. Doch seine Aufrichtigkeit und Herzensgüte machten alles wett.

»Ich hoffe«, sagte Anna Pawlowna milde, »Sie bald wiederzusehen – und dass Sie Ihre Ansichten ändern werden.«

Peter verbeugte sich lächelnd, ohne zu antworten.

Im Vorzimmer sprach die kleine Fürstin leise: »Es ist abgemacht.«

»Ich zähle auf Sie«, erwiderte Anna Pawlowna ebenso leise. »Schreiben Sie ihr und sagen Sie mir, wie ihr Vater denkt.«

Hippolyt flüsterte der Fürstin etwas zu. »Ich bin glücklich, nicht zum Gesandten gegangen zu sein. Wie langweilig!«

»Der Ball soll sehr schön sein«, erwiderte sie.

»Nicht alle Zierden werden da sein, denn Sie fehlen«, lächelte er.

»Bist du bereit?« fragte Fürst Andree.

»Peter, wirst du kommen?« rief er freundlich, bevor er mit seiner Frau fortfuhr.

Hippolyt lachte nervös und stieg mit dem Grafen in den Wagen.

»Ihre kleine Fürstin ist reizend«, sagte der Graf und küsste die Fingerspitzen. »Ich bedaure den armen Gemahl.«

»Und Sie sagen, die russischen Damen seien nicht wie die Französinnen? Man muss sie nur zu nehmen verstehen!« rief Hippolyt lachend.

6

Peter kam zuerst und streckte sich auf dem Sofa aus. Er griff nach Cäsars Kommentaren, als Fürst Andree eintrat.

»Was hast du bei Fräulein Scherer gemacht?« fragte dieser.

Peter wandte sich um. »Der Abbé ist interessant, nur irrt er sich. Ich glaube an einen dauerhaften Frieden, aber nicht durch das politische Gleichgewicht.«

»Mein Lieber«, unterbrach Andree, »man kann nicht überall sagen, was man denkt. Hast du dich entschieden? Garde oder Diplomatie?«

»Weder noch«, erwiderte Peter.

»Du musst dich entschließen, dein Vater wartet.«

Peter war nach Jahren im Ausland zurückgekehrt. Seit drei Monaten suchte er eine Karriere – vergebens.

»Hast du die Garde gesehen?« fragte Andree.

»Nein. Aber wenn man für die Freiheit kämpfte, wäre ich der Erste. England und Österreich helfen, den größten Mann der Welt zu bekämpfen – das ist nicht gut.«

Andree zuckte die Achseln. »Wenn jeder für seine Überzeugung kämpfte, gäbe es keinen Krieg.«

»Das wäre vortrefflich.«

»Möglich, aber nie erreichbar«, sagte Andree lächelnd.

»Warum also Krieg?«

»Warum? Ich weiß es nicht. Es muss sein. Und ich gehe – weil mir dieses Leben überdrüssig ist.«

7

Im Nebenzimmer rauschte ein Kleid. Fürst Andree richtete sich auf, Peter setzte die Füße auf den Boden. Die Fürstin trat ein, elegant im Hauskleid. Ihr Mann bot ihr einen Lehnstuhl.

»Ich frage mich«, begann sie lebhaft, »warum Anna Pawlowna nicht geheiratet hat? Die Männer sind dumm! Und Sie, Monsieur Pierre, verstehen nichts von Frauen. Und was für ein Redner Sie sind!«

»Ich streite mit Ihrem Gemahl, weil ich nicht begreife, warum er in den Krieg zieht«, sagte Peter offen.

»Nun ja, ich sage dasselbe«, rief sie. »Warum können Männer nicht ohne Krieg leben? Seine Stellung hier ist glänzend, jeder kennt ihn. Neulich hörte ich: ›Ist das der berühmte Fürst Andree?‹ Und er könnte Flügeladjutant des Kaisers sein!«

Peter schwieg, als er den Ärger seines Freundes bemerkte.

»Wann reisen Sie ab?« fragte er.

»Ach, sprechen Sie nicht davon! Ich will nichts hören! Ich habe Angst«, rief sie und kniff die Augen zusammen.

»Was fürchtest du, Lisa?« fragte Andree kühl.

»Egoisten seid ihr! Einer Laune zuliebe verlässt er mich und schickt mich aufs Land.«

»Mit meinem Vater und meiner Schwester.«

»Das ist dasselbe! Ich soll allein sein!«

»Ich verstehe nicht, wovor du Angst hast«, sagte er langsam.

»Andree, warum hast du dich so verändert?«

»Der Arzt verbietet dir, lange zu wachen. Geh schlafen.«

Die Fürstin schwieg, ihre Lippe zuckte. Andree zuckte die Achseln und ging im Zimmer auf und ab, während Peter erstaunt zusah.

»Es ist mir gleichgültig, ob Monsieur Pierre da ist!« rief die Fürstin erregt. »Warum bist du so anders gegen mich, Andree? Du gehst fort, ohne Mitleid!«

»Lisa!« rief er mit drohendem Ton.

Doch sie fuhr fort: »Du behandelst mich wie ein Kind! Vor sechs Monaten warst du nicht so!«

»Höre auf!« erwiderte er laut.

Peter trat näher, bewegt: »Beruhigen Sie sich, Fürstin! Das sind nur Ideen … Adieu!«

»Nein, bleib«, sagte Andree.

»Ach ja, er denkt nur an sich«, murmelte sie weinend.

»Lisa«, sagte er scharf.

Sie sah ihn furchtsam an, küsste ihn hastig.

»Gute Nacht, Lisa!« sagte er und küsste ihre Hand wie die einer Fremden.

8

Die Freunde schwiegen. »Wir wollen speisen«, sagte Andree und führte Peter in den prächtigen Speisesaal. Plötzlich stützte er den Ellbogen auf den Tisch und sprach hastig: »Lieber Freund, heirate nicht, ehe du alles vollbracht hast, was du willst. Sonst betrügst du dich grausam. Heirate erst, wenn du alt bist, dann riskierst du nichts mehr. Wenn du noch Erwartungen hast, wirst du fühlen, dass alles für dich verschlossen ist, außer den Salons. Wozu?«

Peter nahm die Brille ab, erstaunt.

Fürst Andree fuhr fort: »Meine Frau ist vortrefflich, aber was gäbe ich, nicht verheiratet zu sein! Du bist der Erste, dem ich das sage.« Seine Züge zuckten fieberhaft.

»Du verstehst mich nicht. Du sprichst von Bonaparte. Er war frei, hatte ein Ziel und erreichte es. Wir aber sind Sträflinge. Ich gehe in den Krieg, weiß nichts, kann nichts, bin nur liebenswürdig bei Fräulein Scherer. Und diese Gesellschaft, diese Frauen! Egoismus, Eitelkeit, Dummheit – nichts anderes! Heirate nicht!«

»Ich bin erstaunt«, sagte Peter leise, »dass Sie sich für unfähig halten, wo die Zukunft vor Ihnen liegt . . .«

»Mit mir ist es zu Ende. Sprechen wir von dir.«

»Von mir? Ein Bastard!« Peter errötete. »Ohne Namen, ohne Vermögen – und doch frei und zufrieden. Aber ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich wollte Sie um Rat fragen.«

Andree lächelte wohlwollend, nicht ohne Überlegenheit. »Ich mag dich, weil du der einzige Lebende in unserem Kreis bist«, sagte Andree. »Aber gib die Bekanntschaft mit Kuragin auf! Dieses Husarenleben, diese Ausschweifung …«

Peter zuckte die Achseln. »Was wollen Sie, mein Lieber? Die Frauen, mein Freund, die Frauen.«

»Nun ja, Frauen comme il faut, aber nicht diese von Kuragin und den Wein«, entgegnete Andree.

»Wissen Sie«, sagte Peter plötzlich, »ich habe das auch gedacht. So kann ich mich zu nichts entschließen. Ich habe Kopfschmerzen und kein Geld. Er hat mich eingeladen, aber ich werde nicht hingehen!«

»Gib mir dein Ehrenwort!«

»Gewiss, ich gebe es!«

9

Es war nach ein Uhr, als Peter das Haus verließ. Er stieg in eine Droschke, entschlossen, nach Hause zu fahren. Doch die Vorstellung, in einer solchen Nacht zu schlafen, erschien ihm unmöglich. Er dachte an die Gesellschaft bei Anatol Kuragin.

»Soll ich nicht hingehen?« fragte er sich, erinnerte sich aber an sein Versprechen. Dennoch siegte seine Lust und er fuhr zu Anatol. Vor einem erleuchteten Haus stieg er aus. Im Vorzimmer roch es nach Wein. Weiter drinnen lachte man laut und ein Bär brummte. Acht junge Männer standen am offenen Fenster, drei spielten mit dem Tier.

»Ich wette auf Steven!« rief einer.

»Ich auf Dolochow!« schrie ein anderer.

»Kuragin, trinken Sie!«

Anatol, ohne Rock und mit offenem Hemd, wandte sich an Peter: »Da ist Petruschka! Vor allem musst du trinken.«

Peter trank Glas um Glas.

Dolochow, ein junger Offizier mit scharfem Blick und beständigem Lächeln, erklärte ruhig die Wette: Er wolle auf einem Fensterbrett der dritten Etage sitzen und eine Flasche Rum austrinken, die Beine hinaushängend.

»Da trink!« wiederholte Anatol.

»Nein, ich will nicht mehr«, sagte Peter.

Man brachte Rum. Zwei Diener rissen den Fensterrahmen heraus, Anatol zerbrach dabei eine Scheibe.

»Nun, du Herkules«, rief er.

Peter packte den Rahmen und riss ihn heraus.

Dolochow nahm die Flasche, sprang auf die Brüstung und rief: »Ich wette 50 Goldstücke, dass ich diese Flasche hier draußen austrinke, ohne mich festzuhalten!«

»Einverstanden«, sagte der Engländer. Anatol wiederholte die Bedingungen auf Englisch.

»Und wenn es ein anderer tut, zahle ich 100!« rief Dolochow.

Ein Gardehusar kletterte aufs Fenster. »Oh! Oh!« murmelte er.

»Still!« rief Dolochow und zog ihn zurück. Dann setzte er sich auf den Rand, ließ die Hände los, nahm die Flasche. Anatol stellte Kerzen in die Öffnung, obwohl es schon hell war. Alle drängten ans Fenster.

»Meine Herren, das sind Torheiten!« rief einer.

»Rühr ihn nicht an!« schrie Anatol.

»Wer sich einmischt, den werfe ich hinab!« rief Dolochow. Er hob die Flasche und trank, den Kopf zurück, den freien Arm erhoben. Schweigen herrschte, nur der Diener blieb gebückt stehen, die Augen auf Dolochow gerichtet.

Peter schloss die Augen. Als er wieder hinsah, neigte Dolochow den Kopf stärker, die Flasche war fast leer. Plötzlich zuckte sein Arm, er drohte zu fallen, griff nach dem Fensterkreuz – und ließ los.

Dann sprang er ins Zimmer, bleich, aber vergnügt. »Sie ist leer!« rief er und warf die Flasche dem Engländer zu.

»Bravo! Bravo! Das ist eine Wette!« schrien alle.

Der Engländer zahlte Dolochow, der schweigsam wurde. Da rief Peter: »Wer wettet, dass ich dasselbe tue? Schnell eine Flasche!«

»Bist du wahnsinnig?« schrien mehrere.

»Eine Flasche her!« Peter schlug auf den Tisch.

»Höre«, rief Anatol, »morgen! Jetzt gehen wir alle!«

»Gut, gehen wir – und Mischka nehmen wir mit!« lachte Peter und tanzte mit dem Bären durchs Zimmer.

10

Fürst Wassil hatte sein Versprechen gehalten: Boris wurde Leutnant in der Garde, doch trotz aller Bemühungen seiner Mutter nicht Adjutant Kutusows. Nach der Soiree reiste die Fürstin Drubezkoi nach Moskau zu den Rostows, wo sie seit Jahren verkehrte. Dort feierte man den Namenstag der Gräfin und der jüngsten Tochter Natalie.

Besucher füllten das Haus. Die Gräfin empfing sie mit ihrer älteren Tochter im Salon. Sie war eine Frau von 45 Jahren, mager und schwach, aber würdevoll. Neben ihr half die Fürstin Drubezkoi beim Empfang. Der Graf ging den Gästen entgegen und wiederholte unermüdlich: »Ich danke Ihnen, mon cher. Sie kommen unfehlbar zum Diner, nicht wahr? Sonst würden Sie mich beleidigen!«

Ein Diener meldete: »Maria Lwowna Karagin!«

»Mein Gott, wie diese Besuche mich erschöpfen! Aber lassen Sie eintreten«, seufzte die Gräfin.

Madame Karagin erschien mit einer jungen Dame. Höflichkeiten mischten sich mit dem Rauschen der Kleider, dann begann das übliche Gespräch. Man sprach über den alten Grafen Besuchow und seinen Sohn Peter.

»Ich beklage den armen Grafen«, sagte Madame Karagin. »Einen Sohn zu haben, der ihm solchen Kummer macht!«

»Was für einen Kummer?« fragte die Gräfin scheinheilig.

»Er ist in schlechte Gesellschaft geraten«, erklärte die Fürstin Drubezkoi. »Mit Kuragins Sohn und einem gewissen Dolochow. Grässliche Geschichten! Dolochow hat man zum Soldaten gemacht und Besuchows Sohn musste Petersburg verlassen.«

»Aber was haben sie getan?«

»Man sagt, sie hätten einen jungen Bären gefangen, einen Polizeioffizier gefesselt und mit dem Bären zusammen in die Moika gejagt!«

»Unglaublich!« rief die Gräfin.

»Ach, ma chère, wie spaßhaft muss der Mensch ausgesehen haben!« rief der Graf lachend.

»Aber das ist abscheulich!« rief Madame Karagin, platzte dann selbst heraus. »Und wenn man bedenkt, dass der Sohn des Grafen Besuchow sich so amüsiert! Er galt doch als gut erzogen! Ich hoffe, man wird ihn nirgends empfangen. Man wollte ihn mir vorstellen, aber ich habe abgelehnt – ich habe Töchter!«

»Woher wissen Sie, dass er reich ist?« fragte die Gräfin.

»Ich will es Ihnen sagen«, mischte sich die Fürstin Drubezkoi ein. »Peter ist das Lieblingskind des Grafen. Niemand weiß, ob Peter oder Fürst Wassil erbt. Es handelt sich um 40‘000 Seelen und Millionen an Kapital.«

»Fürst Wassil ist seit gestern in Moskau«, bemerkte die Gräfin.

»Ja, er kam, weil das Befinden des Grafen schlechter ist.«

»Aber die Geschichte ist doch sehr gut!« rief der Graf lachend.

11

Stille trat ein. Die Gräfin verabschiedete Madame Karagin mit sichtbarer Erleichterung, als plötzlich Schritte und Gelächter aus dem Nebenzimmer ertönten. Ein junges Mädchen von 13 Jahren stürzte in den Salon, eine Puppe im Kleid verborgen. Hinter ihr kamen ein Student, ein Gardeoffizier, ein Mädchen von 15 und ein kleiner Knabe.

»Ah, da ist sie! Heute ist ihr Namenstag!« rief der Graf und umarmte sie.

»Alles hat seine Zeit«, sagte die Gräfin streng.

»Ein reizendes Kind!« bemerkte Madame Karagin.

Natalie, schwarzäugig und lebhaft, kniete auf den Knien der Mutter, lachte und rief: »Siehst du, das ist meine Puppe Mimi!« Sie sprudelte vor Atemlosigkeit und Freude.

»Geh mit deinem Ungeheuer«, sagte die Gräfin, dann zur Fremden: »Meine Jüngste.« Natalie blickte kurz hin und verbarg wieder das Gesicht.

»Sage mir, wer ist Mimi? Deine Tochter?« fragte Madame Karagin gönnerhaft. Natalie schwieg trotzig.

Die ganze junge Gruppe trat ein: Boris, der blonde Gardeoffizier, Sohn der Fürstin Drubezkoi; Nikolai, der Sohn von Rostow, lockenköpfig und lebhaft; Sonja, 15, seine Nichte; und der kleine Petruschka. Boris war gefasst, scherzte: »Ich habe Mimi in jungen Jahren gekannt, aber sie ist gealtert!« Er warf Natalie einen Blick zu. Sie wandte sich lachend dem Bruder zu, bis beide laut auflachten. Dann sprang Natalie auf und lief davon.

»Mama, willst du nicht ausgehen?« fragte Boris.

»Ja, bestelle den Wagen«, sagte die Fürstin. Boris folgte Natalie.

12

Nur Nikolai, Sonja, Julie und die ältere Tochter der Gräfin blieben im Salon. Sonja war eine Brünette mit sanften Augen und dicken schwarzen Flechten. Ihr zurückhaltendes Wesen erinnerte an ein Kätzchen, das sich eben in eine junge Katze verwandeln wollte. Ihre Blicke hingen an Nikolai, der zur Armee gehen wollte.

»Ja, meine Liebe«, sagte der Graf, »Nikolai will seinem Freund Boris folgen und mich verlassen. Er will das Studium aufgeben und Offizier werden.«

»Nicht nur aus Freundschaft«, rief Nikolai errötend.

»Der Oberst des Pawlowgradschen Regiments speist heute hier und wird ihn mitnehmen. Was soll ich machen?«

»Ich bleibe, wenn Sie es nicht wollen«, erwiderte Nikolai. »Aber ich weiß, dass ich nur Offizier sein kann. Ein Diplomat oder Beamter muss seine Gefühle verbergen und das kann ich nicht.«

Der Graf lächelte. »Er ist immer Feuer und Flamme. Bonaparte hat allen den Kopf verdreht.«

Julie trat näher: »Schade, dass Sie Donnerstag nicht bei Archarows waren. Ich habe mich gelangweilt ohne Sie.« Nikolai war geschmeichelt, während Sonja bleich das Zimmer verließ, Tränen kaum unterdrückend. Er folgte ihr bestürzt.

»Die Geheimnisse der jungen Leute sind durchsichtig«, bemerkte die Fürstin Drubezkoi.

»Welch reizendes Mädchen, Ihre Jüngste!«

»Ja, sie gleicht mir«, sagte der Graf stolz.

»Wissen Sie, dass sie Boris liebt?« flüsterte die Gräfin lächelnd.

»Ich weiß alles, sie vertraut mir alles an.«

Die Unterhaltung endete, als Madame Karagin endlich ging.

»Welch alberne Person«, rief die Gräfin erleichtert.

13

Natalie wartete im Wintergarten auf Boris. Ungeduldig stampfte sie mit dem Fuß, als er endlich gemächlich eintrat und sich vor dem Spiegel betrachtete. Sie wollte ihn rufen, hielt sich aber zurück: »Nein, er soll mich suchen.«

Kaum war er gegangen, stürzte Sonja weinend herein. Nikolai folgte ihr. »Sonja, was hast du?«

»Nichts! Lasse mich!« Sie weinte weiter.

»Ist es recht, dass du mich so quälst? Du bist mir alles!« rief er und küsste sie.

»Aha, wie schön!« murmelte Natalie und rief, als sie fortgingen: »Boris, kommen Sie! Ich habe Ihnen etwas zu sagen!«

Verlegen reichte sie ihm ihre Puppe. »Küssen Sie meine Puppe!«

»Wie sonderbar Sie sind!« lächelte er.

Plötzlich sprang Natalie auf, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn. Dann floh sie.

»Natalie, ich liebe Sie, aber …«

»Sind Sie verliebt in mich?«

»Ja! Aber nicht wieder. Noch vier Jahre, dann halte ich um Ihre Hand an.«

Natalie zählte an den Fingern. »Gut, abgemacht!«

»Für immer? Auf Leben und Tod?« rief sie und zog Boris glücklich in den Salon.

14

Die Gräfin hatte ihre Tür schließen lassen und alle Nachzügler zum Diner laden lassen. Nun sprach sie vertraulich mit ihrer Jugendfreundin, der Fürstin Drubezkoi.

»Ich werde ganz aufrichtig sein«, sagte die Fürstin. »So wenige alte Freundinnen sind uns geblieben.«

Sie warf einen Blick auf Wera und schwieg. Die Gräfin drückte ihre Hand. »Wera, verstehst du nicht?«

Mit hochmütiger Miene ging Wera in den Salon. Dort saßen zwei Pärchen, Nikolai schrieb Sonja Verse, Boris flüsterte mit Natalie. Wera ergriff das Tintenfass.

»Wie oft habe ich euch gebeten, nichts von meinen Sachen anzurühren!«

»Noch einen Augenblick!« bat Nikolai.

»Ihr benehmt euch unpassend! Ein Skandal!«

Die jungen Leute schwiegen. Wera fuhr fort: »Was für Geheimnisse könnt ihr haben? Lächerlich!«

»Was geht es dich an!« rief Natalie zornig. »Du verstehst nichts, hast kein Herz!«

»Ich bin wenigstens keinem Mann nachgelaufen!«

»Sehr gut«, rief Nikolai. »Wir sollten ins Schulzimmer flüchten.« Die beiden Pärchen verschwanden.

Im Salon sprach die Gräfin leise: »In meinem Leben ist auch nicht alles rosig. Wenn es so weitergeht, ist unser Vermögen bald weg.«

»Ach, meine Seele«, erwiderte die Fürstin. »Witwe zu sein, ohne Stütze, mit einem angebeteten Sohn! Für ihn unterwirft man sich allem.«

»An wen hast du dich wegen Boris gewandt?«

»An Fürst Wassil. Er versprach, mit dem Kaiser zu sprechen.«

»Ist er sehr gealtert?« fragte die Gräfin.

»Er ist immer derselbe, liebenswürdig und galant«, sagte die Fürstin. »›Ich bedaure, teuerste Fürstin‹, sagte er, ›Sie haben nur zu befehlen!‹ Aber meine Lage ist schrecklich«, fügte sie leise hinzu. »Mein Prozess geht nicht vorwärts, ich habe keinen Kopeken! Ich weiß nicht, wie ich Boris ausrüsten soll.«

Sie weinte. »Ich brauche 500 Rubel. Meine einzige Hoffnung ist der Graf Besuchow. Wenn er Boris nicht hilft, ist alles verloren.«

»Gewiss wird er ihm etwas vermachen«, meinte die Gräfin.

»Daran zweifle ich! Aber ich werde ihn besuchen.« Sie erhob sich. »Wünsche mir Erfolg!«

»Wenn er sich besser fühlt«, rief der Graf, »laden Sie Peter zum Diner ein!«

15

»Lieber Boris«, sagte die Fürstin, als der Wagen vor Besuchows Palais hielt, »sei klug! Er ist dein Taufpate und deine Zukunft hängt von ihm ab.«

»Ich möchte nur sicher sein, dass es nicht wieder eine Demütigung wird«, erwiderte Boris kühl.

Sie traten ein, der Portier musterte sie und erklärte: »Seine Exzellenz empfängt niemand.«

»Gehen wir«, sagte Boris.

»Mein Freund!« bat die Mutter und wandte sich an den Portier: »Ich weiß, dass der Graf sehr krank ist. Ich will nur den Fürsten Wassil sprechen.« Mürrisch ließ er sie anmelden.

Auf der Treppe flüsterte die Fürstin: »Ich habe dein Versprechen, mein Lieber.«

Da öffnete sich eine Flügeltür. Fürst Wassil trat heraus, verabschiedete den Arzt und kam mit forschendem Blick auf sie zu.

»Wir sehen uns unter traurigen Umständen wieder. Wie geht es dem teuren Kranken?« fragte sie.

Der Fürst deutete wortlos Hoffnungslosigkeit an. »Ach, wie schrecklich! Dies ist mein Sohn, er wünscht Ihnen zu danken!«

»Ich bin glücklich, dass ich Ihnen nützlich sein konnte«, erwiderte er trocken und herablassend. Zu Boris: »Geben Sie sich Mühe! Dienen Sie mit Eifer! Sie sind hier auf Urlaub?«

»Ich erwarte den Befehl, Exzellenz«, antwortete Boris ruhig.

»Wohnen Sie bei Ihrer Mutter?«

»Beim Grafen Rostow.«

»Ach, ich weiß«, entgegnete der Fürst kalt.

»Ja, aber ein sehr braver Mann, mein Fürst«, sagte die Fürstin mit einem milden Lächeln. »Was sagen die Ärzte?«

»Wenig Hoffnung!«

»Ich hätte so gern dem Onkel für seine Güte gedankt. Er ist der Taufpate meines Sohnes«, fügte sie mit Würde hinzu.

Fürst Wassil schwieg und zog die Augenbrauen zusammen. Sie bemerkte sein Misstrauen und beeilte sich: »Nur meine Ergebenheit für meinen Onkel … Ich kenne seinen edlen Charakter! Aber hier hat er nur seine Nichten um sich!« Leise fügte sie hinzu: »Hat er seine letzten Pflichten erfüllt? Seine Augenblicke sind kostbar. Ich muss ihn sehen, so peinlich mir das Gespräch auch ist.«

»Ich fürchte, das wird ihm unangenehm sein. Warten wir bis zum Abend«, erwiderte der Fürst.

»Warten? Aber das sind seine letzten Augenblicke! Bedenken Sie das Heil seiner Seele!«

Da öffnete sich die Tür und eine Fürstin trat heraus. »Nun, wie geht es?« fragte Fürst Wassil.

»Immer wie bisher«, erwiderte sie kühl und musterte die Fremde. Ohne ein Wort ging sie hinaus.

Die Fürstin Drubezkoi setzte sich in einen Lehnstuhl. »Boris, ich werde zum Grafen gehen, du besuchst Peter und bringst ihm Rostows Einladung.“

16

Peter war nach seinen Petersburger Streichen – der Geschichte mit dem Bären – nach Moskau zurückgekehrt. Er wohnte wie gewöhnlich bei seinem Vater und vermutete, dass die Damen des Hauses gegen ihn eingenommen waren. Am Tag seiner Ankunft trat er in den Salon, wo drei Fürstinnen saßen. Zwei stickten, die dritte las vor.

»Guten Tag, Cousinen«, sagte Peter. »Erkennen Sie mich nicht?«

»Oh, ich erkenne Sie nur zu gut«, erwiderte die Älteste streng.

»Wie geht es dem Grafen? Kann ich ihn sehen?«

»Er leidet und Sie haben seinen Kummer vermehrt.«

»Kann ich ihn sehen?«

»O ja, wenn Sie ihn töten wollen! Olga, sieh nach, ob die Bouillon fertig ist!«

Peter schwieg einen Augenblick. »Dann gehe ich in mein Zimmer. Sagen Sie mir, wann ich den Grafen sehen kann.«

Am nächsten Tag ließ Fürst Wassil ihn rufen. »Mon cher, wenn Sie sich hier aufführen wie in Petersburg, wird das böse enden. Der Graf ist sehr krank, es ist besser, Sie besuchen ihn nicht.«

Von da an kümmerte sich niemand mehr um Peter. Allein in seinem Zimmer empfing er Boris, den er kaum erkannte.

»Ich bin mit meiner Mutter gekommen«, sagte Boris, »aber der Graf ist krank.«

»So sagt man und man lässt ihm keine Ruhe«, erwiderte Peter.

»Der Graf Rostow lädt Sie ein, heute bei ihm zu speisen.«

»Ah, Rostow! Dann sind Sie sein Sohn?«

»Nein, ich bin Boris, der Sohn der Fürstin Drubezkoi.«

»Ach, wirklich? Was sagen Sie zu Napoleons Plänen?«

»Hier in Moskau spricht man wenig von Politik«, sagte Boris, »nur von Ihnen und dem Grafen. Alle wollen wissen, wem er sein Vermögen hinterlässt.«

»Ja, sehr traurig«, stotterte Peter.

»Ich muss Ihnen sagen«, fuhr Boris fort, »dass meine Mutter und ich nicht zu jenen gehören, die darauf hoffen. Ihr Vater ist reich, wir arm, aber wir werden niemals um etwas bitten oder etwas annehmen.«

Peter brauchte einen Augenblick, um das zu begreifen, dann ergriff er lebhaft die Hand des jungen Mannes. »Seltsam! Könnte man glauben, dass ich … Ich weiß sehr wohl …«

»Ich wollte Missverständnisse vermeiden«, erwiderte Boris ruhig. »Nun, was soll ich Rostow antworten? Werden Sie kommen?«

Peter drückte ihm die Hand. »Hören Sie, was Sie sagten, war sehr gut! Wir werden uns noch besser kennenlernen. Ich habe den Grafen noch nicht gesehen … Glauben Sie, Napoleon wird Zeit haben, über den Kanal zu setzen?«

Er war mitten in einer Erklärung, als ein Diener kam, um Boris zu rufen. Dieser nahm Abschied, Peter versprach, zum Diner zu kommen.

Der Fürst Wassil begleitete die Fürstin, die unter Tränen flüsterte: »Ich werde wiederkommen, um ihn vorzubereiten. Jeder Augenblick ist kostbar.«

»Adieu, ma chère«, erwiderte der Fürst kalt.

»Er erkennt niemand mehr«, sagte sie im Wagen. »Das Testament wird unser Schicksal entscheiden.«

»Warum glaubst du, dass er uns etwas vermacht?« fragte Boris.

»Mein Gott, er ist so reich und wir so arm!«

17

Als die Fürstin mit Boris die Gräfin Rostow verlassen hatte, um den Sterbenden zu besuchen, versank die Gräfin in Gedanken und wischte ihre Tränen. Endlich klingelte sie: »Ich lasse den Grafen bitten.«

»Ach, meine kleine Gräfin, die Haselhühner in Madeira werden köstlich sein!« rief der Graf und setzte sich.

»Höre, mon ami! Aber was ist das für ein Flecken auf deiner Weste? Wahrscheinlich von den Haselhühnern«, sagte sie lächelnd. »Ich muss Geld haben – 500 Rubel.«

Das Gesicht des Grafen verlängerte sich, er rief: »Mitenka soll kommen.«

Der Haushofmeister trat ein. »Bringe mir 700 Rubel, aber keine schmutzigen Scheine, es ist für die Gräfin!«

»Ja, saubere«, seufzte sie.

»Sie werden sie sogleich erhalten«, versprach Mitenka.

»Ach, das Geld! Wie viel Unheil es schafft! Aber ich brauche es sehr«, sagte die Gräfin.

»Du bist schrecklich verschwenderisch«, erwiderte der Graf, küsste ihre Hand und ging.

Die Gräfin hatte die Banknoten eben mit dem Taschentuch bedeckt, als die Fürstin Drubezkoi eintrat.

»Wie ist es?« fragte die Gräfin erregt.

»Schrecklich, er ist nicht wiederzuerkennen!«

»Anna, weise mich nicht zurück«, bat die Gräfin errötend und reichte ihr das Geld. »Für Boris zur Uniform!«

Die Fürstin umarmte sie weinend. Vielleicht weinten sie, weil sie an Geld denken mussten – oder an ihre vergangene Jugend.

18

Am folgenden Tag erlitt der Graf Besuchow einen sechsten Schlaganfall. Die Ärzte erklärten, jede Hoffnung sei verloren; man las die Sterbegebete und bereitete die letzte Ölung vor. Im Hause herrschten Aufregung und Unruhe. Am Abend kam der Generalgouverneur, um Abschied zu nehmen. Eine vornehme Menge drängte sich im Saal, flüsterte, verstummte aber jedes Mal, wenn sich die Tür öffnete.

»Haben Sie den Generalgouverneur gesehen?«

»Wie jung er noch wirkt!«

»Und er ist fast 60.«

»Man spricht davon, ihm die letzte Ölung zu geben.«

»Ich kannte jemanden, der sie siebenmal erhielt.«

Die zweite Nichte kam mit roten Augen und fragte den Arzt: »Erlauben Sie mir, ihm zu trinken zu geben?«

»Nehmen Sie ein Glas Wasser«, antwortete Lorrain.

»Welch starke Natur!« bemerkte ein Adjutant. »Und wem fällt der Reichtum zu?«

»Es werden sich Liebhaber finden«, seufzte ein deutscher Arzt.

»Es kann sich bis Morgen hinziehen«, meinte dieser. Lorrain verneinte feierlich: »Spätestens heute Nacht.«

Fürst Wassil öffnete die Tür zum Zimmer der älteren Fürstin. Vor den Ikonen brannten Lampen und halb verborgen hinter einem Schirm lag das hohe Bett.

»Ach, Sie sind es, Vetter! Was gibt es? Sie haben mich erschreckt.«

»Es ist nichts – alles unverändert. Aber ich muss mit dir sprechen, Käthchen«, begann Fürst Wassil, sich gemächlich in den Lehnstuhl setzend.

»Ich glaubte, es sei etwas vorgefallen«, erwiderte sie kalt und nahm ihm gegenüber Platz.

»Nun, wie ist es, ma chère?« Er ergriff ihre Hand, ließ sie aber bald sinken. Die Fürstin blickte schweigend auf ihren Hund, entschlossen, nicht zuerst zu sprechen.

»Höre, teuerste Cousine«, begann er endlich, »in solchen Augenblicken muss man an alles denken. Ich liebe euch wie meine Töchter. Du weißt, ihr drei und meine Frau seid die einzigen gesetzlichen Erben.«

Sie schwieg.

»Im letzten Winter hat der Graf ein Testament gemacht, in dem er alles Peter vermachte«, fuhr er fort.

»Oh, er hat so viele Testamente gemacht. Außerdem kann er Peter nichts hinterlassen, er ist ein Bastard«, entgegnete sie ruhig.

»Und wenn der Graf den Kaiser um Anerkennung bittet? Der Brief ist schon geschrieben. Bleibt er bestehen, wird Peter alles erben.«

»Und unser Anteil?« fragte sie spöttisch.

»Dann bekommt ihr keinen Groschen. Wenn Testament und Brief existieren, müssen wir handeln.«

»Warum? Ich weiß, dass ein Bastard nichts erben kann.«

»Du willst mich nicht verstehen. Wenn die Legitimation erfolgt, wird Peter Graf Besuchow. Dann bleibt euch nur das Bewusstsein, gut gewesen zu sein.«

»Ich weiß, dass das Testament existiert, aber es ist nicht gesetzlich«, erwiderte sie mit überlegener Miene.

»Teuerste Fürstin«, sagte er verdrießlich, »ich will dich nicht beleidigen, sondern deine Interessen wahren. Wenn die Papiere sich finden, bist du verloren. Wende dich an Kenner – ich habe schon Dmitri Onufriewitch gesprochen, er meint dasselbe.«

Plötzlich wurde es hell in der Gedankenwelt der Fürstin. Ihre Lippen erbleichten, die Stimme zitterte. »Das wäre nicht übel!« kreischte sie. »Ich habe nie etwas verlangt! Und das ist der Dank für alle Opfer! Bravo! Zum Glück brauche ich nichts!«

»Aber du bist nicht allein, du hast Schwestern.«

»Ja, ich wusste es längst! Nur Neid, Falschheit und Undank in diesem Hause! Und wem verdanke ich diese Intrige?«

»Darum handelt es sich nicht, meine Liebe.«

»Das ist Ihr Schützling, diese abscheuliche Drubezkoi!«

»Nun, verlieren wir nicht die Zeit.«

»Sie hat sich eingeschlichen, dem Grafen Abscheulichkeiten erzählt und er hat uns verstoßen! Damals schrieb er dieses Papier.«

»Wo ist es?«

»In der Mosaikmappe unter seinem Kopfkissen!«

19

Während im Salon noch Gespräche stattfanden, brachte der Wagen des Fürsten Wassil Peter und die Fürstin Drubezkoi zum Haus des Grafen Besuchow. Vor der Tür lag Stroh, der Wagen rollte lautlos. Peter war unterwegs eingeschlafen. Beim Aussteigen folgte er schweigend der Fürstin die Hintertreppe hinauf.

»Geht es hier nach den Gemächern der Fürstinnen?« fragte sie einen Diener.

»Hier links!«

»Der Graf hat mich sicher nicht rufen lassen«, sagte Peter. »Ich würde lieber in mein Zimmer gehen.«

»Ach, mein Freund«, erwiderte sie eifrig, »ich leide ebenso wie Sie. Aber seien Sie ein Mann! Es ist Ihr Vater und er liegt im Sterben. Ich liebe Sie wie meinen Sohn und wache über Ihre Interessen.«

Peter verstand nichts und folgte ihr in ein Vorzimmer. Ein Mädchen führte sie den Gang entlang. Die erste Tür war halb offen: Die ältere Fürstin sprach mit Fürst Wassil. Beim Anblick Peters schlug sie heftig die Tür zu. Der Fürst warf einen ärgerlichen Blick.

»Seien Sie ein Mann«, flüsterte die Fürstin und ging weiter. Peter begriff nicht, was das bedeuten sollte.

Sie traten in den Saal neben dem Empfangszimmer. Die Anwesenden verstummten und musterten Peter neugierig. Mit fester Haltung ging die Fürstin auf den Beichtvater zu, verbeugte sich und bat um seinen Segen.

»Gott sei gelobt, wir kommen zur rechten Zeit«, sagte sie. »Dies ist der Sohn des Grafen. Lieber Doktor, gibt es Hoffnung?«

Der Arzt blickte auf und zuckte die Achseln.

Die Fürstin verhüllte das Gesicht, seufzte tief und näherte sich Peter mit zärtlicher Miene.

»Vertrauen Sie auf seine Barmherzigkeit!« flüsterte sie, deutete auf ein kleines Sofa und verschwand leise durch die geheimnisvolle Tür.

Peter setzte sich und bemerkte erstaunt, dass alle ihn neugierig musterten. Man flüsterte über ihn, erwies ihm ungewohnte Achtung: Eine Dame gab ihm ihren Platz, ein Adjutant hob seinen Handschuh auf. Selbst die Ärzte traten zur Seite. Peter wollte ablehnen, dachte aber, er müsse nun würdig erscheinen und nahm schweigend Platz.

Nach wenigen Minuten trat Fürst Wassil feierlich ein, ergriff Peters Hand – etwas, das er noch nie getan hatte.

»Fassen Sie Mut, mon ami, er hat nach Ihnen gefragt.«

»Wie ist die Gesundheit …« begann Peter, stockte jedoch verlegen.

»Vor einer halben Stunde hatte er einen neuen Schlaganfall. Mut, mein Freund.«

Peter starrte ihn entsetzt an. Da öffnete sich die Tür und die Fürstin Drubezkoi trat bleich, aber gefasst heraus.

»Gottes Gnade ist unerschöpflich. Die letzte Ölung beginnt. Kommen Sie!«

Alle erhoben sich und folgten Peter ins Krankenzimmer.

20

Peter trat in das große Zimmer, dessen Säulenreihe einen Alkoven bildete. Hinter den Vorhängen lag ein hohes Bett; daneben leuchtete eine Nische mit Heiligenbildern wie ein Altar. In einem großen Lehnstuhl saß der Graf Besuchow, das majestätische, wachsbleiche Gesicht von einer Löwenmähne grauen Haars umrahmt. Seine starken Hände ruhten regungslos auf der Decke, zwischen den Fingern hielt er eine Kerze. Priester und Sänger verrichteten den Gottesdienst, die Nichten standen weinend hinter der älteren Schwester. Ihnen gegenüber Fürst Wassil, ernst und bekreuzigend, Ärzte und Diener schweigend zur Seite.

Plötzlich trat die Fürstin Drubezkoi vor, bot Peter eine Kerze, die er zerstreut anzündete. Mitten in der Zeremonie verstummten die Stimmen; der alte Diener winkte den Damen. Die Fürstin beugte sich zu dem Sterbenden, der Arzt suchte den Puls. Man drängte sich, befeuchtete die Lippen des Kranken, dann begann der Gesang von neuem.

Peter bemerkte nicht, wie Fürst Wassil und die ältere Nichte im Hintergrund verschwanden. Bald entstand wieder Unruhe: »Man muss ihn unbedingt ins Bett bringen«, flüsterte die Fürstin. Diener hoben ihn auf; Peter sah für einen Augenblick die mächtige Brust und den Kopf mit der grauen Mähne schwanken.

Als die Diener sich zurückzogen, berührte ihn die Fürstin: »Kommen Sie!« Der Kranke saß nun aufrecht, die Hände auf der grünen Decke, der Blick leer und unergründlich. Peter blieb unschlüssig, bis die Fürstin auf die Hand des Sterbenden wies. Er beugte sich und küsste sie. Kein Muskel regte sich.

Die Fürstin bedeutete ihm, auf dem Lehnstuhl zu Füßen des Bettes Platz zu nehmen. Peter gehorchte unsicher und hielt die Augen auf die Züge des Sterbenden gerichtet, während die Fürstin ihn mit prüfendem Blick beobachtete.

Zwei Minuten vergingen wie eine Stunde. Plötzlich verzog ein Krampf das Gesicht des Grafen, ein dumpfes Röcheln folgte. Die Fürstin Drubezkoi deutete bald auf Peter, bald auf Fürst Wassil – vergeblich. Der Kranke blickte starr auf den Kammerdiener.

»Er will umgedreht werden«, murmelte dieser.

Peter half. Da fiel ein Arm des Grafen schwer zurück, ein trübes Lächeln erschien auf seinen Lippen. Peter fühlte sein Herz zittern, Tränen traten ihm in die Augen.

»Er schläft«, sagte die Fürstin leise. »Gehen wir!«

21

Im großen Saal verstummten Fürst Wassil und die ältere Fürstin, als Peter mit Anna Michailowna eintrat. Das Fräulein flüsterte erregt: »Ich kann dieses Weib nicht ausstehen!«

»Käthchen ließ Tee auftragen«, sagte Wassil. »Erholen Sie sich, meine arme Fürstin.«

Peter folgte ihr in den Nebensaal. Peter aß nicht, suchte Anna Michailowna und sah, wie sie auf Zehenspitzen zurück in den Saal ging. Zögernd folgte er. Dort stand sie der jungen Fürstin gegenüber.

»Ich bitte Sie«, sagte Anna mild, »schonen Sie ihn! Wird es nicht zu schwer für den armen Onkel sein, jetzt von weltlichen Dingen zu sprechen?«

»Nein, lassen Sie Käthchen machen!« mischte sich die ältere Fürstin ein.

»Ich weiß nicht, was in der Mappe ist«, rief das Fräulein erregt und deutete auf die Mosaikmappe. »Das Testament liegt im Schreibtisch! Dies sind nur vergessene Papiere.«

Sie wollte vorüber, aber Anna hielt sie fest. »Meine liebste Fürstin, ich flehe Sie an!« Man hörte nur das Ringen um die Mappe.

»Peter, kommen Sie her!« sagte Anna.

»Warum schweigen Sie, Cousin?« schrie die junge Fürstin plötzlich, bleich vor Zorn. »Intrigantin!« rief sie und zerrte die Mappe heftig an sich. Anna wich nicht.

»Ach, das ist lächerlich!« sagte Fürst Wassil und erhob sich. »Nun lassen Sie los!« Das Fräulein gehorchte. »Und Sie auch!« Anna zögerte.

»Ich werde hineingehen und ihn fragen«, entschied Wassil streng.

»Aber warten Sie wenigstens bis nach dem Sakrament!« bat Anna Michailowna.

»Denken Sie daran, dass Sie für alle Folgen verantwortlich sind«, sagte der Fürst scharf.

»Nichtswürdiges Weib!« schrie das Fräulein, entriss der Fürstin die Mappe. Fürst Wassil ließ Kopf und Arme sinken.

Plötzlich öffnete sich die Tür mit Geräusch. Die mittlere Fürstin stürzte heraus: »Was machen Sie nur? Er stirbt und Sie lassen mich allein!« Die ältere ließ die Mappe fallen, Anna Michailowna ergriff sie und eilte ins Sterbezimmer. Fürst Wassil und die Fürstin folgten.

Nach einigen Minuten kam das Fräulein bleich und zornig zurück, bedeckte schluchzend ihr Gesicht: »Nun prahlen Sie nur!« Dann verließ sie den Saal.

Gleich darauf trat Fürst Wassil heraus, sank auf den Diwan und verbarg das Gesicht in den Händen. Peter bemerkte sein Zittern. »Ach, mein Freund«, sagte er mit schwacher Stimme, »wieviel Trug nehmen wir auf uns und wozu? Mit dem Tod ist alles aus! Der Tod ist entsetzlich!«

Die Fürstin Drubezkoi trat leise zu Peter, küsste ihn auf die Stirn: »Er ist nicht mehr!« Sie führte ihn in den dunklen Saal. Bald schlief er ein.

Am nächsten Morgen sagte sie: »Mein Freund, Gott wird Ihnen beistehen. Sie sind jung und, wie ich hoffe, Besitzer kolossaler Reichtümer. Das Testament ist noch nicht eröffnet. Sie müssen ein Mann sein.«

Peter schwieg und errötete. Die Fürstin fuhr zu Rostows. Dort erzählte sie unter Tränen, der Graf sei gestorben, wie sie selbst sterben möchte und das letzte Zusammensein von Vater und Sohn sei rührend gewesen.

22

In Lysy Gory, dem Gut des Fürsten Nikolai Bolkonsky, erwartete man täglich den jungen Fürsten mit seiner Frau. Der alte General lebte mit seiner Tochter Marie und Mademoiselle Bourienne streng zurückgezogen. Für ihn gab es nur zwei Laster: Müßiggang und Aberglauben und zwei Tugenden: Tätigkeit und Verstand. Er selbst erzog Marie, lehrte sie Algebra und Geometrie und ordnete streng ihr Leben. Unablässig beschäftigt, schrieb er Memoiren, löste mathematische Aufgaben oder arbeitete an der Drehbank.

Am Tag der erwarteten Ankunft erschien Marie wie immer zur Morgenlektion. Mit einem Stoßgebet öffnete sie die Tür und sah den Vater an der Drehbank. Ohne sie anzublicken, arbeitete er weiter, dann wischte er das Werkzeug ab und wandte sich ihr zu. »Bist du gesund? Nun, dann setze dich! Halt, hier ist ein Brief für dich«, sagte er und warf ein Kuvert hin.

Errötend griff sie danach.

»Von Heloise?« fragte er kühl.

»Ja«, antwortete Marie schüchtern.

»Zwei Briefe lasse ich durch, aber den dritten lese ich!« sagte er streng.

»Lesen Sie gleich diesen«, bat sie.

»Den dritten!« Er schob den Brief zurück und beugte sich über das Geometrieheft.

»Nun, Fräulein, diese Dreiecke sind einander ähnlich …«

Marie blickte erschrocken. Aus Angst verstand sie nichts. Jeden Tag dieselbe Szene: ihre Gedanken vernebelt, der Vater ungeduldig, bald tobend.

Endlich entlassen, eilte sie kummervoll in ihr Zimmer. An ihrem Schreibtisch öffnete sie den Brief ihrer Freundin Julie Karagin, die französisch schrieb: »Liebe unschätzbare Freundin! Wie schrecklich ist die Trennung! Warum sind wir nicht beisammen, wie im vergangenen Sommer?«

Marie seufzte und blickte in den Spiegel. Ihr hageres Gesicht und die kummervollen Augen erschienen ihr hoffnungslos. »Sie schmeichelt mir«, dachte sie, als sie den Brief weiterlas.

»Ganz Moskau spricht vom Krieg. Unser Kaiser verlässt Petersburg, um selbst gegen das Ungeheuer zu ziehen. Dieser Krieg raubt mir zwei Brüder und einen mir nahestehenden Bekannten – den jungen Nikolai Rostow, der begeistert in die Armee eingetreten ist. Ich gestehe, teure Marie, das schmerzt mich sehr. Er ist edel, aufrichtig, voll Poesie. Unsere reine Freundschaft war meinem Herzen Bedürfnis. Doch genug davon. Die größte Neuigkeit ist der Tod des alten Grafen Besuchow. Seine Nichten erhielten fast nichts, Fürst Wassil ging leer aus, aber Peter ist Haupterbe. Es ist belustigend, wie sich der Ton gegen ihn geändert hat – besonders bei heiratsfähigen Töchtern. Man macht sogar mich zur Gräfin Besuchow, aber das ist nicht mein Wunsch.

Da wir vom Heiraten sprechen: Die Fürstin Drubezkoi vertraute mir einen Plan an, der Sie betrifft. Anatol, der Sohn des Fürsten Wassil, soll eine reiche Braut finden – und man denkt an Sie. Man sagt, er sei hübsch, aber ein Galgenstrick. Ich hielt es für meine Pflicht, Sie zu benachrichtigen. Grüßen Sie Ihren Vater und Mademoiselle Bourienne.

Julie.«

Die Fürstin senkte den Blick und versank in Gedanken. Plötzlich erhellte sich ihr Gesicht, ihre Augen leuchteten. Rasch nahm sie Papier und begann zu schreiben:

»Liebe unschätzbare Freundin! Ihr Brief hat mir große Freude gemacht. Ach, ohne die Tröstungen der Religion wäre das Leben schwer! Ich verurteile Ihre Gefühle nicht, auch wenn ich sie selbst nie empfunden habe. Die Nachricht vom Tod des Grafen hat uns tief bewegt. Mein Vater sagt, jetzt sei die Reihe an ihm.

Ihre Meinung über Peter teile ich nicht. Ich kannte ihn schon als Kind und glaube, er hat ein vortreffliches Herz. Seine Erbschaft und die Rolle des Fürsten Wassil bedaure ich sehr. Wenn man mich fragte, was ich wünsche, so würde ich sagen: die Ärmste der Armen zu sein. Mein Vater hat mir nichts von einem Bräutigam gesagt.

Was den Heiratsplan betrifft: Die Ehe ist eine göttliche Einrichtung. Wenn Gott mir die Pflichten der Gattin und Mutter auferlegt, so werde ich sie treu erfüllen, ohne meine Gefühle zu erforschen.

Von meinem Bruder habe ich einen Brief: Er kommt mit seiner Frau, wird uns aber bald verlassen, um in den Krieg zu ziehen. Vorgestern sah ich Rekruten, die zu den Truppen gingen. Ihr Weinen und Jammern waren herzzerreißend.

Leben Sie wohl, teuerste Freundin, möge der Erlöser Sie schützen!

Marie.«

»Ah, Sie schrieben einen Brief«, sagte Mademoiselle Bourienne heiter. »Ich muss Ihnen sagen, der Fürst ist sehr schlechter Laune.«

»Ach, liebe Freundin«, erwiderte Marie streng, »die Stimmung meines Vaters geht Sie nichts an.«

23

Ein grauköpfiger Diener schlummerte im Kabinett und lauschte auf das Schnarchen des Fürsten. Von fern erklang eine Sonate von Dussek. Da fuhr ein Wagen vor. Fürst Andree stieg aus und hob seine Frau heraus.

»Der Fürst schläft«, flüsterte Tichon. »In 20 Minuten steht er auf«, sagte Andree zu Lisa. »Wir gehen zur Fürstin Marie.«

»Das ist also das Schloss«, meinte Lisa lächelnd. »Hörst du, wie sie sich abmüht? Wir wollen leise sein.«

Aus dem Musikzimmer kam Mademoiselle Bourienne, strahlend: »Ach, welche Freude für die Fürstin!«

»Nein, nicht melden«, bat Lisa und küsste sie.

---ENDE DER LESEPROBE---