Gedenkemein - Rosenholm-Trilogie (2) - Gry Kappel Jensen - E-Book

Gedenkemein - Rosenholm-Trilogie (2) E-Book

Gry Kappel Jensen

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Beschreibung

Die mit Spannung erwartete Fortsetzung des SPIEGEL-Bestsellers "Rosen & Violen" +++ Wunderschöne limitierte Erstauflage mit farbig gestaltetem Buchschnitt! +++ Kamille, Kirstine, Victoria und Malou sind zurück in Rosenholm, das neue Schuljahr hat begonnen. Die vier Mädchen versuchen, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten in Runenmagie, Hellsehen und nordischer Mythologie zu vertiefen. Doch mehr und mehr gerät ihr Internatsleben aus den Fugen: Eigene dunkle Geheimnisse stellen ihre Freundschaft auf die Probe, und zudem haben sie sich gegenüber Trines Geist verpflichtet, den vor Jahrzehnten an ihr begangenen Mord aufzuklären. Es gelingt ihnen, Trines jüngere, absonderliche Schwester Leah aufzuspüren - ist sie vielleicht der Schlüssel auf der Suche nach Trines Mörder? Nach und nach begreifen die Vier, dass mit dem Versprechen auch ihr eigenes Schicksal verbunden ist ...

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Seitenzahl: 448

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Gry Kappel Jensen

Gedenkemein

Rosenholm-Trilogie 2

Aus dem Dänischen von Meike Blatzheim und Sarah Onkels

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Forglem mig ej – Rosenholm-Trilogien 2 im Verlag Turbine, Aarhus.

 

Die Übersetzung wurde gefördert von der Danish Arts Foundation.

Die Arbeit der Übersetzerin Meike Blatzheim am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

 

© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2023

Alle Rechte vorbehalten

FORGLEM MIG EJ © Gry Kappel Jensen og Turbine, 2020

Published by agreement with Babel-Bridge Literary Agency

Übersetzung: Meike Blatzheim und Sarah Onkels

Covergestaltung: Karin Hald

Coverüberarbeitung: Svenja Sund

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03880-171-9

 

www.arctis-verlag.com

Folgt uns auf Instagram unter www.instagram.com/arctis_verlag

Prolog

Damals, als wir Kinder waren, habe ich es geliebt, wenn du mit mir gespielt hast. In meiner Erinnerung war es immer Sommer, im hohen Gras blühten Blumen, du gabst mir auf der Schaukel Anschwung und ich lachte gen Himmel, du ließest die Schaukel höher und höher fliegen und wir hörten erst auf, wenn es dunkel wurde.

Später begann ich, dich zu hassen. Ich hasste dich so sehr, dass ich mir am Ende sogar wünschte, du wärst tot. Aber als du verschwandest, wurde das Ganze nur noch schlimmer. Alles drehte sich immer nur um dich. Es half kein bisschen, dass du starbst.

1. TeilSommer

 

Rote Rose

»Ich werde dich

für immer lieben.«

 

Blumensprache, Ursprung im Europa des Mittelalters, verbreitet vor allem in bürgerlichen Kreisen des 18. und 19. Jahrhunderts

27. Juli 08 Uhr 15

Malou

Malou räumte das Waschbecken frei und wischte es mit einem Stück nassem Toilettenpapier sauber, bevor sie die Sachen in der Reihenfolge auf dem Rand platzierte, wie sie sie benutzen würde. Sie ließ die Gesichtscreme ein wenig einziehen, bevor sie den Primer auftrug. So war es am besten, damit Foundation und Puder perfekt hielten. Bevor sie sich um ihre Augen kümmerte, nahm sie den Pinsel und betonte die Konturen ihres Gesichts, die Wangenknochen und ihre schmale Nase, mit einem diskreten Schatten. Sie überlegte, Lidschatten zu benutzen, begnügte sich dann aber mit etwas Highlighter unterhalb der Augenbrauen, die sie im nächsten Schritt nachzeichnete. Dann verwendete sie flüssigen Eyeliner, zwei Schichten Mascara und rosa Blush. Würde sie so nicht locker als zwanzig durchgehen?

Malou band ihre hellen, glatten Haare zu einem strengen Pferdeschwanz und zog das weiße Herrenhemd an. Wenn sie ernst genommen werden wollte, musste sie seriös aussehen. Vielleicht roter Lippenstift?

Als sie das Badezimmer mit dem Make-up-Täschchen unter dem Arm verließ, hörte sie ein Geräusch aus der Küche. Ihre Mutter stand über den Küchentisch gebeugt da.

»Geh schlafen, Mama«, sagte Malou müde. Vielleicht war ihre Mutter aufgestanden und hatte wieder zu trinken begonnen. Vielleicht war sie auch noch gar nicht im Bett gewesen.

Ihre Mutter richtete sich auf und wandte sich zu ihr um, dabei stützte sie sich mit einer Hand noch immer auf dem Tisch ab. Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete Malou einen Moment lang.

»Mit dem Lippenstift siehst du billig aus«, murmelte sie.

»Fuck you!«, sagte Malou und drehte sich um. Sie warf die Tür zu ihrem Zimmer hinter sich zu und schloss ab.

»Fuck you«, flüsterte sie, »fuck you.« Einen Augenblick stand sie reglos mitten im Zimmer. Dann legte sie das Make-up-Täschchen mit dem ordentlich sortierten Inhalt aufs Bett und zog das Hemd aus, damit es keine Flecken bekam. Früher hätte sie dem Drang nicht widerstehen können, die Schreibtischschublade zu öffnen, in der noch immer die Rasierklingen lagen. Die brauchte sie nicht mehr, aber sie benötigte immer noch etwas, um sich stark zu fühlen. Als besäße sie die Kontrolle. Machtvoll. »Magie« war mit dem Wort »Macht« verwandt, hatte Rosenholms frühere Schulleiterin, Birgit Lund, den Schülerinnen und Schülern erzählt. Das hatte Malou mehr als alles andere davon überzeugt, Magierin sein zu wollen.

Sie ließ die Augen auf ihrem Arm ruhen, auf der Armbeuge, wo die Haut so dünn war, dass sich die Adern wie blaugraue Flüsse auf einer Landkarte abzeichneten. Das Blut ist deine Quelle der Kraft. Heute brauchte sie es wirklich. Malou starrte intensiver auf die Stelle, konzentrierte sich. Die Haut brannte leicht, der Schmerz war nicht unangenehm. Zuerst zeigte sich nur ein kleiner blauer Fleck unter der Haut, dann wurde er deutlicher, wurde rot, und schließlich trat Blut hervor und legte sich wie eine vollkommene, kleine Perle in ihre Armbeuge. Sie schloss die Augen. Du wirst es schaffen. Es ist wichtig! Bald waren die Sommerferien zu Ende und sie durfte zurück nach Rosenholm. Die Schule war ihr Zuhause geworden, das sie trotz all dem, was dort passiert war, vermisste. Obwohl sie ihr Versprechen noch nicht erfüllt hatte. Das Versprechen, das sie dem jungen Mädchen gegeben hatte, das vor vielen Jahren an der Schule getötet und dessen Mörder nie gefunden worden war. Der Geist des Mädchens hatte Malou und ihre Freundinnen aufgesucht, und Malou hatte ihm versprochen, dass sie ihren Mörder finden würde. Keine Sorge, Trine. Wir haben dich nicht vergessen.

Sie öffnete die Augen und betrachtete den kleinen Blutstropfen. Dann führte sie den Arm nah ans Gesicht und leckte den Tropfen ab. Sie hatte nur noch eine Viertelstunde, bis der Zug fuhr, doch ihre Wohnung lag gegenüber vom Hintereingang des Bahnhofs, sodass sie es locker schaffen würde. Sie erlaubte sich, die Augen einen weiteren Moment lang zu schließen und vergewisserte sich dann, dass nirgendwo mehr Blut war. Zufrieden klebte sie ein hautfarbenes Pflaster auf die Wunde und zog das Hemd wieder über den Kopf. Dann warf sie einen Blick in den Spiegel und nickte sich selbst zu, bevor sie die Zimmertür aufschloss und die Wohnung verließ, ohne sich von ihrer Mutter zu verabschieden.

Das letzte Stück musste sie rennen und stürzte in dem Moment auf den Bahnsteig, als der Zug nach Kopenhagen einfuhr. Alle Plätze waren besetzt, also ging sie auf die Toilette. Sie wirkte blass in dem zerkratzten Spiegel, der ihr Gesicht verzerrte. Ihr Mund war viel zu rot. Widerlich. Sie kramte eine Serviette aus ihrer Tasche und versuchte, den Lippenstift abzuwischen, aber das führte nur dazu, dass sie ihn um den Mund herum verschmierte. Scheiße! Die Ruhe, die sie zuvor verspürt hatte, war weg und zu allem Überfluss versuchte jemand, die Tür zu öffnen.

Malou atmete tief ein, richtete sich auf und sah ihrem Spiegelbild in die Augen. »Scheiß drauf«, flüsterte sie. Sie kramte ihren Concealer aus der Tasche und tupfte ihn auf die Haut rund um den Mund, wo sie ganz rot war vom Lippenstift und Herumreiben. Danach zog sie den Lippenstift hervor und obwohl jemand von außen gegen die Tür hämmerte, trug sie ihn erneut in aller Ruhe und sorgfältig auf.

27. Juli 09 Uhr 30

Kamille

Kamille zerrte an der Leiter zum Dachboden, was ein lautes, quietschendes Geräusch verursachte. Ihre Mutter schlief noch, aber Kamille war es egal, ob sie sie weckte.

Staub und Putz rieselten auf sie hinab, als sich die Luke endlich preisgab und Kamille die schmale Leiter hinaufsteigen konnte. Es roch staubig und muffig, und es war dunkel, aber nicht stockfinster. Vereinzelt drang Licht durch das alte Reetdach und verriet, wo es Löcher hatte, durch die im Winter der Schnee hineinfegte. Die Decke war niedrig, doch direkt unter dem Dachfirst konnte Kamille aufrecht stehen. Mit nackten Füßen ging sie über die unebenen Bretter bis zu einer weiteren Luke an der Giebelseite. Sie war aus Holz, niemand hatte sich jemals die Mühe gemacht, hier ein Fenster einzubauen. Kamille versuchte, die Luke zu öffnen, aber die gab erst nach, als sie ihr einen Tritt verpasste. Licht strömte herein und zugleich ein Stoß frischer Luft, die nach erntereifem Getreide und saftigem Gras duftete. Kamille wischte sich den Schweiß von der Stirn und genoss die kühle Morgenbrise. Hier oben war es bereits drückend warm, obwohl es noch früh am Tag war. Sie schaute sich um. Alles stand voller Kartons, ausrangierter Möbel, Koffer und Plastiksäcke. Wo sollte sie anfangen?

Sie entdeckte einige Kartons mit ihrem Namen darauf. »Spielzeug« stand außerdem auf einem. Kamille interessierte sich nicht für die Dinge aus ihrer Kindheit. Sie suchte nach Kartons aus der Zeit vor ihrer Geburt. Vielleicht würde sie irgendetwas finden, das ihr mehr über ihn verriet. Fotos, Briefe oder womöglich ein Geschenk von ihm? Ihre Mutter versteckte ja alles.

Ganz hinten unter der Dachschräge entdeckte sie eine Kiste. Sie war verbeult, mindestens einmal nass geworden und sah aus, als hätte man sie schon mehrmals hin- und hergeräumt. »Notizen« stand darauf. Kamille schleppte die Kiste in die Mitte des Raums und öffnete sie. Kladden, Ringbücher, Plastikhefter in verschiedenen Farben. Sie wühlte ziellos in den Sachen, gab aber bald auf und kippte stattdessen resolut den kompletten Inhalt auf den Boden.

Sie erkannte die Handschrift ihrer Mutter auf vielen der Papiere. Ein Aufsatz über die nordischen Götter und deren Gebrauch von Pflanzen mit euphorisierender Wirkung, eine Hausarbeit über die vielen guten Eigenschaften der Schafgarbe, eine unendliche Menge eng beschriebener Seiten mit Notizen aus dem Unterricht. Das alles stammte aus der Zeit, als ihre Mutter Schülerin in Rosenholm gewesen war, und es sah so aus, als wäre sie eine eifrige Schülerin gewesen. Kamille selbst schrieb jedenfalls nie so gründlich mit. Sie kramte noch ein wenig weiter in den Papieren, las hier und da einen Satz. Ganz unten in dem Haufen fand sie ein Buch. Nein, es war ein Schülerkalender aus dem letzten Schuljahr ihrer Mutter. Kamilles Herz klopfte heftig, während sie darin blätterte. Fast auf jeder Seite Eintragungen in der Handschrift ihrer Mutter: Kapitel, die sie lesen sollten, Buchtitel, Abgabefristen für Hausarbeiten, Geburtstage ihrer Mitschülerinnen. Ab und zu hatte ihre Mutter Pflanzen skizziert und unter den Bildern notiert, wofür man sie verwendete. Kamille nahm sich Zeit, die Zeichnungen genauer zu betrachten. Leberblümchen (hilft bei Leberproblemen und Sodbrennen – Achtung giftig, wenn sie frisch sind!), Scharbockskraut (heilt Wunden und Blasen), Borretsch (hilft bei Atemwegserkrankungen und Gicht).

Kamille fiel außerdem auf, dass ihre Mutter einige Seiten des Kalenders oben rechts mit einem Sternchen markiert hatte. Manchmal hatte sie etwas darunter notiert. An der alten Eberesche stand an einer Stelle. Auf dem Dachboden an einer anderen.

Gerade, als sie den Kalender zuklappen und ihn zurück in die Kiste werfen wollte, entdeckte sie, dass etwas in dem Schutzumschlag aus Kunststoff steckte. Es war ein Klassenfoto. Ihre Mutter saß genau in der Mitte, sie lachte. Sie ähnelten sich enorm, musste Kamille feststellen, sie hatten die gleichen runden Apfelbäckchen. Um den Hals trug ihre Mutter einen einfachen Brustbeutel aus Leder und eine Kette mit einem kleinen, silbernen Anhänger in Form eines Blattes. Beides trug sie heute immer noch und Kamille besaß eine identische Kette. Plötzlich nervte es sie grenzenlos, dass sie sich so ähnlich sahen. Ihre Mutter musste schon schwanger gewesen sein, als das Bild aufgenommen wurde. War sie glücklich gewesen oder lachte sie nur, um zu verbergen, wie es ihr wirklich ging? War sie verliebt gewesen? Oder hatte sie damals bereits entschieden, dass Kamilles Vater kein Teil ihres Lebens sein würde?

»Ach, hier steckst du!« Kamilles Mutter steckte den Kopf durch die Luke. »Was machst du denn hier?«

»Nach Antworten suchen«, antwortete Kamille und wühlte weiter in dem Haufen Papier.

»Hey«, sagte ihre Mutter und stieg die steile Leiter zum Dachboden hoch, »ich weiß, dass du sauer auf mich bist, aber das hier sind meine Sachen.« Sie stemmte eine Hand in die Seite, ihr Sommerkleid war zwei Nummern zu klein. »Du kannst nicht einfach darin herumwühlen.«

»Ist mir egal«, sagte Kamille nur. »Du erzählst mir ja nicht, worauf ich schon lange ein Recht habe.«

»Ach, Millchen …« Die Mutter ließ sich neben ihr auf den Boden fallen und begann, die Papiere wieder in die Kiste zu räumen. »Was hätte ich denn schon sagen sollen?«

»Du hättest es mir einfach schon vor langer Zeit erzählen sollen. Und was ist überhaupt mit ihm? Hättest du ihm nicht sagen müssen, dass du schwanger warst?«

Ihre Mutter hielt in der Bewegung inne und sah Kamille in die Augen. »Nein, hätte ich nicht. Es war Schluss zwischen uns, er war nicht mehr an mir interessiert. Ich war es, die schwanger war, und es war meine Wahl, dich zu bekommen.«

»Es war aber auch sein Kind! Du hast mich nicht allein gemacht!«

Kamilles Mutter seufzte. »Vielleicht war es ein Fehler, aber ich wollte meine eigene kleine Familie haben. Nur du und ich. Wir brauchten keinen Mann. Es war hart, das allein hinzukriegen, aber wir haben es geschafft. Und darauf bin ich stolz. Du warst ein glückliches Kind. Du warst wirklich immer fröhlich.« Sie beugte sich zu Kamille und versuchte, ihre Hand zu nehmen, aber Kamille zog sie rasch weg und stand auf.

»Das kannst du vergessen«, fauchte sie. »Ich bin die längste Zeit dein glückliches, kleines Mädchen gewesen.«

»Kamille …« Die Stimme der Mutter bebte, doch das war Kamille egal. Ihre Mutter sollte bloß nicht denken, dass sie so leicht davonkäme.

»Was soll ich bitte schön meinen Freundinnen erzählen? Und was ist mit ihm? Soll ich es ihm erzählen?«

»Das weiß ich nicht. Diese Entscheidung kannst nur du allein treffen«, sagte ihre Mutter und senkte den Blick. »Ich kann mir vorstellen, dass es schwer ist.«

»Schwer?!« Kamilles Stimme klang heiser vor Wut. »Ich sag dir mal, was schwer ist: Zu verstehen, wie du mich nach Rosenholm schicken konntest, ohne mir davon zu erzählen!« Sie drehte sich um, kletterte die Leiter hinunter und ließ ihre Mutter auf dem stickigen, staubigen Dachboden zurück. Nicht auszumalen, dass sie Kamille ein ganzes Jahr lang in Rosenholm zur Schule hatte gehen lassen, ohne ihr zu erzählen, dass sie jeden Tag ihrem Vater begegnete.

27. Juli 10 Uhr 00

Malou

Malou marschierte zielstrebig auf die Schranke am Eingang zu. Man muss bloß so tun, als würde man hier hingehören. Die Königliche Bibliothek. Das Gebäude sah nicht so aus, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte ein altes, vornehmes Bauwerk vor Augen gehabt – so wie Schloss Christiansborg oder die Sternwarte Rundetårn im Stadtzentrum Kopenhagens –, aber stattdessen hatte ihr Handy sie zu diesem modernen Klotz aus schwarzem Glas geführt. Der schwarze Diamant.

»Möchten Sie einen Platz zum Arbeiten?«, fragte die Frau an der Information.

»Nein, ich will mir ein paar Sachen auf Mikrofilm ansehen.«

»Mikrofilm? Da müssen Sie nach oben in den Lesesaal Ost.«

Malou nickte und folgte den Hinweisschildern die Rolltreppe hinauf bis zu einer weiteren Schranke, die ein älterer Mann mit sehr merkwürdiger Frisur – kahl auf dem Schädel, aber lang an den Seiten – bewachte.

»Ich habe einen Termin bei Anders.«

»Warten Sie hier«, sagte der Mann und verschwand. Er kam mit einem jüngeren Mann zurück, der vielleicht Mitte zwanzig war.

»Bist du Malou?« Er lächelte und gab ihr die Hand. »Schön, dich kennenzulernen. Ich hab die Filmrollen schon für dich rausgesucht. Hier geht’s lang.«

»Danke, dass du mir hilfst«, sagte sie und warf ihm ihr Siegerinnenlächeln zu.

»Na klar, dafür sind wir doch da. Obwohl … normalerweise schauen wir nicht selbst die Zeitungen für die Leute durch, aber du hast mich am Telefon richtig neugierig gemacht. Und das ist also alles für ein Schulprojekt?«

Malou nickte selbstbewusst. »Ja, als ich von dieser alten Geschichte mit dem verschwundenen Mädchen gehört habe, habe ich gleich gedacht, das wäre doch ein gutes Thema.«

»Versteh ich gut.« Er grinste. »Voll True Crime, was? Mich hat das auch gleich geflasht. Und nachdem du mir dann den richtigen Namen geschickt hattest, war die Recherche plötzlich viel leichter.«

Er führte sie auf eine Reihe großer Bildschirme zu. »Also das hier sind die Mikrofilme, auf denen die alten Zeitungen abgespeichert sind. Wenn du sie in diesen Apparat hier legst, kannst du die entsprechende Zeitung auf dem Bildschirm lesen. Das meiste ist schon digitalisiert, nur ausgerechnet diese Jahrgänge nicht. Aber so kann ich dir wenigstens selbst zeigen, was ich gefunden habe. Setz dich.«

Malou nahm auf dem Stuhl vor dem Bildschirm Platz und ließ sich von Anders zeigen, wie man die Filme einsetzte. Kurz darauf erschien der Artikel auf dem Bildschirm. Sjællands Tidende. 1. Januar 1989.

»In den überregionalen Zeitungen habe ich nichts finden können«, sagte er und beugte sich über sie, um das Gerät zu bedienen. »Erst habe ich gedacht, dass so eine Geschichte bestimmt was fürs Ekstra Bladet ist, aber die haben nicht drüber berichtet. Also habe ich in den Lokalzeitungen nachgesehen. Und da hab ich diesen Fang gemacht. Pass auf, wir gehen bis Frühjahr durch.« Er drehte an einem Regler und die Zeitungsseiten flogen nur so über den Bildschirm.

»Ups, das war zu weit! Ein bisschen zurück. Da ist es!« Er richtete sich wieder auf. »Ich gebe zu, dass ich ein bisschen stolz bin, es aufgespürt zu haben.«

Malou beeilte sich, ihm ein Lächeln zuzuwerfen und anerkennend zu nicken. »Mega!«

»Vielleicht gibt es noch mehr, du kannst dir ja den Rest des Jahrgangs selbst anschauen. Meld dich, wenn du Hilfe brauchst, okay?«

Malou bedankte sich noch einmal und wandte sich dann dem Bildschirm zu. Trine lachte sie von einem Schwarz-Weiß-Foto rechts unten auf der Zeitungsseite an.

Teenager-Mädchen aus der Schule verschwunden

Die 19-jährige Rose Katrine Severinsen, genannt Trine, wurde vor zwei Wochen als vermisst gemeldet. Zuletzt wurde sie am Freitag, den 29. April, in dem Internat gesehen, in dem sie wohnt. »Es gibt Anzeichen dafür, dass sie nach einem Streit mit ihren Eltern weggelaufen ist«, berichtet der Beamte Mogens Pedersen von der Polizei Westseeland. »Bei dem Streit ging es um den Freund des Mädchens und die Vermisste drohte damit, mit eben diesem Freund durchzubrennen. Wir gehen nicht von einem Verbrechen aus, aber wir sind selbstverständlich sehr daran interessiert, Kontakt mit der Vermissten aufzunehmen.« Das Mädchen wuchs mit ihren Eltern und einer jüngeren Schwester in Kalundborg auf, hat in den letzten Jahren aber durchgängig im Internat gelebt. Sie ist 1,65 Meter groß, von normaler Statur und hat halblange, rote Haare. Wer das Mädchen sehen sollte, wird dringend gebeten, die Polizei Westseeland zu kontaktieren.

Malou las den Text zwei Mal. Dann studierte sie das Bild noch einmal. Das jüngste Bild von Rose Katrine Severinsen, die vor zwei Wochen aus ihrer Schule verschwand, stand darunter. Trine lächelte in die Kamera. Sie war nicht allein gewesen, als das Foto geschossen wurde, sondern hatte den Arm um eine Person gelegt, die aus dem Bild herausgeschnitten worden war. Wer war ihr Freund gewesen? Und wer hatte ursprünglich neben ihr auf diesem Foto gestanden?

28. Juli 16 Uhr 30

Victoria

Victoria beobachtete die Schäfchenwolken, die langsam am Himmel über der großen, weißen Villa und dem gut gepflegten Garten ihrer Eltern entlangzogen. Das Sonnenlicht schimmerte zwischen den Zweigen der Apfelbäume hindurch, und das ferne Rauschen des Verkehrs sowie das monotone Gurren einer Taube waren das Einzige, was sie hörte.

»Ist das schweigsame Gespenst zu Hause?« Benjamin vergrub sein Gesicht in Victorias Halsbeuge, was sie trotz der Sommerwärme wohlig schaudern ließ. »Oder können wir in dein Zimmer gehen?«

»Wen meinst du? Trine?« Victoria stützte sich auf dem Ellbogen ab und blickte auf ihn hinunter, wie er vor ihr auf der Wiese lag.

»Nein«, sagte er und zog sie wieder zu sich heran. »Die andere. Die große, blasse.«

»Kirstine? Sei nicht so gemein! Das ist echt nicht nett, sie so zu nennen.« Victoria setzte sich auf. »Kirstine wohnt jetzt hier, natürlich ist sie zu Hause. Ich hätte sie fragen müssen, ob sie mit in den Garten kommen will.«

»Nein, lass.« Er zupfte an ihrem Arm, um sie dazu zu bewegen, sich wieder zu ihm zu legen.

»Du musst nett zu ihr sein. Kirstine ist das coolste Mädchen, das ich kenne«, sagte Victoria und zog ihren Arm weg. Sie blieb im Schneidersitz sitzen und hob ein scharlachrotes Blütenblatt auf, das von den englischen Rosen auf den Rasen gefallen war. Es duftete wie Parfüm.

»Ich weiß, dass Kirstine cool ist«, sagte Benjamin. »Immerhin hat sie mir das Leben gerettet. Was für ein Badass! Trotzdem ist sie seltsam. Sie sagt nie was. Sitzt immer nur rum und starrt vor sich hin.«

»Kirstine ist halt nicht so gut in Smalltalk. Außerdem hat sie Liebeskummer.«

»Was?! Kirstine hat einen Freund? Wen denn?«

»Du brauchst gar nicht so überrascht tun! Sie sind nicht mehr zusammen, und ich kann leider nicht darüber reden. Top Secret, du weißt schon. Aber sei gefälligst lieb zu ihr. Sie hat es nicht leicht, ihre Eltern wollen sie nicht mehr sehen, und manchmal hab ich den Eindruck, dass sie sich wie das fünfte Rad am Wagen fühlt, wenn du hier bist.«

»Sie ist das fünfte Rad!«

»Hör schon auf, wir können gut mal was zu dritt machen.«

Er warf ihr einen frechen Blick zu. »Das klingt natürlich spannend.«

»Hör auf, du Blödmann.« Victoria knuffte ihn.

Er setzte sich auf und lehnte sich zu ihr, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. »In Wahrheit will ich nichts, als mit dir zusammen zu sein. Das ist das Einzige, worauf ich im Moment Lust hab. Mit dir hier im Gras zu liegen, nur wir zwei …«

»Victoria! Komm! Juliet hat Zitronenlimonade gemacht!« Victorias zwei kleine Brüder kamen durch die Terrassentür gerannt, die Treppe hinab und über den frisch geschnittenen Rasen, den der Gärtner auf Anweisung von Victorias Mutter so gut pflegte wie den eines Golfplatzes. »Erst war die Limo mega sauer, aber dann haben wir mehr Zucker reingetan! Komm, du musst sie probieren!«

Benjamin schloss die Augen und lehnte den Kopf an ihre Schulter. Dann seufzte er.

»Komm«, sagte Victoria und zog ihn hoch. »Du hast es selbst gehört. Es gibt megasaure Limonade.«

 

Die große Küche glich einem Schlachtfeld. Zitronenschalen lagen überall auf der geölten Arbeitsplatte aus Holz und dem Boden verteilt, und mittendrin war eine Tüte Rohrzucker umgekippt. Es sah ganz so aus, als hätten die Zwillinge ihrem heiß geliebten Au-pair-Mädchen Juliet in der Küche geholfen. Die war gerade dabei, eine Saftpresse abzuwaschen, die offenbar ebenfalls benutzt worden war.

»Probier!«, befahl Harald und hielt Victoria ein Glas direkt unter die Nase, während er und sein Bruder Niels ihre Reaktion aus großen, braunen Augen beobachteten.

Victoria nahm einen Schluck. »Mhmm, wirklich lecker!«, sagte sie. Auf den Gesichtern der beiden Jungen machte sich Grinsen breit. »Aber jetzt helft ihr Juliet erst mal beim Aufräumen, ja?«

Das Grinsen verschwand sofort, und beide Jungs schauten zu Juliet, die am Spülbecken stand.

»Haut ruhig ab«, sagte sie und scheuchte sie weg, bevor sie damit begann, die Zitronenschalen zusammenzufegen.

Die Jungs liefen laut polternd ins Wohnzimmer und riefen Benjamin zu, dass sie ihn bei FIFA schlagen wollten.

»Später vielleicht«, rief er ihnen nach und schüttelte den Kopf.

»Du verwöhnst sie«, sagte Victoria zu Juliet.

»Ohne ihre Hilfe geht es schneller«, entgegnete Juliet und zuckte mit den Schultern.

»Was ist denn hier los?«

Victoria drehte sich um. Ihre Mutter stand in der Tür. Die helle Seidenbluse betonte ihre leicht gebräunte Haut und die dunkel schimmernden Haare, die Victoria immer hatte bürsten wollen, als sie klein gewesen war. Ihre Mutter behielt die Pumps an, legte aber ihre Handtasche ab, während sie das Chaos in der Küche inspizierte.

»Ich kümmere mich darum«, sagte Juliet sofort, ohne sich anmerken zu lassen, dass sie sicher ebenfalls überrascht darüber war, Victorias Mutter schon so früh zu Hause anzutreffen.

»In zwei Stunden erwarte ich Gäste zum Aperitif«, sagte die Mutter. »Die Jungen sollten bis dahin zu Abend gegessen haben.«

»Das ist kein Problem«, sagte Juliet lächelnd.

Victoria stellte sich oft vor, dass Juliet sich eine Art Teflonschicht zugelegt hatte, nachdem sie jetzt schon so lange bei ihnen war. Der eisige Blick der Mutter schien an ihr einfach abzuperlen. Diese Fähigkeit hätte Victoria auch gerne gehabt.

»Wobei wir ja offensichtlich schon Gäste haben?«

Victoria wusste, dass sie die Geduld ihrer Mutter bereits aufs Äußerste herausforderte, seit sie ihre Zimmernachbarin aus der Schule eingeladen hatte, den Sommer bei ihnen zu verbringen, ohne es zuerst mit ihren Eltern zu besprechen. Kirstine blieb allerdings fast immer auf ihrem Zimmer, und ihre Mutter schien es inzwischen akzeptiert zu haben (Victoria hatte allerdings manchmal ihre Zweifel, ob die Mutter den Hausgast überhaupt wahrgenommen hatte). An Benjamin hatte sich ihre Mutter allerdings noch immer nicht gewöhnt.

»Ich wollte gerade gehen«, sagte Benjamin und sah ihrer Mutter direkt in die Augen.

»Das brauchst du doch nicht«, sagte Victoria halbherzig.

»Doch, ich bin noch verabredet. Wir sehen uns morgen, okay?«

Er küsste sie rasch auf die Wange und schob sich an ihr vorbei in die Eingangshalle. Die Haustür schloss sich hinter ihm.

»Ich verstehe nicht, was du mit ihm willst«, sagte Victorias Mutter und nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank.

»Du kennst ihn nicht«, sagte Victoria.

»Ich habe einiges über ihn gehört«, antwortete ihre Mutter und nahm einen Schluck. »Und vor dem Hintergrund dessen, was man sich über ihn erzählt, fällt es mir schwer zu verstehen, dass du ausgerechnet ihm deine Liebe vor die Füße wirfst. Es heißt, er habe den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen?«

»Man soll nicht alles glauben, was man hört«, erwiderte Victoria trotzig, wich dem Blick ihrer Mutter aber dennoch aus.

»Du solltest ein bisschen mehr an dich denken, Victoria. Du bist doch gerade erst über deine letzte unglückliche Liebe hinweg.«

»Das ist schon über ein Jahr her, Mama.«

»Ich mache mir nur Sorgen um dich, das ist alles.«

»Ach ja?«

»Natürlich tue ich das. Du bist schließlich meine Tochter.« Victorias Mutter tätschelte ihr die Wange. »Ich geh hoch und zieh mich um. Esst ihr mit den Jungs, Kirstine und du?«

Victoria blickte ihr nach, als die Mutter auf den hohen Schuhen elegant die Treppe hinaufstöckelte. Wenn sie sich getraut hätte, hätte sie sie gefragt, ob es nicht vielmehr der Ruf der Familie war, um den sie sich Sorgen machte.

 

Eine Dreiviertelstunde später glänzte die Küche makellos und Juliet hatte außerdem frische Pasta mit selbstgemachtem Pesto gezaubert, während Victoria einen Salat zubereitet hatte. Sie ging hoch und klopfte.

»Kirstine, es gibt Abendessen.«

Das große, ernste Mädchen saß auf dem Bett, die Beine unter sich, und hielt ihr Telefon in der Hand. Sie sah nicht auf, als Victoria eintrat. »Malou hat einen alten Artikel gefunden. Und eine Adresse, vielleicht die von Trines Elternhaus. Sie fragt, ob wir mitkommen wollen.«

Victoria setzte sich neben sie aufs Bett. Benjamin hatte recht, Kirstine war wirklich ziemlich blass.

»Schau mal.« Kirstine hielt ihr das Handy hin.

»Wir gehen nicht von einem Verbrechen aus …«, las Victoria laut. »Trine wurde also vermisst gemeldet, mehr aber auch nicht.«

»Sie haben gedacht, sie sei mit ihrem Freund durchgebrannt«, sagte Kirstine. »Deshalb haben wir in den Zeitungen auch nichts über den Mord an ihr gefunden.«

Victoria wischte den Artikel mit dem Finger zur Seite, sodass sie Malous Nachrichten lesen konnte.

»Womöglich wohnen ihre Eltern immer noch da«, sagte sie und zeigte auf die Adresse, die Malou ihnen geschickt hatte. Solvangen 11, Kalundborg.

Kirstine drehte sich zu ihr. »Ja, vielleicht wissen sie nicht einmal, dass ihre Tochter tot ist. Vielleicht sind wir die Einzigen, die wissen, dass sie nicht abgehauen, sondern ermordet worden ist.«

 

Victoria hielt die Hände unter den Wasserhahn und fuhr sich durch die dunklen Haare. Sie betrachtete ihr Spiegelbild. Durch das offene Fenster hörte sie die Amseln im alten Birnbaum in den hellen Abend singen. Der Gesang vermischte sich mit dem Murmeln eines gepflegten Gesprächs und dem Klirren von Gläsern unten im Herrenzimmer, wie ihre Eltern den Raum mit den hässlichen alten Ölgemälden und den Chesterfield-Sofas immer noch unbedingt nennen wollten. So was von Fake. Wenn es drauf ankam, waren sie alles andere als zivilisiert. Im Grunde ging es um Reichtum und Macht und um die Ehre der Familie, und sie scheuten vor nichts zurück, wenn es mehr Macht, mehr Geld versprach. Und trotzdem fiel es ihr so schwer, sich dagegen zur Wehr zu setzen.

Victoria schaute auf die Uhr und überlegte, ob sie Benjamin schreiben sollte. Juliet war damit beschäftigt, die Zwillinge ins Bett zu bringen, und Kirstine war früh schlafen gegangen. Sie selbst war nicht müde, hatte aber auch keine Lust, den Gästen ihrer Eltern zu begegnen, also blieb sie oben.

Sie pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht. Ihre Haare brauchten dringend einen neuen Schnitt, aber sie hatte sich bisher nicht darum gekümmert, und jetzt waren die Sommerferien fast vorbei. Und das war nicht das Einzige, worum sie sich nicht gekümmert hatte. Ihr Spiegelbild starrte sie schuldbewusst an. Sie hätte es ihm erzählen müssen, sie hatte sich geschworen, dass sie es ihm erzählen würde. Weshalb hatte sie es dann nicht getan? Zeit genug hatte es gegeben. Lange, faule Sommertage am Strand. Helle Sommernächte, in denen sie sich in den Garten geschlichen und er unter dem duftenden Jasmin auf sie gewartet hatte. Doch sie hatte nichts gesagt. Weil sie wusste, wie wütend er werden würde. Und auch Trine hatte sie vernachlässigt, sie waren mit ihrer Suche nach ihrem Mörder nicht vorangekommen.

Victoria drehte den Hahn wieder auf, das heiße Wasser dampfte im Waschbecken und plötzlich wurde ihr Atem im Spiegel sichtbar. Die Temperatur im Bad war auf den Gefrierpunkt gefallen, die Härchen an ihren Unterarmen stellten sich auf, und sie schloss die Augen. Ob sie spüren konnte, dass Victoria an sie gedacht hatte? Passierte es deshalb ausgerechnet jetzt? Es erschreckte sie immer noch, aber sie verspürte nicht mehr die gleiche lähmende Angst wie früher. Am besten allem mit offenen Augen entgegentreten. Face your fears.

»Trine?« Victoria schlug die Augen auf. Der weiße Schatten war im Glas hinter ihr erkennbar. Sie zuckte zusammen, obwohl sie damit gerechnet hatte. Dann drehte sie sich um.

»Hallo Trine.«

Es war kein Mädchen, sondern der Umriss eines Mädchens. Ein weißer Schatten.

»Wir haben dich nicht vergessen«, flüsterte Victoria. »Wir fahren bald zu deinem Elternhaus … Ah!« Victoria schnappte erschrocken nach Luft, als der Schatten plötzlich wie ein eisiger Windhauch gegen sie stieß. Ihre Beine gaben nach und sie fiel zu Boden. Keuchend rang sie nach Atem, kämpfte darum, Luft zu bekommen. Nur keine Panik, nur keine Panik. Die Angst drohte, Oberhand zu gewinnen, aber Victoria zwang sich, ruhig zu atmen. Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag. Sie ist weg. Alles ist okay.

Sie stand auf, das Wasser floss noch immer gleichmäßig ins Waschbecken. Sie drehte den Wasserhahn zu und stützte sich auf den Beckenrand. Der Spiegel war beschlagen, und im Dunst stand dort jetzt:

 

ENTSCHULDIGEDICH

 

 

 

Treffen wir uns direkt am Bahnhof?

Jupp. Bin in ca. 20 Minuten da.

Freu mich auf euch!

2. August 14 Uhr 11

Kirstine

Der Bahnhof lag gegenüber der alten, verlassenen Lagerhalle der Kalundborgfähre. Als sie aus dem Zug stiegen, blies ihnen der Wind direkt ins Gesicht. Die Luft war warm und feucht und roch nach Tang. Kirstine war trotzdem froh, dem großen, weißen Haus von Victorias Eltern entkommen zu sein, den vielen Zimmern und teuren Möbeln. Sie schämte sich dafür, dass sie es hasste dort zu sein. Es war so nett von Victoria gewesen, sie zu sich einzuladen, nachdem ihre eigenen Eltern nichts mehr von ihr hatten wissen wollen. Kirstines Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, als sie sich an die Reise nach Thy erinnerte, bei der sie schließlich nur ein paar Worte mit ihrer Mutter vor der Haustür gewechselt hatte. Ihre Mutter hatte sie nicht einmal auf ein Glas Wasser hineingebeten. Kirstine musste dankbar sein, überhaupt einen Ort zu haben, an dem sie bleiben konnte, aber die Wahrheit war, dass sie sich bei Victorias Familie fehl am Platz fühlte. Es gab so viele unausgesprochene Regeln, die sie nicht beherrschte, und die sich völlig von denen bei ihr zu Hause unterschieden. Bei ihren Eltern musste man den Kopf senken, den Mund halten und tun, was einem gesagt wurde, während man in Victorias Familie tausend Dinge gefragt wurde: welche Karrierepläne man hatte, aus was für einer Familie man kam, welche Hobbys man ausübte, was man zu Politik und Kultur und vielem mehr dachte. Und Kirstine vermochte offenbar nicht darauf zu antworten, wie man es von ihr erwartete. Victoria tat alles, um es zu überspielen, sie war witzig und klug und ständig gut gelaunt, aber ihre Mutter wirkte immer nur pikiert. So gesehen erinnerte sie Kirstine doch ein wenig an ihre eigene Mutter.

»Hey!« Victoria deutet in eine Richtung. »Da ist Kamille!«

Ein breit lächelndes Mädchen mit roten Haaren und rundlichen Wangen winkte ihnen aufgeregt zu. Sie trug ein weißes Sommerkleid, dessen Rock im Wind flatterte und dem ein Band an der Taille Kontur verlieh.

»Hi ihr!« Sie umarmte die beiden anderen. »Wie schön, euch zu sehen! Warte mal, Kirstine, du hast abgenommen!«

Kirstine merkte, wie sie unter Kamilles Blick rot wurde. »Ich glaube nicht«, murmelte sie.

Kamille und Victoria wechselten einen vielsagenden Blick. »Na, dann liegt es vielleicht an den Shorts«, sagte Kamille. »Wie geht’s dir?«

»Gut«, antwortete Kirstine. »Ich war den Sommer über bei Victoria.«

»Das klingt mega. Ich hab euch so vermisst, meine Mutter treibt mich noch in den Wahnsinn.«

»Ist Malou schon da?«, fragte Victoria.

»Sie müsste jeden Moment mit dem Bus aus Slagelse kommen.«

Sie setzten sich auf eine Bank und warteten, bis der Bus an der Haltestelle einbog und Malou als erste ausstieg. Sie trug kurze Radlerhosen, aus denen ihre langen braungebrannten Beine herausschauten, und an ihren Füßen strahlten neue weiße Sneaker in der Sonne.

»Hallöchen!« Kamille sprang auf und umarmte die Freundin. Malou strich sich die Haare glatt und umarmte dann auch die anderen beiden Mädchen.

»Also«, meinte Kamille. »Was machen wir jetzt, Fräulein Holmes?«

»Tja, wir versuchen, irgendwas rauszukriegen«, sagte Malou und warf einen Blick auf ihr Handy. »Wir müssen jedenfalls hier lang. Das Haus liegt in einem alten Villenviertel.«

»Woher hast du die Adresse?«, fragte Victoria, als sie losgingen.

»Das Stadtarchiv hat sie für mich rausgefunden. Trines Nachname passte zu der Adresse, aber sie durften mir nicht sagen, ob die Familie noch immer dort wohnt. Irgendwas mit Datenschutz-Regelungen. Jedenfalls haben sie gesagt, dass wir schon selbst hinfahren müssen, um das rauszufinden. Kann also sein, dass das Haus schon vor vielen Jahren verkauft worden ist, aber ich dachte, wir sollten es überprüfen.«

Sie verließen den Bahnhof und gingen in Richtung Stadt.

»Das mit dem Entschuldige dich war ja wohl total creepy«, sagte Kamille zu Victoria. »Hast du inzwischen rausgefunden, was das bedeutet? Meinst du, wir sind gemeint? Sollen wir uns entschuldigen?«

»Ich habe keine Ahnung«, meinte Victoria. »Es war das Einzige, was sie geschrieben hat.«

»Vielleicht ist Trine wütend, weil wir ihren Mörder noch nicht gefunden haben. Vielleicht meint sie, dass wir uns deshalb bei ihr entschuldigen müssen«, sagte Kamille.

Sie gingen leicht bergauf, durchquerten eine mehr oder weniger menschenleere Fußgängerzone, wo eines der Geschäfte mit einer riesigen Eiswaffel warb, und kamen in ein Viertel mit großen, alten Häusern. Ein wenig ähnelten sie der Villa, in der Victorias Familie lebte, aber sie waren etwas kleiner und wirkten ziemlich heruntergekommen. Je höher sie kamen, desto kleiner wurden die Häuser.

»Das ist die Straße, Solvangen«, sagte Malou und zeigte auf den Weg, der links abging. »Nummer 11.«

Sie bogen ein, der Bürgersteig war asphaltiert, und die Vorgärten waren mit kleinen, grauen Steinen ausgelegt, nur aufgelockert durch einzelne, immergrüne Büsche, Steinpflanzen oder einen Topf mit halb vertrockneten Sommerblumen. Vor den Häusern standen Laufräder und Buggys. Jemand hatte mit bunter Kreide einen Fahrradparcours auf den Asphalt gemalt.

»Ist es das?« Kamille spähte in Richtung eines weiß getünchten Hauses, dessen Fenster vor Kurzem ausgetauscht worden waren.

»Nein, das ist Hausnummer 9«, sagte Malou. »Es muss dort sein.«

Die Hecke war hoch, und dahinter lag ein Haus, das den umliegenden ähnelte, doch während dort offenbar Familien mit kleinen Kindern eingezogen waren, wirkte dieses verlassen. Der schlammfarbene Putz blätterte bereits ab, und hinter den Fenstern hingen blickdichte Spitzengardinen, die alles Weitere verbargen. Außerdem waren die Fenster so schmutzig, dass es ohnehin beinahe unmöglich war, hineinzuspähen.

»Hier wohnt niemand mehr«, sagte Victoria. »Das Haus steht schon ewig leer.«

»Vielleicht waren Trines Eltern die letzten, die hier gelebt haben?«, sagte Malou. »Ich bin dafür, dass wir versuchen, in den Garten zu kommen, um von da aus das Haus zu inspizieren. Vielleicht können wir sogar einsteigen und finden irgendwas, das uns weiterhilft.«

»Was könnte das denn sein?«, fragte Kamille.

»Woher soll ich das wissen, vielleicht irgendein Hinweis, der uns zu Trines Freund führt, oder so«, sagte Malou. »Wenn Frauen getötet werden, ist meistens ihr Mann der Täter. Das Gefährlichste, was du als Frau tun kannst, ist echt, mit einem Mann zusammen zu sein. In der Zeitung stand, dass Trine vorhatte, mit ihrem Typen durchzubrennen. Aber stattdessen ist sie ermordet worden. Wenn wir ihren damaligen Freund finden, finden wir vielleicht auch ihren Mörder.«

»Und du meinst nicht, es wäre nicht schon aufgefallen, wenn es da drinnen massig Spuren gäbe?«, fragte Kamille.

»Vielleicht haben sie damals nicht gründlich gesucht.« Malou zuckte mit den Schultern. »Kommt schon, wir sind schließlich extra hergefahren!«

Malou ging voran und die anderen folgten ihr etwas zögerlich. Ein hoher Zaun schirmte die Einfahrt ab, doch ein Tor darin führte auf einen kleinen, gepflasterten Hof. Auf der einen Seite stand ein verfallener Schuppen, auf der anderen das Haus. Zwischen den Platten wucherte das Unkraut, und der Garten, der an den Hof anschloss, bestand aus einem Wirrwarr aus hohem Gras, blühenden Disteln und wuchtigen Bäumen, von denen mehrere kahl wie Gerippe dastanden. Kirstine zog das Tor hinter ihnen zu. Hier war es still. Die meisten Leute waren sicher im Urlaub oder verbrachten ihre Zeit bei dem schönen Wetter am Strand. Kein Laut drang von der Straße oder aus den anderen Gärten zu ihnen herüber.

Malou klopfte an die Haustür, eine dunkelbraune Tür mit einem großen Fenster aus dickem gelben Glas, durch das man nicht hindurchsehen konnte. Sie warteten. Kirstine fror plötzlich in der Sommerhitze, und sie spürte ein Ziehen im Magen, als würde ihr schlecht werden. War das hier wirklich eine gute Idee?

»Hallo, hallo!«, rief Malou laut und klopfte erneut. Dann drückte sie die Klinke herunter. Die Tür war nicht abgeschlossen.

»Kommt«, flüsterte sie und schob sie auf. Der Flur war dunkel, die Wände waren mit Kork verkleidet und nur durch ein buntes Glasmosaikfenster fiel ein kleines bisschen Licht herein. Es roch alt und feucht wie in einem verlassenen Sommerhaus, Spinnweben hingen von der Decke. Der Flur führte sie ins Wohnzimmer. Das Sonnenlicht fand seinen Weg durch die schweren Gardinen und warf einen gelblichen Schein auf die alten Möbel, die verloren im Raum herumstanden. Ein dunkelgrünes Sofa mit orangefarbenen Streifen, ein abgenutzter Sessel aus demselben Stoff, ein brauner Esstisch mit vier Stühlen drumherum, verblichene Buchrücken in einem Regal. Auf dem Boden lag dicker, hellbrauner Teppich, der an den Stellen verschlissen war, wo die Bewohner oft entlanggegangen waren: von der Küchentür bis zum Esstisch, vom Esstisch zum Sofa. Auf einem Tisch am Fenster stand ein altmodisches Schnurtelefon, das immer noch angeschlossen war.

»Wow, das ist ja die reinste Zeitreise!«, flüsterte Kamille. »Alles sieht aus wie zu der Zeit, als sie das Haus verlassen haben. Spürst du Trines Anwesenheit?« Sie schaute Victoria an.

Das dunkelhaarige Mädchen schloss die Augen und zog konzentriert die Augenbrauen zusammen. Dabei schloss sie die Hand fest um den kleinen Totenkopf-Anhänger, den sie um den Hals trug – das Zeichen dafür, dass sie Geistermagierin war und dem magischen Zweig Tod angehörte.

»Nein, sie ist nicht hier«, sagte sie nach einem Moment und öffnete die Augen. »Vielleicht ist es nicht das richtige Haus?«

»Doch, das ist es«, widersprach Malou. »Schaut mal, die Fotos hier.«

An der Wand mit der vergilbten Tapete hing ein Fotorahmen voller Schulfotos. Die Bilder zeigten zwei Mädchen, die von Foto zu Foto älter wurden. Die ältere von ihnen war rothaarig mit breitem Lächeln, während die kleine Schwester dunkle Haare hatte. Sie schaute aus großen, braunen Augen verdutzt in die Kamera. Besonders auf dem letzten Bild war nicht zu übersehen, dass es sich bei dem rothaarigen Mädchen um Trine handelte.

Kirstine bemerkte eine Art Kribbeln im Körper. Sie fühlte sich nicht gut, ihr war schwindelig. Vielleicht lag es an der Hitze? Hatte sie heute überhaupt schon etwas getrunken?

»Schaut mal, das ist das Bild aus dem Artikel.« Malou zeigte auf einen weiteren Rahmen. Die Fotografie war farbig, anders als die Abbildung in der Zeitung, aber es war dasselbe Bild von der lächelnden Trine. Jemand hatte es in der Mitte durchgeschnitten und die eine Hälfte an die Wand gehängt.

Kirstine war übel. Vor ihren Augen flimmerte es.

Tick, tick, tick …

Zwei Mädchen laufen aus der Küche ins Wohnzimmer. Das rothaarige Mädchen läuft voraus, das andere stürzt ihr hinterher, schafft es aber nicht, die Rothaarige einzuholen.

Sie schüttelte heftig den Kopf, aber die flackernden Bilder tauchten immer wieder auf.

Tick, tick, tick …

»Kirstine, ist alles in Ordnung?«

»Wie oft hab ich euch schon gesagt, dass ihr in der Küche nicht rennen sollt!«

»Warte auf mich, Trine!«

»Kirstine, du siehst aus, als würdest du gleich umkippen.«

Kamille legte eine Hand auf ihren Arm. Der Boden gab unter Kirstines Füßen nach. »Mir geht’s nicht so gut …«

Tick, tick, tick …

»Was ist denn los? Kirstine?«

Sie versuchte, ihren Blick zu fokussieren und nicht dem Schwindel nachzugeben, der sie offenbar aus der Wirklichkeit in eine Zeit zu ziehen versuchte, die längst vergangen war. Sie musste hierbleiben. Irgendetwas war hier, auf das sie sich konzentrieren musste. Etwas Wichtiges.

»Die Uhr …« Kirstine zeigte auf die Wand. Neben den Bildern hing eine altmodische Wanduhr. Das Pendel schwang im Takt des Tickens von einer Seite zur anderen. »Sie geht.«

»Ja, das sehe ich«, sagte Kamille mit einem besorgten Tonfall in der Stimme. »Ähm, Kirstine, du siehst wirklich nicht gut aus …«

»Nein, ich meine, dass jemand dafür sorgt, dass die Uhr weiterhin geht!«, beharrte Kirstine. »So eine Uhr muss man aufziehen. Hier wohnt immer noch jemand …«

Rumms!

Ein lauter Knall ließ die Mädchen zusammenfahren.

»Was war das?«, flüsterte Victoria.

»Die Haustür! Wir müssen hier raus!«, sagte Kamille.

Sie liefen zurück in den Flur. Die Haustür war zugefallen, Malou drückte den Griff herunter.

»Sie ist abgeschlossen!« Sie rüttelte an der Tür.

»Das kann nicht sein.« Kamille schob Malou zur Seite und versuchte es ebenfalls. »Ich krieg sie nicht auf!«

Tick, tick, tick! Das Ticken der Uhr klang wie der Puls, der hinter ihren Schläfen klopfte. Sie mussten hier jetzt raus.

»Geht zur Seite!«, sagte Kirstine. Die drei anderen zögerten nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie den Weg frei machten.

»Hagalaz!«

Die Hagelrune sprengte die Tür auf, und sie liefen nach draußen in die Sonne.

 

 

 

15.8.88

 

Liebe kleine TP,

 

mir geht es gut – wir sind jetzt in Südfrankreich angekommen. Was für eine Reise! In Paris sind wir in den Zug gestiegen. Der war völlig überfüllt, auf den Gängen standen die Leute wie Ölsardinen mit ihren Koffern und ihrem ganzen Kram. Am Ende haben wir doch noch ein Plätzchen gefunden, wo wir uns hinsetzen konnten. Und zwar in einem Gepäckabteil! Jedes Mal, wenn wir unsere Beine ausstrecken wollen, mussten wir aufstehen. Eine laaaange Nacht!

Wir übernachten im Zelt und es ist hier total schön – aber so was von HEISS!!!! Wir leben von Tomaten-Baguettes und Dosentunfisch – für etwas anderes haben wir kein Geld, aber was soll’s, solange es uns gut geht, oder?

Ich hoffe, Mama und Papa lassen es nicht an dir aus, dass ich abgehauen bin. Ich weiß, dass du sauer auf mich bist, aber ich hätte dich nicht mitnehmen können. Du kannst mir aber glauben, dass ich dich vermisse! Wenn du alt genug dafür bist, machen wir beide auch eine Interrail-Tour, okay? Das wäre SO stark. (Aber erzähl den Alten nichts davon!) In einer Woche bin ich wieder zu Hause und dann verspreche ich dir, dass ich alles gut mache.

Bis dann! xxxx

 

Liebe Grüße, Trine

23. August, Internat Rosenholm

 

Liebe Schülerinnen und Schüler des 2. und 3. Jahrgangs,

 

willkommen zurück im Internat Rosenholm. Die Anmeldung der älteren Jahrgänge zum neuen Schuljahr findet am 4. September statt, der Unterricht beginnt am darauffolgenden Montag.

 

In Rücksprache mit dem Verwaltungsrat wurde entschieden, dass ich, Jens Andersen, die Schulleitung übernehme, nachdem Birgit Lund den Posten vor den Sommerferien abgeben musste. Da ich zusätzlich weiterhin unterrichten werde, wird mich Zlavko Kovacevic als stellvertretender Schulleiter unterstützen.

 

Bis auf diese Änderung bleibt alles beim Alten und die Schulregeln gelten weiterhin, das Zusammensein von Mädchen und Jungen ist verboten, und so weiter. Sollte euch etwas unklar sein, kommt gerne auf mich zu.

 

Die Lehr- und Stundenpläne liegen diesem Brief bei. Die Bücher werden am Montag zwischen 14 und 16 Uhr im Materiallager ausgegeben.

 

Mit den besten Wünschen für ein gutes und lehrreiches Schuljahr,

 

Jens Andersen

Schulleiter Jens Andersen

2. TeilHerbst

 

Rotklee

»Deine Liebe schmerzt mich.«

4. September 10 Uhr 00

Kamille

Kamille zog den pinkfarbenen Rollkoffer (ein missglücktes Versöhnungsgeschenk ihrer Mutter) den schmalen Weg entlang in Richtung Rosenholm. Selbst an einem grauen Tag war das Schloss ein schöner Anblick, wie es mit seinen weißen Türmen und spitzen Dächern zwischen den hügeligen, bereits abgeernteten Feldern dalag. Der spätsommerliche Wildblumenstreifen am Wegrand duftete nach Schafgarbe, Rainfarn und blühendem Klee. Kamille hatte befürchtet, das Wiedersehen mit Rosenholm könnte durch das Furchtbare überschattet sein, das Vitus ihr am Ende des letzten Schuljahres angetan hatte, aber der Anblick des weißen Gebäudes löste nur ein wohliges und erwartungsvolles Kribbeln in ihrem Bauch aus. Nervös machte sie etwas ganz anderes, und das hatte mit dem Geheimnis zu tun, das ihre Mutter vor Kurzem endlich mit ihr geteilt hatte.

Kamille beschleunigte ihre Schritte, sie wollte das Internat erreichen, bevor es zu regnen begann. Der Wind fuhr ihr durch die Haare, nachdem sie sich so viel Mühe mit der Frisur gegeben hatte, und jetzt hörte sie es auch unheilvoll in der Ferne donnern. Kurz darauf fielen die Regentropfen schwer auf die Felder.

Als sie endlich auf dem kleinen Hof des Schlosses ankam, war sie klatschnass. Sie erinnerte sich, wie sie selbst im Vorjahr am Fenster geklebt und beobachtet hatte, wie die älteren Schülerinnen und Schüler einander im Innenhof begrüßten. Das blieb dem neuen Jahrgang verwehrt, denn der Hof war leer. Alle hasteten so schnell wie möglich in den imposanten Festsaal, um Schutz vor dem Regen zu suchen.

»Kamille!«

Trotz ihrer durchnässten Klamotten wurde sie von einer Gruppe Mädchen aus ihrem Jahrgang gleich in eine Art Gruppenumarmung gezogen. Die Schwestern Sara und Sofie begrüßten sie herzlich, und sie freute sich, die blonde Anne zwischen den Schülerinnen zu entdecken.

»Willkommen zurück!« Anne lächelte ihr zu und umarmte sie.

»Du bist hier? Wie schön!«, sagte Kamille.

»Ja, eigentlich gehöre ich nicht zu euch in den Festsaal, aber ich hab mir gedacht, es wird schon okay sein, mich runter zu schleichen und hallo zu sagen«, sagte sie. »Ich geh gleich wieder hoch.«

»Wie geht es dir?«, fragte Kamille.

»Mir geht’s gut. Es ist natürlich ein komisches Gefühl, dass ich nicht mehr in meinem alten Jahrgang bin, aber meine neuen Roomies sind supernett.«

Anne war im letzten Schuljahr von Vitus überfallen worden und hatte so viel Unterricht verpasst, dass sie das Jahr wiederholen musste. Kamille war vor allem erleichtert, dass sie fröhlich zu sein schien.

 

»Gut, dass du da bist«, sagte Victoria leise, als Kamille die erste Runde Umarmungen überstanden und die anderen Mädchen aus ihrer WG gefunden hatte. »Malou ist schon damit beschäftigt, weitere Ausflüge zu planen.«

»Come on! Wir müssen unbedingt noch mal zu dem Haus«, sagte Malou, die offenbar vor dem Unwetter angekommen war, denn ihre blonden Haare waren trocken, glänzten und waren zu einem perfekten, strengen Dutt zusammengesteckt. Sie spähte verstohlen zum anderen Ende des Saals, wo die Jungs standen. Kamille folgte ihrem Blick. In Rosenholm war der Kontakt zwischen den Geschlechtern verboten, woran sich die Schülerinnen und Schüler grundsätzlich hielten. Jedenfalls, so lange sie wie jetzt unter Beobachtung standen.

»Das Wohnzimmer sah aus, als hätte dort die letzten vierzig Jahre niemand irgendwas angerührt. Es muss dort einen Hinweis geben, der uns weiterhilft.«

»Aber die Haustür … wir sind eingesperrt worden«, sagte Kirstine.

»Der Wind hat die Tür zugeweht, und wir haben Panik bekommen«, sagte Malou. »Da war doch niemand. Trines Eltern sind bestimmt tot.«

Kirstine zupfte nervös an ihrem Ärmel herum. Kamille bemerkte, dass eine Naht aufgegangen war und die Bluse ausfranste.

»Jemand hatte die Uhr aufgezogen«, beharrte Kirstine. »Sonst wäre sie längst stehengeblieben …«

»Vielleicht ist das einfach eine besonders langlebige Uhr?«, schlug Malou vor.

Ihr Gespräch wurde unterbrochen, weil alle Schülerinnen und Schüler plötzlich einen Sitzplatz suchten. Der neue Schulleiter wolle eine kurze Willkommensrede halten, hieß es.

Bald betraten drei Männer den Saal, und Kamille spürte ein nervöses Ziehen im Magen. Jens wurde auf der einen Seite von Zlavkos schlanker Gestalt flankiert, auf der anderen vom kräftigen Thorbjørn mit seinem langen Bart. Der neue Schulleiter selbst war, wie immer, ganz in Schwarz gekleidet, was seine sonnengebräunte Haut und die silbergrauen Haare betonte.

»Herzlich willkommen zurück in Rosenholm«, schallte Jens’ ruhige, tiefe Stimme durch den Raum. Obwohl er Zlavko und Thorbjørn gerade einmal bis zu den Schultern reichte, strahlte er eine solche Autorität aus, dass alle gebannt zuhörten. »Als neuer Schulleiter ist es mir eine Freude, euch zu einem weiteren Schuljahr zu begrüßen. Für die Schülerinnen und Schüler des Abschlussjahrgangs ist es eine großartige Möglichkeit, sich voll und ganz auf das Hauptfach zu konzentrieren, aber auch ihr im zweiten Jahrgang solltet von Beginn an darüber nachdenken, auf welches Fach ihr euch spezialisieren wollt. Im Frühling werdet ihr eure Facharbeit schreiben, die ihr gegenüber einem Lehrer und einem Zweitprüfer verteidigen müsst. Und ich muss den Abschlussjahrgang sicherlich nicht daran erinnern, dass das Schuljahr mit dem Examen endet. Ich erwarte von euch erstklassige Arbeit und ein hohes Niveau.«

 

Als Jens damit fertig war, Examen und Jahrgangsaufgaben, Anforderungen und Erwartungen aufzuzählen, durften sie endlich nach oben auf ihre Zimmer gehen. Kamille ließ sich erleichtert auf ihr Bett fallen und verschob das Auspacken auf unbestimmte Zeit. Ihr Blick glitt über die Wand, an der sie verschiedene Fotos und Zettel aufgehängt hatte. Ein Bild von ihr und ihrer Mutter, die laut lachte. Sie hatten es mit Selbstauslöser aufgenommen, und es erinnerte ein wenig an ein Foto derselben Person mitten in einem Lachanfall, das zwanzig Jahre früher entstanden war. Kamille überlegte einen Moment lang, ob sie es abnehmen sollte, ließ es dann aber doch bleiben. Daneben hing ein Foto von Malou, Victoria und Kirstine, das unten im Park aufgenommen worden war. Außerdem ein Poster mit dänischen Wildkräutern, das ihr ihre Mutter geschenkt hatte, und eine Postkarte mit der Aufschrift Fuck inspirational quotes, die sie von Malou bekommen hatte.

»Ah, da bist du! Ich hab ewig unten auf dich gewartet!« Malou schleppte ihren großen, abgenutzten Koffer ins Zimmer und bugsierte ihn mit einem Stöhnen aufs Bett. »Was machst du da? Echt jetzt, willst du nicht auspacken? Du kannst doch nicht einfach nur rumliegen.«

Kamille grinste. »Ich hab dich vermisst, Malou.«

Information für alle Schülerinnen und Schüler des 2. und 3. Jahrgangs

 

Die Aufnahmezeremonie für die neuen Schülerinnen und Schüler findet am 7. September statt. Wir treffen uns um 22 Uhr 45 an der Haupttreppe, die schwarzen Umhänge werden dort ausgeteilt. Danach gehen wir gemeinsam zum Baum.

 

Wir freuen uns darauf!

 

Lisa

7. September 23 Uhr 05

Kirstine

Der Wald um sie herum war dunkel. Leichter Regen tropfte von den Blättern auf die schwarzen Umhänge der Schülerinnen und Schüler. Kirstines Umhang baumelte um ihre Beine, er war zu kurz, oder vielleicht war sie zu groß. Sie war immer schon die Größte in der Klasse gewesen – sogar größer als die Jungs.

Es war nur wenige Monate her, seit sie zuletzt hier gewesen war, und trotzdem wirkte alles anders. Sie hatte sich darauf gefreut, zurück an die Schule zu kommen, aber jetzt, da sie hier war, machte es sie unruhig. Sie schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verjagen, und versuchte, sich auf die bevorstehende Zeremonie zu konzentrieren.

Sie erinnerte sich noch gut an letztes Jahr, als sie diejenige gewesen war, die vor dem alten Baum gestanden hatte, um zu erfahren, zu welchem Zweig der Magie sie gehörte. Erde, Natur, Blut oder Tod. Sie berührte kurz den kleinen, silbernen Pflug, den sie an einer Kette um den Hals trug, das Zeichen für Erde.

Der Wald war dicht und undurchdringlich, doch Lisa, ihre Naturmagie-Lehrerin, führte sie entschlossen und in ruhigem Tempo voran. Plötzlich öffnete sich der Wald, und die Schülergruppe betrat die Lichtung, auf der der große Baum thronte. Kirstine richtete den Blick auf den Waldboden. Letztes Mal, als sie hier gewesen war, hatte sie einen jungen Mann getötet. Es war seltsam, daran zu denken.

Sie bildeten auf der Lichtung einen stillen Kreis, das überhängende Laub schützte sie vor dem schlimmsten Regen, doch das nasse Moos unter ihren nackten Füßen war kalt. Kirstine spürte, während sie warteten, die Erde unter sich, sie spürte den Baum. Seine Wurzeln zogen sich weit unter ihr durch die Erde. Er weiß, dass ich hier bin.

Dann tauchte eine weiße Gestalt zwischen den Bäumen auf und dann noch eine. Es waren die neuen Schülerinnen und Schüler in ihren weißen Gewändern. Ein junger Mann ging voraus und zeigte ihnen den Weg, sein Umhang war schwarz, sodass sie ihn zunächst nicht bemerkt hatte. Kirstine spürte einen Stich in der Brust und schaute schnell weg, während Jakob die Gruppe das letzte Stück bis zur Lichtung führte. Sie hatte sich gezwungen, den Sommer über nicht an ihn zu denken, aber jetzt spürte sie plötzlich, wie sein Anblick ihren Puls zum Rasen brachte. Erneut wandte sie den Blick weg von den Neuen, weg von ihm. Die Blätter der großen Eiche raschelten, als Kirstines Blick stattdessen auf den Baum fiel, und er leuchtete kräftiger, als sie es aus dem letzten Jahr in Erinnerung hatte. Sie kommen näher.

Die weiß gekleideten Mädchen und Jungen stellten sich um den Baum herum auf, und alle um sie herum begannen, die Worte zu murmeln, die ihr inzwischen so vertraut waren.

Die Erde ist der erste Zweig der Magie.

Der Vorfahren zerfallene Knochen.

Überbleibsel aus Jahrtausenden, verborgen im Boden.

Die Geschichte ist deine Quelle der Kraft.

 

Die Natur ist der zweite Zweig der Magie.

Die Kraft des Wachsens in Pflanzen und Tieren.

Überall um uns herum.

Das Leben ist deine Quelle der Kraft.

 

Das Blut ist der dritte Zweig der Magie.

Warm und rot. Geben oder nehmen.

Es fließt durch Mensch und Tier.

Das Opfer ist deine Quelle der Kraft.

 

Der Tod ist der vierte Zweig der Magie.

Die, die nicht mehr sind.

Gelebte Leben, erinnert oder vergessen.

Die Seelen sind deine Quelle der Kraft.