Nachtschatten - Rosenholm-Trilogie (3) - Gry Kappel Jensen - E-Book

Nachtschatten - Rosenholm-Trilogie (3) E-Book

Gry Kappel Jensen

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das große Finale der Dark Academia-Erfolgstrilogie "Rosenholm" Kamille, Kirstine, Victoria und Malou haben nach zwei aufregenden Jahren im magischen Internat Rosenholm herausgefunden, wer die junge Trine vor Jahrzehnten getötet und als Geist in ein wurzelloses Dasein verbannt hat. Aber ihre heikle Mission ist noch lange nicht vorbei: Die Mädchen wollen den Mörder überführen und ihn dazu bringen, für sein Verbrechen zu sühnen. Doch schon bald dämmert ihnen, dass die Geheimnisse unter Rosenholms Mauern noch viel dunkler sind, als sie sich vorzustellen vermögen, und dass sich keine von ihnen sicher fühlen kann. Stück für Stück müssen sie das Rätsel um die "Nachtschatten" lösen, bevor es zu spät ist …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 668

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gry Kappel Jensen

Nachtschatten

Rosenholm Trilogie 3

Aus dem Dänischen von Meike Blatzheim und Sarah Onkels

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Natskygge – Rosenholm-Trilogien 3 im Verlag Turbine, Aarhus.

 

Die Übersetzung wurde gefördert von der Danish Arts Foundation.

 

© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

NATSKYGGE © Gry Kappel Jensen og Turbine, 2021

Published by agreement with Babel-Bridge Literary Agency

Übersetzung: Meike Blatzheim und Sarah Onkels

Covergestaltung: Karin Hald

Coverüberarbeitung: Svenja Sund

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03880-172-6

 

www.arctis-verlag.com

Folgt uns auf Instagram unter www.instagram.com/arctis_verlag

Prolog

Du hast mir alles genommen. Du nahmst mir meine Zukunft. Mein Leben. Aber die Rache ist mein. Sie gehört mir.

Ich will, dass die Welt meine Geschichte erfährt. Ich will, dass du meinen Namen nennst. Alle sollen ihn hören. Sie sollen mich und meine namenlosen, vergessenen Schwestern sehen. Sie sollen uns sehen und unseren Zorn spüren, wenn wir uns erheben. Wenn wir kommen.

1. TeilSOMMER

Ein Kuss, noch einer, so trennten sie sich.

Der Drossel Gesang einem Liebeslied glich.

Voll bitterer Früchte die Hecke stand;

Tautropfen wie Tränen im Bachlauf man fand.

 

Aus dem Gedicht Liden Kirsten und Prinz Buris von H.C. Andersen (1869)

19. Juni 04 Uhr 23

Victoria

Victoria erwachte, weil sie fror. Die leichte Sommerdecke war zu Boden gefallen, und als sie sich danach bückte, wurde ihr erst bewusst, wie kalt es in ihrem Zimmer war. Ein Knirschen wie von Schritten auf gefrorenem Boden ließ sie zusammenfahren.

»Ist da jemand?«

Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern und niemand antwortete. Sie ließ sich zurücksinken und zog die Decke über sich. Es konnte nicht sein. Es musste etwas sein, das sie sich einbildete. Victoria hatte sich einfach so sehr an den Geist gewöhnt, dass sie ihn vielleicht hörte, obwohl er gar nicht mehr da war. Der schwache, parfümierte Geruch nach Violen, die Spur eines weißen Schattens im Spiegel, ein heiseres Wispern in der Dunkelheit … Das alles war Einbildung. Sie hatten ihr Versprechen gegenüber Trine erfüllt. Sie hatten ihren Mörder gefunden, den Mann, der sie damals getötet hatte, in ihrem Abschlussjahr am Internat Rosenholm.

Trine hat ihre Ruhe gefunden, du spinnst dir etwas zurecht. Es ist vorbei.

Dennoch zitterte Victoria vor Kälte, es war unmöglich, wieder einzuschlafen. Plötzlich zog ihr jemand die Decke weg.

»Trine!«

Der weiße Schatten stand am Fußende ihres Bettes. Eine junge Frau. Sie fasste sich mit beiden Händen an den Hals, und ihre Brust hob und senkte sich, als bekäme sie keine Luft.

Victorias Herz schlug so heftig, dass es schmerzte. »Jens war es«, flüsterte sie. »Jens hat dich getötet. Das wissen wir jetzt.«

Trine antwortete nicht. Ihre Augen waren vor Angst geweitet. Es war, als steckte sie in einer Zeitschleife fest, in der sie wieder und wieder das Schreckliche erleben musste, das der jetzige Schulleiter von Rosenholm ihr angetan hatte.

»Ruhig«, versuchte Victoria es. »Ganz ruhig, Trine.«

»Angst …«

Trines Stimme war schwach, sie bekam das Wort kaum über die Lippen.

»Hast du Angst? Er kann dir nichts tun. Du bist hier in Sicherheit.«

»Er hat Angst … Vergiss das nicht …«

»Ich verstehe dich nicht …«

Die weiße Frauengestalt verkrampfte sich und warf den Kopf in den Nacken, und Victoria saß machtlos in ihrem Bett und sah zu. Sie konnte Trine nicht helfen, nicht ihr Leben retten, denn sie war schon seit vielen Jahren tot.

»Was kann ich tun?«, flüsterte Victoria.

»Mein Name …«

»Dein Name? Dein Name ist Trine«, sagte Victoria.

Die weiße Gestalt keuchte, sie warf den Kopf von einer Seite zur anderen, während sie weitere Wörter ausstieß. »Mein Name, meine Schwestern … er hat … Angst.«

»Hör auf, Trine, es reicht.« Victoria hatte gar nicht gemerkt, dass sie zu weinen begonnen hatte, sie bemerkte es erst jetzt am Klang ihrer eigenen Stimme.

»Vergiss das nicht …«

Dann verschwand Trine endlich und ließ Victoria schluchzend in ihrem eiskalten Bett zurück.

Nichts war vorbei. Noch nicht.

 

 

 

Wir kommen heute Nacht. Triff uns um 4 Uhr im Schlossgarten.

25. Juni 03 Uhr 25

Kamille

Es gibt Nächte, in denen es gar nicht richtig dunkel wird. In denen die Sonnenwärme Steine und Hausmauern nicht verlässt. Stattdessen atmen sie in der Nacht und wenn man eine Hand auf sie legt, merkt man, dass sie noch warm sind. Und die Nachtluft duftet nach Heckenrosen und Jasmin, während die Sterne so deutlich am Himmel stehen wie kleine leuchtende Messerstiche, unerbittlich und unendlich, und wenn man zu lange zu ihnen hinaufschaut, wird einem schwindelig.

In einer solchen Nacht sollte man die Party verlassen, beschwipst von Lachen und Tanz und mit seinem oder seiner Liebsten an der Hand.

Doch das war es nicht, was Kamille draußen in der Sommernacht tat. Kein Tanz und kein Lachen. Keine Liebste, kein Liebster … Aber sie war auch nicht allein.

Kamille spähte unter der Kapuze des Umhangs hervor, den sie über ihr weißes Kleid gezogen hatte. Victoria ging neben ihr und ihre schönen dunklen Augen schauten zu ihr, wie um zu sagen: Ja, ich bin hier.

Kamille drehte sich zu Kirstine um. Das große, ernste Mädchen mit den langen, sandfarbenen Haaren lief konzentriert hinter ihnen und flüsterte Runenformeln vor sich hin, während das Gras in der stillen Nacht unter ihren Füßen raschelte.

Die drei jungen Frauen folgten der Landstraße. Ein Pferd beobachtete sie von seiner Weide aus und kurz darauf bogen sie in die Allee mit den alten Kastanienbäumen. Bald tauchte Rosenholm vor ihnen auf, eine schwarze Silhouette vor dem wimmelnden Sternenteppich. Alle wussten, dass Jens Frühaufsteher war, und sie wollten vor ihm dort sein. Kamille spürte, wie das Unbehagen in ihrem Magen nagte. Es war nicht vorherzusehen, wie er reagieren würde.

Die Nacht war still, windstill, doch die großen Kastanien schlugen trotzdem bedrohlich mit den Ästen, als sie sich dem Schloss näherten.

»Eihwaz«, beruhigte Kirstine die Bäume leise und das Geräusch der raschelnden Blätter um sie herum ebbte ab, ihre Haare knisterten jedoch elektrisiert, und Kamille sah, wie die tiefen Narben, die sich um das Handgelenk der Freundin schlangen, im Dunkeln aufleuchteten.

Sie setzten ihren Weg fort, durch den weitläufigen Park, über die kleine Brücke, die über den Wassergraben führte, hinein in den gepflasterten Schlosshof. Die große Kletterrose hatte ihre Blütenblätter wie einen Teppich über die Treppe zur Schuleingangstür verstreut. Hier war niemand.

Kamille warf einen Blick auf ihr Handy. Zwei Minuten vor vier. »Wir warten noch ein bisschen«, flüsterte sie.

Als sie zum Schloss aufschaute, entdeckte sie es.

Hinter einem der Fenster leuchtete ein schwaches Licht und die Silhouette einer dunklen Gestalt war zu erkennen. Sie war nur kurz zu sehen, bevor sie verschwand, doch Kamille war sich sicher.

»Malou! Sie hat im Fenster gestanden und uns beobachtet. Sie kommt jetzt.«

»Meinst du nicht, dass es vielleicht nur ein Schatten war?«, fragte Victoria und schaute an der weiß gekalkten Schulmauer hinauf.

»Sie war da«, sagte Kamille.

Sie blieben noch ein wenig stehen und warteten schweigend. Kirstine trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Victoria checkte die Zeit. Die Sterne über ihnen verblassten, bald würde die Sonne aufgehen.

»Sie kommt nicht«, flüsterte Victoria schließlich. »Wir können nicht noch länger hier herumstehen.«

»Aber sie hat uns doch gesehen …«, seufzte Kamille. Seit sie Rosenholm vor einem Monat verlassen hatte, hatte Malou auf keine ihrer Nachrichten geantwortet. Warum also sollte sie jetzt plötzlich zu ihnen stoßen? Doch der Gedanke daran, dass sich Malou irgendwo im Schloss befand, war fast nicht auszuhalten. Und Kamille war sich sicher, dass es ihre Gestalt im Fenster gewesen war. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, und erinnerte sich selbst daran, dass sie sich glücklich schätzen konnte. Sie musste das hier nicht allein tun, sie waren zu dritt. Aber wir hätten zu viert sein sollen.

Es war dunkel und still, als sie die Treppe hinaufstiegen. Normalerweise war die Schule in den Sommerferien leer, doch dieses Jahr waren die Mitglieder des Clubs der Krähen, Zlavkos Studentenvereinigung, in Rosenholm geblieben, als sich die anderen Schülerinnen und Schüler in die Ferien verabschiedet hatten. Zum Glück begegneten sie nun in den leeren Fluren niemandem. Kamille war die Einzige von ihnen, die schon einmal in Jens’ Büro gewesen war, deshalb ging sie nun voran und führte die anderen zu dem großen Eckbüro des Schulleiters. Kaum hatten sie die Tür erreicht, schoben sie sich auch schon schnell hinein. Victoria schaltete eine Schreibtischlampe an und Kirstine zog die Vorhänge auf, sodass sie den Himmel sehen konnten, der sich im Sonnenaufgang rosa färbte. Nun blieb ihnen nichts, als zu warten.

 

Um halb sechs ging die Tür auf. Obwohl sie ihn erwartet hatten, fuhr Kamille zusammen, als sich ihre Blicke trafen. Jens war wie immer schwarz gekleidet, ein kräftiger, athletischer Mann um die fünfzig. Nicht besonders groß und mit kurz geschnittenen, stahlgrauen Haaren. Als er sie entdeckte, riss er einen Moment lang die Augen auf, doch schon Sekunden später wirkte sein Gesicht wieder so unergründlich und entspannt, als wäre er davon ausgegangen, sie hier anzutreffen. Sein wacher, intelligenter Blick durchfuhr sie wie ein elektrischer Stoß.

»Guten Morgen«, sagte er. »Was kann ich so früh am Morgen und noch dazu mitten in den Ferien für euch tun?«

Plötzlich hatte Kamille alle Sätze, die sie vorbereitet hatte, vergessen. Stattdessen steckte sie die Hand in die Tasche und zog etwas hervor. Ihre Hände zitterten, als sie es auseinanderfaltete. Es war die Kopie eines Fotos, das sich aus zwei Teilen zusammensetzte. Die eine Hälfte war schwarz-weiß und zeigte eine lächelnde junge Frau, auf der anderen Hälfte, in Farbe, war der Mann zu sehen, der vor ihnen stand. Jens Andersen. Ihr Lehrer in Geisterkunde, Schulleiter des Internats Rosenholm – und Kamilles Vater. Was nur drei Menschen auf der Welt wussten: ihre Mutter, Jens und Kamille selbst. Und so sollte es auch bleiben.

»Was ist das?«, fragte Jens.

Sie reichte ihm die Kopie.

»Sie hieß Trine«, sagte Victoria mit ruhiger, gefasster Stimme. »Sie waren ein Paar.«

Jens hob eine Augenbraue. »Spannend«, sagte er mit einem kleinen Lächeln. »Aber ich denke, ich könnte mich daran erinnern, wenn ich mit so einem hübschen Mädchen zusammen gewesen wäre. Wie hieß sie gleich, Trine?«

»Sie waren Ihr Lehrer, damals Ende der Achtziger«, sagte Victoria.

»Im Laufe der Jahre war ich Lehrer einer Menge junger Frauen«, sagte Jens und hielt das Foto ein bisschen weiter weg, um es genauer zu betrachten. »Nein, sie sagt mir nichts.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und schaute sie an. »Diese Trine muss euch einen Bären aufgebunden haben«, sagte er. »Es kann schon sein, dass ich sie damals unterrichtet habe, selbst wenn ich mich nicht daran erinnere, aber wir waren ganz bestimmt kein Paar.«

»Außer dem Bild haben wir auch Briefe, die Trine damals ihrer Schwester aus der Schule geschrieben hat. Darin erzählt sie von Ihrem Verhältnis«, sagte Victoria. »Wie können Sie das erklären?«

Jens zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist das einfach eine dieser Geschichten von einer Schülerin, die sich in ihren Lehrer verknallt und sich dann irgendetwas zusammengereimt und ihrer kleinen Schwester erzählt hat? Was weiß ich?« Er warf ihnen ein müdes Lächeln zu. »Ich muss euch enttäuschen, ihr habt leider keinen Skandal aufgedeckt, Mädels. Ist das der einzige Grund für euren Besuch?«

Kamille spürte ihre Zunge trocken am Gaumen kleben, ihr Kopf war vollkommen leer. Was hatte sie denn erwartet, was passieren würde? Dass er schockiert war oder nervös würde? Wütend, vielleicht? Stattdessen wirkte er so, als ginge es ihn nicht im Geringsten an, was sie erzählt hatten.

»Woher wissen Sie das?«, fragte Kirstine ruhig. »Dass es ihre kleine Schwester war? Sie behaupten, sich nicht an Trine zu erinnern, und wir haben nur davon gesprochen, dass sie ihrer Schwester geschrieben hat.«

Jens schaute sie an und schüttelte langsam den Kopf. »Also wirklich, das wird mir zu albern. Hört mal, ich habe zu arbeiten, ich habe keine Zeit für so einen Blödsinn.«

»Deshalb hat Leah versucht, Sie umzubringen«, flüsterte Kamille. »Leah war Trines kleine Schwester. Es war kein Angriff gegen die Magier oder auf Rosenholm. Es war ein Angriff auf Sie.«

Kamille sah sie vor sich, die verrückte, verzweifelte Leah, die versucht hatte, den Tod ihrer Schwester zu rächen, und die sich das Leben genommen hatte, nachdem es ihr nicht gelungen war.

»Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst«, sagte Jens. Es war deutlich zu hören, dass seine Geduld am Ende war.

»Geben Sie es zu«, forderte Victoria.

»Was sagst du da?« Er zog die Augenbrauen hoch und zum ersten Mal meinte Kamille, Zorn in seiner Stimme zu erkennen. »Ich soll zugeben, dass ich mit einem Mädchen zusammen war, an das ich mich nicht einmal erinnere?«

»Sie sollen zugeben, dass Sie sie getötet haben«, sagte Victoria.

»Wie bitte?!«

»Sie haben Trine ermordet. Ich habe es selbst gesehen, sie hat es mir gezeigt.« Victorias Stimme zitterte ein wenig, doch sie sah ihn weiter an. »Sie beide waren ein Paar. Sie haben ihr vorgegaukelt, dass Sie zusammen durchbrennen würden, aber stattdessen haben Sie sie betäubt und im Schlosskeller versteckt. Und später zum Bach getragen und dort erwürgt. Ich habe alles gesehen.«

Jens kniff die Augen zusammen und ließ den Blick auf ihr ruhen. Ein Zittern durchlief Victoria, als kämpfte sie gegen etwas, das die anderen nicht sehen konnten.

»Was du da behauptest, ist völlig wahnsinnig, Victoria«, flüsterte er.

»Trine ist tot, aber sie findet keinen Frieden«, sagte Victoria. »Den findet sie erst, wenn Sie gestehen, dass Sie sie getötet haben.«

»Warum sollte ich etwas gestehen, was ich nicht getan habe?« Seine Augen verweilten immer noch allein auf Victoria, seine Stimme klang ruhig, aber der unheilvolle Ton darin machte Kamille mehr Angst, als wenn er sie angeschrien hätte.

»Wenn Sie sich nicht öffentlich zu dem Mord bekennen und Ihr Amt auf der Stelle niederlegen, veröffentlichen wir das Material, das uns vorliegt«, flüsterte Victoria. »Suchen Sie’s sich aus.«

»Und von welchem Material sprichst du? Hiervon? Von einem alten Foto?« Er schnaubte und warf das Blatt Papier von sich, sodass es auf seinem Fuß landete. »Ihr glaubt ja wohl kaum, dass die Polizei mich dafür anklagen wird? Oder willst du ihnen vielleicht erzählen, dass du mit den Toten sprechen kannst?

»Wir gehen zum Rat der Magier«, sagte Victoria.

Jens trat einen Schritt näher an sie heran und deutete mit dem Finger direkt in ihr Gesicht. »Ich warne euch dringend davor, solche falschen Anschuldigungen gegen mich zu erheben!«

»Kommt«, sagte Kirstine. »Lasst uns gehen. Er hat sich entschieden.«

Sie gingen in Richtung Tür. Kamilles Beine zitterten.

»Kamille?«

Seine Stimme klang plötzlich freundlich. Sie wollte es nicht, aber ihr Körper gehorchte ihm ganz von allein. Im Türrahmen wandte sie sich um. Er atmete tief ein. Die Wut in seinen Augen war verschwunden.

»Du sollst wissen, dass ich es euch nicht übel nehme. Jemand hat euch ausgenutzt und gegen mich aufgebracht. Trotzdem bleibt mir nichts anderes übrig, als euch zu warnen. Wenn ihr bei eurer Anschuldigung bleibt, wird das Konsequenzen haben. Ich kann euch dann nicht beschützen.«

In Kamilles Ohren sauste es. Victoria griff nach ihrer Hand und zog Kamille mit sich, und die Tür fiel so heftig hinter ihnen ins Schloss, dass es durch den leeren Flur hallte.

 

 

 

Ich hab dich gesehen. Ich weiß, dass du auch uns gesehen hast.

Was ist denn los, Malou?

2. Juli 15 Uhr 10

Kirstine

»Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das die beste Idee ist«, sagte Kirstine und sah zu Victoria, die mitten im Zimmer stand.

»Denk besser daran, welchen Effekt es haben wird«, sagte Victoria nachdrücklich. »Niemand wird so tun können, als wüsste man von nichts, denn sie haben alle im selben Raum gesessen und es gehört. Sie können es nicht einfach ignorieren oder sich ausschweigen.«

»Aber …«

»Und ich werde die Verantwortung übernehmen. Du kannst dich entspannen.«

Victoria wurde von der Türklingel unterbrochen.

Sie streckte den Kopf aus der Zimmertür. »Jungs, macht ihr auf?«, rief sie, doch niemand antwortete. Als es erneut klingelte, seufzte sie und wandte sich an Kirstine.

»Warte kurz. Das ist sicher Kamille.«

Kirstine blieb in dem großen Zimmer sitzen und strich mit den Fingern über die hellblaue Tagesdecke. Sie blickte hinaus auf den Sommerhimmel, der ungefähr die gleiche Farbe hatte. Es war ein schönes Zimmer. Alles im Haus von Victorias Familie war schön, doch Kirstine gefiel es hier trotzdem nicht.

»Ist für dich.« Victoria war ein kleines bisschen außer Atem, denn sie war die Treppen hinaufgerannt. »Es ist Jakob …« Sie zog die Brauen hoch und schaute Kirstine vielsagend an.

Kirstine kniff die Augen zusammen. »Jakob? Warum das?«

»Ich schätze, er will dich gern sehen, wenn er da unten vor der Tür steht und nach dir fragt«, sagte Victoria und sah aus, als amüsierte sie sich prächtig.

»Kamille müsste doch jeden Moment hier sein …«

»Wir warten einfach, bis du zurück bist.«

»Aber …« Doch Kirstine fiel nichts ein, was sie noch hätte sagen können.

Victoria grinste. »Jetzt geh schon und hör dir an, was er will. Vielleicht bürstest du dir noch schnell die Haare?«

»Was?« Kirstine griff nach ihrem Pferdeschwanz.

»Vergiss es, du siehst hübsch aus. Los jetzt, bevor noch Moos auf ihm wächst.«

Kirstine seufzte und stand auf. Sie lief die geschwungene Treppe hinunter und durchquerte die Halle.

»Hi.« Jakob stand auf der kleinen Außentreppe vor der Haustür. Er grinste schüchtern und strich sich durch die rotblonden Haare, so wie er es immer tat, wenn er nervös war. »Schön, dich zu sehen.«

»Hi.« Kirstine starrte auf seine Schuhe. Jakob und sie standen mindestens einen Meter voneinander entfernt, und doch bemerkte sie zwischen ihnen sofort ein schwaches Summen in der Luft.

»Hier wohnst du also«, sagte er und lächelte ihr zu.

»Es ist Victorias Haus«, sagte sie, obwohl er das natürlich wusste. »Es ist nur vorübergehend.«

»Okay«, sagte er.

Es war warm, er trug ein weißes T-Shirt. Kirstine versuchte, es nicht anzustarren. Ihn nicht anzustarren.

»Ähm, also, können wir vielleicht reingehen, oder …?« Er lächelte wieder.

Natürlich hätte sie ihn einladen und ihm etwas zu trinken anbieten müssen. So machten das jedenfalls normale Menschen. Aber das hier war nicht ihr Zuhause und außerdem wusste sie nicht einmal, weshalb er hier war.

»Sonst können wir auch spazieren gehen. Oder du zeigst mir vielleicht den Garten? Ich wette, zu so einem Haus gehört ein wunderschöner Garten.«

Erleichtert nickte Kirstine. Der Garten war okay. Besser, als reinzugehen und womöglich noch auf Victorias Eltern zu stoßen, die wahrscheinlich bald nach Hause kommen würden. »Komm, hier lang.« Sie überlegte, ob sie noch mal reingehen sollte, um ihre Sandalen zu holen, entschied sich dann aber, das Haus barfuß zu verlassen. Jakob folgte ihr, wobei ihr auffiel, dass er zu dicht hinter ihr ging. Es tat weh, mit nackten Füßen auf den Kies zu treten, doch als sie den Rasen betrat, wurde es nur schlimmer. Es schwelte unter ihren Füßen. Sie runzelte die Stirn.

»Du wirkst nicht besonders begeistert, mich zu sehen?«, fragte er und suchte ihren Blick.

»Es ist nur, weil … Kamille kommt gleich, deshalb …«

»Ich bleibe nicht lange … ich wollte nur eben … Kirstine?«

»Was?« Sie schaute immer noch auf den gepflegten Rasen.

»Alles Gute zum Geburtstag.«

Nun blickte sie doch auf. Er lächelte entwaffnend und hielt ihr eine kleine Schachtel hin.

Sein Lächeln ließ ihren Puls steigen. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie ihm nicht erzählt hatte, wann sie Geburtstag hatte. Sie hatte es niemandem erzählt, aber als Lehrer konnte er das Datum natürlich in ihren Unterlagen nachschlagen, wenn er wollte.

»Lass uns in den Obstgarten gehen«, flüsterte sie. Sie liefen an den englischen Rosen und den Staudenbeeten vorbei und erreichten die alten Apfelbäume, wo man sie vom Haus aus kaum mehr sehen konnte. Flüchtig dachte sie daran, dass die meisten ihrer Treffen so gewesen waren. Versteckt.

Wieder hielt er ihr die Schachtel hin und sie streckte zögernd die Hand aus und nahm sie entgegen. Ganz kurz streiften ihre Fingerspitzen seine Handfläche und in derselben Sekunde durchfuhr sie ein Schlag, der im ganzen Arm zu spüren war, als hätte sie an einen Elektrozaun gefasst. Jakob keuchte ebenfalls kurz auf.

Kirstines Wangen brannten. Insgesamt war es besser geworden, doch offenbar brauchte es nicht mehr als Jakobs Nähe, damit sie wieder die Kontrolle verlor. Warum konnte sie es nicht lenken?

Jakob vermied es, etwas zu sagen. Stattdessen lächelte er sie auffordernd an. »Willst du nicht rausfinden, was drin ist?«

Es war ein Schmuckkästchen. Kirstine spürte, dass sie rot wurde, es war ihr unangenehm und kam ihr irgendwie zu intim vor, sie feierte normalerweise keine Geburtstage, und sie war schon gar keine, der man Schmuck schenkte.

»Es beißt nicht.« Er lachte leise.

Sie öffnete das Kästchen. Auf einem kleinen Wattekissen lag eine silberne Figur, nur ein paar Zentimeter groß. Es handelte sich um eine kleine Frau mit Schild und Schwert.

»Das ist eine Walküre«, erklärte Jakob. »Die Kopie eines Wikingerschmuckstücks. Schau, du kannst sie als Kette tragen …« Er streckte die Hand nach der Figur aus, überlegte es sich dann aber anders und begnügte sich damit, darauf zu deuten. Kirstine erkannte es sofort. Zwischen dem Hals und dem langen, geflochtenen Zopf der Walküre befand sich eine kleine Aussparung, sodass man die Figur als Anhänger verwenden konnte. Wenigstens war es kein Ring, das wäre schlimmer gewesen.

»Danke«, flüsterte sie und schloss das Kästchen. »Erzählst du bitte den anderen nichts davon? Also, dass ich heute Geburtstag hab?« Sie schaute zu dem großen weißen Haus, dessen Fenster in der Sommerwärme offen standen.

»Ich kenne niemanden wie dich.« Er lächelte, doch seine Augen wirkten traurig.

Kirstine schob das Kästchen in ihre Tasche. »Ich fürchte, Kamille ist unterwegs, daher …«

»Ich gehe gleich, aber ich hab mich gefragt, ob du nicht Lust hast, mich demnächst mal zu treffen? Ich hab Sommerferien und mehr als genug Zeit. Wir könnten einfach spazieren gehen. Ich weiß, ich habe ja selbst gesagt, das sei eine schlechte Idee, aber Thorbjørn hat mir erzählt, dass es jetzt deutlich besser ist, oder?«

Kirstine wusste nicht, was sie erwidern sollte. Ja, es war besser. Sie hatte ihre Kräfte inzwischen unter Kontrolle. Doch diese Kontrolle zerrann ihr zwischen den Fingern, wenn er sie so anschaute. Ihre Ohren sausten, die Adern in ihren Armen und Beinen brannten, und einen Moment lang sah sie vor sich, wie die silbrig glänzenden Baumwurzeln den Rasen unter ihren Füßen durchbrachen. Ihn zu umarmen oder auch nur seine Hand zu halten, war ausgeschlossen.

»Ich glaube nicht, dass das geht«, flüsterte sie.

Er nickte und nahm einen tiefen Atemzug. Dann wandte er sich den Zweigen der Obstbäume und dem blauen Himmel über ihnen zu, bevor er langsam ausatmete.

Kirstine wünschte, sie hätte die richtigen Worte, um ihm zu erklären, wie es sich anfühlte. Über Kräfte zu verfügen, die ihr Angst machten, Kräfte, um die sie nie gebeten und die sie sich nie gewünscht hatte. Kräfte, die es lebensgefährlich machten, sich zu verlieben. Doch stattdessen standen sie einfach nur schweigend da, bis Jakob seinen Blick schließlich von den Baumkronen löste und ihr ein trauriges Lächeln zuwarf.

»Es war schön, dich wiederzusehen«, sagte er, dann wandte er sich um und ging.

Kirstine blicke ihm nach, bis er verschwunden war. Vielleicht ist es besser so, wir können ohnehin nicht zusammen sein.

Sie seufzte und ging zurück zum Haus.

 

»Hi!« Kamille saß im Schneidersitz auf Victorias Bett und war gerade dabei, sich die roten Haare zu flechten, als Kirstine das Zimmer betrat.

»Was wollte Jakob?«, fragte Victoria.

»Nichts«, murmelte Kirstine.

»Hast du ihn für Samstag eingeladen?«, fragte Kamille.

»Ich hab’s vergessen«, sagte Kirstine.

»Scheiß drauf, ich schreib ihm«, sagte Victoria, kramte eine Liste mit Namen hervor und ließ die Augen darüberwandern. »Thorbjørn und Lisa kommen als Schulvertreter. Und Benjamin kommt auch.«

Kamille zog eine Augenbraue hoch und warf Kirstine von drüben vom Bett einen Blick zu, sagte aber nichts. Victoria und Benjamin hatten sich vor den Sommerferien getrennt, und Kirstine fiel kein logischer Grund ein, weshalb er ebenfalls eingeladen war.

»Benjamin kennt viele der alten Familien«, schob Victoria schnell hinterher, als hätte sie die Gedanken der Freundinnen gelesen. Das konnte sie vielleicht wirklich, jedenfalls fühlte es sich manchmal so an.

»Gibt es noch sonst irgendwen, den wir einladen sollten?«, fragte Kamille. »Ich kenne jedenfalls keine ›mächtigen Persönlichkeiten‹«, sagte sie und ließ ihren Zopf los, um in der Luft Gänsefüßchen anzudeuten. »Außer den Lehrerinnen und Lehrern vielleicht, und die kommen ja eh schon.«

»Hmm«, Victoria blickte auf die Liste, »meine Mutter hat die wichtigsten Leute aus den alten Magierfamilien eingeladen. Und natürlich alle, die im Magierrat sitzen. Ein paar haben abgesagt, aber die werden es früh genug erfahren. Die Neuigkeiten werden sich wie ein Lauffeuer verbreiten.« Sie schaute auf. »Sie hat mich als erste Rednerin eingetragen.«

»Ist es nicht irgendwie komisch, eine Rede auf einer Party zu halten?«, fragte Kamille.

»In diesen Kreisen ist das üblich.« Victoria zuckte mit den Schultern. »So eine Einladung ist eine gute Entschuldigung dafür, sich die Kante zu geben, glaube ich. Erst gibt es einen langweiligen Vortrag über Geschichte oder Politik oder das Weltgeschehen, und danach wird gesoffen und über die gelästert, die nicht da sind. Aber diesmal wird’s nicht im Geringsten langweilig, da bin ich mir sicher.«

»Was hast du deiner Mutter denn gesagt, worüber du sprechen willst?«, wollte Kirstine wissen.

»Über die Rechte und Pflichten junger Magierinnen und Magier«, sagte Victoria. »Meine Mutter hat überhaupt nicht nachgefragt, so froh war sie, dass ich mich endlich dafür interessiere, an ihren furchtbaren Cocktailpartys mit ihren unerträglichen Freunden teilzunehmen. Sie hat mich sogar Leute auf die Gästeliste setzen lassen, ohne sich zu beschweren.«

Kirstine musterte Victoria. Sie bewegte sich problemlos in dem, was sie »diese Kreise« nannte. Zwischen den reichen und mächtigen Magierfamilien. Victoria war in dieses Umfeld hineingeboren worden. Doch das waren weder sie noch Kamille. »Wie kommt man eigentlich an einen Platz im Magierrat?«, fragte Kirstine.

»Das ist gar nicht so leicht, glaube ich«, sagte Victoria. »Ich weiß nur, dass es zehn oder zwölf Mitglieder gibt, und wer einmal drin ist, behält seinen Platz auf Lebenszeit. Ich glaube, die Mitglieder stimmen über die Aufnahme neuer Magier ab.«

»Und was passiert in diesem Rat?«, fragte Kamille.

»Sie sind mit Leitlinien für die magische Welt beschäftigt, verwarnen diejenigen, die diese Leitlinien verletzen, und können in letzter Instanz Magier an die Behörden übergeben.«

»Und diese Leute kommen zu den Partys, die deine Eltern ausrichten?«, hakte Kamille nach.

»Nicht nur die«, antwortete Victoria. »Meine Eltern sind Mitglied in einer Loge und alle, die dazugehören, geben mehrmals im Jahr ein Fest.«

»Das hört sich nach einer ziemlich einschüchternden Versammlung an«, sagte Kamille. »Bist du dir sicher, dass du dich traust?«

»Wenn ich es Jens ins Gesicht sagen kann, kann ich es auch vor den Freunden meiner Eltern sagen«, meinte Victoria. »Das ist schon in Ordnung.«

»Du bist echt tough«, sagte Kamille. »Sollen wir die Rede noch einmal üben?«

 

 

 

Ich freu mich so, dass du kommst.

Okay, aber worum geht’s denn eigentlich?

Das wirst du schon sehen. Kann noch nicht mehr verraten.

Bis Samstag!

Bis dann …

4. Juli 17 Uhr 46

Victoria

»Komm rein!« Victoria lächelte über das ganze Gesicht. Ein bisschen zu übertrieben vielleicht, der Falte nach zu urteilen, die zwischen Benjamins Augenbrauen hervortrat. Seine blauen Augen fixierten sie, die Muskeln seines Kiefers wirkten angespannt. »Schön, dass du ein wenig früher kommen konntest«, sagte sie etwas gedämpfter und umarmte ihn, was er nur halb erwiderte. Seine Ausstrahlung verwirrte sie, sie fühlte sich abweisend und überwältigend zugleich an.

»Warum sollte ich eigentlich so früh kommen?«, fragte er und Victoria spürte, wie ihr die Wärme ins Gesicht stieg. Damit ich dich davon überzeugen kann, dass die Trennung ein Fehler war.

»Meine Mutter meinte, sie könnte jemanden brauchen, der ihr bei den letzten Vorbereitungen hilft«, log sie.

Im selben Moment betrat ihre Mutter mit einer riesigen Vase voller weißer Lilien die Diele. »Das ist so typisch. Natürlich hat der Blumenhändler sie erst jetzt geliefert«, sagte sie, stellte die Vase vor dem großen Flurspiegel ab und pustete sich eine glänzende dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. Victoria konnte die Blumen bereits riechen, und bis die Gäste eingetroffen wären, würde der ganze Raum in deren Duft eingehüllt sein. Hinter ihrer Mutter folgte Niels, einer von Victorias kleinen Brüdern. Er rümpfte die Nase, warf einen skeptischen Blick auf die Blumen und dann auf Benjamin.

»Was macht der hier?«

Victorias Mutter drehte sich um, Benjamin gekonnt ignorierend. »Es ist Regen angesagt. Dabei hatte ich eigentlich gedacht, dass wir den Aperitif im Garten einnehmen.« Die hohen Absätze klackerten über das Parkett, als sie zurück in Richtung Küche verschwand. Sie hörten, wie sie dort jemanden bat, die übrigen Blumen ins Wohnzimmer zu bringen.

»Ich dachte, ihr seid nicht mehr zusammen?« Harald hatte sich seinem Bruder angeschlossen und nun standen beide Zwillinge vor ihnen und betrachteten Benjamin missbilligend. Wäre die Stimmung nicht so angespannt gewesen, hätte sich Victoria vielleicht über die beiden tapferen kleinen Soldaten amüsiert, die ihr zu Hilfe geeilt waren.

»Benjamin ist bloß zu Besuch«, sagte Victoria. »Und jetzt haut ab.«

»Victoria hat voll viel geheult«, sagte Niels. »Weil du Schluss gemacht hast.«

»Mama sagt, dass sie sich zu leicht verliebt«, fügte Harald hinzu. »Und dass du es nicht wert bist.«

»Haltet die Klappe!«, sagte Victoria. »Raus mit euch in den Garten!«

»Da dürfen wir nicht hin«, maulte Niels. »Nirgendwo dürfen wir hin.«

Nach ein wenig weiterem Genörgel verschwanden die Zwillinge die Treppe hoch in ihre Zimmer.

»Hast du ihnen erzählt, dass ich Schluss gemacht habe?«, fragte Benjamin, während sie in die Küche gingen.

»War es nicht so?«, antwortete Victoria, ohne ihn anzusehen.

»Es war deine Entscheidung.«

»Du hast mir ein Ultimatum gestellt. Ich hätte nichts anderes tun können.« Sie versuchte, ihrer Stimme einen unbeschwerten Klang zu geben. »Es hätte nicht so sein müssen. Es hätte nicht ›entweder oder‹ heißen müssen.«

»Da sind wir also nicht einer Meinung«, murmelte er.

Victorias Mut sank. Das war nicht die Antwort, die sie sich erhofft hatte, doch als ihre Mutter durch die Terrassentür in die Küche trat, streckte sie den Rücken durch und lächelte. Wenigstens sie sollte nicht die Genugtuung haben, recht behalten zu haben. Sie hatte natürlich gemeint, dass es ein großer Fehler sei, Benjamin einzuladen.

»Noch ist das Wetter schön«, sagte ihre Mutter. »Sollen wir es doch wagen? Dann müssen wir allerdings noch die Gartentische rausholen.«

»Benjamin hilft dir sicher gern …«, sagte Victoria, aber ihre Mutter tat, als hörte sie sie gar nicht.

»Ach nein, wir servieren den Aperitif doch lieber im Herrenzimmer.« Sie wandte sich den beiden jungen Frauen zu, die für das Servieren zuständig waren, und erklärte ihnen, wo sie die Gläser aufbauen sollten.

»Sorry«, flüsterte Victoria.

Benjamin zuckte mit den Schultern. »Deine Mutter war noch nie mein größter Fan«, murmelte er. »Und es sieht auch eher nicht so aus, als bräuchte sie meine Hilfe, oder?« Er zog eine Augenbraue hoch. Victoria schlug die Augen nieder.

Sie hatte ihn so wahnsinnig vermisst und gehofft, dass ihm, wenn sie heute nur ein wenig Zeit zusammen verbrachten, ebenfalls aufgehen würde, dass er sie vermisste. Dass es ein Fehler gewesen war, sich zu trennen. Sie hatte sogar die kleine Hoffnung gehabt, er würde zu dem Schluss kommen, dass ihre Eltern doch nicht so schlimm waren, wie er glaubte.

»Ich habe bloß gedacht, dass es eine gute Möglichkeit wäre, sie ein bisschen besser kennenzulernen«, murmelte sie.

Er seufzte. »Leider haben deine Eltern überhaupt keine Lust, mich kennenzulernen, und ich muss zugeben, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruht. Wenn meine Hilfe also nicht gebraucht wird, gehe ich lieber hoch und spiele FIFA mit den beiden Räubern.«

»Na klar.« Victoria nickte und gab sich Mühe, den Mund zu einem Lächeln zu verziehen. »Mach das ruhig.«

 

»Bist du okay?«, fragte Kirstine, während sie an der schwarzen Bluse zupfte, die Victoria ihr geliehen hatte und die eine Spur zu klein war, auch wenn die Freundin ihr das Gegenteil versicherte.

Victoria nahm einen großen Schluck von dem kalten Weißwein, den Kamille ihr geholt hatte. Sie nickte. »Wir können schließlich nicht bei ihm auftauchen und damit drohen, dass wir ihn verraten und uns dann doch nicht trauen.«

»Was trauen?«, fragte Benjamin, der sich an sie herangeschoben hatte.

Victoria spürte einen Stich in der Brust. Ihr Herz wollte einfach nicht einsehen, dass sie kein Paar mehr waren.

»Nichts«, murmelte sie.

»Thorbjørn, Jakob und Lisa sind da«, sagte Kamille. »Kirstine und ich gehen sie begrüßen. Kommt ihr mit?«

Victoria schüttelte den Kopf. »Ich bleibe hier«, sagte sie, während sich Kamille und Kirstine bereits zur Diele durchschlängelten, wo Thorbjørns massige Gestalt zwischen den anderen Gästen nicht zu übersehen war. Mit seinem buschigen Bart und den langen Haaren ähnelte er absolut nicht all jenen, die sonst zu den Empfängen ihrer Eltern erschienen.

»Bist du nervös?«, fragte Benjamin.

»Ein bisschen«, antwortete sie, was die Untertreibung des Jahres war. Todesangst war wohl das passendere Wort, und sie hatte wirklich keine Lust, nun auch noch all die Freunde ihrer Eltern begrüßen zu müssen. Sie zog es vor, hier in dieser dunklen Ecke zu bleiben.

»Na, so was, bist du das, Victoria?«

Anscheinend war die Ecke nicht dunkel genug. Eine Frau in einem tief ausgeschnittenen Kleid, das so rot war wie die dänische Flagge, lächelte sie an. »Waaahnsinn, wie groß du geworden bist!« Sie stieß mit ihrem Glas gegen Victorias und dann gegen Benjamins, den sie ungeniert musterte. »Und wen haben wir da?«

»Benjamin Brahe«, sagte er und reichte ihr die Hand.

»Brahe …«, sagte die Frau nachdenklich, während sie seine Hand noch immer in ihrer hielt und sich zu ihm lehnte. »Ich glaube, ich kenne deine Eltern.«

»Das tut mir leid«, sagte Benjamin und zog elegant, aber bestimmt seine Hand zurück.

Die Frau wirkte verblüfft, dann lächelte sie so breit, dass das Zahnfleisch über ihren unnatürlich weißen Zähnen zum Vorschein kam. »Lass uns später weiterreden, Benjamin. Es ist großartig, dass endlich auch junge Menschen herkommen.« Wie um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen, griff sie kurz nach seinem Arm, bevor sie weiterzog, um die nächsten Gäste zu begrüßen.

»Sie hat sich an dich rangemacht«, stellte Victoria fest und begriff im selben Moment, dass ihm das offenbar häufiger passierte, so routiniert, wie er damit umgegangen war. Und das sollte sie wohl kaum überraschen. Benjamins attraktives Äußeres war in seinem gut sitzenden Anzug nicht gerade weniger auffällig als sonst.

»Kein Interesse«, sagte Benjamin.

Das Geräusch von zerbrechendem Glas unterbrach ihr Gespräch. Ein großer, dunkelhaariger Mann mit penibel gestutztem Schnurrbart schaute einen Augenblick lang auf einen Diener hinab, der die Scherben vom Boden aufsammelte, bevor er sich ein neues Glas nahm und auf sie zukam.

»Jetzt geht’s los«, sagte Benjamin und Victoria brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass er auf den Mann anspielte. Sie hatte ihn schon früher auf den Festen ihrer Eltern gesehen, aber er war keiner von denen, die sie auch privat trafen, und Victoria konnte sich nicht daran erinnern, ihm schon einmal vorgestellt worden zu sein.

Der Mann trug einen maßgeschneiderten Anzug und eine Brille mit dünnem goldenen Gestell. Er hob sein Glas in Benjamins Richtung.

»Victoria, das ist mein Vater«, sagte Benjamin. »Vilhelm Brahe.«

»Guten Abend«, sagte sie überrascht und streckte die Hand aus.

»Ah, du bist als Begleitung einer jungen Dame hier.« Der Mann berührte ihre Handfläche mit den äußersten Fingerspitzen, sah sie dabei jedoch nicht an. »Ein hübsches Mädchen«, sagte er an Benjamin gewandt. »Das muss wohl …« Er gestikulierte in ihre Richtung, hielt dann aber inne. »Es tut mir leid, mir ist der Name entfallen.«

»Victoria.«

»Victoria, ja. Victoria hat dich wohl überredet, heute Abend zu kommen?«

»In gewisser Weise ja. Sie wird einen Vortrag über ein mystisches Thema halten und weigert sich, mir mehr darüber zu verraten.«

»Aha, noch eine geheimnisvolle Rednerin«, sagte der Mann.

»Entschuldigen Sie, aber ich verstehe nicht ganz«, sagte Victoria.

»Tut mir leid«, sagte Vilhelm. »Ich will die Überraschung der Gastgeber nicht zerstören.«

»Victoria ist die Überraschung«, erklärte Benjamin, »ihre Eltern sind die Gastgeber.«

»Er ist dein Vater?« Vilhelm musterte sie ohne die Spur eines Lächelns. »Tja, er buhlt ja seit vielen, vielen Jahren um einen Platz im Rat. Aber die Auswahl an Kandidaten ist natürlich groß.«

Erst jetzt ging Victoria auf, dass Benjamins Vater Mitglied im Rat der Magier sein musste und ihre Eltern ihn deshalb bereits früher eingeladen hatten.

»Kann ich deiner Mutter womöglich berichten, dass du dich auf dem Wege der Besserung befindest? Wo du dich neuerdings offenbar wieder mit vernünftigen Menschen umgibst?«, fragte Vilhelm und betrachtete seinen Sohn.

»Ganz bestimmt nicht«, sagte Benjamin. »Ich bin nur Victoria zuliebe hier.«

Victoria spürte, wie eine Welle der Dankbarkeit in ihr aufstieg, doch als sie Vilhelms verächtliche Grimasse sah, gefror ihr Lächeln.

»Tja, das wäre wohl auch zu viel verlangt gewesen«, sagte er und nickte ihnen zu. »Viel Glück für deinen Vortrag, Victoria.«

»Wusstest du, dass er kommen würde?«, flüsterte sie, sobald Benjamins Vater ihnen den Rücken zugekehrt hatte.

»Ich dachte mir schon, dass das Risiko hoch sein würde«, sagte er.

»Wie lange ist es her, dass du ihn zuletzt gesehen hast?«, fragte sie.

»Zwei Jahre«, sagte Benjamin. Seine Stimme wirkte ruhig und tonlos, doch der Zorn, der dahinterlag, ließ sie fürchten, versehentlich etwas sagen zu können, was ihn aus der Haut fahren ließ. Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander, bis sich plötzlich eine Stimme im Raum erhob. Victoria sah auf die Uhr. War es etwa schon so weit?

»Herzlich willkommen!« Victorias Mutter klang ein kleines bisschen angespannt, aber vielleicht fiel auch nur Victoria die zitternde Nervosität auf, die sie wie eine violette Woge umgab. Von außen betrachtet wirkte ihre Mutter in ihrem schwarzen Cocktailkleid, den hohen Schuhen und mit dem diskreten Schmuck wie die perfekte Gastgeberin. Die Gäste standen im Kreis um sie.

»Nehmen Sie sich gern noch schnell Getränke, denn gleich beginnt der heutige Vortrag. Mein Mann und ich …« Sie streckte die Hand aus und ein großer, eleganter Mann mit silbergrauem Haar ließ sich zu ihr in die Mitte des Kreises ziehen. »Ja, ich weiß, du bleibst am liebsten im Hintergrund, Hans, aber heute kommst du nicht drum herum«, sagte sie. Die Gäste lachten und applaudierten sogar kurz. Victoria lächelte automatisch, obwohl sie sich überhaupt nicht danach fühlte. Ihre Eltern waren ein hübsches Paar. Ihr Vater war eine ganze Ecke älter als die Mutter, doch er war noch immer ein attraktiver Mann. Und ihre Mutter fiel durch ihre Schönheit auf, sobald sie einen Raum betrat. Victoria hätte sich gewünscht, froh und stolz zu sein, die beiden zusammen zu sehen, umringt von ihren Freundinnen und Freunden. Stattdessen spürte sie nichts als diese schwelende Unruhe.

»Mein Mann und ich freuen uns, Sie zu einem weiteren gemütlichen Abend in unserer kleinen Gesellschaft zu begrüßen«, fuhr ihre Mutter fort, als es wieder leiser war. »Wie Sie vielleicht bemerkt haben, ist unsere Runde heute größer als sonst. Es handelt sich um die Freunde unserer hübschen und klugen Tochter Victoria, die heute einen Vortrag über die Rechte und Pflichten der jungen Magier-Generation halten wird.«

Wieder wurde höflich geklatscht. Victoria holte tief Luft und versuchte, ihre Nervosität in den Griff zu bekommen.

»Aber zuerst habe ich noch eine kleine Überraschung«, fügte ihre Mutter mit einem schiefen Lächeln hinzu.

Victoria spürte ein unangenehmes Ziehen im Bauch. Sie krampfte die Hand um den Zettel mit ihren Stichworten. Was für eine Überraschung sollte das sein?

»Bevor Victoria an die Reihe kommt, wird Jens Andersen, Schulleiter des Internats Rosenholm, uns von seinen Visionen für die Schule und die Zukunft der Magie im Allgemeinen berichten. Ein herzliches Willkommen für Jens!«

»Was?!«, flüsterte Victoria. Eine plötzliche Woge der Angst ergriff sie und ließ sie um Atem ringen.

Ihre Eltern traten zur Seite, beide applaudierend, und Jens trat plötzlich in die Mitte der kleinen Gesellschaft. Wie immer, wenn sie ihn sah, war sie überwältigt von seiner enormen Ausstrahlung, die alle Aufmerksamkeit auf sich zog. So auch jetzt. Alle im Raum starrten gespannt auf Jens’ schwarz gekleidete Gestalt, die, obwohl er fast einen Kopf kleiner als Victorias Vater war, den Raum auf eine ganz besondere Art und Weise zu füllen schien. Er nickte freundlich und ließ den Blick über die Gäste schweifen, doch als dieser Victoria erreichte, hielt er inne. Victoria spürte seine Energie, es war ein Gefühl, als würde sie in Zeitlupe von einem Bus überrollt. Sein Blick wollte sie wegschieben und zu Boden drücken, doch sie zwang sich, ihm standzuhalten. Sie hatte nicht vor, sich einschüchtern zu lassen.

4. Juli 21 Uhr 07

Kamille

»Vielen Dank für die Einladung«, sagte Jens. Die Gäste waren inzwischen in das große Wohnzimmer umgezogen. Jens stand als Einziger noch immer, während alle anderen bereits saßen.

Kamille hätte sich am liebsten ganz nach hinten verzogen, so weit weg von Jens wie möglich, aber Kirstine, Victoria und sie hatten sich stattdessen in die erste Reihe gesetzt. Das war ihre Idee gewesen. Sie hatte sich gefragt, was Malou an ihrer Stelle getan hätte, und sofort hatte sie es gewusst: Wir setzen uns direkt vor seine Nase, dann sieht er, dass wir es ernst meinen! Kamille hatte Malous Stimme beinahe hören können.

»Ich weiß, Sie haben sich auf die Rede der jungen Tochter des Hauses gefreut, aber heißt es doch: Alter vor Schönheit«, sagte Jens und landete gleich den ersten Lacher. »Ich hoffe, Sie halten es also eine Weile mit mir aus. Ich verspreche Ihnen, ich halte meinen Vortrag so kurz wie möglich, aber ich habe in aller Bescheidenheit wichtige Neuigkeiten mitzuteilen.«

Kamille ärgerte sich, wie rasend schnell Jens die Bühne erobert hatte. Plötzlich war er es, der den Gästen die Plätze zuwies, den Gastgebern dankte und die Leute begrüßte. Plötzlich war er es, der wichtige Dinge zu verkünden hatte.

Er begann mit seiner Rede und Kamilles Ärger wuchs. Jens’ Stimme war warm, er erzählte lebendig und witzig von seinen Erfahrungen als Schulleiter und von seiner eigenen Schulzeit in Rosenholm. Es war nicht zu übersehen, warum die Leute ihn charmant und beeindruckend fanden. Doch das war nichts als eine Maskerade, ein Mantel, den er überstreifte. Darunter verbarg sich etwas ganz anderes. Niemand darf es wissen. Niemand darf es je erfahren. Die Scham brannte in ihr, die Scham darüber, dass dieser Mann, der gerade die Aufmerksamkeit der kompletten Partygesellschaft auf sich zog, ihr Vater war.

»Sie schlucken das alles, ohne mit der Wimper zu zucken!«, flüsterte Kirstine genervt.

Kamille schaute zu Victoria. Das hübsche dunkelhaarige Mädchen in dem einfachen kurzen Kleid in Dunkelblau erinnerte sie auch heute wieder an eine französische Schauspielerin. Victoria hatte den Blick auf ihre Hände geheftet, in denen sie den Zettel mit den Stichworten hielt. Ihre Lippen bewegten sich, als würde sie etwas vor sich hinmurmeln.

»Und jetzt kommen wir zu meiner Botschaft am heutigen Abend«, sagte Jens und verschränkte die Hände vor sich. »Ich weiß, dass viele von Ihnen mit mir einer Meinung sind, dass wir uns viel zu lange geduckt und im Schatten gehalten haben. Wir haben vergessen, was wir früher einmal waren. Ich träume von einer strahlenden Zukunft für die Magier. Von einer Zukunft, in der wir uns selbst in die Augen sehen können. Doch um den Weg vor uns zu finden, muss man manchmal zurückblicken.«

Einige Gäste applaudierten und Kamille fluchte innerlich. So war das nicht geplant gewesen.

Andere im Publikum waren allerdings skeptischer. »Und welche Vergangenheit haben Sie da im Blick?«

Kamille drehte sich um. Ein älterer Mann in einem abgenutzten Anzug hatte die Frage gestellt.

»Ich will die Vergangenheit sicher nicht zurückholen.« Jens lächelte. »Aber es ist nicht viele Generationen her, dass wir Magier im Zentrum der Macht standen. Immer hinter den Kulissen, immer im Verborgenen, aber dennoch dort, wo die Entscheidungen gefällt wurden. Dort, wo wir mit unseren besonderen Fähigkeiten und unserem Wissen wirklich etwas bewirken konnten. Ich möchte mich dafür einsetzen, dass wir unseren Einfluss wieder geltend machen und die Machthabenden sowie die Gesetzgebung zu unserem Vorteil beeinflussen können. Eine Art Interessenvertretung, wenn Sie so wollen. Aber eine ganz besondere.«

Eine hochgewachsene Frau mit rasiertem Schädel räusperte sich.

»Ja, Gertrud?«, sagte Jens.

»Mich würde interessieren, wie du dir das ganz konkret vorstellst.«

»Ich freue mich, dass du diese Frage stellst«, sagte Jens. »Zunächst einmal sehe ich es als meine Aufgabe als Schulleiter der neuen Magier-Generation, die Fähigkeiten meiner Schülerinnen und Schüler so zu fördern, dass sie ihr volles Potenzial ausschöpfen können. Machen wir uns nichts vor, wir sind alle unterschiedlich. Einige haben mehr Talent als andere. Wenn wir unser Vertrauen auf die Stärksten setzen, auf die Fleißigsten und Klügsten, wird das uns allen zugutekommen. Wir dürfen keine Angst davor haben, die jungen Leute zu fördern, deren Fähigkeiten wir nicht unmittelbar einordnen können. Wir sollten die kindische Angst vor dem, was ›schwarze Magie‹ genannt wird, über Bord werfen, und Blut- und Geistermagier nicht länger diskriminieren.«

»Seit wann ist das denn so?!«, entfuhr es Kirstine ziemlich laut, und ein Mann in der Reihe hinter ihnen zischte sie an, leise zu sein.

»Und dann möchte ich den Schülerinnen und Schülern die große Verantwortung bewusst machen, die in allen Zeiten auf uns Magierinnen und Magiern lastete. Eine Verantwortung, die die älteren Generationen – ich nehme meine da nicht aus – leider verraten haben«, fuhr Jens fort. »Damit muss jetzt Schluss sein. Ich bin davon überzeugt, dass die neue Generation den Ausgangspunkt für die Renaissance der Magier bilden wird.«

»Und was ist mit uns älteren Magiern?«, fragte der Mann mit dem abgenutzten Anzug. »Allen über zwanzig? Die sind zu nichts zu gebrauchen, oder wie?«

»Erfahrene Magierinnen und Magier sind der nächste wichtige Baustein auf dem Weg zu der Gesellschaft, für die ich mich einsetze«, sagte Jens. »Das bezieht unter anderem die Bildung der Interessenvertretung ein, von der ich vorhin sprach. Oder anders formuliert: den Wiederaufbau des Commissio Magica, des Komitees für Magie.«

Unruhe und leise Gespräche regten sich im Raum. Einige Gäste wirkten aufgewühlt oder sogar entrüstet, aber es gab auch viele, die klatschen oder auf andere Art und Weise ihrer Zustimmung Ausdruck gaben.

Kamille wandte sich an Kirstine, die bloß mit den Schultern zuckte, sie schien auch nicht zu verstehen, worum es hier eigentlich ging. Victoria saß immer noch mit dem zerknüllten Papier in der Hand da und wirkte, als habe sie kein einziges Wort von Jens’ Rede mitbekommen. Kamille beugte sich über Kirstine, griff nach Victorias Hand und drückte sie. Victoria schaute sie an.

»Wir ziehen es durch«, sagte sie leise.

Kamille nickte. »Das machen wir.«

4. Juli 21 Uhr 39

Kirstine

Die meisten Gäste applaudierten, nachdem Jens seine Rede beendet hatte. Ein paar von ihnen standen sogar auf. Jens legte demütig die Hände auf die Brust und verbeugte sich leicht, bevor er zur Seite trat und Victorias Mutter Platz machte, die ihm mit warmen Worten dankte und dann ihre Tochter ankündigte. Doch Kirstines Aufmerksamkeit gehörte nicht Victorias Mutter. Sie beobachtete Jens. Er setzte sich nicht, sondern blieb mit verschränkten Armen am Rand stehen, von wo aus er Victoria eindringlich ansah. Sie lächelte vorsichtig und nickte dem Publikum zu. Kirstine bewunderte sie. All die mächtigen Leute schienen ihr egal zu sein, sie stand ganz ruhig da. Das erforderte großen Mut.

Victoria holte tief Luft. »Auch ich habe heute Abend eine wichtige Mitteilung zu machen.« Ihre Stimme zitterte leicht, und sie atmete noch einmal ein, bevor sie weitersprach. »Und vielleicht ist sie sogar noch wichtiger, nach dem, was wir gerade gehört haben.« Sie machte eine kurze Pause, als müsse sie Anlauf für den nächsten Satz nehmen. »Es ist schwierig, darüber zu sprechen, deshalb hoffe ich, dass Sie Geduld mit mir haben, falls …« Victoria verstummte wieder. Kirstine beobachtete, dass mehrere Köpfe im Publikum freundlich und verständnisvoll nickten. »Ich …« Victorias Stimme brach und sie senkte den Kopf, als wäre sie von ihren Gefühlen überwältigt.

»Meine Tochter ist sicher ein wenig aufgeregt«, sagte Victorias Mutter mit einem betont lockeren Lachen von ihrem Platz in der ersten Reihe. »Das ist ja auch verständlich, wir sind eine große Runde heute Abend. Ganz ruhig, Victoria, wir beißen nicht.«

Das Publikum lachte höflich und einige der Anwesenden begannen zu klatschen, um Victoria zu ermuntern, doch sie schwieg noch immer.

»Meinst du, ich soll zu ihr gehen?«, flüsterte Kamille.

Kirstine betrachtete Victorias Gesicht. Sie hatte sich so weit nach vorn gebeugt, dass man ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte, aber sie entdeckte einen zitternden Muskel an ihrer Wange. Da stimmt etwas nicht.

»Victoria!«, rief Kamille.

»Sie bekommt einen Anfall!«, schrie Victorias Mutter. »Tut etwas!«

Plötzlich brach Victoria zusammen und sank zu Boden.

»Platz da!«, rief eine kleine Frau mit langen schwarzen Haaren. Lisa schob sich unsanft zwischen den Gästen hindurch, die aufgesprungen waren, um sehen zu können, was da vor sich ging.

Kirstine löste ihren Blick von Victorias bleichem, verkrampften Gesicht und dem Schaum an ihren zusammengepressten Lippen und schaute sich um. Zu Jens. Seine Augen waren konzentriert auf Victoria gerichtet und die Lippen bewegten sich leicht. Kirstine stand langsam auf.

Naudhiz!

Die Elends- und Schicksalsrune flog durch den Raum, klar auf ihr Ziel ausgerichtet. Doch sie durchbrach Jens’ heimlichen Angriff auf Victoria nicht, er geriet nicht einmal ins Wanken.

»Was ist los?«, rief Victorias Vater, der verwirrt von seiner am Boden krampfenden Tochter zu Kirstine sah, die immer noch den Arm Richtung Jens ausstreckte.

»Sie ist es! Ergreift sie!«, schrie die Frau mit dem glatt rasierten Schädel und Kirstine konnte sich gerade noch ducken, bevor eine Runenbeschwörung über ihren Kopf sauste.

»Haaaalt!« Thorbjørns Stimme ließ alle zusammenschrecken. Obwohl er ganz hinten gesessen hatte, war er blitzschnell bei Kirstine und legte seinen riesigen Arm um sie. »Du kommst mit mir.«

»Nein!« Kirstine riss sich los, die Haare standen elektrisch knisternd um ihren Kopf, und Thorbjørn warf ihr einen erschrockenen Blick zu, als er begriff, dass er sie nicht zurückhalten konnte. »Jens ist es gewesen! Wir müssen Victoria von Jens wegschaffen!«

Thorbjørn kniff die hellblauen Augen kurz zusammen und musterte sie. Dann nickte er und ließ sie los. »Du bleibst hier! Jakob?« Thorbjørn gab Jakob ein Zeichen, seinen Platz an Kirstines Seite zu übernehmen, und ihr war nicht klar, ob er sie bewachen oder beschützen sollte. Mit zwei großen Schritten bahnte sich Thorbjørn einen Weg durch die Menschenmenge, die sich um Victoria versammelt hatte. Kirstine konnte nicht erkennen, was dort vorne passierte, aber sie hörte Victorias Mutter hysterisch schluchzen und Lisa beruhigend auf sie einreden, und kurz darauf beruhigte Victorias Mutter sich.

»Platz da, wir müssen sie hier rausbringen!« Das war Lisas Stimme. Die Gäste traten zur Seite und ließen Thorbjørn, der Victoria auf den Armen trug, vorbei. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Arme und Beine hingen schlaff herunter und der Kopf war hintenübergebeugt. Hinter Thorbjørn folgte Lisa mit Victorias Eltern. »Sie muss sofort medizinisch versorgt werden«, sagte Lisa zu ihnen.

»Am selben Ort wie beim letzten Mal?«, fragte Victorias Mutter, doch Lisas Antwort hörte Kirstine nicht mehr.

»Komm«, sagte Jakob. Kirstine hatte völlig vergessen, dass er auch noch da war. Sie schüttelte den Kopf und blieb, wo sie war. Jens stand immer noch an der Wand am anderen Ende des Raums. Niemand beachtete ihn mehr, doch er schaute sie an. Er fasste sich an den Hemdkragen. Und ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen.

 

 

 

Ich habe die Macht, dich zu verletzen, Victoria. Spürst du das? Und nicht nur dich, sondern alle, die du liebst, alle, denen du deine Lügen erzählst. Begreifst du das?

5. Juli 00 Uhr 25

Victoria

Victoria schlug die Augen auf und erkannte blinzelnd breite Deckenbalken über sich. Offenbar war sie nicht mehr zu Hause, aber wo war sie?

»Hier, trink das. Es wird dich stärken«, sagte eine Frau, die sie an eine ältere Version von Kamille erinnerte, außer den Augen, die braun waren. Sie reichte Victoria ein kleines Glas mit einer dunkelvioletten Flüssigkeit darin. »Schwertlilie und Nelke«, erklärte sie. »Schmeckt leider nicht besonders, aber es wirkt.«

Victorias Hand zitterte, als sie das Glas an die Lippen hob. Der Trank schmeckte wirklich scheußlich, und sie beeilte sich, die bittere Flüssigkeit hinunterzustürzen.

»So ist es gut«, sagte die Frau und lächelte sanft. »Ich heiße Beate, du bist hier bei uns zu Hause und in Sicherheit. Tut dir etwas weh?«

»Mein Kopf«, flüsterte Victoria.

»Kamille, leg ihr deine Hände auf, ich koche in der Zwischenzeit Pfefferminztee.« Victoria hatte noch gar nicht bemerkt, dass Kamille auf einem Stuhl neben dem Sofa saß. Als die Freundin nun die Hände auf ihre Stirn legte, lehnte Victoria sich zurück und schloss die Augen. Sofort ließ der Schmerz etwas nach, doch noch immer tat ihr alles weh; obwohl der Ofen in dem niedrigen Raum ordentlich einheizte, zitterte sie am ganzen Körper.

»Ist sie wach?«

Als sie Lisas Stimme hörte, schlug Victoria erneut die Augen auf, doch Kamille flüsterte nur: »Entspann dich, ruh dich noch ein wenig aus.«

»Sie kommt langsam zu sich«, antwortete Kamilles Mutter.

Victoria blieb noch einige Minuten lang so liegen, dann öffnete sie die Augen. »Ich glaube, ich kann mich jetzt aufsetzen«, wisperte sie und Kamille nahm die Hände von ihrer Stirn.

Beate reichte Victoria eine dampfende Tasse Tee. »Ich gebe den anderen Bescheid, dass es dir besser geht. Ich hab sie rausgeschmissen, damit sie nicht im Weg herumstehen.«

»Meine Eltern …?«

»Lisa ruft sie gerade an und sagt ihnen, dass du über Nacht hierbleibst.«

»Danke.« Victoria nippte an dem warmen Tee.

Beate lächelte und ging wieder in die Küche.

Sie schauten beide auf, als die alte Stalltür knarrte und Kirstine eintrat. Ihr Haar war regennass. Sie setzte sich zu ihnen.

»Was ist passiert, Victoria?«, flüsterte Kirstine. »War es Jens?«

Victoria nickte. »Ich verstehe es nicht. Ich konnte überhaupt nichts dagegen tun. Er war so stark … Bisher habe ich es immer geschafft, mich gegen ihn abzuschirmen oder zumindest zu beeinflussen, was er sieht, aber diesmal war er auf einmal mitten in meinem Kopf. Er … er hat mit mir gesprochen … Er hat mir gedroht …«

»Und du konntest nicht mehr sprechen?«, fragte Kamille.

»Ich konnte weder sprechen noch mich bewegen, aber das ist noch nicht das Schlimmste …« Victoria spürte, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Er hat alles gesehen … Nicht nur das mit Trine, sondern alles Mögliche. Meine Eltern, Benjamin … Sogar das mit Louis.« Victoria schlug sich die Hände vors Gesicht und schluchzte. Sie fühlte sich elend. Beschmutzt. Jens hatte ihre schäbigsten Gedanken gesehen, all das, wofür sie sich am meisten schämte, das Schmerzhafte und Hässliche, ihre hoffnungslos romantischen Tagträumereien, ihre Lust, ihre Fantasien. Nichts war vor ihm verborgen geblieben.

»Oh, Victoria.« Kamille legte den Arm um sie, ließ sie aber einfach weiterweinen. So saßen sie eine Weile da, während Beate irgendetwas in der Küche erledigte und sich dabei leise mit Lisa unterhielt. Das Feuer knisterte im Ofen, Schritte und entfernte Stimmen waren zu hören. Der gleichmäßige Klang des Sommerregens, der gegen die Scheiben prasselte, beruhigte Victoria mehr und mehr. Als sie schließlich den Kopf hob, sah sie, dass in dem kleinen Wohnzimmer alle um sie herumsaßen. Lisa, Beate, Thorbjørn, Jakob, Benjamin, Kamille und Kirstine.

»Wir haben es ihnen erzählt«, sagte Kirstine. »Wir haben ihnen von Trine erzählt.«

Victoria nickte. Sie wischte sich die Augen und richtete sich auf.

»Wer weiß sonst noch davon?«, fragte Lisa. Ihre schwarzen Augen wirkten besorgt.

»Niemand«, sagte Kamille. »Wir wollten es am Abend verraten, als ihr alle versammelt wart.«

»Außer Jens selbst und uns weiß also niemand etwas?«, fragte Jakob.

»Nein … oder doch. Malou natürlich«, sagte Kamille.

»Und wo ist Malou abgeblieben?«, fragte Lisa.

»Sie ist immer noch in Rosenholm«, sagte Kamille. »Zusammen mit den anderen Krähen …«

»Aber Millchen, habt ihr ihr denn nicht erzählt, dass Jens für den Mord an Trine verantwortlich ist?«, fragte Beate.

»Doch, das haben wir!«, rief Kamille aufgebracht. »Sie war die Erste, der ich davon erzählt habe. Aber sie … sie antwortet nicht auf meine Nachrichten …«

»Wir haben sie seit Beginn der Sommerferien nicht mehr erreicht«, sagte Kirstine.

»Ich sehe, dass sie meine Nachrichten liest, aber sie antwortet mir nie«, flüsterte Kamille. »Keine Ahnung, weshalb.«

Victoria bemerkte, dass Thorbjørn und Lisa einen Blick wechselten, doch sie sagten nichts. Das tat stattdessen Benjamin.

»Womöglich hat sich Malou einfach für die andere Seite entschieden, habt ihr daran mal gedacht? Vielleicht glaubt sie, dass Jens unschuldig ist. Oder es ist ihr egal, weil sie ein Teil von Jens’ Projekt sein will.«

»Was redest du da?«, fragte Kamille. »Natürlich ist es ihr nicht egal. Victoria, sag doch auch mal was!«

Benjamin zuckte mit den Schultern und schaute sie fragend an. Victoria spürte den Kopfschmerz, der hinter ihren Schläfen pochte. Dasselbe hatte sie auch schon gedacht. Wie weit würde Malou gehen, um ihre ehrgeizigen Ziele zu erreichen?

»Ich glaube auch nicht, dass es ihr egal ist«, sagte sie und schaute von Benjamin zu Kamille. »Aber Jens kann sehr überzeugend sein …«

»Und offensichtlich plant er eine kleine Revolution«, sagte Benjamin. »Ihr habt gehört, was er über dieses Magie-Komitee gesagt hat?«

»Ja«, sagte Kamille, »aber was meint er damit?«

»Commissio Magica, das Komitee für Magie, war der Vorläufer des heutigen Magierrats«, erklärte Jakob. »Aber das Komitee hatte damals sehr viel mehr Macht als der Rat heute. Es handelte sich beinahe um so etwas wie eine heimliche Machtelite, von der die Bevölkerung nichts ahnte, die jedoch eng an die Herrschaft des Königs geknüpft war. Und das Komitee war durch und durch korrupt. Es heißt, dass manche Könige kaum mehr als Marionetten waren. Die Fäden hielten die mächtigen Magier in den Händen, die zweifelhafte Magie ausübten und große Vermögen und Landbesitz ergaunerten. Viele Mitglieder des Komitees wurden sogar vom König geadelt. Erst nach Einführung der Demokratie und der damit schwindenden Bedeutung des Königtums verlor das Komitee seine Macht, und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde es schließlich aufgelöst und vom Magierrat ersetzt.«

»Und Jens hat also vor, dieses Komitee wieder aufleben zu lassen?«, fragte Beate. »Das klingt ja völlig wahnsinnig. Wie haben die Leute darauf reagiert?«

»Das ist schwer zu sagen«, antwortete Kamille. »Die meisten haben Beifall geklatscht. Dann passierte das mit Victoria und wir sind rausgestürmt. Habt ihr Jens eigentlich zuletzt schon mal davon sprechen hören?«

Thorbjørn und Lisa wechselten Blicke. »Wir haben überhaupt nichts mehr von ihm gehört. Dabei müsste die Planung für das nächste Schuljahr längst im Gange sein«, sagte Lisa. »Wir haben schon überlegt, ob er versucht, uns kaltzustellen. Und nach dem, was ich heute Abend erfahren habe, bin ich mir fast sicher, dass er unsere Einmischung nicht wünscht.«

»Etwas daran verstehe ich nicht«, sagte Thorbjørn, der in seine eigenen Gedanken versunken dagesessen hatte. »Kirstines Runenbeschwörung. Die war zweifellos gewaltig«, fuhr er fort, »und Kirstine ist eine sehr mächtige Runenmagierin. Ich würde behaupten, dass die Beschwörung jeden anderen auf der Stelle umgehauen hätte. Aber Jens schien sie überhaupt nichts auszumachen, sie durchbrach nicht einmal seinen Angriff auf Victoria.«

»Worauf willst du hinaus?« Es war Kamilles Mutter, die das fragte.

Thorbjørn runzelte die Stirn. »Jens ist ein guter Magier, aber das ist so einfach nicht möglich. Es ist gerade irgendetwas im Gange, das wir noch nicht durchschaut haben.«

»Das sehe ich auch so«, sagte Lisa. »Ihr werdet das alles für euch behalten, bis wir herausgefunden haben, wozu Jens imstande ist und welche Pläne er hat. Ich fürchte außerdem, dass er recht hat mit seiner Aussage euch gegenüber. Solange er nicht gesteht, besitzt ihr keine Beweise, die stark genug sind, um vor Gericht standzuhalten.«

»Dann müssen wir ihn zu einem Geständnis zwingen«, sagte Kamille.

Victoria schloss die Augen. Ihr Kopf pochte so sehr, dass ihr übel wurde. Doch sie wusste, dass Kamille recht hatte. Sie mussten eine Möglichkeit finden, Jens zu zwingen, den Mord an Trine zu gestehen. Denn freiwillig würde er das niemals tun.

5. Juli 04 Uhr 30

Kamille

»Bitte.« Kamilles Mutter reichte ihrer Tochter eine dampfende Tasse. Es duftete würzig nach Kräutern, Kamille und Zitronenmelisse. In der anderen Hand hielt sie ihre eigene Teetasse und unter den Arm hatte sie sich eine Häkeldecke geklemmt. Sie ließen sich nebeneinander auf der alten Bank nieder, die an der Ostseite des Hauses stand, und Kamilles Mutter breitet die Decke über ihnen aus. Der nächtliche Regen hatte sich verzogen und die Vögel hatten bereits zu zwitschern begonnen, während am Horizont die Sonne aufging. Schweigend tranken sie ihren Tee und betrachteten den Nebel, der noch über den Feldern lag. In den Tautropfen glitzerten die ersten Sonnenstrahlen, sodass das hohe Gras aussah, als schimmerten versteckte Kristalle darin.

»Willst du nicht reingehen und dich etwas hinlegen?«, fragte Kamilles Mutter.

»Ich glaube nicht, dass ich schlafen kann«, antwortete Kamille.

»Hast du Kirstine ein Schlaflager bereitet?«

Kamille nickte. Kirstine lag auf einer Matratze auf dem Boden ihres Zimmers, während Victoria auf dem Sofa im Wohnzimmer schlief. Aber sie selbst fand keine Ruhe. Und sie wusste genau, warum.

»Ich muss dir etwas sagen«, flüsterte sie.

Ihre Mutter tastete nach ihrer Hand und schaute sie an. »Ich weiß nicht, ob ich heute noch eine Offenbarung ertrage«, sagte sie leise.