Rosen & Violen - Rosenholm-Trilogie (1) - Gry Kappel Jensen - E-Book

Rosen & Violen - Rosenholm-Trilogie (1) E-Book

Gry Kappel Jensen

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Beschreibung

Victoria, Kamille, Kristine und Malou werden auf dem Rosenholm-Internat angenommen, und keine von ihnen ahnt, dass es ihr Leben für immer verändern wird. Denn schon bald stellen die recht unterschiedlichen Mädchen fest, dass Rosenholm kein gewöhnliches Gymnasium ist, sondern ein geheimnisvoller Ort, an dem Fächer wie Nordische Geschichte und Mythologie, Hexerei, Hellseherei und Magie unterrichtet werden. Eine völlig neue Welt tut sich für die vier Mädchen auf, in der sie ihre eigenen Fähigkeiten erst noch kennenlernen müssen. Doch dann werden sie in einen lange zurückliegenden Mordfall verwickelt, der sich an der Schule ereignet haben soll, mit fatalen Folgen …

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Seitenzahl: 351

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Gry Kappel Jensen

Rosen & Violen

Rosenholm-Trilogie 1

Aus dem Dänischen von Meike Blatzheim und Sarah Onkels

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Roser & Violer – Rosenholm-Trilogien 1 im Verlag Turbine, Aarhus.

 

Die Übersetzung wurde gefördert von der Danish Arts Foundation.

 

© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2023

Alle Rechte vorbehalten

ROSEROGVIOLER © Gry Kappel Jensen og Turbine, 2019

Published by agreement with Babel-Bridge Literary Agency

Übersetzung: Meike Blatzheim und Sarah Onkels

Covergestaltung: Karin Hald

Coverüberarbeitung: Svenja Sund

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03880-170-2

 

www.arctis-verlag.com

Folgt uns auf Instagram unter www.instagram.com/arctis_verlag

Prolog

Er bettet mich ins Gras. Der Himmel über mir dreht sich, wie damals, als meine Schwester und ich als Kinder zusammen spielten. Wir drehten uns und drehten uns, die Gesichter zum Himmel gereckt, die Arme nach beiden Seiten ausgestreckt, unsere Kleider bildeten einen perfekten Kreis um uns herum.

Er legt meine Arme zurecht, platziert meine Beine, breitet meine Haare aus. Er streichelt mir über die Wange, sein Mund ist ganz nah an meinem Ohr, sein Atem angenehm warm. Er singt für mich, sagt mir, dass ich hübsch bin, dass er mich liebt.

Er beugt sich über mich, eine dunkle Gestalt, die einen Schatten vor die immer noch wirbelnden Spirale des Himmels wirft. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, aber ich weiß genau, wer er ist. Ich will schreien, doch ich kann nicht. Über mir rauschen die Silberpappeln mit dem Blut in meinen Ohren um die Wette. Um mich herum blühen die Violen, und der Himmel wird schwarz.

1. TeilSommer

Rosen sind rot

Violen sind blau

Ich hab dich gern

Weiß ich genau

 

Traditionelles dänisches Liebesgedicht, im 19. Jahrhundert oft in Stammbüchern und Gedichtbänden verwendet

6. Juli 15 Uhr 45

Kirstine

Kirstine spitzte die Ohren. Nichts zu hören. Sie nahm einen tiefen Atemzug.

Entspann dich, es ist ja gar kein richtiges Stehlen.

Eigentlich war es ja ihr Brief. Der zufällig im großen, schweren Eichenschreibtisch ihres Vaters gelandet war. Dort lag er gut versteckt in der Dokumentenschublade. In der Schublade, die man abschließen konnte.

Ihre verschwitzten Finger hielten den kleinen, goldenen Schlüssel fest umklammert, den sie ganz hinten aus dem Vitrinenschrank genommen hatte, wo er immer lag.

»Kirstine, willst du Kaffee? Es ist auch noch Kuchen von gestern da.«

Als sie die Stimme ihrer Mutter hörte, zuckte sie zusammen.

»Nein, danke!«, rief sie und schloss die Tür zum Wohnzimmer. Dort gab sie sich alle Mühe, das kleine Kreuz über dem Schreibtisch zu ignorieren. Jesus sah vorwurfsvoll auf sie herab. Der Schlüssel ließ sich ohne Probleme umdrehen, doch die Schublade klemmte, also musste sie kräftig daran ruckeln, um sie aufzubekommen. Der Brief lag direkt obenauf, sie erkannte ihn sofort. Den dicken, weißen Umschlag. Der Stempel auf der Briefmarke verriet, dass der Brief bereits vor einigen Wochen verschickt worden war. Mit ihrem Namen drauf. Kirstine Marie Jensen. Und dennoch lag er weggesperrt in einer Schreibtischschublade. Und dennoch hatte jemand anderes den Umschlag geöffnet und den Inhalt gelesen. Sie schnappte sich den Brief und steckte ihn in die Tasche.

Von der Küche her erklangen Schritte, und die Wohnzimmertür schwang auf. Blitzschnell schob sie die Schublade zu.

»Hier bist du! Komm doch raus zu uns in den Garten. Die Sonne scheint!« Ein flüchtiger Blick wanderte über Kirstines Gesicht und Oberkörper. Suchte ihre Mutter etwas? Ihr Herz klopfte wie wild.

»Nein, danke. Ich glaube, ich drehe lieber eine Runde mit dem Rad.«

»Na gut. Solange du zum Abendessen wieder hier bist …«

Kirstine nickte und zwängte sich an ihrer Mutter vorbei nach draußen. Den kleinen Schlüssel immer noch in der Hand, schloss sie das Fahrrad auf. Sie spürte den Brief deutlich in ihrer Hosentasche. Wenn ihre Eltern heute Abend im Bett waren, musste sie beides wieder zurücklegen.

Als sie das Rad durchs Gartentor schob, stand plötzlich ihre Mutter vorne an der Straße und wartete auf sie. Sie musste durch die Haustür gegangen sein.

»Kirstine, warst du etwa an Papas Schreibtisch?«

6. Juli 16 Uhr 05

Kirstine

Der Westwind peitschte ihr ins Gesicht. Sie trat so fest in die Pedale, dass ihre Oberschenkel brannten und die Knie wehtaten.

Sie hatte ihre Mutter angeschrien. Das tat sie sonst nie. So laut, dass es die Nachbarn gehört haben mussten, aber das war ihr egal. Es war ihr Brief. Sie hätten ihn ihr geben müssen. Sie hatten kein Recht, ihn zu verstecken. Und jetzt war sie von all dem abgehauen.

Kirstine bog nach rechts ab und fuhr auf den Wald zu. Das letzte Stück musste sie stehend treten. An der kleinen, weißen Kirche angekommen, warf sie das Fahrrad gegen die uralte, moosbewachsene Steinmauer, die das Gebäude umgab. Dann ging sie an der Kirche vorbei weiter in den Wald. Oben in den Baumwipfeln rauschte der Wind, doch hier unten zwischen den Stämmen war es ruhig. Hier roch es nach Fichtennadeln, welken Blättern, Moos, Wasser, Erde. Sie folgte dem Pfad ein kurzes Stück, verschwand dann aber zwischen den Bäumen, um ihren eigenen Weg zu nehmen, den selbst die Pilzsammler nicht kannten. Es war ein verregneter Sommer, heute aber herrschte klarer Himmel, die Sonne schien zwischen den sattgrünen Ästen hindurch. Als sie in eine Kuhle trat, drang Wasser durch eine dicke Schicht Moos an ihre Füße. Rasch zog sie die Sandalen aus und setzte ihren Weg barfuß fort. Es war eigenartig, über das Moos des Waldes zu gehen und gleichzeitig die eisige Kälte des Regenwassers an den nackten Füßen zu spüren. Ihre Mutter hatte richtig erschrocken ausgesehen, als Kirstine sie angeschrien hatte. Nein, nicht erschrocken. Angsterfüllt.

Der kleine Hügel lag mitten auf einer Lichtung, wo Heidekraut blühte und im Spätsommer Pfifferlinge wuchsen. Oben auf der Spitze standen fünf Findlinge, die teilweise umgefallen und viele hundert Jahre alt waren. Niemand wusste mehr, wozu sie einmal gedient hatten. Kirstine ließ sich auf dem größten von ihnen nieder, der fast gänzlich von Heidekraut und Gras überwachsen war. Sie zog den Umschlag hervor. Vor einigen Wochen hatte der Brief zwischen Werbeprospekten und Gratis-Zeitungen im Briefkasten gesteckt. Zunächst hatte Kirstine sich nichts weiter dabei gedacht, doch als ihre Mutter den Brief hastig vom Küchentisch geschnappt und den Poststapel außer Reichweite gebracht hatte, war ihr in den Sinn gekommen, dass er vielleicht für sie bestimmt war. Sie öffnete den Umschlag und faltete den Brief auf. Das Papier war dick und so grob, dass sie die Struktur zwischen den Fingern fühlen konnte. Oben war eine Art Logo eingeprägt, ein Kreis mit einer Rose in der Mitte. Auf dem Umschlag stand in Goldbuchstaben: Internat Rosenholm.

 

17. Juni, Internat Rosenholm

 

Liebe Kirstine Marie Jensen,

 

die Schulleitung und das Kollegium des Internats Rosenholm laden dich herzlich zu einem Informationstreffen ein. Bei dieser Gelegenheit werden wir eingehend über unsere Schule für Jugendliche mit außergewöhnlichen Begabungen berichten sowie dir einen Platz für das kommende Schuljahr anbieten.

 

Das Internat Rosenholm liegt auf Seeland im Osten Dänemarks inmitten herrlichster Natur. Es verfügt über eine lange, glorreiche Geschichte und hat sich auf die Ausbildung junger Menschen mit vielen unterschiedlichen Talenten spezialisiert. Die Schule beherbergt ca. 300 Schülerinnen und Schüler, die während der dreijährigen Ausbildung gemeinsam auf dem Campus wohnen. Der Besuch der Schule ist kostenlos, und der Abschluss entspricht dem Abitur.

 

Wir freuen uns, dich bei dem Treffen am 7. Juli um 10 Uhr begrüßen zu dürfen. Bitte beachte, dass Eltern bei dem Treffen ausdrücklich nicht erwünscht sind.

Anschrift und Anreisemöglichkeiten mit öffentlichen Verkehrsmitteln kannst du dem beigefügten Informationsblatt entnehmen.

 

Wir freuen uns darauf, dich kennenzulernen.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Birgit Lund

Schulleiterin

 

Es kostete sie eine gefühlte Ewigkeit, sich durch den Brief zu kämpfen. Immer wieder ließ sie ihre Augen über die Worte gleiten … Jugendliche mit außergewöhnlichen Begabungen … Äh, wie bitte? Kirstine wusste ganz zweifellos, dass diese Umschreibung nicht auf sie zutraf. Nach jahrelangen Problemen in der Schule konnte sie das mit ziemlicher Sicherheit sagen. Egal ob Förderunterricht, Besuche beim Schulpsychologen, Lehrergespräche, die LRS-Tests – es war die reinste Katastrophe gewesen, und alle schienen sich inzwischen damit abgefunden zu haben. Für kurze Zeit hatte sie es sogar auf dem Gymnasium versucht, doch das war gründlich in die Hose gegangen. Mittlerweile ging sie überhaupt nicht mehr zur Schule und hielt sich mit einem Job als Reinigungskraft im Pflegeheim über Wasser. Na ja, und da waren auch noch die Aktivitäten in der Kirche, zu denen ihre Eltern sie mitschleiften. Kurzum, sie war gerade achtzehn Jahre alt geworden und hatte absolut keine Ahnung, was sie mit sich und ihrem Leben anstellen sollte.

Kirstine strich mit dem Finger über die schöne goldene Prägung auf dem Umschlag. Wäre sie sich nicht so sicher gewesen, dass niemand ihretwegen eine solche Mühe auf sich nähme – sie hätte es für einen Scherz gehalten. Aber nein … Sie hatte das Sich-unsichtbar-Machen inzwischen perfektioniert. Sie wurde nicht gemobbt, sie wurde übersehen.

Sie checkte das Datum noch einmal. Das Infotreffen sollte bereits morgen stattfinden. Vergiss es. Das klappt nie im Leben.

Ihre Eltern würden es ihr niemals erlauben. Sie durfte ja nicht einmal auf die Partys ihrer alten Klasse gehen. Und dann sollten sie ihr gestatten, zu einem Treffen in irgendeiner Schule auf Seeland zu fahren? No way. Sonst hätten sie den Brief ja auch nicht vor ihr versteckt.

Kirstine legte sich mitten im Steinkreis auf den Waldboden. So blieb sie liegen, bis es sich im ganzen Körper so anfühlte, als ob alles sich drehte. Wie jedes Mal. Eine kribbelnde Wärme breitete sich in ihr aus, bis sie fast das Gefühl hatte, vom Boden abzuheben und den weißen Wolken, die über den blauen Sommerhimmel zogen, entgegenzuschweben. Mit den Wolken verschwand auch der Zorn, hier im Wald tankte sie Kraft. Niemand wusste davon, schon gar nicht ihre Eltern, die hätten das niemals verstanden. Nein, Kirstine, das wäre absoluter Wahnsinn. Denk nicht einmal dran … Aber es war ihr egal. Wenn sie hier war, hatte sie das Gefühl, sie könne reisen wohin sie wolle. Und den Körper dabei wie eine leere Hülle auf dem Waldboden zurücklassen.

Ihre Gedanken kreisten immer wieder um den mysteriösen Brief. Vielleicht sollte sie ihren Eltern einfach sagen, wie sie sich fühlte und worüber sie nachdachte, wovor sie Angst hatte, was sie sich wünschte. Einfach alles erklären. Vielleicht hätten sie ja doch Verständnis und würden sie unterstützen, sie in den Zug setzen und sich freuen, dass sie endlich auf eigenen Beinen stand. Ja, genau so würde sie es machen – abgesehen vom Erzählen vielleicht.

Kirstine atmete ein paar Mal tief durch, bis sie das Gefühl hatte, zurück in ihrem Körper zu sein. Dann nahm sie ihr Handy hervor und suchte nach Zugverbindungen von Jütland nach Seeland.

7. Juli 03 Uhr 23

Victoria

Schau mich an …

»Nein!«

Victoria schnappte nach Luft. Das war nur ein Traum, ein Traum. Atme, Victoria, atme …

Kerzengerade saß sie im Bett, die Arme um den Körper geschlungen. Langsam gewann sie die Kontrolle über ihre Atmung zurück, doch beim Gedanken an den Traum lief es ihr eiskalt über den Rücken. Durch die weißen Vorhänge, die im Wind vor den offenen Fenstern flatterten, drang diffuses Mondlicht, in dem sich der Traumfänger über ihrem Bett langsam im Kreis drehte. Victorias Blick folgte seinen Bewegungen. Er war hier, um sie zu beschützen.

Wieder einmal hatte sie von den weißen Schatten geträumt, doch diesmal war es anders gewesen als sonst. Einer von ihnen hatte sich halb über sie gebeugt, war ganz nah herangekommen. Viel zu nah.

Obwohl sie die Bettdecke um sich wickelte, wollte die Kälte nicht weichen, und Victoria zitterte immer noch, als sie nach unten ging, um sich eine Tasse Tee zu machen. Im Haus herrschte Stille. Die Zwillinge schliefen ein Stück weiter den Flur hinunter.

Trotz all der Zimmer, die es in dem großen Haus gab, bestanden sie darauf, sich eins zu teilen. Das Au-pair schlief im Keller, und das Schlafzimmer der Eltern befand sich im gegenüberliegenden Teil des Hauses. Jetzt hör schon auf, hier ist niemand.

Victoria schaltete das Licht in der Küche ein, den Blick fest auf die Arbeitsfläche gerichtet, um den Anblick ihres Spiegelbilds in der Fensterscheibe zu vermeiden – wie immer, wenn es draußen dunkel war. Sie goss direkt vom Hahn heißes Wasser über den Teebeutel und zählte die Sekunden, bis der Tee fertig gezogen war. Es ist niemand hier, niemand wird dir etwas tun.

Sie zuckte zusammen, als sie dennoch versehentlich einen Blick auf ihr verzerrtes Spiegelbild erhaschte. Hinter ihr war deutlich der weiße Schatten zu erkennen. Sie schloss die Augen. Face your fears …

Langsam drehte sie sich um, die Augen immer noch geschlossen. Mit einem Ruck öffnete Victoria sie. Siehst du, niemand da. Du bist allein. Jedenfalls sagte sie sich das. Denn in Wahrheit war Victoria niemals ganz allein.

7. Juli 04 Uhr 30

Kirstine

Langsam wurde es hell. Kirstine stellte sich vor, wie die Vögel vor den Fenstern gerade um die Wette zwitscherten. Hier drinnen im Zug hörte man einzig und allein das monotone Rattern des Motors und das metallene Klackern der Räder auf den Schienen. Ihr Magen fühlte sich an wie ein einziger großer Knoten, ihr Hals war wie zugeschnürt, und es war unmöglich richtig zu atmen, so sehr sie sich auch bemühte. Was war eigentlich in sie gefahren? Sich mitten in der Nacht einfach aus dem Staub zu machen – wer bitte tat so etwas? Sie anscheinend.

Der Zug war nicht sehr voll. Schräg gegenüber saß ein junger Mann und schlief, den Kopf gegen den Sitz gelehnt. Er hatte rötliches Haar, das ihm zerzaust in die Stirn hing. Seine helle Haut war auf den Wangen und dem Nasenrücken voller Sommersprossen. Er war älter als Kirstine, jedoch konnte sie nur schwer sagen, wie viel. Irgendwo auf dem Weg durch Jütland war er eingestiegen, hatte sich auf seinen Platz fallen lassen und war auf der Stelle eingeschlafen. Sie selbst war viel zu aufgedreht, um zu schlafen. Der junge Mann rührte sich im Schlaf. Sie wandte erschrocken den Blick ab und drehte sich stattdessen zum Fenster, wo sie die Stirn gegen die kalte Scheibe presste. Nun war es fast hell.

Knapp zwanzig Minuten vor Sorø zog Kirstine die Jacke an, machte ihre Tasche zu und nahm sie auf den Schoß. Immer und immer wieder hatte sie sich die Reiseroute angesehen, sich jeden einzelnen Halt eingeprägt. Sie wollte vorbereitet sein, falls die Lautsprecher nicht funktionierten und sie die Orte und Haltestellen einzig und allein der Zuganzeige, die die Namen in flimmernden Buchstaben anzeigte, entnehmen müsste.

»Nächster Halt Sorø!«

Sie stand abrupt auf und schob sich vorsichtig an den Leuten vorbei, die auf Fünen zugestiegen waren, bemüht, niemandem auf die Füße zu treten. Der junge Mann schlief immer noch. Als sie genau vor ihm stand, fuhr der Zug durch eine Kurve, und sie stieß mit einem Bein gegen sein Knie.

»Was?«, stieß er aus und blickte schläfrig auf, als hätte er keine Ahnung, wo er sich befand. »Ist das Sorø?«

Sie brachte kein Wort heraus, doch zum Glück gelang es ihr, zu nicken.

»Oh, danke«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durch das soeben noch zerzauste Haar, dann schnappte er seine Jacke, sprang vom Sitz auf und ging mit eiligen Schritten auf die Türen zu, die sich in diesem Moment zum Bahnsteig hin öffneten.

»Halt!« Die Stimme blieb ihr im Hals stecken, und es war unmöglich, lauter zu rufen. »Ihre Tasche!«

Draußen auf dem Bahnsteig holte sie den jungen Mann schließlich ein, der strammen Schrittes davoneilte.

»Ihre Tasche!« Verlegen hielt sie ihm die braune Umhängetasche aus Leder hin. »Die haben Sie im Zug vergessen.«

»Ach, verdammt. Das wäre echt doof gewesen, vielen Dank.« Er lächelte und schien erleichtert und verlegen zugleich. Jetzt, da er wach war, wirkte er doch ein ganzes Stück älter als sie.

»Ja, vielen Dank jedenfalls«, wiederholte er mit einem schiefen Lächeln. »Du willst auch nach Sorø?«

»Ja«, antwortete sie, bemüht, nicht zu leise zu sprechen. »Eigentlich will ich mit dem Bus weiter.«

»Ich auch, die Busse fahren da vorne ab«, sagte er und wies mit einer sorglosen Armbewegung in die Richtung. Über ihnen war der Himmel klar, und um sie herum sangen die Vögel ihr Morgenlied.

»Welchen nimmst du?«, wollte er wissen, als sie die Reihe blauer Haltestellenschilder erreichten.

»Die 14, glaube ich«, sagte sie, obwohl sie die Nummer mit Sicherheit bis an ihr Lebensende behalten würde, nachdem sie die Reiseroute bis zur Perfektion gepaukt hatte.

»Die 14? Wie lustig. Die nehm ich auch. Obwohl, irgendwie keine Überraschung. Um die Uhrzeit steigt eigentlich niemand in Sorø aus, wenn man nicht nach … Bist du etwa auch auf dem Weg nach Rosenholm?«

Kirstine nickte. »Ja, für ein Treffen.«

Die Augen des jungen Mannes wanderten über ihr Gesicht, als ob er etwas Bestimmtes suchte.

»Na ja, ich weiß, dass sie zu wenig Leute haben. Dann stelle ich mich besser mal vor: Jakob.« Er streckte ihr die Hand entgegen und drückte kräftig zu. »Ich mache dort Nordisch.«

Sie beließ es bei einem weiteren Nicken. Bei ihm klang es, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt und sie dachte nicht daran, ihm durch weiteres Nachfragen ihre Unwissenheit zu offenbaren.

»Aber jetzt ist es erst halb sieben, und der Bus fährt um acht«, stellte Jakob mit einem Blick auf die alte, zerkratzte Armbanduhr an seinem Handgelenk fest. »Komm, wir setzen uns hin.« Er zeigte auf einen Unterstand, etwa zehn Meter entfernt. Die Haltestelle war menschenleer, nur ein einziger Bus hielt mit laufendem Motor und dem Wort Betriebsfahrt in grellgelber Anzeige über der Windschutzscheibe. Kirstine konnte sich nicht daran erinnern, jemals zuvor auf Seeland gewesen zu sein, dennoch kam ihr alles sehr vertraut vor. Vielleicht war es das, was sie dazu ermutigte, ein Gespräch zu beginnen. Oder vielleicht lag es auch daran, dass sie Jakob zunächst hatte schlafen und dann verwirrt aus dem Zug springen sehen, was alles andere als einschüchternd gewirkt hatte.

»Kommst du aus Jütland?«, fragte sie.

»Nein, aber meine Eltern wohnen in Skanderborg. Die Verbindung ist furchtbar, oder? Es dauert fast die ganze Nacht, bis man hier ist.«

»Ich bin zum ersten Mal hier«, gab sie zu, als sie sich auf die Bank setzten.

Jakob drehte ihr überrascht das Gesicht zu. »Ach, echt? Du bist noch nie in Rosenholm gewesen?«

Kirstine schüttelte den Kopf. Hatte sie jetzt doch etwas Dummes gesagt?

»Also bist du im Ausland zur Schule gegangen?«

»Nein, nur in Thy.«

Über diese Antwort musste er lachen. Sie lachte mit, obwohl sie es überhaupt nicht lustig gemeint hatte.

»Das sieht man«, sagte er und es schien nicht so, als hielte er sie für dämlich, sondern eher, als hätte er ihre Antwort für einen Witz gehalten.

Eine Weile schwiegen sie. Die Luft war kühl auf ihren Wangen. Einen wolkenlosen Himmel hatte es diesen Sommer nicht oft gegeben, doch heute war er klar und der Morgen kalt. Kirstine fröstelte in ihrer dünnen Sommerjacke und bereute, sich nicht dicker angezogen zu haben.

»Ah, warte.« Jakob beugte sich zu seiner Tasche hinab und machte den Reißverschluss auf. »Ich müsste ihn hier irgendwo haben.«

Er reichte ihr einen karierten Wollschal.

»Was für ein Sommer, oder?«, sagte er und forderte sie mit einem Nicken auf, den Schal entgegenzunehmen. Er selbst trug einen kurzen, dunklen Wollmantel, obwohl Hochsommer war. Sie nahm den Schal an und wickelte ihn behutsam um den Hals. Er duftete leicht nach Holz und Kaminrauch. Der Bus, der den Motor angelassen hatte, änderte die Anzeige zu einer Nummer und tuckerte langsam zu einer der Haltestellen.

»Mach dir keinen Kopf wegen heute«, sagte Jakob, den Blick auf den Bus geheftet. »Die sind echt nett an der Schule. Vielleicht ein bisschen altmodisch. Birgit, die Schuldirektorin, wirkt zwar ziemlich streng, ist aber voll korrekt. Sie hat mir schon viel geholfen. Und wegen des Alters, da mach dir mal keine Sorgen.« Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu, der ihr die Hitze in die Wangen trieb. Wie peinlich! Natürlich war ihm aufgefallen, dass sie eigentlich viel zu alt war, um erst jetzt in die Oberstufe zu kommen.

»Hey«, sagte er, als hätte er ihre Verlegenheit wahrgenommen. »Mich haben sie doch auch genommen, oder?« Er zwinkerte ihr zu, und sie konnte fühlen, wie sich ihre Lippen zu einem Lächeln formten. Mit etwas mehr Mut hätte sie gefragt, in welcher Klasse er war. Aber es stimmte schon, er selbst schien auch älter zu sein als ein gewöhnlicher Oberstufenschüler, selbst wenn er dieses Jahr seinen Abschluss machen würde.

Der Bus wartete nicht länger auf Fahrgäste und fuhr davon.

»Es ist ganz schön ruhig hier, oder?«, fragte sie, im Grunde ohne mit einer Antwort zu rechnen.

»Ruhig? Vollkommen ausgestorben trifft’s wohl eher.« In Jakobs Stimme schwang ein Hauch von Weltuntergangsstimmung mit.

Kirstine musste erneut lächeln. »Das macht mir nichts aus, ich bin’s gewohnt.«

»Wohnst du noch zu Hause? In Thy, oder wo war das noch?«, fragte er, und sie nickte.

»Dann drücken dir deine Eltern zu Hause sicher gerade die Daumen?«

»Nein. Die wissen nicht einmal, dass ich hier bin.«

»Echt? Oh«, sagte Jakob daraufhin nur.

»Es ist alles ein wenig kompliziert. Sie sind sehr streng. Also, weil … sie … wir … – meine Familie, also – ist sehr christlich«, stammelte sie und wurde dabei rot. Was tat sie da? Weshalb erzählte sie das einem Wildfremden?

»Okay, verdammt. So sektenmäßig, oder was?«, fragte Jakob und sah sie besorgt an.

»Nein«, entgegnete sie und fing an zu lachen. »Innere Mission, falls du davon schon mal gehört hast?«

»Nee, sorry. Meine Familie hat mit dem Christentum eigentlich nicht viel am Hut. Aber … das führt sicherlich zu ’ner Menge Problemen bei – na ja, allem?« Es klang so, als wüsste er überhaupt nicht, wovon er sprach.

Sie zuckte mit den Schultern. »Tja, als ich klein war, habe ich nie darüber nachgedacht.«

»Nein, natürlich nicht. Hey, irgendwo hier stand mal ein Automat, an dem man so eine wiiinzige Menge Kaffee in einem Plastikbecher bekam. Sollen wir mal gucken, ob der noch geht? Oder trinkt man keinen Kaffee in so einer dubiosen Sekte in Thy?«

Kirstine lachte und erhob sich, um ihn zu begleiten. Wenn du nur wüsstest.

7. Juli 06 Uhr 30

Kamille

Ausnahmsweise war ihre Mutter vor ihr aufgestanden. Sie klapperte in der Küche herum. In mindestens einer Schüssel wurde gerührt, etwas fiel um, ihre Mutter fluchte, und die Pfanne zischte auf dem Gasherd. Hoffentlich setzt sich Mama nicht aus Versehen selbst in Brand.

Kamille schlich aus ihrem Zimmer ins Bad. Der Boden unter ihren nackten Zehen fühlte sich kalt an, selbst im Sommer war das alte Haus fußkalt.

Nach dem Duschen wickelte sie sich in ein Handtuch und ging zurück in ihr Zimmer. Den Geräuschen nach zu urteilen, war ihre Mutter immer noch mit irgendetwas beschäftigt, der Lärm kam jetzt auch aus dem Wohnzimmer.

Kamille öffnete die knarzenden Türen des alten Kleiderschranks und warf einen Blick hinein. Sie wollte auf keinen Fall overdressed sein, aber es war schon ein besonderer Tag. Vielleicht ein Sommerkleid? Immerhin war Sommer, auch wenn er sich in den letzten Monaten nicht von seiner besten Seite präsentiert hatte. Sie schnappte sich zwei Bügel und ging ins Wohnzimmer.

»Mama, was meinst du, welches davon soll ich anziehen?«

Kamilles Mutter war gerade dabei, einen Strauß bunter Rosen aus dem Garten in eine Vase zu stellen. Die roten Haare hatte sie zu einem unordentlichen Dutt hochgesteckt. Sie trug eine Schlafanzughose, einen weiten Wollpulli und darüber eine Schürze. Ein Feuer loderte im Ofen und auf dem kleinen Tisch, den die Mutter für zwei gedeckt hatte, standen Teelichter.

»Oh, wie hübsch, aber meinst du nicht, dass das ein bisschen übertrieben ist?«

»Kein bisschen. Pass mal auf, ich backe Pfannkuchen mit massig Sirup drauf. Und nimm das grüne Kleid, das hat den perfekten Schnitt für dich.«

Kamille zuckte mit den Schultern und schlüpfte in das grüne Kleid.

»Siehst du?«, sagte ihre Mutter und zog ihr den Reißverschluss am Rücken hoch. »Du hast eine tolle Figur. Wie eine Sanduhr. Da kann Marilyn Monroe einpacken!«

Kamille verdrehte die Augen. Was ihre Mutter Sanduhr-Figur nannte, hatten die gemeinsten Mädchen aus ihrer alten Klasse als fett bezeichnet. Aber wenn heute alles gut ging, musste sie sich darum keine Sorgen mehr machen. Sie würde neue Mitschülerinnen und Mitschüler bekommen. Nette hoffentlich!

»Lass dich mal anschauen!«, sagte ihre Mutter und drehte ihre Tochter zu sich herum. »Du bist so hübsch, mein Schatz. Soll ich dir die Haare flechten? Komm, setz dich. Ich hab dir einen ganz besonderen Tee gemacht. Der passt perfekt zum heutigen Tag.« Sie ging in die Küche und kam mit einer dampfenden Tasse von der Größe einer kleinen Waschschüssel zurück.

»Zitronenmelisse ist gut gegen Unruhe und Nervosität und Salbei hilft bei Verdauungsbeschwerden und Blähungen. An so einem Tag kann man das wirklich gar nicht brauchen, pffffff!« Ihre Mutter machte den Furzlaut erstaunlich naturgetreu nach.

»Mama!«, beschwerte sich Kamille, konnte sich ein Grinsen aber doch nicht verkneifen.

»Außerdem ist jede Menge Kamille drin. Und Honig, natürlich auch richtig viel Honig.«

»Danke, dann kann ja nichts mehr schiefgehen.«

Kamille ließ zu, dass ihre Mutter sie auf einen Stuhl schob und ihre roten Haare bürstete, bis die in der Wärme des Ofens beinahe getrocknet waren. Sie genoss die schnellen, aber dennoch sanften Bürstenstriche, so hatte ihre Mutter ihr schon immer die Haare gemacht. Ab und zu knackte ein Holzscheit im Ofen und im kleinen Wohnzimmer duftete es herrlich nach Feuer und den Kräutern, die überall in Bündeln zum Trocknen hingen.

»Machst du mir einen französischen Zopf?«, fragte Kamille.

»Mhm«, murmelte ihre Mutter konzentriert. »Halt still.«

Als der Zopf fertig war, servierte ihre Mutter einen großen Berg unterschiedlich großer Pfannkuchen.

»Bitte schön, nimm dir Löwenzahnsirup dazu.«

»Willst du keine?«

»Doch, später. Aber jetzt möchte ich lieber meiner großen Tochter beim Essen zuschauen. Wo sind bloß all die Jahre hin? Auf einmal bist du erwachsen geworden.«

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Kamille, den Mund voller Pfannkuchen. »Ich bin doch nicht erwachsen, bloß weil ich heute von zu Hause ausziehe. Außerdem ist noch nicht mal sicher, dass sie mich überhaupt haben wollen.«

»Natürlich wollen sie dich, Millchen«, sagte ihre Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich habe nie auch nur das kleinste bisschen daran gezweifelt, dass du hast, was es dazu braucht.«

»Äh, danke, aber mach mal langsam. Manchmal ist das alles ein wenig … viel.«

»Viel?«

»Ja, so wie damals, als du die Mädchen aus meiner Klasse zu meinem Menstruationsfest eingeladen hast.«

»Was?« Kamilles Mutter verzog ihr Gesicht in gespielter Überraschung.

»Boah, Mama, komm schon! Natürlich kannst du dich daran erinnern.«

Unter den vielen, vielen peinlichen Ereignissen in Kamilles Leben war das Menstruationsfest das peinlichste überhaupt gewesen. Ihre Mutter hatte acht Mädchen aus ihrer Klasse eingeladen, um mit ihnen zu feiern, dass Kamille ihre Tage bekommen hatte. Sie hatte die Kaffeetafel auf dem dicken Flickenteppich auf dem Wohnzimmerboden gedeckt und Wasser mit rotem Sirup (eine unglückliche Farbwahl), Schokoladenkuchen und Kräutertee gegen Blähungen und Menstruationsschmerzen serviert. Keines der anderen Mädchen hatte damals schon seine Periode gehabt. Sie hockten mucksmäuschenstill auf dem Teppich und starrten Kamilles Mutter mit großen, runden Augen an, während diese, in ein sonnengelbes Kleid mit flatterndem Rock gehüllt, eine feierliche Rede über die Mondphasen und den weiblichen Zyklus hielt. Als sie sich auch noch eine Trommel schnappte und einen Ehrengesang auf die Frau und die Natur anstimmte, glaubte Kamille, jeden Moment vor Peinlichkeit auf dem Teppich sterben zu müssen.

»Hinterher haben die anderen Eltern angerufen und sich beschwert. Sie wollten nicht mehr, dass ihre Töchter zu uns kommen.«

Kamilles Mutter legte den Kopf in den Nacken und lachte so sehr, dass ihr Busen hüpfte. »Es war genau genommen nur eins der Mädchen, das dich nicht mehr besuchen durfte. Die mit den dünnen Haaren. Das war doch nur, weil ich so stolz auf dich war«, sagte sie.

»Gut, lass uns abwarten, wie es läuft«, lenkte Kamille ab. »Ich wünschte, ich hätte mich besser vorbereiten können. Kannst du mir nicht wenigstens ein bisschen darüber verraten, was mich heute erwartet?«

»Tut mir leid, aber das verstößt gegen die Regeln«, sagte ihre Mutter und zog die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Außerdem hat sich seit damals bestimmt eine Menge verändert. Iss jetzt auf, wir müssen los.«

Kamille seufzte tief und stand auf, um ihre Tasche zu packen. Sie wusste, dass betteln nicht half, das zog bei ihrer Mutter nicht. Diese Frau war stur wie ein Esel.

»Hier, nimm meine gute Strickjacke, es ist ziemlich frisch draußen. Die mit den Silberknöpfen, die Oma gestrickt hat.« Kamille nahm die Jacke entgegen. Selbst hatte ihre Mutter einen Wollponcho über den Pullover gezogen und war mit den nackten Füßen in ein Paar neongrüne Crocs geschlüpft. »Hast du deine Tasche? Dann lass uns aufbrechen.«

Der schnellste Weg zur Landstraße verlief am Feldrand entlang und dann am alten Friedhof vorbei, aber nach so viel Regen wie in den letzten Tagen war das eher ein Untergrund für Gummistiefel. Deshalb beschlossen sie, heute den Schotterweg zu nehmen.

»Im Brief stand, dass Eltern nicht mitkommen dürfen«, sagte Kamille.

»Das weiß ich doch, mein Schatz, ich bringe dich nur bis zum Bus. Keine Sorge, ich habe nicht vor, peinlich zu sein«, sagte ihre Mutter und zwinkerte Kamille zu, während sie sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr schob. Weiße Strähnen zeigten sich in ihren roten Haaren. Es stimmte tatsächlich, dass die Zeit verging.

Sie verließen das Haus durch die Küchentür, und obwohl sie beide nicht besonders groß waren, mussten sie die Köpfe einziehen, um nicht gegen den Türrahmen zu stoßen. Es war eine alte Stalltür, und das Schloss funktionierte nicht richtig. »Das macht nichts«, sagte Kamilles Mutter immer. »Zu uns hier draußen verirrt sich eh niemand, der nicht eingeladen ist.«

Kamille hielt kurz inne und ließ die Augen über das alte Fachwerkhaus schweifen, in dem sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Das Reetdach musste dringend erneuert werden, es gab mehrere Stellen, an denen es löchrig war.

»Komm.« Kamilles Mutter hängte sich bei ihr ein. So gingen sie über den Hof, während eine rote Katze beleidigt hinter ihnen her miaute. »Du musst warten, Mismis«, rief die Mutter. »Wir müssen den Bus bekommen.«

Sie gingen den Schotterweg entlang, bogen dann auf einen etwas größeren, asphaltierten Weg ein, der im Einklang mit den sanft schwingenden Hügeln auf und ab durch die Landschaft führte. Die Sonne hatte noch keine Kraft und über der Ebene lag Nebel wie ein magischer Schleier, der Geheimnisse verbarg. Unterwegs konnten sie den großen Grabhügel sehen, auf dem fünf mächtige, uralte Eichen thronten, in Sicherheit vor den hunderten von Bauern, die das Land rund um den Grabhügel gepflügt hatten, seit dort Bäume gepflanzt worden waren.

Als sie die Straße erreichten, blieben sie an deren Rand stehen. Es gab hier keine Haltestelle, aber der Busfahrer hielt trotzdem, wenn er jemanden dort stehen sah. Während sie warteten, stieg die Sonne höher und ihre Strahlen wärmten die Erde, so dass zu dampfen begann.

»Viel Glück«, sagte ihre Mutter, als der Bus endlich kam. Sie nahm Kamilles Hände, drückte sie und sah plötzlich ernst aus. »Und Kamille? Du passt gut auf dich auf, ja?«

»Na klar«, sagte Kamille und nahm ihre Mutter ein letztes Mal in den Arm. »Mach dir keine Sorgen, es ist doch nur eine Schule. Also, was soll schon passieren?«

Die Mutter nickte, versuchte zu lächeln und wischte sich schnell über die Augen. Als Kamille in den Bus stieg, sich auf einen freien Platz fallen ließ und der kleinen, rundlichen Frau in den neongrünen Crocs noch einmal zuwinkte, beschlich sie das Gefühl, dass es etwas Wichtiges gab, was ihre Mutter ihr über Rosenholm verschwiegen hatte.

7. Juli 08 Uhr 41

Kirstine

Jakob atmete schwer, er schien fest zu schlafen. Kirstine spürte seinen Atem am Hals. Eine schwindelerregende Leichtigkeit erfüllte ihren Körper. Sie selbst konnte beim besten Willen nicht schlafen. Sie saß mit dem Gesicht zum Fenster und betrachtete die Landschaft. Die Sonne beschien wogende Felder, die vor lauter Grabhügeln ganz hubbelig wirkten. Es waren sicher mehr, als sie in ihrer gesamten Kindheit zusammengerechnet gesehen hatte. Das bedeutete, die Gegend hier war einst reich gewesen, nicht zuletzt an Gebeinen und Grabbeigaben.

Die Wartezeit hatten sie genutzt, um schlechten Kaffee zu trinken und zu reden. Jakob hatte ihr von dem Besuch bei seinen Eltern erzählt, und vieles von dem, was er berichtete, hatte Kirstine nicht verstanden, doch sie hatte einfach genickt und ihn erzählen lassen. Unter anderem, dass er die Erwartungen der Eltern nicht erfülle, dass sie seine Wahl nicht unterstützten – all das hatte irgendwie mit Rosenholm zu tun, aber sie hatte nicht genau verstanden, wie. Er hatte mit ihr gesprochen, als wäre sie ein normaler Mensch und kein Freak. Wie mit einer Erwachsenen und nicht wie mit der kleinen Kirstine, die nie was kapierte.

Diese Kirstine war nun Vergangenheit. Sie spürte es deutlich. Das hier war die neue Kirstine. Die laut lachte, ohne rot zu werden. Die interessiert zuhörte und mit kurzen, verständnisvollen Kommentaren bewirkte, dass man ihr all seine Sorgen anvertrauen wollte. Die im Bus saß, den Kopf eines hübschen, jungen Mannes an ihrer Schulter.

»Nächster Halt Rosenholm«, sagte der Fahrer durch, und Jakob setzte sich ruckartig auf und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

Sie traten in den herrlichsten Sonnenschein hinaus. Es war noch früh, aber nicht mehr kalt, und Jakob zog seine Jacke aus, ehe sie weitergingen. Eine Lerche schwang sich hoch über ihnen in die Luft und gab ein aufgeregtes, endlos scheinendes Trillern von sich.

»Es ist nur ein kleines Stück zu Fuß. Gleich hinter der Kurve sieht man die Schule schon«, sagte Jakob und machte eine Bewegung mit der Hand.

Rosenholm, wie schön das klang. Trotzdem hatte sie nicht so richtig gewusst, was sie sich darunter vorstellen sollte. Das jedenfalls nicht. Rosenholm war beinahe ein Schloss. Ein kleines, weißes Schloss mit uralten, roten Ziegeln auf dem Dach, vier kleinen Türmen – einem an jeder Ecke – und einer winzigen Hängebrücke, die über einen Burggraben führte. Eine lange Allee aus alten, knorrigen Kastanienbäumen verlief hinauf zur Schule, zuerst aber musste man einen großen Park durchqueren, wo gewaltige Rhododendren, hohe Silberpappeln, eine uralte Magnolie sowie eine riesige Blutbuche wuchsen und einige andere Sträucher und Bäume, die sie nicht kannte.

»Unglaublich«, sagte sie nur.

»Ein schöner Ort, oder?«, erwiderte Jakob lächelnd, beinahe so stolz, als hätte er das alles selbst erbaut.

Sie schritten über die kleine, hölzerne Hängebrücke. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie sich schließlich dem Tor näherten, das in den Schlosshof führte. Vor ihnen an der Mauer wuchs eine Kletterrose von beachtlicher Größe, die ihre altrosafarbenen Blütenblätter auf das Kopfsteinpflaster im Schlosshof verteilte. Eine Uhr hoch oben am Schulgebäude zeigte, dass es kurz vor neun war.

»Ich sollte erst um zehn Uhr hier sein«, sagte Kirstine. »Vielleicht warte ich einfach hier.«

»Ach Quatsch, komm mit. Ich stell dir Birgit vor und führe dich ein wenig herum.« Jakob öffnete eine massive, alte Tür zu einer riesigen Halle, in der eine breite Treppe nach oben führte. Nach dem Spaziergang durch den sonnendurchfluteten Park wirkte es hier drinnen durch die holzvertäfelten Wände sehr dunkel. Unter der Decke stand in verschlungenen Buchstaben: Erde, Natur, Blut, Tod.

»Ich kann auch ein gutes Wort für dich einlegen«, sagte Jakob mit einem Lächeln und zwinkerte ihr übertrieben zu, so als hätten sie irgendeinen krummen Deal geschlossen.

»Jakob Engholm!«

Eine scharfe Stimme, die im ganzen Raum widerhallte, ließ Kirstine zusammenzucken. Am oberen Ende der Treppe stand eine große Frau mit kurzem, grauem Haar und einer markanten, schwarzen Brille.

»Guten Morgen, Birgit, hier ist jemand, den ich dir vorstellen will«, rief Jakob und nahm zwei Stufen auf einmal. »Das ist Kirstine«, fügte er hinzu und wies mit der Hand auf sie, die sich noch auf halber Strecke hinter ihm befand.

Die Schulleiterin reagierte gar nicht erst, sondern hielt den Blick fest auf Jakob gerichtet.

»Was wird das denn? Du weißt doch, dass Lehrern der Kontakt zu zukünftigen Schülerinnen und Schülern strengstens verboten ist – es sei denn, sie nehmen die Prüfungen ab.«

»Aber … bist du denn nicht zum Vorstellungsgespräch hier?« Jakob sah Kirstine verwirrt an.

Vorstellungsgespräch? Nein, das nun wirklich nicht. Kirstine wollte etwas erwidern, doch beim Anblick der strengen Schulleiterin blieben ihr die Worte im Halse stecken. Sie brachte nur ein leichtes Kopfschütteln zustande.

»Heute finden keine Vorstellungsgespräche statt«, stellte die Schulleiterin klar. »Sondern die Informationsveranstaltung für zukünftige Schülerinnen. Wenn du zur Abwechslung mal deinen Taubenschlag leeren oder an den Besprechungen des Kollegiums teilnehmen würdest, wüsstest du das.« Dann wandte sie sich von Jakob ab und richtete den Blick auf Kirstine. »Stimmt doch, oder? Du hast einen Einladungsbrief zum Infotreffen erhalten?«

Kirstine nickte.

»Oh, verdammt … Wieso hast du das nicht gleich gesagt?«, sagte Jakob.

Kirstine schüttelte nur erneut mit dem Kopf. Hatte Jakob ernsthaft geglaubt, sie hätte hier an der Schule ein Vorstellungsgespräch? Unterrichtete er hier etwa?

»Ich muss das wohl falsch verstanden haben, sorry«, murmelte Jakob und vermied es, ihr in die Augen zu schauen. »Viel Glück heute«, fügte er hinzu und drehte sich ohne ein weiteres Wort um.

Die Schulleiterin seufzte missbilligend, ehe sie sich wieder Kirstine zuwandte. »Du kannst noch ein wenig vor die Tür gehen«, sagte sie. »Wenn die anderen da sind, werdet ihr abgeholt und in den Saal geführt, wo die Veranstaltung stattfindet.«

Kirstine nickte und stieg die Treppe hinab wie ein Gast, der an der Tür abgewiesen worden war. Erst draußen angekommen, fiel ihr im Sonnenschein auf, dass sie Jakobs Schal immer noch um den Hals gewickelt hatte. So viel also zur neuen Kirstine.

7. Juli 09 Uhr 47

Malou

Türme, spitze Dächer, ein fucking Wassergraben …

Kaum hatte Malou Rosenholm gesehen, war sie sich zweier Dinge sicher gewesen. Erstens wirkte das Schloss nun wirklich nicht wie ein Ort, der kein Schulgeld verlangte – die Umgebung strahlte durch und durch Wohlstand und Macht aus. Und zweitens würde sie, falls die Schule wirklich kostenlos war, ihr Bestes tun, um einen Platz zu ergattern. Das hier musste ein Eliteinternat sein.

Sie zog ihren hohen Pferdeschwanz stramm und strich ihre hellen Haare glatt, während sie das letzte Stück auf die Schule zuging.

Sie hatte keine Lust, zusammen mit jemandem zu laufen und gab sich Mühe, die Mädchen, die mit ihr im Bus gewesen waren, nicht einzuholen, aber das war gar nicht so einfach. Das Mädchen vor ihr schlenderte so langsam, als hätte sie alle Zeit der Welt. Sie war groß und schlank und trug eine einfache, weiße Bluse mit hochgekrempelten Ärmeln, sodass ihre Unterarme golden leuchteten. Ihre dunklen Haare waren kurz geschnitten, und sie trug Ledersandalen und eine Ledertasche über der Schulter. Die Kleidung wirkte superschlicht, doch Malou ließ sich nicht täuschen. Allein die Bluse des Mädchens musste mehr gekostet haben als ihr komplettes Outfit.

Malou zupfte ihr Oberteil zurecht, der weiße Stoff hob sich hübsch von ihrer braungebrannten Haut ab. Zur Abwechslung schien heute mal die Sonne und ließ sie jetzt schon in ihrem Blazer schwitzen. Sie hatte den ganzen gestrigen Abend gebraucht, um alle Etiketten zu entfernen. Jetzt würde niemand mehr darauf kommen, dass das Set von H&M war.

Sie zog die Augenbrauen zusammen. Das Mädchen trug garantiert einen nagelneuen Mac in ihrer Schultertasche. Sie sah wirklich aus wie eine, die ein vornehmes Internat besuchte. Im Gegensatz zu Malou. Aber ob das Mädchen einen genauso guten Notendurchschnitt hatte wie sie? Den hatten die wenigsten. Solche wie die da hatten nicht gelernt, für irgendwas zu kämpfen, die bekamen alles geschenkt. Solche wie die verspeiste Malou zum Frühstück.

Sie stöhnte ungeduldig und überholte das dunkelhaarige Mädchen doch, als sie den Wassergraben überquerten und den kleinen, schattigen Innenhof erreichten. Hier standen sie in einer großen Gruppe versammelt. Nur Mädchen. Gibt’s an dieser Schule keine Jungs?

Im selben Moment schlug die Uhr an der Wand gegenüber zehn, und eine große Tür öffnete sich. Eine Frau um die Fünfzig trat heraus. Sie hatte kurze, stahlgraue Haare, war ganz in Schwarz gekleidet, und ihre dunkle Brille zeichnete einen scharfen Umriss um ihre Augen. Alle Blicke richteten sich auf sie, und das leise Murmeln, das sich unter den Mädchen verbreitet hatte, verstummte.

»Willkommen in Rosenholm«, sagte die Frau mit einer Stimme, die von den hohen Mauern widerhallte. »Ich bin Birgit Lund, die Schulleiterin von Rosenholm, und möchte euch im Namen aller Lehrerinnen und Lehrer begrüßen. Wir beginnen den heutigen Tag im Festsaal der Schule.«

Der Festsaal verdiente tatsächlich die Bezeichnung Saal. Malou schätzte, dass hier gut und gerne fünfhundert Leute reinpassten. Unter der hohen Decke schwebten mehrere gigantische Kronleuchter, wie sie sie sonst nur aus Kirchen kannte. An einer Wand hing ein Gemälde von einem Typen, der an einen Wikinger erinnerte, und direkt daneben eines von einer hübschen Frau im Wald, in deren hellen Haaren sich eine Ranke verfangen hatte. Gegenüber davon hingen zwei weitere Bilder, die noch merkwürdiger waren. Auf dem einen schnitt sich ein junger Mann selbst mit dem Dolch in die Handfläche, während auf dem anderen eine bleiche Frau abgebildet war, die dem Betrachter einen Totenschädel entgegenhielt. Seltsame Wahl der Dekoration.

In der Mitte des Saals stand eine lange Reihe Tische, und an der einen Wand war ein weiterer aufgestellt worden, auf dem Kaffeekannen, hohe Glaskaraffen mit verschiedenfarbigen Säften, große Körbe mit Brötchen, verschiedene Käsesorten, Obst, Marmelade und etwas, das wie selbstgemachte Haselnusscreme aussah, warteten. Plötzlich merkte Malou, wie hungrig sie war. Auf Tischen in der Raummitte waren Namensschilder aufgestellt, und sie fand ihren Platz neben zwei dunkelhaarigen Mädchen, die bestimmt Schwestern waren, und schräg gegenüber von dem dunkelhaarigen Mädchen mit der teuren, weißen Bluse.

Nachdem sich alle am Frühstücksbuffet bedient hatten und die meisten Teller leer waren, schlug Birgit gegen ein schmales Glas, das wahrscheinlich Blutorangensaft enthielt.

»Ich hoffe, ihr seid alle satt und gestärkt«, sagte sie und hatte offensichtlich kein Problem damit, sich im großen Saal Gehör zu verschaffen. »Gleich beginnt das heutige Programm. Wir fangen mit einer Aufnahmeprüfung an, ja genau genommen mit einer ganzen Reihe von Prüfungen.«

Ein Raunen ging durch den Saal. Aufnahmeprüfungen? Malous Mund verzog sich zu einem Grinsen. Makes sense. Dies war keine Schule, in die sie jeden reinließen. Logisch, dass man beweisen musste, dass man etwas konnte. Sie richtete sich auf ihrem Stuhl auf und sah sich um. Viele der anderen Mädchen wirkten auf einmal ziemlich nervös. Aber Malous Laune besserte sich. Wenn die Plätze an dieser Schule nach den Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler vergeben wurden und nicht nach den Beziehungen ihrer Eltern oder deren Geldbeuteln, hatte sie eine echte Chance.