Gefährliche Geheimnisse einer Lady - Candace Camp - E-Book
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Gefährliche Geheimnisse einer Lady E-Book

Candace Camp

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Beschreibung

Sie wirkt wie eine echte Lady. Insgeheim aber nutzt Marianne ihre Schönheit und ihren Charme, um für eine Diebesbande günstige Gelegenheiten in Londons feiner Gesellschaft auszukundschaften. Dumm nur, dass ausgerechnet der atemberaubend attraktive Justin, Lord Lambeth sie beim Schnüffeln ertappt. Zwar verzichtet er darauf, sie anzuschwärzen allerdings folgt ihr fortan der misstrauische Blick seiner betörend blauen Augen überall hin. Obwohl Marianne sich heftig zu ihrem Bewacher hingezogen fühlt, versucht sie alles, um ihn abzuschütteln. Doch als ein mysteriöser Schatten aus ihrer Vergangenheit sie bedroht, ist Justin der Einzige, den sie um Hilfe bitten kann …

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Seitenzahl: 528

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Candace Camp

Gefährliche Geheimnisse einer Lady

IMPRESSUM

HISTORICAL GOLD EXTRA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: 040/60 09 09-361 Fax: 040/60 09 09-469 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Christel BorgesGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2000 by Candace Camp Originaltitel: „Promise Me Tomorrow“ erschienen bei: HQN Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL GOLD EXTRABand 75 - 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg Übersetzung: Claudia Heuer

Abbildungen: Harlequin Books S.A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 11/2014 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733760946

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, MYSTERY, TIFFANY

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PROLOG

Schläfrig hob das kleine Mädchen den Kopf und sah den Mann an, der ihm in der Kutsche gegenübersaß. Die Kleine blinzelte ein wenig verwirrt, doch dann verfinsterte sich ihre Miene.

„Du bist ein böser Mann.“

Der Angesprochene warf ihr einen kurzen Blick zu und seufzte. „Sei ruhig. Wir sind fast da.“

Sein Gesicht war im Zwielicht kaum auszumachen. Er war knochig und dünn und rutschte ununterbrochen ruhelos auf seinem Sitz herum. Marie Anne dachte an ihr Kindermädchen Amélie, die ihn mit Sicherheit zurechtgewiesen hätte, er solle still sitzen, wenn sie jetzt hier gewesen wäre.

„Ich will nach Hause“, klagte sie. Sie war vollkommen durcheinander. Seit Wochen schon war nichts mehr wie sonst. Sie vermisste John und ihre kleine Schwester. Aber am meisten vermisste sie Mama und Papa. Sie dachte an die Nacht, in der ihre Mutter sie zur Tür hinausgeschoben hatte und mit ihr eine dunkle, unheimliche Straße entlanggeeilt war. Sie hatte noch den Duft von Mamas Parfüm in der Nase und hörte sie sagen „Pass auf dich auf, ma chérie“. Mama hatte geweint, während sie Marie Anne fest an sich gedrückt hielt. Marie Anne hatte genau gewusst, dass die bösen Männer auf der Straße Mama zum Weinen gebracht hatten.

„Ich will bei dir bleiben!“, hatte Marie Anne geschrien und sich fest an ihre Mutter geklammert. Daraufhin hatte auch ihre kleine Schwester zu weinen angefangen und so sehr gestrampelt, dass es ihr beinahe gelungen war, sich aus den Armen von Mrs Ward herauszuwinden und zurück zu ihrer Mutter zu gelangen. Nur John hatte sich nicht gerührt.

„Chérie, wenn ich dir nur erklären könnte, was geschehen ist – ich wünschte, dass wir zusammenbleiben könnten, aber das geht nicht, du bist in Gefahr.“ Ihre wunderschöne Mutter hatte sich die Tränen aus dem Gesicht gewischt und versucht zu lächeln. „Du musst nach Hause, nach England. Zu deiner Mimi. Es wird dir dort bestimmt gefallen. Mrs Ward bringt euch hin. Du kennst doch Mrs Ward. Sie ist Mamas Freundin und wird gut auf euch aufpassen. Sie sorgt dafür, dass ihr in London zu Mimis Haus findet. Papa und ich müssen hierbleiben und Großmutter und Großvater dazu überreden, das Land auch zu verlassen. Aber sobald wir das geschafft haben, kommen wir nach. Wir sehen uns alle bei Mimi wieder.“

„Versprochen?“

„Versprochen, meine liebe Kleine, versprochen.“

„Wo ist Mama?“, fragte Marie Anne ihren Begleiter jetzt und blickte ihn vorwurfsvoll an. „Du hast gesagt, du bringst mich zu Mama.“ Sie hatte geweint und nach ihm getreten, als er sie früher am Abend plötzlich aus ihrem Bett gerissen und fortgetragen hatte. Schließlich hatte er gesagt, sie solle sich beruhigen, er werde sie zu ihrer Mutter bringen.

„Wir sind gleich da“, wiederholte der Mann, während er aus dem Fenster sah.

Marie Anne sah ebenfalls hinaus und versuchte zu erkennen, wo sie sich befanden. Sie fuhren auf ein großes Haus zu. Doch was da vor ihnen lag, war nicht ihr Zuhause und auch nicht Mimis großes Landhaus oder ihr weißes Haus in der Stadt. Es war ein riesengroßer, kompakter Block aus grauem Mauerwerk, Mama würde sich niemals an einem so hässlichen Ort aufhalten. Tränen traten Marie Anne in die Augen.

„Das ist nicht Mimis Haus.“ Mamas Pariser Freundin Mrs Ward hatte sie zu ihr gebracht, und Marie Anne hatte sich sogar darauf gefreut, bei ihrer geliebten Großmutter zu sein. Doch dann hatten sie Mimi gar nicht zu Gesicht bekommen und waren von der Frau in ein anderes Haus gebracht worden, wo der fürchterliche Mann auf sie gewartet hatte. Sie hatte ihn schon einmal gesehen, aber er gehörte nicht zu den Erwachsenen, die mit Kindern sprachen, deshalb war sie sich nicht sicher, wer er war.

Dann hatte die Frau ihr etwas zum Einnehmen gegeben und auch versucht, John etwas davon einzuflößen, doch der hatte sich vehement erbrochen. Sie hatte die Geschwister ohne Aufsicht in einem Zimmer eingeschlossen, wo John sich schwitzend und zitternd auf dem Bett hin und her gewälzt hatte. Marie Anne war bei seinem Anblick angst und bange geworden; sie hatte nicht gewusst, was sie tun sollte, ohne den Beistand der Erwachsenen. Doch jetzt, da sie von John getrennt war, hatte sie noch mehr Angst. Sie fuhr ganz allein mit einem Fremden durch die dunkle Nacht. Warum hatte Mrs Ward sie mit der Frau allein gelassen? Warum hatte sie ihre kleine Schwester mitgenommen, aber weder John noch Marie Anne? Wo war Mimi?

Sie fing an zu weinen, obwohl sie den seltsamen Fremden eigentlich nicht merken lassen wollte, wie sehr sie sich fürchtete. „Ich will zu Mimi“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Ich will zu Amélie, ich will zu Mama!“

„Ja, ja, später“, erwiderte der Fremde ungeduldig. Er wartete nicht einmal ab, bis die Kutsche angehalten hatte, ehe er die Tür aufmachte und hinaussprang. Er griff nach Marie Anne, aber sie wich ihm aus. Ihr Herz begann zu rasen. Draußen ragte das hässliche Haus bedrohlich in den Nachthimmel, dort wollte sie ganz sicher nicht hinein.

„Nein. Nein!“ Ihre Stimme ging in ein schrilles Kreischen über, als er sie schließlich zu fassen bekam und aus der Kutsche zog.

Sie schrie wie am Spieß und wand sich, sosehr sie konnte. „Mama! Papa!“

Doch der Mann hatte kein Erbarmen mit ihr, er schleifte sie die Stufen zur Eingangstür hinauf und betätigte den schweren Türklopfer. Es dauerte eine ganze Weile, bis ein mürrisches Dienstmädchen die Tür öffnete, und dann noch einige Zeit, ehe eine große, missmutig dreinblickende Frau in Morgenmantel und Nachthaube am Eingang erschien.

Bei ihrem Anblick erstarb Marie Annes Schluchzen. Sie starrte die Frau an, dabei wurde ihr eiskalt im Magen. Die Frau war hochgewachsen und kräftig, sie hatte keinen Funken der Schönheit und Anmut, die Marie Annes Mutter und Großmütter auszeichneten. Die Augen dieser Frau waren blass und kalt wie Metall, ihr Gesicht war grimmig, ihre Nase ragte wie der Schnabel eines Raubvogels daraus hervor. Sie blickte durch Marie Anne hindurch, und ihr war, als könnte die Frau dabei jede einzelne kleine Ungehorsamkeit sehen, die sie je begangen hatte.

„Ich habe sie von der Straße aufgelesen“, sagte der Mann. „Sie stand am Rinnstein, jemand muss sie dort zurückgelassen haben. Ich wusste nicht, was ich mit ihr machen sollte.“

Bei diesen Worten brach Marie Anne in wütenden Protest aus „Das ist gelogen! Ich bin nicht allein auf der Straße herumgelaufen!“

Als die Frau in die Hände klatschte, gab es einen so lauten Knall, dass sowohl Marie Anne als auch der Mann vor Schreck zusammenzuckten. „Das reicht!“ Ihre Worte hatten die Wirkung eines Peitschenhiebs. „Was fällt dir ein, einer Autoritätsperson ins Wort zu fallen, Mädchen! Wir werden dich hier schon lehren, dass du nur zu reden hast, wenn man dich fragt, und dass du Erwachsenen nicht zu widersprechen hast.“

Beim Tonfall der Frau schlug Marie Anne das Herz bis zum Hals, aber sie straffte die Schultern und hob den Kopf. So leicht ließ sie sich nicht unterkriegen. Sie dachte daran, wie ihr Vater über ihren Kampfgeist geschmunzelt und sie seinen kleinen Tiger genannt hatte.

„Aber ich bin nicht allein auf der Straße herumgelaufen“, wiederholte sie.

Die Frau runzelte die Stirn. „Ich sehe schon, dass du ganz schön widerborstig bist. Rotschöpfe wie du machen immer Ärger.“

„Sie wird sich schon beruhigen“, sagte der Mann schnell und mit einem leichten Anflug von Furcht in der Stimme. „Wenn sie eine Weile hier ist, wird sie sich schon eingewöhnen.“

„Machen Sie sich keine Sorgen, Sir“, meinte die Frau mit der Andeutung eines spöttischen Lächelns. Sie bedachte ihn mit dem gleichen Blick, mit dem sie vorher Marie Anne gemustert hatte, so als wüsste sie genau, was in seinem Kopf vorging. „Ich nehme sie auf. Ich lasse doch kein Kind auf der Straße stehen, nur weil es keine Manieren hat. Wir werden ihr die Flausen schon austreiben.“ Bei diesen Worten leuchteten die Augen der Frau voller Vorfreude.

Erleichtert seufzte der Mann auf und ließ Marie Anne los. „Ich danke Ihnen.“

Er drehte sich um und eilte zur Kutsche. Obwohl das Mädchen ihn nicht leiden konnte, hatte sie Angst davor, dass er wegging. Es war immer noch besser, bei ihm zu sein als bei der Frau mit dem strengen Gesicht.

„Nein! Warte!“, rief Marie Anne und wollte ihm nachlaufen, doch die Frau hatte sie bereits am Kleid gepackt und hielt sie fest.

„Stopp! Hör sofort auf!“ Mit diesen Worten versetzte die Frau ihr einen scharfen Schlag auf die Rückseite der nackten Beine.

Marie Anne, die in ihrem ganzen Leben noch niemals geschlagen worden war, fuhr vor Schreck herum und blickte die Frau mit offenem Mund an. Die Kutsche mit dem Mann darin verschwand.

„So ist es schon besser.“ Die Frau nickte zustimmend. „Hier in St. Anselm wissen Kinder, was sich gehört, das wirst du bald merken. Hier haben Kinder still und folgsam zu sein. Also …“ Die Frau betrachtete sie, offenbar zufrieden damit, wie schnell sie dieses unmögliche Mädchen zur Räson gebracht hatte. „Wie alt bist du?“

„Fünf“, antwortete Marie Anne prompt, voller Stolz darauf, wie groß sie schon war.

„Und wie heißt du?“

„Marie Anne.“

„Das ist ja wohl kaum ein Name für ein Mädchen wie dich. Du bist zweifelsohne das Ergebnis einer außerehelichen Liaison des Gentlemans, der dich hergebracht hat. Wir werden dich einfach Mary nennen, das reicht ja wohl. Hast du auch einen Nachnamen?“

Marie Anne starrte sie beklommen an. „Ich … ich weiß nicht so genau. Ich bin einfach nur Marie Anne.“

„Hast du einen Vater?“

„Natürlich!“, entgegnete Marie Anne entrüstet. „Und er wird kommen und mich abholen! Und dann wird es dir leidtun!“

„Ja sicher“, sagte die Frau trocken. „Wir haben hier jede Menge Kinder, die auf ihren Vater warten. In der Zwischenzeit brauchen wir allerdings einen Namen für dich. Also, wie nennen andere Leute deinen Vater?“

„Chilton“, antwortete sie.

„In Ordnung. Mary Chilton. So heißt du also. Ich bin Mrs Brown. Ich bin die Hausmutter von St. Anselm.“

„Aber so heiße ich überhaupt nicht“, rief Marie Anne energisch.

„Jetzt heißt du so. Keine Widerrede. Habe ich dir nicht eben schon gesagt, dass ich ein solches Benehmen nicht akzeptieren werde?“

„Aber Sie haben unrecht!“

Mrs Brown holte zu einer scharfen Ohrfeige aus und schlug zu. „So redest du nicht mit mir. Ist das klar?“

Marie Anne nickte zaghaft, während sie sich mit der Hand die schmerzende Wange rieb. Noch nie hatte irgendjemand sie so behandelt. Selbst in den schrecklichen Wochen, die hinter ihr lagen, während sie mit Mrs Ward und John und der kleinen Schwester über Land hatte fahren müssen, immer auf der Flucht vor den bösen Leuten, und sie hatten vorgeben müssen, sie seien die Kinder von Mrs Ward, hatte niemand die Hand gegen sie erhoben oder auch nur in einem solchen Ton mit ihr gesprochen. Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen, sie konnte sie gerade noch zurückhalten. Ihre aristokratische Erziehung ließ sie nicht im Stich, sodass es ihr gelang, sich aufzurichten und die Frau scheinbar ruhig anzusehen. Mama hätte ihr Gegenüber bestimmt als gewöhnlich bezeichnet. Papa wiederum hätte gesagt, ihr Benehmen zeuge von schlechter Erziehung. Marie Anne hielt sich an diesen Worten fest, in ihrem Kopf hallten dabei die Stimmen ihrer Eltern wider.

„Antworte mir, wenn ich dir eine Frage stelle“, herrschte Mrs Brown sie an.

„Ja, Mrs Brown“, gab Marie Anne pflichtschuldig zurück, aber mit fester Stimme.

Die Frau musterte sie prüfend, konnte aber nicht genau bestimmen, was ihr am Tonfall des Mädchens nicht gefiel. Endlich wandte sie sich um und sagte barsch: „Komm mit.“

Sie führte sie die Treppen hinauf und einen spärlich erleuchteten Korridor entlang. Das Licht der wenigen Kerzen flackerte und warf seltsame Schatten an die Wände. Furcht stieg in Marie Anne auf, doch sie drängte sie zurück, so gut sie konnte. Dabei half es ihr, sich an die Stimme ihrer Großmutter zu erinnern, als sie einmal zu ihr gerannt war, weil John und die anderen Jungen ihr mit Gruselgeschichten Angst eingejagt hatten: „Haltung, mein Mädchen. Zeig ihnen nie, dass du Angst hast. Genau das wollen sie doch erreichen.“

Mrs Brown blieb vor einem Schrank stehen, öffnete ihn und nahm eine dünne Decke und ein zusammengefaltetes braunes Kleid heraus. Anschließend legte sie einen weißen Unterrock auf den Stapel, der von vielen Wäschen fadenscheinig und grau geworden war, ein Paar grob gestrickte Strümpfe, die an mehreren Stellen geflickt waren, und ein riesengroßes Nachthemd. Sie drückte Marie Anne den Kleiderstapel in die Hand.

„Hier ist etwas zum Anziehen und eine Bettdecke.“

Marie Anne betrachtete das hässliche braune Kleid ungläubig. „Aber ich habe etwas zum Anziehen. Mein eigenes Kleid mag ich lieber.“

Die ältere Frau betrachtete Marie Annes Aufzug verächtlich. „Dein Kleid ist vollkommen unangemessen für deinen Stand. Du bist jetzt in St. Anselm, und du wirst das Kleid anziehen, das ich dir gegeben habe.“

Eingedenk der Ohrfeige beschloss Marie Anne, keinen neuen Streit zu provozieren. Wortlos umfasste sie den Stapel Kleider und folgte Mrs Brown durch die Tür gleich neben dem Schrank.

Hinter dieser Tür befand sich ein langgestreckter Schlafsaal, in dem an beiden Wänden Betten aufgereiht waren. Neben jedem Bett stand eine kleine Kommode mit drei Schubladen. In jedem der Betten lag ein Mädchen. Marie Anne hatte noch nie zuvor gesehen, dass so viele Menschen in ein und demselben Raum schliefen. Sollte sie etwa auch noch hier schlafen, mit all den anderen Kindern? Wo war ihr Zimmer? Wehmütig dachte sie an ihr Kinderzimmer zu Hause, wo sie ihr eigenes Reich hatte und wo John, die kleine Schwester und Amélie ihre eigenen Zimmer hatten, hinter ihrem Unterrichtsraum.

Einige der Mädchen schliefen fest, aber die meisten von ihnen waren aufgewacht, als Mrs Brown den Saal betreten hatte. Im Licht der Kerze konnte Marie Anne die vielen Augenpaare erkennen, die sie unter den Bettdecken heraus beobachteten. Mrs Brown sah Marie Anne an und deutete auf ein leeres Bett.

„Ich möchte, dass du jetzt dein Nachthemd anziehst und schlafen gehst. Morgen stelle ich dich den anderen Mädchen vor und mache dich mit deinen Pflichten vertraut.“

„Pflichten?“

„Natürlich. Wer essen will, muss auch arbeiten. So läuft das hier.“ Mit diesen Worten machte die Frau auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür.

„Aber hier ist kein Licht“, sagte Marie Anne. Bei dem Gedanken, im Dunklen allein zurückgelassen zu werden, bebte ihre Stimme vor Angst. „Wie soll ich mich umziehen, wenn ich nichts sehen kann?“

„Durch die Fenster kommt genügend Licht herein“, erklärte die Hausmutter über die Schulter hinweg und nickte dabei in Richtung der hohen Fenster zu beiden Seiten des Saals, die keine Vorhänge hatten. „Kinder dürfen hier keine Kerzen verschwenden.“

Ohne weitere Worte verließ sie mit großen Schritten den Schlafsaal. Marie Anne sah dem flackernden Licht der Kerze nach, das langsam in der Dunkelheit verschwand. Erneut traten ihr die Tränen in die Augen, und ihre Unterlippe fing an zu zittern, sosehr sie sich auch bemühte, das Weinen zu unterdrücken. Sie hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so einsam gefühlt, nicht einmal in der Nacht, als ihre Mutter sie Mrs Ward übergeben und schluchzend zur Tür hinausgestürzt war. Damals waren zumindest John und Alexandra bei ihr gewesen, und sie hatte Mrs Ward gekannt, die freundlich und sanftmütig war. Aber jetzt – jetzt war sie ganz allein und verlassen.

Plötzlich griff eine kleine Hand nach der ihren, und eine sanfte Stimme flüsterte leise: „Schon gut, weine doch nicht. Morgen sieht die Welt schon ganz anders aus.“

Marie Anne blickte sich nach dem Mädchen um, das ungefähr genauso groß war wie sie, aber dessen Gesicht verriet, dass es schon viel älter war. Sie sah sie neugierig an, während ihre Tränen langsam versiegten. Sie wischte sich mit der Hand über die Augen und sagte: „Hallo. Wer bist du?“

„Ich heiße Winny“, antwortete das Mädchen mit einem schüchternen Lächeln. „Ich bin acht. Und wer bist du?“

„Marie Anne. Aber die Frau hat gesagt, ab jetzt heiße ich Mary.“

Das kleine Mädchen nickte. „Sie mag einfache Namen. Wie alt bist du? Wollen wir Freundinnen sein?“

„Jetzt bilde dir bloß nichts sein, Winny.“ Das kam mit rauer Stimme aus dem Bett neben ihnen und stammte von einem älteren Mädchen, das sich nun aufsetzte und Marie Anne von oben bis unten musterte. Sie hatte krause dunkle Haare, die zu Zöpfen geflochten waren, und ein rundes Gesicht voller Sommersprossen. Sie blickte kampflustig drein. „Wer will schon mit dir befreundet sein?“

„Ich zum Beispiel“, meinte Marie Anne tapfer. „Winny scheint sehr nett zu sein.“

„Winny scheint sehr nett zu sein“, äffte das andere Mädchen mit hoher Stimme Marie Anne nach. „Wer bist du denn? Eine verdammte Prinzessin?“

Marie Anne reckte das Kinn. „Nein, aber eines Tages werde ich eine Duchess sein, wenn ich will, hat Mimi gesagt.“

„Eine Duchess!“ Das andere Mädchen konnte sich vor Lachen kaum mehr halten. Sie schlug sich auf die Schenkel. „Hey, schaut mal alle her, wir haben eine verdammte Duchess hier.“

Marie Anne sah sie mit gerunzelter Stirn an. „Du solltest solche Wörter nicht benutzen. Amélie sagt, das macht man nicht, weil es unfein ist. Außerdem bin ich jetzt noch gar keine Duchess. Aber ich werde eine, wenn ich will. Mimi hat gesagt, ich kann, und sie ist eine Countess!“

„Die Duchess of St. Anselm“, rief das Mädchen und lachte dabei noch immer.

„Kümmere dich nicht um sie“, flüsterte Winny. „Betty kann niemanden leiden. Ich finde, du siehst aus wie eine Duchess.“ Bewundernd befühlte sie den Stoff von Marie Annes Kleid. „Aber es ist besser, wenn du jetzt dein Nachthemd anziehst. Miss Patman macht gleich ihre Runde. Sie kommt einmal in der Stunde zur Kontrolle, und wenn du dann nicht im Bett bist, bestraft sie dich.“

Marie Anne seufzte. Sie wollte das kratzige Nachthemd nicht anziehen, aber sie war unglaublich müde. Und vielleicht wurde ja alles wieder gut, wenn sie jetzt einschlief. Vielleicht wachte sie morgen früh in ihrem Kinderzimmer auf und war wieder bei John und ihrer kleinen Schwester, und Amélie kam herein, um sie mit ihrem fröhlichen Guten Morgen und einer Tasse heißer Schokolade zu wecken.

Winny half ihr dabei, ihr Kleid aufzuknöpfen, dann zog Marie Anne es über den Kopf und griff nach dem Nachthemd.

„Moment, was ist das denn?“ Betty hatte ihr die ganze Zeit zugesehen, und jetzt fasste sie nach dem Medaillon, das an einer Kette um Marie Annes Hals hing.

Marie Anne machte schnell einen Schritt zurück und hielt dabei das Medaillon mit der Hand fest. Sie hatte es letzte Weihnachten von Mimi geschenkt bekommen. Es war aus Gold, und wenn man es aufklappte, sah man ein winziges, aber ganz exaktes Porträt ihrer Mutter auf der einen und ihres Vaters auf der anderen Seite. Auf dem Deckel war ein reich verziertes, verschnörkeltes M für Marie eingraviert. Ihre kleine Schwester hatte genauso eines bekommen, mit einem A für Alexandra auf dem Deckel. Natürlich war sie noch zu klein, um es zu tragen, aber Marie Anne hatte ihres sofort umgelegt und nahm es nie ab.

„Gib es mir“, verlangte Betty. Dabei stand sie auf und kam um das Bett herum auf sie zu.

„Nein! Es gehört mir! Mimi hat es mir geschenkt.“

Betty lachte böse. „Jetzt gehört es mir.“

Sie streckte den Arm aus und packte Marie Annes kleine Hand so heftig, dass die Kette schmerzhaft in Marie Annes Hals einschnitt. In diesem Augenblick explodierte die ganze Wut und die ganze Angst der letzten Wochen in Marie Anne. Sie stieß einen lauten Schrei aus und biss, so fest sie konnte, in die Hand des anderen Mädchens.

Betty zog erschrocken die Hand zurück und jaulte dabei laut auf. Die andere Hand ballte sie zur Faust und wollte ihrer Gegnerin einen Hieb verpassen, aber Marie Anne warf sich wie eine Wilde auf sie, schlug nach ihr, trat und biss. Schließlich kam das älteste Mädchen im Saal lachend zu den beiden herüber, trennte Marie Anne von der Angreiferin und stellte sie auf ihre Füße. Betty sank auf den Boden. Sie krümmte sich und versuchte, gleichzeitig ihre verletzte Hand und ihre blutige Nase zu schützen. Sie rang nach Luft, denn Marie Anne hatte ihr einen heftigen Schlag in die Magengrube versetzt.

„Ich glaube, du hast endlich jemanden gefunden, der es mit dir aufnehmen kann, Bet“, sagte das große Mädchen belustigt. Sie verbeugte sich spöttisch vor dem kleineren Mädchen, das neben ihr stand, noch immer ganz starr vor Wut. „Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Duchess, mein Name ist Sally Gravers.“

„Vielen Dank, es freut mich ebenfalls sehr“, erwiderte Marie Anne und machte einen kleinen Knicks, so wie Amélie es ihr beigebracht hatte, falls sie Erwachsenen begegnete. Sally Gravers war zwar noch nicht erwachsen, aber es sah ganz so aus, als wäre sie die wichtigste Person im Raum, deshalb erschien die Geste Marie Anne angemessen.

Das ältere Mädchen grinste noch immer „Du bist in Ordnung.“ Sie sah Betty eindringlich an. „Lass sie jetzt in Ruhe, hast du gehört? Die Kette gehört ihr.“

„Schon gut, Sally“, sagte Betty mürrisch.

„Dann ist ja alles gut. Lasst uns weiterschlafen“, fuhr Sally fort. „Ich habe jedenfalls keine Lust, morgen um fünf aufzustehen und die Fußböden zu schrubben, ohne dass ich ordentlich geschlafen habe.“

Marie Anne starrte das ältere Mädchen mit offenem Mund an, sie traute ihren Ohren nicht. War sie jetzt auch noch ein Dienstmädchen geworden? Es hätte sie nicht gewundert, so sehr wie die Welt in den letzten Wochen aus den Fugen geraten war. Sie schlüpfte in ihr Nachthemd. Das Medaillon steckte sie zum Schutz, so tief sie konnte, in den Kragen hinein.

Winny, die noch immer neben ihr stand, flüsterte: „Sie wird jetzt nicht noch einmal versuchen, es dir abzuknöpfen – dazu hat sie zu viel Angst vor Sally. Aber die Hausmutter wird es dir wegnehmen, wenn sie es sieht. Sie wird sagen, es steht dir nicht zu. Ich habe ein Versteck, das hat noch niemand gefunden. Ich zeige es dir morgen, dann kannst du es dort verstecken.“

Marie Anne nickte dankbar, während Winny und sie ihre Decken auf den schmalen Matratzen ausbreiteten. Dann kroch sie ins Bett, das neben dem von Winny stand. Dabei dachte sie wehmütig an ihre weiche Matratze zu Hause und an die vielen warmen Decken, mit denen Amélie sie abends immer zudeckte. Schließlich dachte sie auch an ihre Mutter, die jeden Abend noch einmal zu ihr kam, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben. Manchmal hatte sie dabei schon ihre Abendkleider an, dann bauschten sich ihre eleganten Röcke aus Brokat unter der schmalen Taille, ihr Haar war schon gepudert und hochgesteckt und mit Federn oder Edelsteinen geschmückt. An anderen Tagen trug sie noch ihren Hausmantel, ihre dicken schwarzen Locken lagen dann wie eine dunkle Wolke um ihre Schultern. Immer aber beugte sie sich zu Marie Anne hinunter und sagte, dass sie sie lieb habe. Marie Anne meinte, ihren Duft nach Haarpuder und Parfüm riechen zu können.

Schon wieder schossen ihr Tränen in die Augen, und sie zog das Medaillon unter dem Nachthemd hervor und ballte die Faust fest darum. Warum war Mama nicht gekommen, um sie zu holen? Sie hatte versprochen, dass Papa und sie zu ihnen kommen würden, so schnell sie konnten. Ein trostloses Gefühl der Einsamkeit stieg in Marie Anne auf, als eine kleine gemeine Stimme ihr zuflüsterte, dass Mama und Papa nichts mehr von ihr wissen wollten.

Aber das war nicht wahr! Marie Anne stemmte sich gegen die Welle von Furcht. Sie wusste, dass ihre Mutter und ihr Vater sie lieb hatten. Sie würden kommen und sie von hier wegbringen, und sie würden auch ihre kleine Schwester zurückholen und John – und John würde wieder gesund werden. Sie musste nur durchhalten, bis sie eines Tages kamen, um sie zu holen. Eines Tages würde ihre Familie sie wiederfinden, und dann würden sie alle für immer glücklich sein …

1. KAPITEL

Marianne atmete tief durch und betrachtete die prächtige bunte Menge. Sie war noch nie auf einem so großen Fest gewesen, schon gar nicht auf einem, zu dem so viele Adlige eingeladen waren. Sie dachte darüber nach, was diese wohl von ihr halten würden, wenn sie wüssten, dass sie einfach nur Mary Chilton aus St. Anselm war und nicht die adlige Witwe MrsMarianne Cotterwood.

Sie lächelte in sich hinein. Dass sie die Aristokratie hinters Licht führen konnte, gefiel ihr an der Maskerade am besten. Es erfüllte sie mit Genugtuung, wenn sie mit einem Mitglied des ton sprach, das entsetzt gewesen wäre, wenn es erfahren hätte, dass seine Gesprächspartnerin ein ehemaliges Dienstmädchen war.

Diese Überlegung verlieh Marianne ein wenig Zuversicht. Die Gesellschaft hier mochte größer und modebewusster sein als die in den Seebädern von Bath oder Brighton, aber im Kern waren es genau die gleichen Menschen. Wenn man wie selbstverständlich mit ihnen sprach und sich elegant bewegte, auf seine Haltung und seine Tischmanieren achtete, als wäre man von klein auf dazu erzogen worden, nahmen die Leute ganz einfach an, dass man dazugehörte. So lange sie es mit ihrer eigenen Legende nicht übertrieb und glaubwürdig blieb und vor allem nicht versuchte, den Eindruck zu erwecken, sie stehe höher als der einfache Landadel, war es mehr als unwahrscheinlich, dass ihr jemand auf die Schliche kam. Schließlich waren die meisten der Leute, die hier versammelt waren, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um auch nur einen Gedanken an irgendjemand anderen zu verschwenden, weder im Guten noch im Bösen. Deshalb war es ja so leicht, sie zu täuschen.

Marianne betrachtete die herrschende Klasse als ihren natürlichen Feind. Sie konnte sich ganz genau daran erinnern, wie die feinen Damen „aus Nächstenliebe“ im Waisenhaus herumstolziert waren. Wohlgenährt und in warmen Kleidern, die mehr kosteten, als für jede der Waisen im ganzen Jahr ausgegeben werden konnte, hatten sie herumgestanden und sie mitleidig, aber eben auch voller Geringschätzigkeit, angestarrt. Danach waren sie wieder verschwunden und hatten sich überlegen gefühlt, von Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit erfüllt, weil sie sich so großherzig gezeigt hatten. Marianne hatte ihnen mit brennender Wut nachgesehen. Nichts, was sie anschließend, nach der Zeit im Waisenhaus, erlebt hatte, konnte ihre Verachtung mindern. Mit vierzehn war sie als Hausmädchen in die Dienste von Lady Quartermaine getreten. Sie hatte die Asche aus dem Kamin gekehrt, hatte Wasser zum Baden geschleppt und geputzt und das alles für weniger als einen Schilling am Tag. Nur sonntagnachmittags hatte sie freigehabt– und wehe ihr, wenn jemand der Meinung gewesen war, sie habe etwas falsch gemacht oder vergessen. Natürlich war das bei Weitem nicht das Schlimmste, was ihr in Quartermaine Hall widerfahren war …

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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