Geflohen ins Paradies - Hanna Berghoff - E-Book

Geflohen ins Paradies E-Book

Hanna Berghoff

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als angesehene Ärztin hat sich Dr. Sylvia-Katharina Stein in Chile ein fast paradiesisches Leben aufgebaut, das jäh aus den Fugen gerät, als in einem Hotel ein Mord geschieht. Denn noch am selben Tag wird sie als Tatverdächtige verhaftet. Für Sylvias jüngere Schwester bricht die Welt zusammen, und daher greift sie nach dem einzigen Strohhalm: Sie bittet Sylvias ehemalige Frau Mara Arnold um Hilfe, eine Anwältin in Deutschland, aus dem Sylvia nach großen Katastrophen in ihrem Leben vor fast zehn Jahren nach Chile geflohen war. Überrascht und erstaunt macht Mara sich widerstrebend auf den Weg nach Chile, obwohl sie große Bedenken hat, weil Sylvia sie damals einfach im Stich gelassen hatte. Doch längst vergessene Gefühle kehren zurück, während Mara mit Hilfe von Freunden und Familie gegen die korrupte Polizei und für Sylvias Freilassung kämpft ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 300

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hanna Berghoff

GEFLOHEN INS PARADIES

Roman

© 2023édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-365-4

Coverfoto:

0

Vorsichtig blickte die große Frau sich um, als sie aus dem Hotelzimmer trat. Die ausladenden Polster ihrer Jacke betonten ihre breiten Schultern noch.

Ein Geräusch! Schnell huschte sie ins Zimmer zurück.

Die Angestellten des Hotels, die zu dieser späten – oder eher schon frühen – Stunde noch im Dienst waren, begaben sich auf dem Gang dorthin, wo ihre Aufgaben es verlangten. Das Geräusch ihrer Schritte verklang auf den tiefen Schlingen des Teppichs.

Erneut öffnete die Tür sich, und der dunkle, lockige Kopf schob sich wieder heraus. Diesmal wurde der forschende Blick weder von einer herannahenden Gestalt noch von einem Laut aufgehalten. Mit geschmeidigen Bewegungen huschte die Frau durch den nun stillen Korridor, von dem die Türen des exklusiven Hotels wie Eingänge zu der Intimsphäre einzelner Menschen abgingen.

Sie nahm nicht den Lift, sondern die Treppe, als sie fast lautlos in die Hotelhalle hinunterschlich. Bis dort war alles gutgegangen, aber als sie die Halle durchquerte, um zum Ausgang zu gelangen, erhaschte der Nachtportier, der weiter hinten in seiner Loge gewesen war, einen Blick von ihr. Eifrig kam er herausgeschossen.

»Taxi, Madame?«

Sie wandte den Blick ab, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte, schüttelte den Kopf und murmelte unterdrückt: »Nein, danke.« Ihre Stimme wäre schwer wiederzuerkennen gewesen.

»Aber es regnet!« Besorgt kam er ihr nach, während sie den Ausgang schon fast erreicht hatte.

Diesmal antwortete sie nicht. Schnell stieß sie die Drehtür auf und schlüpfte hinaus wie ein Fisch, der in sein eigenes Element zurückkehrt.

Er versuchte, ihr noch hinterherzulaufen, sah sie aber nicht mehr, als er die Drehtür draußen vor dem Hotel verließ und halb geschützt unter dem Vordach stand.

Unverrichteter Dinge drehte er die Tür, die gleichzeitig Eingang und Ausgang markierte, weiter und begab sich wieder in die trockene Halle zurück, während er sich leicht schüttelte, um die wenigen Regentropfen, die ihn getroffen hatten, loszuwerden.

1

»Mord! Mord im Hotel!«, schrien am frühen Morgen die Schlagzeilen.

»Haben Sie das gelesen, Frau Doktor?« Aufgeregt kam eine Krankenschwester zu Dr. Sylvia-Katharina Stein herein. »Das ist ja schrecklich!«

Die dunklen Augen hoben sich von Sylvias Schreibtisch und streiften die junge blonde Frau nur uninteressiert. »Irgendjemand, den Sie kannten?«

Heftig schüttelte die grünäugige Antonella Lübbert den Kopf. Ihre rotblonden Haare verteilten sich glänzend und gleichmäßig auf den Schultern ihres weißen Kittels wie ein erdbeerfarbener Wasserfall. »Im Sheraton? Da kenne ich niemand.« Sie lachte leicht. »Ist nicht meine Preisklasse.«

»Dann sollten wir uns nicht darum kümmern«, bemerkte Sylvia nüchtern. »Das geht uns nichts an.« Ihre Augen senkten sich wieder auf die Röntgenbilder, die sie eben schon betrachtet hatte.

»Aber es ist eine rätselhafte Geschichte!« Aufgeregt trat Antonella zu ihr. »Kurz nachdem es passiert sein muss, hat eine Frau das Hotel verlassen. Der Nachtportier hat sie gesehen. Kannte sie aber nicht. War kein Gast des Hotels, sagte er.«

Leicht genervt lehnte Sylvia sich in ihrem Stuhl zurück und sah Antonella an. »Kennen Sie den Nachtportier?«

Antonella schüttelte den Kopf. »Nein. Woher?«

Sylvias Augenbrauen zogen sich missbilligend zusammen. »Was interessiert Sie dann so an dieser Geschichte?«

»Denken Sie, dass sie ihn umgebracht hat?«, fragte Antonella mit gerunzelter Stirn, offensichtlich entzückt von dem Thema und keinesfalls gewillt, es so schnell aufzugeben.

Gleichgültig zuckte Frau Dr. Stein die Schultern. »Woher soll ich das wissen? Aber die Polizei wird es schon herausfinden.«

»Sind Sie denn gar nicht neugierig?« Obwohl sie es eigentlich hätte besser wissen müssen, schien Antonella schwer enttäuscht vom mangelnden Interesse ihrer Chefin. Sie hatte offensichtlich gehofft, dass sie mit Sylvia die eine oder andere Theorie wälzen konnte. Mörderjagd auf Miss-Marple-Art.

»Neugierig worauf?«, fragte Sylvia betont gleichgültig und widmete sich wieder den Röntgenbildern.

»Na, er soll ja . . .«, verschwörerisch blinzelnd beugte Antonella sich vor, »ein – wie man so sagt – Mann von Welt gewesen sein.«

Sylvias Mundwinkel zuckten. »Und was soll das bedeuten?« Sie warf nur einen kurzen Blick von unten zu Antonella hoch, dessen ablehnenden Hinweis Antonella jedoch vollständig ignorierte.

»Sie wissen schon . . .« Mit einem blinzelnden Zwinkern oder einem zwinkernden Blinzeln – je nachdem, worauf man mehr achtete – lehnte sie immer noch halb über Sylvias Schreibtisch. »Frauen.«

Obwohl Sylvia leicht zusammenzuckte, versuchte sie das zu verbergen. »Das ist doch nichts Besonderes«, bemerkte sie abweisend. »Jedenfalls nichts«, sie hob die Augenbrauen und schenkte Antonella nun einen stechenden Blick, »das uns von der Arbeit abhalten sollte.«

Mit schmollend verzogenen Lippen richtete Antonella sich auf. »Ich geh ja schon«, bemerkte sie widerstrebend. »Soll ich die nächste Patientin reinschicken?«

Fast hätte Sylvia erneut die Augen gerollt. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Mit einem beleidigten Schwenken ihrer Hüften begab Antonella sich nach draußen.

Als sie endlich die Tür hinter sich schloss, lehnte Sylvia sich mit einem leisen Ausatmen in ihren Stuhl zurück. Die Anspannung fiel für einen Augenblick von ihr ab. Sie würde nur ein paar Sekunden Zeit haben, bis die Patientin hereinkam, die Antonella angekündigt hatte. Das musste reichen, um sich zu fangen.

Doch bevor die Tür sich erneut öffnete, klingelte schon das Telefon. Sie nahm ab. »Was ist denn?«, fragte sie etwas barsch.

»Ihre Schwester.« Antonellas Stimme klang immer noch beleidigt. Ein bisschen Klatsch und Tratsch hätte Sylvia ihr schon an diesem heißen Morgen gönnen können.

Aber hier in Santiago war es ja immer heiß. In Sylvias Praxis lief eine Klimaanlage. Anders wäre es kaum auszuhalten gewesen. »Stellen Sie durch«, sagte sie.

»Warum muss ich über Antonella gehen?«, erklang eine wesentlich jüngere Stimme vorwurfsvoll aus dem Telefonhörer. »Warum nimmst du dein Handy nicht ab?«

Schnell warf Sylvia einen Blick zu ihrer Handtasche hinüber. »Ich glaube, es ist gar nicht an«, sagte sie. »Vielleicht habe ich es nicht aufgeladen.«

»Vielleicht.« Sofies Stimme klang mindestens so beleidigt, wie Antonella zuvor das Zimmer verlassen hatte. »Mit Absicht«, behauptete sie.

»Eine Patientin wartet.« Sylvia ging gar nicht auf ihre Teenagervorwürfe ein. »Ist etwas Wichtiges?«

»Immer wartet irgendeine Patientin oder ein Patient«, ergoss sich Sofies Stimme dennoch unzufrieden über sie. »Und was ist mit mir?«

Tief atmete Sylvia durch. »Was ist mit dir?«, fragte sie dann mit ruhiger Stimme. »Ist irgendetwas?«

»Das weißt du ganz genau!« Empört hob sich Sofies Stimme, sodass sie nun sehr kindlich klang. »Hast du mein Handy?«

Diesmal zuckte Sylvia sichtlich zusammen, weil niemand im Zimmer war und Sofie sie auch nicht sehen konnte. Doch ihre Stimme klang genauso ruhig wie zuvor, als sie antwortete: »Ja, ich habe dein Handy.«

»Gut.« Sofie atmete hörbar aus. »Warum hast du es nicht zu Hause gelassen?«

»Habe ich vergessen«, sagte Sylvia. »Aber du kannst es dir in der Praxis abholen, wenn du von der Uni kommst.«

Das passte Sofie überhaupt nicht, sie wollte ihr Handy jetzt haben, jetzt, in diesem Augenblick, das war Sylvia vollkommen klar, aber sie konnte es nicht ändern. Und nachdem es schließlich Sofie gewesen war, die wieder einmal – Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken und brach ihre Überlegungen ab.

»Dann muss Joaquín mir seins geben«, beschloss Sofie in diesem Moment. Sicherlich hätte sie am liebsten von Sylvia verlangt, dass sie ihr Sofies Handy in die Uni bringen sollte, aber aus Erfahrung hatte sie gleichzeitig gewusst, dass dieses Ansinnen aussichtslos war.

»Kannst du nicht mal eine einzige Stunde ohne Handy auskommen?«, fragte Sylvia seufzend. »Davon geht doch die Welt nicht unter.«

»Das verstehst du nicht«, behauptete Sofie. »Ich brauche unbedingt ein Handy. Jetzt.«

Sylvia wusste ganz genau, dass jegliche Nachfrage, warum Sofie genau jetzt unbedingt ein Handy brauchte, nur sinnlose Antworten ergeben würde, und sie hatte dafür jetzt auch gar keine Zeit. »Joaquín wird sicherlich begeistert sein«, bemerkte sie trocken.

»Oh ja.« Sofies Stimme klang gar nicht trocken, sondern mehr als fröhlich. Selbstzufrieden. »Er ist jedes Mal begeistert, wenn er etwas für mich tun kann. Er steht total auf mich.«

»Und du auf ihn?«, fragte Sylvia.

Darauf bekam sie keine Antwort. Aber sie wusste, dass Sofie einen angeblich festen Freund hatte, der einen anderen Namen trug. Cristóbal. Ehrlich gesagt mochte Sylvia Cristóbal nicht, sie fand ihn ziemlich eingebildet, aber in diesem Moment tat er ihr leid.

Anscheinend war er nicht da, um Sofie sein Handy zu leihen – oder vielleicht hatte er auch genug Rückgrat gehabt, es ihr zu verweigern –, und so spielte Sofie jetzt diesen Joaquín gegen ihn aus. Während sie auch noch andere Eisen im Feuer hatte. Wie der Verlust ihres Handys bewies.

»Bis später«, sagte Sylvia und legte auf. Es hatte jetzt gar keinen Sinn, noch weiter mit Sofie zu reden.

Und sie hatte eine Patientin, die schon viel zu lange auf sie wartete.

2

Mit müden Händen fuhr Sylvia sich über das Gesicht. Es war ein langer Tag gewesen. Aber nun war sie endlich zu Hause.

Tief durchatmend stand sie auf der Terrasse ihres Hauses und blickte auf die Stadt hinunter. Die kleine Villa stand etwas erhöht auf einem Hügel und erlaubte einen schönen Ausblick. Sie hatte Glück gehabt, sagte dieses Panorama unter ihr. Sie hatte ein Haus, es ging ihr gut, ihre Praxis konnte gar nicht alle Patienten aufnehmen, die vorbeikamen, weil sie den Ruf hatte, eine gute Ärztin zu sein. Die Leute vertrauten ihr, erhofften sich Hilfe von ihr, bewunderten ihren weißen Kittel und hatten Respekt davor.

Allerdings erwarteten sie manchmal auch ein bisschen zu viel. Als wäre sie wirklich eine Göttin in Weiß. Doch das war sie nicht. Sie war nur ein Mensch, der sein Bestes tat, um anderen zu helfen. Manchmal war aber selbst das Beste nicht gut genug, und dann verzweifelte sie fast an ihrem Beruf. Wie damals, als sie das Kind nicht hatte retten können . . .

Schnell wandte sie sich um, ging ein paar Schritte ins Zimmer hinein und nahm ein Glas aus dem Schrank, goss sich einen Schluck von dem fruchtig-herben Rotwein ein, der hier in Chile an den Hängen wuchs, von denen man so einen guten Blick ins Tal hinunter hatte, und befeuchtete ihre Kehle mit dem köstlichen Tropfen.

Erst seit sie in Chile war, hatte sie sich an Wein gewöhnt. Früher war sie dem Alkohol ziemlich abhold gewesen. Sie fand, das ließ sich nicht mit ihrem Verantwortungsbewusstsein als Ärztin vereinbaren.

Schließlich konnte es immer einmal sein, dass sie zu einem Notfall gerufen wurde. Und wenn sie dann zu viel Alkohol im Blut hatte? Dann konnte sie einem Menschen vielleicht nicht helfen, der darauf angewiesen war.

Doch auch in völlig nüchternem Zustand konnte man vielleicht nicht helfen. Das hatte sie schmerzlich erkennen müssen. Danach war ihr der Alkohol ein Trost gewesen, obwohl sie das nie für möglich gehalten hätte. Ein falscher Trost, wie sie nach einiger Zeit ebenfalls erkennen musste, denn Alkohol löste Probleme nicht.

Doch er konnte ein wenig entspannen nach einem harten Tag, und das nahm sie jetzt für sich in Anspruch. Mit dem Glas in der Hand setzte sie sich auf die Terrasse und beobachtete den Sonnenuntergang. Geräusche schwirrten durch die Luft wie Staub, allgegenwärtig und doch nicht identifizierbar.

Die Nachbarn im Viertel genossen ihren Feierabend, und selbst von unten aus der Stadt klang Musik herauf. Musik war in Südamerika ebenso allgegenwärtig wie die Sonne und der Staub. Die Menschen hier hatten ein ganz anderes Lebensgefühl, als sie es aus Europa gekannt hatte.

Sie hatte Jahre gebraucht, um sich daran zu gewöhnen. Dennoch war dieses Lebensgefühl nicht ihr Lebensgefühl. Das würde es nie sein. Was sie hin und wieder bedauerte.

Sofie hatte sich da wesentlich besser angepasst. Aber sie war ja auch viel jünger. Sie sprach Spanisch wie eine Einheimische, während Sylvia noch immer einen deutlich hörbaren Akzent ihr eigen nannte.

Doch hier in Chile war ein deutscher Akzent nichts Schlechtes. Im Gegenteil. Es gab viele Einheimische mit deutschen Namen hier, mit deutschen Vorfahren, wie beispielsweise auch ihre blonde Sprechstundenhilfe Antonella Lübbert. Sie sprach kein Wort Deutsch mehr wie die meisten Deutsch-Chilenen, aber der Name war geblieben. Und das Aussehen, da häufig nur innerhalb der deutschen Gemeinschaft geheiratet wurde.

Ein deutscher Name wurde hier oft sogar als Qualitätsmerkmal betrachtet. Ärzte trugen deutsche Namen, Anwälte, viele Geschäfte. Und das, obwohl die deutsche Gemeinschaft nicht wirklich groß war. Aber die alten deutschen Tugenden wie Pünktlichkeit, Fleiß und Ordnung genossen hier großes Ansehen, auch wenn die spanisch-stämmigen Chilenen manchmal darüber lachten.

Diese Tugenden, die in der deutschen Gemeinschaft hoch-gehalten wurden, führten dazu, dass viele Deutsch-Chilenen mehr Wert auf Bildung und Ausbildung legten als ihre anderen Landsleute. Und deshalb dann auch im Leben mehr Erfolg hatten. Auf jeden Fall in finanzieller Hinsicht.

Das wurde aber nicht als schlecht angesehen. Neid auf etwas, das andere hatten, man selbst jedoch nicht besaß, gab es in Chile so gut wie gar nicht. Ein großer Unterschied zu Deutschland, obwohl die meisten Chilenen weit ärmer waren als die meisten Deutschen in Deutschland.

Das war mit ein Grund, warum Sylvia sich hier in Chile mittlerweile im Rahmen ihrer Möglichkeiten sehr wohlfühlte. Sie arbeitete viel, und doch gab es weniger Stress, weniger Druck von außen.

Den einzigen Druck machte sie sich selbst. Weil sie immer perfekt sein wollte. Die beste Ärztin, die es gab. Nicht um dafür belohnt zu werden, sondern einfach, weil das ihr Berufsethos war.

»¿Está bien, doctor?«, rief jemand von unten herauf.

Das war auch etwas, das hier völlig normal war. Niemand ging an einem anderen vorbei, ohne ihn zu grüßen oder sich nach seinem Wohlergehen zu erkundigen. Selbst in einer großen Stadt wie Santiago wurden alle wie Nachbarn oder Familie behandelt.

»Muy bien, gracias«, gab sie lächelnd zurück. »¿Y usted, Señor Agustín?« Es war eine völlig banale Unterhaltung, und doch unterstützte sie sie dabei, sich noch mehr zu entspannen.

»Muy bien, muy bien.« Der ältere Mann winkte ab, kam aber zu ihr ans Grundstück heran, blickte sie kurz fragend an und öffnete dann ihr Gartentor, als sie zustimmend nickte. Mit gemächlichen Schritten schlenderte er auf die Terrasse zu. »Haben Sie das gehört von dem Mord im Hotel?«

Da das heute mehrmals Gesprächsthema gewesen war, zuckte sie nicht mehr zusammen, sondern nickte nur. »Ja, habe ich gehört.«

»Und was sagen Sie dazu?«

Das gehörte auch dazu, Ärztin zu sein. Man gehörte sozusagen automatisch zu den Honoratioren der Gemeinde, und auf die Meinung eines Honoratioren wurde immer Wert gelegt.

Sie zuckte die Schultern. »Was soll ich dazu sagen?« Gleichzeitig erhob sie sich. »Ein Glas Wein?«

Agustín Tibón lächelte leicht und nickte. »Ihr Wein ist der beste, Doctora.«

»Bitte nehmen Sie doch Platz.« Einladend wies Sylvia auf einen der Stühle auf der Terrasse.

Es wäre äußerst unhöflich gewesen, den Überraschungsbesuch ihres Nachbarn, der gleichzeitig auch der Besitzer der Eisenwarenhandlung war, nicht entsprechend zu würdigen. So etwas geschah jeden Tag. Man musste niemanden einladen, damit er auf ein Glas Wein vorbeikam. Das passierte ganz von selbst.

Rasch hatte sie ein zweites Glas gefüllt und reichte es ihm.

»Merkwürdige Geschichte«, sagte er, als er das Glas entgegennahm. »Finden Sie nicht auch?«

Wieder zuckte Sylvia die Achseln. »Ich weiß nichts darüber. Nicht mehr, als in der Zeitung stand. Er war Ausländer?«

Sie setzte sich zurück auf ihren Stuhl, der ein Stück entfernt von dem von Señor Tibón stand, und griff erneut nach ihrem Glas, das sie auf dem kleinen Tischchen in der Mitte abgestellt hatte, als sie hineingegangen war, um den Wein für ihren Nachbarn zu holen.

»Ja, ein Gringo«, sagte Agustín. »Oh, verzeihen Sie.« Er verneigte sich im Sitzen leicht vor ihr.

»Nichts zu verzeihen.« Sylvia schüttelte den Kopf. »Er war nicht von hier, weshalb er wohl im Hotel wohnte.«

»Ja . . . Im Hotel . . .« Sehr gedehnt sprach er das aus, bevor er einen Schluck von seinem Wein nahm und sich mit ausgestreckten Beinen zurücklehnte. »Und da hat er eine Dame empfangen.« Er machte ein leicht hohles Geräusch. »Nicht nur eine anscheinend.«

Dazu sagte Sylvia nichts. Sie nahm nur ebenfalls einen Schluck und schaute auf das Panorama hinunter.

»Und die letzte hat ihn wohl umgebracht«, fuhr Agustín fort. »Der Portier hat sie gesehen.«

Das Glas in Sylvias Hand begann zu zittern, und sie stellte es auf dem Tisch neben sich ab.

Mit Adlerblick – seine buschigen Brauen, die die dunklen Augen fast wie Reetdächer überschatteten, trugen zu diesem Eindruck bei – betrachtete Agustín das Gewimmel unter ihnen. »Eine große Frau mit breiten Schultern«, erklärte er dem Himmel und der Weite. »Keine Einheimische.«

Sylvia zitterte innerlich wie äußerlich, aber sie versuchte, sich zu beherrschen, brachte sich mühsam wieder zur Ruhe. Ob Angriff wohl die beste Verteidigung war? überlegte sie. Was, wenn sie jetzt einfach sagen würde: Groß und breite Schultern? So wie ich?

Aber das erschien ihr dann doch zu gefährlich. Also sagte sie nichts.

»Du hast dein Handy immer noch nicht aufgeladen, oder?« Aus dem Haus heraus drang Sofies Stimme auf die Terrasse.

»Ich –« Konsterniert drehte Sylvia sich halb um. »Ich habe noch nicht nachgeschaut. Hast du versucht, mich anzurufen?«

»Nein«, sagte Sofie. »Aber ich hätte darauf gewettet, dass du es immer noch nicht aufgeladen hast.«

Zumindest einer ihrer Mundwinkel zeigte nach unten. Sein Handy nicht aufzuladen, nicht erreichbar zu sein, das grenzte in ihren Augen offensichtlich an so etwas wie Hochverrat.

Hinter Sofie betrat nun auch Cristóbal die Terrasse. »Buenas tardes doctor«, begrüßte er Sylvia mit seiner Stimme, die immer wie Samt klang. Allerdings Samt, unter dem Eisenspäne lauerten.

»Buenas tardes Cristóbal«, gab Sylvia den Gruß nickend zurück. »Du hast Sofie von der Uni abgeholt?«

»Ja, ganz überraschend«, beantwortete Sofie anstelle von Cristóbal die Frage. Ihre Augen leuchteten, als sie ihn daraufhin ansah. »Ich hatte ihn gar nicht erwartet.«

»Señor Tibón«, stellte Sylvia mit einer Handbewegung auf Agustín hin vor. »Und das ist Cristóbal –« In diesem Moment fiel ihr auf, dass sie Cristóbals Nachnamen gar nicht kannte.

»Gutiérrez«, ergänzte Cristóbal da jedoch auch schon. »Cristóbal Gutiérrez Aguilar.« Er neigte leicht den Kopf in Agustíns Richtung. »Erfreut, Señor Tibón.«

Agustín Tibón schien sich noch nicht dafür entschieden zu haben, ob er über diese Begegnung erfreut sein sollte. Er betrachtete Cristóbal nur aufmerksam und nickte angedeutet unter seinen buschigen Augenbrauen.

»Komm, Cristó.« Mit einem befehlenden Unterton in der Stimme drehte Sofie sich um. »Ich glaube, wir stören hier nur. Lass uns in mein Zimmer gehen.« Sie machte zwei Schritte, merkte dann aber, dass Cristóbal ihr nicht folgte, und blieb stehen, blickte mit hochgezogenen Augenbrauen halb über ihre Schulter irritiert auf ihn, wie er immer noch dastand.

»Jetzt nicht, Süße«, gab Cristóbal fast zurechtweisend auf ihre Aufforderung hin zurück. »Ich bin nicht privat hier.«

Sofies hochgezogene Augenbrauen zogen sich noch zusätzlich zusammen.

Doch bevor sie etwas sagen konnte, fuhr Cristóbal schon fort: »Ist das Ihr Handy, Frau Doktor?« und präsentierte Sylvia das Gerät fast direkt vor ihrer Nase.

Sylvia stutzte. Wie kam Cristóbal an ihr Handy? Sie warf einen genaueren Blick darauf, aber es war ganz klar ihres, das erkannte sie an einem kleinen Sprung der Panzerglasfolie in der Ecke.

»Ja«, bestätigte sie. »Sieht so aus. Woher –?« Sie wollte nach dem Handy greifen, da zog Cristóbal es schon zurück und verweigerte ihr den Zugriff darauf.

»Ich muss Sie bitten, mich aufs Polizeipräsidium zu begleiten, Frau Doktor.« Er sah Sylvia mit einem Blick an, der keinen Widerspruch zu dulden schien.

Sylvia beherrschte sich, aber sie konnte sich doch nicht zurückhalten zu fragen: »Aufs Polizeipräsidium? Warum? Weil ich mein Handy irgendwo verloren habe?«

»Cristóbal . . .« Sofie trat wieder zu ihnen, mit fragendem Blick. »Was soll das? Was tust du da?«

»Du weißt, dass ich Polizist bin«, warf Cristóbal ihr kurz hin, als ob er ein lästiges kleines Kind stummschalten wollte. »Ich tue nur meine Arbeit.«

»Deine . . . Arbeit?« Das schien Sofie beinah zu erschüttern, obwohl sie sich sonst immer gern den Anschein gab, nicht so leicht zu erschüttern zu sein. »Deshalb hast du mich so überraschend von der Uni abgeholt?«

Er beantwortete die Frage nicht, sondern wandte sich wieder an Sylvia. »Ich soll Sie auf die Präfektur bringen, Señora Stein.«

Seine Stimme hatte den samtigen Klang ganz verloren. Es klirrten nur noch die Eisenspäne. Und er verzichtete auf die Anrede Frau Doktor. Was bedeutete, dass er Sylvia seinen Respekt verweigerte, sie auf eine tiefere Stufe versetzen wollte.

»Wärst du vielleicht so gütig, mir zu erklären, warum?«, fragte sie, stand jedoch gleichzeitig auf. Nun war sie genauso groß wie Cristóbal, was ihr ein besseres Gefühl verlieh.

»Das sagt Ihnen der Comisario auf der Präfektur, wenn wir da sind«, meinte Cristóbal abschätzig. Er streckte seinen Rücken durch, um von oben auf sie herunterblicken zu können. Auch wenn es nur ein Zentimeter war.

»Bist du nicht der Sohn von Valentina Aguilar Duarte?«, fragte da auf einmal unerwartet Agustín aus dem Hintergrund.

Nach einem kurzen Stutzen blickte Cristóbal über Sylvias Schulter zu ihm hin. »Aguilar de Gutiérrez«, korrigierte er hochmütig.

»Ja natürlich.« Agustín nickte. »Wenn dein Vater Gutiérrez heißt.« Auch er stand nun auf, sehr gemessen und unaufgeregt. Was der allgemeinen Stimmung auf der Terrasse entgegenlief. »Kannst du deiner Mutter einen Gruß von mir bestellen? Sie wird sich bestimmt an Agustín Tibón Mondaca erinnern. Wir haben uns früher einmal gekannt. Auch wenn es schon lange her ist.«

Dieses zu einem anderen Thema abschweifende Gespräch brachte Cristóbal ein wenig aus dem Konzept, wie man ihm deutlich anmerkte. Seine Augenbrauen bildeten fast ein spitzes, zusammengekniffenes Dach oberhalb seiner Nase.

»Ich verstehe nur Bahnhof«, mischte Sofie sich unzufrieden ein. Ihr Blick wanderte zwischen Cristóbal und Sylvia hin und her, mit einem kurzen Umweg über Agustín. »Kann mir jemand mal erklären, was hier los ist?« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Was willst du von meiner Schwester, Cristó? Warum soll sie mitkommen?«

Sofie war nicht so groß wie Sylvia, deshalb musste sie zu ihm hochschauen. Und dass er im Gegensatz zu seinem gescheiterten Versuch bei ihrer im wahrsten Sinne großen älteren Schwester auf sie hinunterschauen konnte, nutzte er weidlich aus, um den Statusunterschied zwischen ihm und ihr klarzumachen.

»Darüber darf ich nicht reden«, bemerkte er überheblich mit noch zusätzlich erhobenem Kinn. »Das ist eine laufende Polizeiuntersuchung.«

»Was für eine Untersuchung?«, fragte Agustín sofort.

Diesmal war Cristóbal absolut nicht auf der Hut – oder vielleicht wollte er auch einfach nur damit angeben, wie wichtig er war –, denn er antwortete: »Es geht um den Mord im Hotel.«

»Den Mord im Hotel?«, echote Sofie und sie wurde blass. Anders als zuvor, als ihr Blick sie nur leicht verwirrt gestreift hatte, sah sie Sylvia nun hilfesuchend an.

»Deine Schwester hat ihr Handy gerade selbst wiedererkannt«, ließ Cristóbal sich nun nicht mehr davon abhalten, seine offizielle Position herauszukehren. »Das wurde dort gefunden.«

Sylvia hatte das Gefühl, ihre Knie knickten ein. Haltsuchend griff sie nach der Lehne des Stuhls, auf dem sie zuvor gesessen hatte. »Dort?«, wisperte sie kaum hörbar. »Da habe ich es verloren?«

»Sie geben es zu?« Wie ein Pfeil, der scharf zischend in der Luft wendet, schoss Cristóbals Blick zu ihr herum. »Dass Sie dort waren?«

»Sylvia . . .«, flüsterte Sofie kraftlos.

Sylvia richtete ihren leicht zusammengesunkenen Rücken auf, ließ die Lehne des Stuhls los und sah Cristóbal nun fast auf dieselbe Art an wie Cristóbal zuvor sie. Von oben herab, obwohl sie gleich groß waren.

»Gehen wir auf die Präfektur«, sagte sie.

3

»Wie kam Ihr Handy in das Hotelzimmer des Toten?« Jeder einzelne Buchstabe in der Frage des Comisario schien voneinander abgesetzt. Als würde ein Maschinengewehr rattern.

Sylvia schwieg, als hätte sie ihn gar nicht gehört.

»Antworten Sie!«, herrschte er sie an.

Langsam hob sie den Kopf. »Ich habe nichts zu sagen.« Ihre dunkle Stimme klang ruhig und gleichmäßig.

»Aber Sie haben es zugegeben.« Seine Augen nahmen kurz Cristóbal in den Blick, der stramm wie ein Soldat hinter Sylvia in einer Ecke des Raumes stand. »Das steht im Protokoll.«

Fast wie unter Zwang schüttelte Sylvia den Kopf. »Ich habe dieses Protokoll nicht geschrieben.«

»Sie bestreiten also, das gesagt zu haben?«, fragte Cristóbals Vorgesetzter.

»Ich bestreite gar nichts«, entgegnete Sylvia äußerlich gelassen, auch wenn innerlich in ihr ein Sturm tobte. »Und ich gebe nichts zu. Ich mache keine Aussage.«

»Das wird Ihnen auch nicht viel nützen.« Mit einem entschlossenen Ausdruck im Gesicht beugte der Comisario sich vor. Seine dunklen Augen glühten gefährlich. »Man hat Sie gesehen. Der Portier hat Sie gesehen, als Sie das Hotel verließen. Direkt nachdem sie Señor Dubois umgebracht hatten.«

Ohne dass sie es verhindern konnte, zuckten Sylvias Schultern hoch. Doch sie fing sich schnell wieder. »Ich habe ihn nicht umgebracht«, sagte sie leise.

Ein böswilliges Glitzern ließ seine Augen aufleuchten. Die Klimaanlage blies kalte Luft in den kahlen Raum, und doch hatte man das Gefühl, alle schwitzten. Alle außer Sylvia, die kühl wie ein nordischer Eisblock erschien.

»Ihr Handy ist von ganz allein in sein Zimmer geflogen?«, fragte er hinterhältig. »Sie waren niemals da?« Doch bevor Sylvia überhaupt hätte antworten können, setzte er noch hinzu: »Das können Sie mir nicht erzählen, Frau Doktor. Die . . . Damen haben sich bei ihm die Klinke in die Hand gegeben, und Sie waren eine davon. Geben Sie es doch zu.«

»Ich kann nichts zugeben, was nicht stimmt.« Immer noch wirkte Sylvia trotz ihrer inneren Erschütterung kühl. Was sollte sie nur sagen? Ihr fiel einfach nichts ein. Sie hatte das Gefühl, ihr Kopf wäre leer wie eine ausgelaufene Badewanne.

»Dann geben Sie doch einfach zu, was stimmt«, schlug der Comisario ziemlich gehässig vor. »Señor Dubois hatte es leicht bei den Frauen. Sie sind ihm hinterhergelaufen. Dann hat er ihnen ihr Geld abgenommen und ist verschwunden. Heiratsschwindler, Betrüger, Bonvivant . . . Egal, wie Sie das nennen wollen, aber nett war er nicht. Oder nur so lange, bis er das Geld der jeweiligen Dame hatte.« Er lehnte sich zurück. »Wie viel hat er Ihnen abgenommen?«

»Nichts«, sagte Sylvia. »Ich . . .«, sie zögerte, »kannte ihn gar nicht.«

»Das Bett in seinem Zimmer sah benutzt aus.« Sich nun einen ganz entspannten Anschein gebend wippte der Comisario auf den beiden hinteren Beinen seines Stuhls vor und zurück. »Sehr . . . benutzt. Zerwühlt. Er hatte nicht nur allein darin gelegen. Da hatte gerade zuvor etwas stattgefunden.« Sein Blick wanderte an ihrem Körper hinunter. »Mit einer Frau.«

Bei aller Kühle, die sie ausstrahlte, wurde Sylvia nun doch heiß. Er hatte sie gerade mit seinen Blicken ausgezogen, sich vorgestellt, wie sie nackt mit François Dubois im Bett gelegen und Sex mit ihm gehabt hatte. Das war – neben allem anderen, was hier stattfand – ein sehr unangenehmer Gedanke.

Aber sie konnte sich nicht dagegen wehren. Sie musste unberührt erscheinen. Als ob das alles nichts mit ihr zu tun hätte. Als ob sie das alles nichts anginge.

Gleichgültig zuckte sie die Schultern. »Das mag sein. Aber ich war es nicht.«

Selbstverständlich glaubte er ihr nicht, und Cristóbal gab hinter ihr ebenfalls einen abschätzigen Laut von sich. Am liebsten hätte Sylvia diesem arroganten jungen Schnösel eine Ohrfeige verpasst. Aus erzieherischen Gründen.

Doch das konnte sie natürlich nicht tun. Und hätte sie noch nicht einmal getan, wenn er ihr Sohn gewesen wäre. Sofie hatte sie in den letzten Jahren manchmal an den Rand der Verzweiflung gebracht mit ihrem Eigensinn, und auch da hatte Sylvia sich zurückgehalten. Sie hatte es nie auch nur in Erwägung gezogen, jemanden zu schlagen, schon gar kein Kind.

»Kann ich jetzt gehen?«, fragte sie.

»Sie können gehen, wenn ich es Ihnen erlaube!« Der Comisario hängte nun ganz die patriarchalische Peitsche heraus.

Eine Frau hatte sich zu fügen. In dieser Gesellschaft war das eine allgemein anerkannte Tatsache, die kaum jemand infrage stellte. Und wahrscheinlich ärgerte es ihn zusätzlich, dass sie einen Doktortitel trug. Denn das war eine andere allgemein anerkannte Tatsache: dass Ärzte immer recht hatten. Dass sie fast unangreifbar waren.

Wenn der Arzt eine Frau war, standen diese beiden Auffassungen jedoch in krassem Gegensatz. Und das ließ ihn sich unwohl fühlen. Was er nur dadurch ein wenig verbessern konnte, dass er sie niedermachte.

Im Übrigen tat er das wahrscheinlich sowieso mit allen Verdächtigen. In Chile waren Menschenrechte nicht sehr verbreitet. Es hing alles von der Willkür der Mächtigen ab. Und auch ein kleiner Polizeikommissar konnte sich mächtig fühlen, wenn sein Gegenüber keine Wahl hatte.

Sie neigte leicht den Kopf. »Bin ich dann jetzt verhaftet?«, fragte sie.

Das brachte ihn erneut in die Bredouille. Denn offiziell musste man selbst in Chile für eine Verhaftung Beweise haben, nicht nur Indizien oder Vermutungen. Gegen diese Regel wurde zwar sehr oft verstoßen – insbesondere bei politischen Gefangenen –, aber sie war eine Ausländerin. Da konnte man nie wissen, ob in solchen Fällen nicht Amnesty International oder sonst eine dieser lästigen Organisationen eingriff und einen großen Wirbel veranstaltete.

»Sie waren dort. Man hat Sie gesehen«, wiederholte er mit kalter Stimme. »Und Ihr Handy beweist, dass Sie nicht nur im Hotel, sondern sogar im Zimmer des Ermordeten waren. Was glauben Sie, was ich tun sollte?« Diese Frage stellte er mit einem hämischen Unterton.

Neben der modernen Klimaanlage surrte auch noch ein altertümlicher, fast ehrwürdiger Ventilator mit großen schräggestellten dunklen Holzflügeln an der Decke. Wie zu kolonialen Zeiten. Fast so alt war er wohl auch, denn es klickte jedes Mal, wenn er eine Runde vollendet hatte. Klick . . . eins, zwei, drei, vier . . . klick . . . eins, zwei, drei, vier . . . klick . . . eins, zwei, drei, vier . . .

Wenn ich das noch einmal höre, werde ich wahnsinnig! dachte Sylvia. Der Comisario hätte sich sicher gefreut, wenn er gewusst hätte, wie verrückt sie das machte. Es wäre eine gute Foltermethode gewesen, um sie zum Sprechen zu bringen.

Die Luft wurde trotz Klimaanlage und Ventilator immer drückender. Alle Fenster und Türen waren geschlossen. Es kam kein Lüftchen von draußen herein, nicht die leiseste Brise. Die mühsam abgekühlte Luft stand im Raum wie eine Wand, hinter der man kaum mehr atmen konnte. Einzelne Staubkörnchen wirbelten in den wenigen Lichtstreifen, die das Dunkel des Zimmers erhellten, als würden sie wie Glühwürmchen spielen.

Sylvia folgte ihnen mit ihrem Blick, als ob sie das Schauspiel außerordentlich faszinierte, ihre Aufmerksamkeit fesselte, sodass sie sich mit nichts anderem mehr beschäftigen konnte. Das Klicken des Ventilators, das sich bereits in ihrem Kopf festgesetzt hatte, versuchte sie auszublenden. Sie musste sich davon lösen, wenn sie das hier überleben wollte.

»Sie wollen nicht antworten? Auch gut«, sagte der Comisario.

Es klang fast so etwas wie Zufriedenheit in seiner Stimme mit. Sie wehrte sich nicht mehr, bestritt nicht, etwas mit der Sache zu tun zu haben. Er hatte sie schon halb besiegt.

»Ich muss Sie nicht verhaften, um Ihnen noch ein wenig . . . Bedenkzeit zu geben.« Er ergänzte das mit einem selbstgefälligen Grinsen. »Ich kann Sie ohne jede Begründung achtundvierzig Stunden hierbehalten. Oder auch länger.«

Achtundvierzig Stunden war wahrscheinlich richtig. Das länger war eine Drohung, die nicht unbedingt auf der Grundlage des Gesetzes stehen musste. Das hieß aber nicht, dass er sie nicht wahrmachen konnte, das war Sylvia sehr wohl klar.

Wieder sagte sie nichts, denn sie wusste nicht, ob ihre Nerven nicht mit ihr durchgegangen wären, wenn sie jetzt den Mund geöffnet hätte.

Fast als würde er ein lästiges Insekt verscheuchen, winkte der Comisario in Cristóbals Richtung. »Bringen Sie sie weg, Gutiérrez.«

Sofort trat Cristóbal vor und packte Sylvia am Arm, um sie von dem Stuhl hochzuziehen, auf dem sie gesessen hatte.

Ihre Augen bohrten sich stumm in sein Gesicht, und als stände er plötzlich unter hypnotischem Einfluss, ließ er sie im Zeitlupentempo wieder los, löste jeden einzelnen Finger, den er wie Stahlzwingen darum geschlossen hatte, einen nach dem anderen. Es sah so aus, als müsste er jedem Finger einzeln den Befehl dazu geben.

Sie stand gemessen auf, ohne dass er sie dazu zwang oder sie hochzerren konnte. Immer noch ohne ein Wort drehte sie sich um und ging zur Tür, die Cristóbal wie ein wohlerzogener Diener für sie aufzog.

Deshalb konnte sie wie eine Königin hinausschreiten.

Auch wenn sie sich nicht so fühlte.

4

Mara Arnold war gerade auf dem Weg in eine Verhandlung, als der Anruf kam. Da sie die Nummer nicht kannte, wies sie ihn ab und löste eine automatische Antwort aus.

Bin beschäftigt. Bitte hinterlassen Sie mir eine Nachricht.

Gleich würde wahrscheinlich ein kurzer Signalton verkünden, dass der Anrufer ihr mitgeteilt hatte, was er von ihr wollte. Dann konnte sie das lesen, sobald sie Zeit dafür hatte. Jetzt musste sie sich auf das konzentrieren, was in diesem Gerichtssaal direkt vor ihr lag.

Ihre Mandantin erwartete sie schon. »Jetzt werden wir es ihm richtig zeigen!«, verkündete sie aufgeregt.

Mara hob die Augenbrauen. »Warten wir’s ab. Sie wollen Gerechtigkeit, und ich auch, aber vor Gericht bekommen Sie nur ein Urteil. Das ist etwas anderes.«

Und so war es dann auch. Ihre Mandantin war nicht zufrieden, war enttäuscht, war wütend, weil sie nicht das erreicht hatte, was sie wollte. Aber Mara konnte es nicht ändern. Sie hatte alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die das Gesetz ihr bot.

Es ging um eine Eigentumswohnung, die ihre Mandantin gekauft hatte. Der Verkäufer hatte sie dabei über den Tisch gezogen, aber auch wenn jeder nicht juristisch ausgebildete Mensch erwartete, dass das Gesetz dafür da war, solche Ungerechtigkeiten zu beseitigen, das war es nicht. Es war nur dazu da, den Staat zu schützen, gewisse Prinzipien vielleicht, nicht unbedingt die Staatsbürger.

Dennoch hatte Mara einen Vergleich herausschlagen können, weil sie besser vorbereitet gewesen war als ihr Anwaltskollege, der die andere Seite vertrat. Der Verkäufer der Wohnung, eine große Baugesellschaft, hatte wohl gemeint, er hätte es mit irgendeiner Wald- und Wiesenanwältin vom Land zu tun, die nichts von ihrem Beruf verstand. Deshalb hatte der Anwalt nicht ein einziges wirkliches Argument gehabt. Und die, die er ihr so nebenbei hinwarf, hatte Mara schnell entkräften können.

Eigentlich hätte sie gewinnen müssen, aber der Richter hatte sie dafür gerügt, dass sie ohne Anwaltsrobe erschienen war. Normalerweise hatte sie ihre Robe immer dabei, aber heute war sie in der Reinigung, und die meisten Verhandlungen dieser Art liefen sowieso ohne Robe ab. Sie hatte sich nichts dabei gedacht.

Aber der Richter hatte sich pikiert gefühlt. Obwohl er noch nicht besonders alt war, schien er zu meinen, sie hätte ihm ihren Respekt verweigert, seine Stellung untergraben. Zuerst hatte er die Verhandlung ganz abbrechen wollen, aber dann hatte er sich herabgelassen, doch zu verhandeln. Hatte aber wohl gleichzeitig beschlossen, dass sie auf keinen Fall gewinnen durfte.

Mara war sich nicht sicher, ob es überhaupt um die Robe gegangen war oder ob er das nicht nur als Ausrede benutzt hatte. Denn er hatte sie einmal zum Essen eingeladen, und sie hatte abgelehnt. Er war ein unangenehmer, sehr von sich selbst eingenommener Mann, und selbst, wenn sie auf Männer gestanden hätte, hätte sie sich wohl nicht von ihm angezogen gefühlt. Unter den gegebenen Umständen aber war es ihr völlig logisch und belanglos erschienen, seine Einladung wenn auch freundlich abzulehnen.

Doch er hatte sich anscheinend sehr auf den Schlips getreten gefühlt, in seiner männlichen Ehre gekränkt. Dafür hatte er sich heute gerächt, indem er dem nicht vorbereiteten Gegenanwalt jede Art von Hilfe leistete, die er nur leisten konnte.

Sie überlegte, ob sie vielleicht noch etwas für ihre Mandantin tun könnte, wenn sie einen anderen Richter erwischte. Aber für heute war der Fall abgeschlossen.

Nachdem sie ihre Mandantin verabschiedet hatte, überprüfte sie auf dem Gang des Gerichts die Nachrichten, die während der Verhandlung eingegangen waren. Aber es waren gar keine Nachrichten da, nur eine Menge verpasster Anrufe. Immer von derselben unbekannten Nummer.

Einer ausländischen Nummer. Sie runzelte die Stirn. Was war das denn für eine Vorwahl? Keine deutsche. Und auch keine Ländervorwahl, die sie kannte.

Im selben Moment meldete ihr Handy sich erneut mit dem von ihr aus satirischen Gründen vor kurzem eingestellten Klingelton Üb immer Treu und Redlichkeit. Sie musste ihn wieder abstellen. Das war wirklich albern.

Schon wieder diese unbekannte ausländische Nummer. Irritiert schüttelte sie den Kopf. Sollte sie das überhaupt annehmen? Aber dann war sie zu neugierig, um es nicht zu tun.

»Ja?«, meldete sie sich fragend.

»Mara? Bist du das?« Eine sehr jugendliche Stimme. Aber sie kannte sie nicht.

»Ja?«, wiederholte sie noch einmal. »Und wer ist da?«

»Sofie«, sagte die Stimme.

Sofie. Sofie. Maras Stirn runzelte sich noch mehr, während sie überlegte. Welche Sofie denn? Sie kannte die eine oder andere Sofie, aber deren Stimmen kannte sie auch. Und diese war keine davon.

»Erinnerst du dich nicht mehr an mich?«, fragte Sofie da. »Sofie Grabert. Du warst mal mit meiner Schwester zusammen.«

Mara wäre fast vom Stuhl gefallen. Wenn sie auf einem gesessen hätte. Doch sie stand. »Sofie?«, wiederholte sie ungläubig. »Aber das ist Jahre her.«

»Richtig. Jahre«, bestätigte Sofie nun beinah trocken, obwohl ihre Stimme ansonsten recht aufgeregt geklungen hatte.

Wie alt war Sofie jetzt? fragte Mara sich. Als sie sie zuletzt gesehen hatte, war sie noch ein Kind gewesen. Ein ziemlich kleines Kind.

»Ähm . . . Wie geht es dir?«, fragte sie, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Sie hatte nicht viel Erfahrung mit Kindern.